Vorwort. Sehr geehrte Frau Professorin, sehr geehrter Herr Professor! Sehr geehrte Frau Fachlehrerin, sehr geehrter Herr Fachlehrer!

Vorwort Sehr geehrte Frau Professorin, sehr geehrter Herr Professor! Sehr geehrte Frau Fachlehrerin, sehr geehrter Herr Fachlehrer! Es ist ein schwier...
Author: Frieda Bach
0 downloads 2 Views 5MB Size
Vorwort Sehr geehrte Frau Professorin, sehr geehrter Herr Professor! Sehr geehrte Frau Fachlehrerin, sehr geehrter Herr Fachlehrer! Es ist ein schwieriges Thema, das in unserem Land schon lange kontroversiell diskutiert wird: die Rolle von Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich. In der Diskussion wird oft ein wichtiger Aspekt ausgeklammert: der Beitrag, den Menschen mit Migrationshintergrund für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft leisten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung dieses Themas wird sichtbar, dass ohne Menschen mit Migrationshintergrund viele Teile unseres Gesellschaftslebens nicht mehr funktionieren könnten. Sie bereichern unsere Gesellschaft auch durch ihre Kulturen und Sprachen und tragen wesentlich zur positiven Entwicklung unserer Wirtschaft bei – als ArbeitnehmerInnen und als UnternehmerInnen. Es gibt zu diesem Thema Informations- und Diskussionsbedarf – auch in unseren Schulen und Einrichtungen der Lehrlingsausbildung. Wir haben dafür ein umfangreiches Unterrichtspaket erstellt, das Sie jetzt in Ihren Händen halten: „Das große Plus“. Das Unterrichtspaket wurde von erfahrenen PädagogInnen entwickelt und bietet eine Vielzahl an konkreten Beispielen, Kopiervorlagen, didaktischen Hinweisen und Arbeitsblättern zur Verwendung im Unterricht. Unterstützt wird diese Initiative vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur sowie vom Mauthausen Komitee Österreich. Wir freuen uns, wenn wir Sie mit den Materialien bei Ihrer Arbeit mit Jugendlichen unter­ stützen können und somit gemeinsam langfristig zur Versachlichung der Diskussion beitragen.

Erich Foglar Präsident des ÖGB

Dr. Veit Sorger Präsident der IV

Willi Wolf Bundesvorsitzender des ÖJRK

Diese Unterrichtsmaterialien wurden durch Mittel der Europäischen Union kofinanziert. POSITIVE IMAGES – ein Projekt des Britischen, Dänischen, Griechischen Roten Kreuzes und des Österreichischen Jugendrotkreuzes. www.jugendrotkreuz.at/positiveimages

Inhalt Einleitung TEIL 1: Grundlagen: Vorurteile und Migration

Kapitel 1: Gleichheit und Vielfalt 1.1. Wir sind verschieden 1.2. Wir sind gleich 1.3. Achtung Vorurteile 1.3.1. Was sind Vorurteile? 1.3.2. Das Fremde, mein Feind 1.4. Medien und Links

Kapitel 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen 2.1. Wander- und Fluchtbewegungen von Menschen 2.1.1. Nicht ökonomisch motivierte Migration – Flucht und Vertreibung 2.1.2. Ökonomisch motivierte Migration – Arbeitsmigration 2.2. Migration in Österreich 2.2.1. Erste Migrationsperiode: Anwerbung der „Gastarbeiter“ 2.2.2. Zweite Migrationsperiode: Anwerbestopp, Niederlassung, Familiennachzug 2.2.3. Dritte Migrationsperiode: Reglementierung der Zuwanderung 2.3. Migration und EU 2.3.1. Migrations- und Asylpolitik in der EU 2.3.2. „Festung Europa“? 2.4. Medien und Links TEIL 2: „Wer trägt was bei?“

Kapitel 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem 3.1. Personen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt 3.1.1. ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund 3.1.2. UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund 3.1.3. Wir brauchen sie! 3.2. Personen mit Migrationshintergrund im Sozialsystem 3.2.1. Sozialsystem 3.2.2. Sozialleistungen 3.2.3. Ein- und Auszahlungen ins Sozialsystem 3.3. Medien und Links

Kapitel 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft 4.1. Sport 4.2. Kunst und Kultur 4.3. Medien 4.4. Wissenschaft 4.5. Medien und Links

Impressum Medieninhaber, für den Inhalt verantwortlich Arbeitsgemeinschaft bestehend aus dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, dem Österreichischen Jugendrotkreuz und der Vereinigung der Österreichischen Industrie Redaktion und Pädagogischer Beirat Christa Bauer, Dr. Christina Hager, Mag. Renate Hauser, Dr. Simone Kremsberger, Mag. Nicole Rennhofer Idee und Konzept Jürgen H. Gangoly, Willi Mernyi, Mag. Christoph Neumayer, Edward Strasser Projektmanagement Mag. Christina-Maria Schmidt, Dipl.-Ing. Lenz Simon Grafische Gestaltung Harald Ströbel, www.derstroebel.at Herstellung Kb-offset Kroiss&Bichler GmbH, 4844 Regau/Vöcklabruck Koordination, Rückfragen und Bestellungen Organisationsbüro „Das große Plus“ c/o The Skills Group Margaretenstraße 70/1/4 1050 Wien Danksagung Für ihre Unterstützung danken wir dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur sowie dem Mauthausen Komitee Österreich Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr. 1. Auflage 2011

Das große Plus

Einleitung

Einleitung Die Welt in verschiedenen Köpfen Überall, wo Menschen zusammenleben, wird es spannend: Jeder Mensch ist schließlich eine Art „kleines Universum“, lebt in seiner eigenen Welt, hat eine persönlich erfahrene Wirklichkeit im Kopf – ein weites Erkundungsfeld für alle, die auf andere Menschen neugierig sind! Das „Denken in anderen Köpfen“ zu erlernen gehört deswegen wesentlich zur Entwicklung der Persönlichkeit. Die Verbindung zwischen Menschen: Kommunikation Der Austausch über das persönliche Erleben der Wirklichkeit und aus der eigenen Position heraus ist Kommunikation. Erst durch sie wird ein konstruktives Miteinander möglich, nur durch sie bekommen wir Zugang zu anderen „Kopf-Welten“. Kommunikation ist die Grundlage für gegenseitiges Verstehen, für Akzeptanz und Respekt. Geglückte Kommunikation ist aber kein „Selbstläufer“ – sie muss erlernt und geübt werden. Sie ist einerseits alltäglich wie selbstvertständlich und andererseits ein hochkomplexer Vorgang, der erstaunlicherweise gar nicht so schlecht funktioniert. Damit wir einander verstehen: Voraussetzungen Dazu ist einiges nötig: das Wissen darum, dass Menschen ihre Umgebung unterschiedlich wahrnehmen und das Wahrgenommene unterschiedlich deuten die Erkenntnis, dass Sagen, Meinen und Verstandenwerden bzw. Hören und Verstehen nicht dasselbe sind eine gefestigte Orientierung in der „eigenen Welt“ Interesse und Respekt für die „Welt im Kopf“ der anderen das Akzeptieren, dass die Dinge nicht „SO sind“, sondern „SO erlebt/wahrgenommen/empfunden“ werden Kurz: Es braucht Toleranz. Damit Toleranz gelebt werden kann, sind Wissen und eine menschenfreundliche Haltung nötig: eben Bildung. Migration ist Vielfalt Migration bringt Menschen zusammen, deren Wahrnehmen und Verstehen aufgrund von unterschiedlichen Lebensumständen anderen oft fremd sind. Die Sichtweisen, die dabei entstanden sind, passen dann nicht zusammen und widersprechen einander manchmal sogar. Was für einige Menschen ein grundlegendes Gebot der Höflichkeit ist (z. B. einander beim Gespräch in die Augen zu schauen), ist für andere eine Beleidigung (z. B. weil es für sie Überheblichkeit oder Aufdringlichkeit ausdrückt).

E | 01

Einleitung

Das große Plus

In solchen Situationen versagen die bekannten Orientierungen – Hilflosigkeit entsteht. Sie ist problematisch, weil sich hilflos zu fühlen das Selbstwertgefühl bedroht. Deshalb können Menschen oft schlecht damit umgehen, reagieren mit Abwehr – und zwar umso eher, je schwächer der eigene Selbstwert ausgeprägt ist. Migration braucht Wissen Wissen ist effektiv: Wissen (er)klärt, was unklar ist. Wissen zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Wissen bewahrt vor Hilflosigkeit. Wissen gibt Sicherheit. Wissen macht neugierig. Wissen, das zum konstruktiven Umgang mit Migration beitragen soll, muss alle Aspekte von Migration einbeziehen: Wissen über das eigene kulturelle Umfeld Wissen über andere kulturelle Umfelder Wissen über Bedingungen des Zusammenlebens und deren Gestaltbarkeit Wissen über unterschiedliche Ziele und Interessen innerhalb einer Gesellschaft und deren Konsequenzen Wissen über die Grundlagen und Mechanismen von Kommunikation Migration braucht eine menschenfreundliche Haltung Diese Haltung hat Konsequenzen: Haltung gestaltet den Selbstwert. Haltung begründet den Respekt vor den anderen. Haltung macht aufnahmefähig für Fremdes und Neues. Haltung rechtfertigt konstruktive Kritik. Haltung ermöglicht Entwicklung. Haltung sichert Menschlichkeit. Migration braucht Lernen Die Arbeitsgemeinschaft bestehend aus dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), dem Österreichischen Jugendrotkreuz (ÖJRK) und der Vereinigung der Österreichischen Industrie (IV) hat es sich zur Aufgabe gemacht, bei der Bildungsarbeit – der Vermittlung von Informationen über die Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich und von Impulsen zu der Entwicklung einer menschenfreundlichen Haltung – Unterstützung zu leisten. Die vorliegenden Materialien thematisieren Migration unter verschiedenen Aspekten, bieten Fakten und Orientierung. Sie werden ergänzt durch Arbeitsmaterialien zu ausgewählten Schwerpunkten mit aktuellen Bezügen zur Lebensrealität der Jugendlichen.

E | 02

Das große Plus

Einleitung

Arbeitsunterlagen – Voraussetzungen für den Einsatz Die Materialien sind für den Einsatz ab der 8. Schulstufe geeignet und für die Bearbeitung unter pädagogischer Begleitung konzipiert. Sie sollen Erkenntnisse liefern, zum Nachdenken anregen und zu Schlussfolgerungen führen. Wie komplex diese sein können, hängt vom Vorverständnis und Vorwissen der Jugendlichen ab. Es liegt im Sinne reflektierenden Arbeitens, dass nicht alle TeilnehmerInnen zwangsläufig zu gleichen oder ähnlichen Schlüssen gelangen müssen. Deshalb wird immer wieder aufgefordert, eigene Standpunkte zu argumentieren und zu diskutieren. Die angestrebten Ziele – soziale Verantwortlichkeit, kritische Auseinandersetzung, eigenständiges Denken und Handeln – werden so auch in der didaktischen Aufbereitung berücksichtigt und teilweise vorweggenommen. Aufbau Einleitend werden – nach der Angabe der Lernziele – der Zugang zum Thema und die pädagogischen Ansprüche, unter denen die Materialien stehen, kurz vorgestellt. Für die Jugendlichen gibt es kurze Texte, die in das jeweilige Thema einführen und Schwerpunkte setzen. Diese Texte verstehen sich als Ausgangsbasis und Grundlage der weiteren Bearbeitung. Sie sollten am Beginn der Arbeit zu einem Schwerpunkt behandelt und im Gespräch aufgearbeitet werden. Die Arbeitsblätter thematisieren einzelne Aspekte des Themas. Sie erlauben die Bearbeitung in unterschiedlichen Sozialformen und im Rahmen verschiedener didaktischer Schritte. Sie können unabhängig voneinander eingesetzt, aber auch als Block bearbeitet werden. Die Arbeitsaufträge sind Ausgangsbasis für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema – für Diskussionen, Argumentationen, Faktenerarbeitung. Sie verstehen sich damit als in einem weiteren Bildungszusammenhang stehend und eignen sich nicht für die isolierte, punktuelle Bearbeitung.

E | 03

Teil 1

Grundlagen: Vorurteile und Migration Über Gleichheit und Vielfalt in unserer Gesellschaft und die Hintergründe von Migration

Kapitel 1:

Gleichheit und Vielfalt

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

1.1. Wir sind verschieden Über acht Millionen Menschen leben in Österreich: Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, mit unterschiedlichen Ausbildungen und Berufen, mit unterschiedlichen Interessen und Lebensmodellen – und mit unterschiedlicher Herkunft. 2009 hatten rund zehn Prozent der Bevölkerung einen ausländischen Pass. Knapp 17 Prozent der Gesamtbevölkerung wiesen einen „Migrationshintergrund“ auf: Das heißt, dass entweder sie selbst oder ihre Eltern im Ausland geboren wurden. Damit zählt Österreich zu jenen Staaten in Europa mit den höchsten Zuwanderungsraten. Migration ist zum Motor der Bevölkerungsentwicklung Österreichs geworden und hat die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert. Bevölkerung ausländischer Herkunft* am 1.1.2010 im Ausland geborene österreichische Staatsangehörige: 527.587 Personen (37,1 %)

Bevölkerung mit österreichischer Staatsangehörigkeit und österreichischem Geburtsort: 6.952.559 Personen (83,0 %)

Bevölkerung ausländischer Herkunft: 1.422.731 Personen (17,0 %)

in Österreich geborene ausländische Staatsangehörige: 129.881 Personen (9,1 %)

Gesamtbevölkerung am 1.1.2010: 8.375.290 Personen

im Ausland geborene ausländische Staatsangehörige: 765.263 Personen (53,8 %)

Quelle: Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes *) Bevölkerung mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit und/oder ausländischem Geburtsort

DEFINITION Als Personen mit Migrationshintergrund werden Menschen bezeichnet, von denen beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Diese Gruppe lässt sich in MigrantInnen der ersten Generation (Personen, die selbst im Ausland geboren wurden) und der zweiten Generation (Kinder von zugewanderten Personen, die aber selbst im Inland zur Welt gekommen sind) unterteilen. Quelle: Österreichischer Integrationsfonds, 2010

Auch Kategorien und Bezeichnungen wie „ÖsterreicherInnen“, „AusländerInnen“ oder „MigrantInnen“ haben sich verändert. Wer im Ausland geboren ist, kann mittlerweile – durch Einbürgerung – ÖsterreicherIn sein. Wer in Österreich geboren ist, kann dennoch – wenn die Eltern eine ausländische Staatsbürgerschaft haben – AusländerIn sein. Und nicht jede/r AusländerIn ist ein/e „MigrantIn“: mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Österreich geborene und aufgewachsene Kinder sind schließlich nicht selbst zugewandert. Bezeichnungen sind daher sorgfältig zu gebrauchen. Heute ist für Menschen mit Wurzeln im Ausland meist der Ausdruck „Personen mit Migrationshintergrund“ üblich.

K 1 | 01

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Die ZuwanderInnen haben eines gemeinsam: ihre Vielfalt. Das alte Klischee vom „Auslän­ derInnen“ als GastarbeiterInnen aus der Türkei entspricht nicht der Realität. Die ausländische Bevölkerung setzt sich aus vielen unterschiedlichen Gruppen zusammen: von der „Schlüsselkraft“ (ExpertInnen) aus Westeuropa über den Studenten aus Polen bis zur Schweißerin aus Deutschland. Über ein Drittel der Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sind Angehörige eines EU-Staates. Unter den Menschen aus Ländern außerhalb der EU stammt die größte Gruppe aus Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens und asiatischen Ländern. Nach einzelnen Herkunftsländern betrachtet, bilden Personen aus Deutschland die größte ZuwanderInnengruppe in Österreich, knapp gefolgt von ZuwanderInnen aus Serbien und Montenegro. 1 Den/Die „typische/n AusländerIn“ gibt es nicht – ebenso wenig wie den/die „typische/n ÖsterreicherIn“. Die Vielfalt ist unser Alltag: im öffentlichen Bereich und im privaten Zusammenleben, in der Arbeit und in der Schule. Diese Vielfalt kann eine Herausforderung und eine Chance sein. Gerade Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund können davon profitieren, frühzeitig unterschiedliche Kulturen kennenzulernen und mehrere Sprachen zu sprechen.

K 1 | 02

1 www.statistik.at/web_de/dynamic/services/publikationen/2/publdetail?id=2&listid=2&detail=598

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

1.2. Wir sind gleich Ein funktionierendes Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft setzt Respekt voraus – vor den „Anderen“, ihrer Würde und ihren Rechten. In den Menschenrechten ist verankert, dass die Würde des Menschen nicht das Ergebnis einer Leistung oder einer Vereinbarung ist, sondern jedem Einzelnen zukommt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Alle Menschen sind gleich

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.“ Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 7

Die Menschenrechte haben ihre Wurzeln in der Antike. Ihre Grundlagen wurden in der Zeit der europäischen Aufklärung geschaffen. Nach der Philosophie des Naturrechts ist jeder Mensch „von Natur aus“ mit bestimmten Rechten ausgestattet. Philosophen wie Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant prägten die Idee der Menschenrechte und ihrer politischen Umsetzung. Die philosophischen Ideen der Aufklärung fanden Eingang in politische und rechtliche Dokumente des späten 18. Jahrhunderts: Berühmte Beispiele sind die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1776 sowie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1789. Bestimmte Gruppen waren allerdings nach wie vor von den Menschenrechten ausgeschlossen: Erst rund 100 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung wurde die Sklaverei in den USA abgeschafft. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren beispielsweise Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen – in Österreich erwarben Frauen das allgemeine Wahlrecht 1919. Nach den Verbrechen und Menschenrechtsvergehen in den beiden Weltkriegen wurden 1945 die Vereinten Nationen (UN) zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit gegründet. 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der UN-General­ versammlung in Paris verkündet. Sie gilt als die international grundlegende Rechtsquelle für die Menschenrechte.

K 1 | 03

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Um die Diskriminierung von Gruppen, wie Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung oder anderer Herkunft zu bekämpfen, wurden einzelne Menschenrechte in sogenannten „Zusatzkonventionen“ geregelt: Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung richtet sich gegen rassistische Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Abstammung sowie nationaler und ethnischer Herkunft. Dieses Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen wurde 1965 verabschiedet und trat 1969 in Kraft. Neben den internationalen Abkommen existieren regionale Menschenrechtsabkommen: In Europa ist das die Europäische Menschenrechtskonvention. Über die Umsetzung der darin verankerten Rechte wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Menschenrechte sind als Rechte aller Menschen gedacht. Allerdings gibt es Rechte, die auf StaatsbürgerInnen beschränkt sind: So haben nur StaatsbürgerInnen das politische Recht auf aktive Mitwirkung bzw. Mitbestimmung an der staatlichen Entscheidungsfindung, dazu zählt zum Beispiel das Wahlrecht. Alle anderen Menschenrechte sind nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden. Der rechtliche Rahmen garantiert allerdings nicht immer die praktische Umsetzung. Bei der Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte spielen Vereine und das Engagement aller BürgerInnen eine bedeutende Rolle.

K 1 | 04

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

1.3. Achtung Vorurteile Eine unbekannte Sprache, ein ungewohntes Äußeres, andere Traditionen: In jeder Gesellschaft heute werden Menschen, Einheimische wie Zugewanderte, immer wieder mit dem „Fremden“ konfrontiert. Das „Fremde“ kann positive oder negative Reaktionen, Neugier oder Angst auslösen. Im letzteren Fall können daraus auch Vorurteile entstehen. 1.3.1. Was sind Vorurteile? Kaum jemand ist frei von Vorurteilen. Vor-Urteile im ursprünglichen Wortsinn sind Einschätzungen, die vor einem überlegten Urteil kommen. Sie sind oft sogar nützlich, da sie eine praktische Orientierungshilfe im Alltagsleben bieten. Dieses harmlose Vor-Urteil ist allerdings von dem problematischen Vorurteil zu unterscheiden, das mit negativen Einstellungen gegenüber Menschen(gruppen) verbunden ist. Um sich in ihrer Umwelt zu orientieren, denken die Menschen in Kästchen und ordnen die erhaltene Information diesen Kästchen zu. Andere werden etwa nach Geschlecht, Alter und Hautfarbe „kategorisiert“ und bewertet. Dabei spielen auch die Emotionen eine wichtige Rolle: Vorurteile haben häufig ihren Ursprung in Konflikten, mit denen jemand nicht fertig wird. Die Erforschung der Vorurteile hat gezeigt, dass vor allem Menschen mit einem „autoritären Charakter“ zu Vorurteilen neigen: Voreingenommenheit ist oft mit einer Weltsicht verbunden, die klar zwischen „Gut“ und „Böse“ trennt, sich dem Stärkeren unterordnet und Schwächere als Opfer sucht. Negative Gefühle werden auf andere Personen oder Gruppen umgelenkt, die Verantwortung wird auf einen Sündenbock abgeschoben.

STUDIE

Meine weiße Puppe Vorurteile werden von Kindern früh gelernt und verinnerlicht. Das Psychologenpaar Kenneth Bancroft Clark und Mamie Phipps Clark hat in den 1940erJahren in den USA die mittlerweile berühmten „Doll Tests“ durchgeführt: Afroamerikanischen Kindern wurden schwarze und weiße Puppen zum Spielen vorgelegt. Die Mehrzahl der Kinder bevorzugte die weißen Puppen und wies der hellen Hautfarbe positivere Eigenschaften wie „schön“ und „nett“ zu. Bei anderen Experimenten der Clarks malten Kinder ihre Hautfarbe in Selbstporträts heller, als es der Wirklichkeit entsprach. Parallelen findet man auch in der jüngsten Geschichte: Nach dem Wahlsieg Barack Obamas bei den Präsidentschaftswahlen 2009 in den USA brachte ein Spielzeughersteller Puppen, die dieselben Namen wie die beiden Töchter des US-Präsidenten trugen, auf den Markt. Die (nach Kritik mittlerweile umbenannten) Puppen haben zwar eine dunkle Hautfarbe – allerdings einen helleren Teint als die Präsidententöchter.

Solange ein Vorurteil nur im Kopf einer Person existiert, wird niemand anderem Schaden zugefügt. Vorurteile werden gefährlich, wenn sie sich in diskriminierendem Verhalten niederschlagen und wenn Menschen aufgrund von äußerlichen Merkmalen ausgegrenzt oder sogar tätlich angegriffen werden. Auch Worte sind Taten: Klare Diskriminierungen sind z. B. Beschimpfungen, die Personen in Zusammenhang mit einem bestimmten Merkmal oder einer Gruppenzugehörigkeit herabsetzen. Doch auch Äußerungen, die „nicht böse gemeint“ sind, können verletzen: So beinhaltet die Aussage „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ die unausgesprochene Botschaft „Ich habe das Gegenteil erwartet.“ Diese Negativ-Erwartung ist ausgrenzend für eine Person, die vielleicht ihr ganzes Leben in Österreich verbracht hat, aber aufgrund ihres Namens oder eines äußeren Merkmals als „fremd“ bezeichnet wird. 2

2 vgl. Bundeskanzleramt Österreich/Gleichbehandlungsanwaltschaft (Hg.): Vielfalt. Respekt. Recht. Informationsbroschüre zum Thema Diskriminierungsschutz. 2009, S. 16–19

K 1 | 05

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Insgesamt beruhen Vorurteile oft nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern werden von anderen übernommen. Eine große Rolle spielen dabei Einstellungen in der Familie und der Erziehungsstil der Eltern. Auch FreundInnen, das Umfeld, die Schule, Politik und Massenmedien können die Bildung von Vorurteilen beeinflussen. 1.3.2. Das Fremde, mein Feind Werden Sündenböcke gesucht, so fällt die Wahl meist auf Außenseiter und „Fremde“. In der heutigen Gesellschaft nehmen häufig ZuwandererInnen diese ungeliebte Rolle ein. Manche Medien und PolitikerInnen bedienen diese Feindbilder und heizen sie an. Ein ganzes Bündel an Vorurteilen kommt hier ins Spiel: Aussagen wie „Ausländer sind schuld daran, dass Arbeitsplätze knapp werden“, „Ausländer sind öfter kriminell“ oder „Ausländer nutzen den Sozialstaat aus“ sind Schlagworte in Wahlkämpfen und machen Schlagzeilen in manchen Medien. Gerade in wirtschaftlich schlechten Zeiten werden gerne Sündenböcke für gesellschaftliche Schwierigkeiten und wirtschaftliche Krisen verantwortlich gemacht. Schwarz-Weiß-Denken prägt oft die Diskussion. Umfragen wie der „Eurobarometer“ zur „European Social Reality“ der Europäioschen Union machen eine zwiespältige Einstellung der EuropäerInnen gegenüber ZuwanderInnen sichtbar. Die Verunsicherung, gekoppelt mit einem Mangel an Informationen, bildet auch einen Nährboden für die Entstehung von Vorurteilen und Feindbildern. Eine Reduzierung unsach­ licher Aussagen bzw. Angriffe in der Politik und in den Medien könnte dem entgegenwirken. Das „Andere“ wird es allerdings immer geben,

„Mögen Sie die Piresen?“ In Ungarn wurden 2006 und 2007 Meinungsumfragen zum Thema Zuwanderung durchgeführt. Das Ergebnis: Immer mehr Ungarn lehnten die Einwanderung der Piresen ab. Der Haken: Die „Piresen“ gibt es nicht. Die Volksgruppe wurde für die Umfrage erfunden, um die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber realen Minderheitengruppen wie Roma, Deutschen, Slowaken und Serben mit Gefühlen gegenüber einer fiktiven Volksgruppe zu vergleichen. Der Publizist Gusztav Megyesi kommentierte: „Die Menschen hassen die Piresen in erster Linie, weil sie keinen einzigen Piresen kennen. (...) Wieso ist es noch keinem Politiker eingefallen, seine Karriere auf der Rettung unseres Landes vor den Piresen zu bauen? Ich habe alle Piresen aus dem Land abschieben lassen, ich bin die Hoffnung des ungarischen Volkes, ich will an die Macht‘, könnte derjenige rufen. Und seine politischen Gegner könnten keinen einzigen Piresen als Widerlegung vorweisen.“ 3

WISSEN

MigrantInnenbilder in den Medien Wie Medien über Menschen mit Migrations­hinter­ grund berichten, sagt einerseits etwas über die Gesel­schaft aus und nimmt andererseits Einfluss auf die öffentliche Meinung. Besonders im sogenannten „Boulevard“ kommen MigrantInnen häufig im Zusammenhang von Negativthemen wie Arbeitslosigkeit oder Kriminalität vor. Bei Negativ­meldungen findet man bei Personen mit Migrationshintergrund häufig einen Hinweis auf ihre Herkunft – bei negativen Meldungen über Menschen ohne Migrationshintergrund wird dazu nur selten etwas erwähnt.

und damit auch die Ab- und Ausgrenzung von AußenseiterInnen. Die Wissenschaftler Norbert Elias und John Scotson haben das Zusammenleben in einer kleinen englischen Gemeinde untersucht: Hier kamen weder Menschen unterschiedlicher Herkunft noch unterschiedlicher Sprache zusammen. Spannungen zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ gab es trotzdem, und zwar zwischen lange ortsansässigen und später zugereisten Mitgliedern der Gemeinde. Obwohl die „Zugereisten“ ebenfalls englischer Herkunft waren, wurden sie als „AusländerInnen“ tituliert und als AußenseiterInnen behandelt. Menschen müssen also keine andere Herkunft haben, um als „fremd“ eingestuft zu werden. Sie müssen nicht einmal existieren, um abgelehnt zu werden, wie eine Umfrage in Ungarn zur Einwanderung der „Piresen“ zeigte (siehe Kasten). K 1 | 06

3 www.perlentaucher.de/magazinrundschau/2007-03-13.html

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Antisemitismus Vorurteile können harmlos bleiben. Sie können gefährlich werden, wenn sie zu diskriminierendem Verhalten führen. Und sie können lebensgefährlich werden, wenn mit ihnen Politik gemacht wird: „Vorurteile sind der Stoff für Diskriminierungskampagnen und Sündenbockpraktiken, aus Vorurteilen werden Ideologien gezimmert und Geschichtslügen gemacht.“ 4 Feindschaft mit Geschichte Zu den „ältesten und beharrlichsten Vorurteilskomplexen“ 5 zählt der Antisemitismus. Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet Antisemitismus „Feindschaft gegen Juden als Juden“ 6. Er hat viele Facetten: religiöse, soziale, politische. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der rassistische Antisemitismus: Alle Juden werden „von Natur aus“ negativ bewertet. „Sie können dieser Einschätzung weder durch Änderungen ihres politischen oder sozialen Verhaltens noch durch die Abkehr vom jüdischen Glauben entgehen“ 7, schildert der Wissenschaftler Armin Pfahl-Traughber. „Zunächst kamen derartige Auffassungen Anfang der 1870er Jahre in der völkischen Bewegung auf: So bestehe das Gesetz der Geschichte in einem Kampf unterschiedlicher ,Rassen‘ – hier zwischen ,Germanen‘ und ,Juden‘ – um die Vorherrschaft. An solche Einstellungen konnten die Nationalsozialisten seit Beginn der 1920er Jahre nahtlos anknüpfen. Insbesondere Hitler propagierte, dass die Juden sich als parasitäre Elemente in den Völkern eingenistet hätten und aus ihnen ausgeschieden werden müssten.“ 8

ZITAT

„Vorurteile fischen im Trüben. (...) Sie scheuen die

Objektivität wie Motten das Licht. So kamen die Nazis nicht etwa auf die Idee, den Juden kalte Augen nachzusagen. Für diese Behauptung wäre kein vernünftiger Mensch empfänglich gewesen. Ja, nicht einmal den nach Vorurteilen schnappenden Spießer hätte der offenkundige Unsinn überzeugt. Denn schon an der nächsten Straßenecke hätte er Juden mit freundlichen Gesichtern getroffen und der Propaganda nicht mehr getraut. Da sie schlaue Teufel waren, brüllten die Nazis den Juden entgegen, sie seien geizig, raffgierig und verschlagen. So fabrizierten sie das reine Ressentiment, das blanke Vorurteil. Wenn nun ein klarer, human

gesinnter Kopf entgegnete, ihm seien durchaus nicht geizige, nicht raffgierige, nicht verschlagene Juden bekannt, dann hatte die Propaganda ein leichtes Spiel. Jedenfalls bei schlichten oder angstvollen Gemütern. Dann nämlich konnte sie mit einem zweiten Vorurteil das in Frage gestellte erste bestätigen: Wenn du einem nicht verschlagenen Juden begegnest, hast du einen besonders gerissenen vor dir, einen, der sich verstellt, der nur so tut, als sei er ein friedlicher Zeitgenosse. Wie bei den Hexenprozessen des Mittelalters hatten die Angeklagten gegen diese perfiden Vorurteile der Braunen keine Chance.“ 9 Sir Peter Ustinov

4 vgl. Klaus Ahlheim: „Vorwort“. In: Klaus Ahlheim (Hg.): Die Gewalt des Vorurteils. Schwalbach: Wochenschau Verlag 2007, S. 7–9, S. 8 5 vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte. Antisemitismus. Nr. 31/2007, S. 2 6 vgl. Armin Pfahl-Traughber: „Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus.“ In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Antisemitismus. Nr. 31/2007, S. 4–11, S. 5 7 ebd., S. 8 8 ebd. 9 Sir Peter Ustinov: Achtung! Vorurteile. Nach Gesprächen mit Harald Wieser und Jürgen Ritte. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003, S. 279 f.

K 1 | 07

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Der Holocaust Nach dem Ersten Weltkrieg schürten die Nationalsozialisten die Stimmung gegen die Juden. Diese wurden für die „Schwäche“ Deutschlands, das Gebiete abtreten und für den Krieg Zahlungen leisten musste, verantwortlich gemacht. Als die nationalsozialistische Partei 1933 an die Macht kam, waren Juden der Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Die „Nürnberger Gesetze“, die 1935 in Kraft traten, erklärten Juden zu BürgerInnen zweiter Klasse. Durch weitere Gesetze wurden Juden aus dem Wirtschafts- und Erwerbsleben verdrängt, Enteignungen folgten. Ab 1941 mussten Juden einen gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen. Es folgten Massen­ morde und Deportationen in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager. Die systematische Ermordung der europäischen Juden hatte begonnen. Am Ende des Krieges waren sechs Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder dem Völkermord zum Opfer gefallen. Dieser Massenmord wird als „Holocaust“ (gr.) oder „Schoah“ (hebr.) bezeichnet. 10 Antijüdische NS-Propaganda Hitler bediente sich zum Zweck der Massenmobilisierung eines umfangreichen Propagandaapparats. 1933 wurde das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter der Leitung von Joseph Goebbels eingerichtet, das Kontrolle über Massenmedien und Kultur ausübte. Ein zentrales Motiv der NS-Propaganda war der Antisemitismus. Juden wurden dämonisiert und durch Tiervergleiche „entmenschlicht“. In dem Propagandafilm „Der ewige Jude“ wurden Juden mit „Ratten“ und „Ungeziefer“ verglichen. Diese Bezeichnungen zielten darauf ab, das Mitgefühl und die Hemmschwelle gegenüber der jüdischen Bevölkerungsgruppe herabzusetzen und die Notwendigkeit von ihrer Vernichtung plausibel zu machen. Antisemitismus heute „Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele, das Ausmaß der Verbrechen werde jedem Antisemitismus den Boden entziehen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt“ 11, so Werner Bergmann. Antisemitismus gibt es heute noch. In vielen Ländern sind Juden Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt – trotz und teilweise sogar wegen des Holocaust. Bergmann spricht von einem „,Antisemitismus wegen Auschwitz‘, der sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die Deutschen permanent an die NS-Verbrechen erinnern“ 12. Täter- und Opferrolle werden umgekehrt.

K 1 | 08

10 vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart. Arbeitsmaterialien. Drei Bausteine für Unterricht und außerschulische politische Bildung. Bonn 2008, S. 6 f. 11 Werner Bergmann: „Antisemitismus“. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Vorurteile. Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2005 (Neudruck 2009), S. 50–55, S. 50 12 vgl. ebd.

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

1.4. Medien und Links Für SchülerInnen Literatur RedX – die anderen Seiten. Ein Magazin des Österreichischen Jugendrotkreuzes. Nr. 3/Mai 2010: Wer bin ich? Das Schülermagazin des Jugendrotkreuzes geht das Thema Migration jugendgerecht an und lässt junge MigrantInnen selber zu Wort kommen. Infos und Bestellung: www.redx.at

Medien Kurzfilm: A Girl Like Me Die junge Filmemacherin Kiri Davis hat mit 16 Jahren das berühmte Puppen-Experiment der Clarks wiederholt und gefilmt – und kommt zu denselben Ergebnissen. Ihr preisgekrönter Film zeigt, wie übernommene Schönheitsstandards das Selbstbild junger Mädchen beeinflussen. Online ansehen unter: www.kiridavis.com (engl.) Werbespots: Zeig Zivilcourage! Unter dem Titel „3x45 Sekunden Zivilcourage“ hat der Filmemacher Jochen Graf drei kurze Werbespots für ZARA gedreht. Die mehrfach ausgezeichneten Filme ermutigen dazu, in unangenehmen Situationen aktiv gegen Alltags­ rassismus einzuschreiten – ganz ohne Zeigefingermoral! Online ansehen unter: http://filmproduktion.org/zaraspots

Links Allgemeine Erklärung der Menschenrechte www.ohchr.org – Universal Declaration of Human Rights in 375 translations Jede/r sollte die eigenen Rechte kennen. Auf der Website kann man die erstaunlich aktuell formulierten Menschenrechte in verschiedenen Sprachen nachlesen und downloaden. www.lpb-bw.de/onlinespiele/grundrechtejogging/index.htmw spielerische Aufklärung über Grundrechte www.zebra.or.at - ZEBRA Über konkrete Hilfe hinaus will ZEBRA für die Einhaltung der Menschenrechte für Flüchtlinge und für Solidarität und Toleranz gegenüber Minderheiten und Bekämpfung jeder Form von Rassismus eintreten. Dafür geben sie die Zeitung „Zebratl“ (downloadbar) heraus, dokumentieren Polizeiübergriffe und kommentieren das aktuelle migrationspolitische Geschehen.

Zum Thema Antisemitismus Literatur Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Antisemitismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Gegenwart. Arbeitsmaterialien. Drei Bausteine für Unterricht und außerschulische politische Bildung. Bonn 2008 Praktische Unterrichtsmaterialien mit anschaulichen Infos und Arbeitsvorschlägen zum Thema Antisemitismus. Kostenlose Bestellung (Versandkosten): www.bpb.de Neuwirth, Vilma: Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Wien: Milena Verlag 2008 Vilma Neuwirth hat die NS-Zeit als Sternträgerin in der Wiener Glockengasse überlebt. In dem autobiografischen Buch erzählt sie vom Terror der neuen Machthaber, von der antisemitischen Hetze der Nachbarn, von Leichtsinn und Zivilcourage.

Links Anne Frank www.annefrank.org Die Website bietet Informationen zum Leben Anne Franks, die in ihrem Versteck in einem Hinterhaus in den besetzten Niederlanden ihr weltberühmtes Tagebuch schrieb.

K 1 | 09

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Antirassismus-Workshops www.mauthausen-guides.at/workshops In diesen, vom Mauthausen Komitee Österreich angebotenen Workshops wird das Erkennen der Auswirkungen von rechter Gewalt und rechtsextremen Positionen geschärft sowie die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Herausforderung gefördert. Der Workshop soll das Erkennen der Auswirkungen von rechter Gewalt schärfen und damit die betroffenen Opfergruppen verdeutlichen sowie die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Herausforderungen hierzu fördern. Zusätzlich wird im Rahmen des Workshops erörtert, welche Menschen durch rechtsextreme Positionen ausgegrenzt werden, welche Konsequenzen daraus entstehen und wo rechtsextreme Meinungen beginnen. Außerdem werden anhand diverser Übungen das Thema Rassismus, die Bildung von Vorurteilen sowie Gruppen und Identitäten behandelt. Ein wichtiger Bestandteil dieser Übungen sind die Reflexion über die eigene Identität, über die Mechanismen der Gruppenbildung und die Betrachtung von Vorurteilen aus verschiedensten Perspektiven. Zivilcourage-Trainings www.zivilcourage.at Ein Jugendangebot des Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) sind Zivilcourage-Trainings. In den Trainings wird neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Zivilcourage vermittelt, was man in diskriminierenden Situationen tun kann bzw. wo die eigenen Grenzen liegen und es werden Handlungsoptionen erarbeitet. Zivilcourage-Trainings sollen dazu beitragen, aus unbeteiligten ZuschauerInnen HelferInnen zu machen. Informationen und Anmeldung unter www.mkoe.at

Für LehrerInnen Literatur Bauer, Christa; Mernyi, Willi: Rechtsextrem – Symbole, Codes, Musik, Gesetze, Organisationen; Wien: ÖGB-Verlag 2010 Das Buch „Rechtsextrem“ bietet allgemeingültige Hintergründe zu rechtsextremen Jugendkulturen, deren Codes und Zeichen. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Vorurteile. Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2005 (Neudruck 2009) Das Heft versammelt interessante Artikel und Expertenbeiträge und stellt ein nützliches Kompendium zum Thema Vorurteile dar. Kostenlose Bestellung (Versandkosten): www.bpb.de Henri – das Magazin, das fehlt. Ausgabe 10/2010: Fremd Das Magazin des Roten Kreuzes stellt sich in differenzierten Beiträgen den gängigen Vorurteilen gegenüber MigrantInnen. E-Paper und Bestellung: www.roteskreuz.at/henri Mernyi, Willi; Niedermair Michael: Demagogen entzaubern – Hetzer stoppen. Propaganda entlarven. Vorurteile entkräften. Wien, ÖGB-Verlag 2010 Die Autoren liefern zahlreiche Praxistipps für den Umgang mit Hetzern und Demagogen. Sir Peter Ustinov Institut (Hg.): Feindbild Zuwanderer. Vorurteile und deren Überwindung. Wien: Braumüller 2009 Der Band versammelt Beiträge renommierter ExpertInnen in Sachen Migration und analysiert Vor­urteile und Feindbilder. Weiss, Hilde (Hg.): Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation. Wiesbaden: VS Verlag 2007 Die Soziologin Hilde Weiss hat erforscht, wie es um die Integration von jugendlichen MigrantInnen in Österreich bestellt ist.

Zum Thema Antisemitismus Links Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus www.kiga-berlin.org PädagogInnen mit Migrationshintergrund setzen sich mit Erscheinungsformen des Antisemitismus auseinander und bieten Materialien, z. B. „Pädagogische Konzepte gegen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft“.

K 1 | 10

Zentrum für Antisemitismusforschung http://zfa.kgw.tu-berlin.de Das Institut erforscht Vorurteile und ihre Folgen wie Antisemitismus, Antiziganismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus.

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Arbeitsmaterialien: Voraussetzungen für den Einsatz Hinweise für LehrerInnen Die Materialien sind für die Bearbeitung unter pädagogischer Begleitung konzipiert. Sie sollen zum Nachdenken anregen und zu Schlussfolgerungen führen. Wie komplex diese sein können, hängt vom Vorverständnis und Vorwissen der Jugendlichen ab. Es liegt im Sinne reflektierenden Arbeitens, dass nicht alle TeilnehmerInnen zwangsläufig zu gleichen oder ähnlichen Schlüssen gelangen müssen. Deshalb wird immer wieder aufge­ fordert, eigene Standpunkte zu argumentieren und zu diskutieren. Die angestrebten Ziele – Reflexivität, soziale Verantwortlichkeit, kritische Auseinandersetzung, Autonomie im Denken und Handeln – werden so auch in der didaktischen Aufbereitung berücksichtigt und teilweise vorweggenommen.

K 1 | 11

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 1: Gleichheit und Vielfalt

A) Erkannt werden Hinweise für LehrerInnen Lernziele Anders-Sein als notwendige Voraussetzung für Individualität verstehen Unsicherheit im Umgang mit Fremdem/Neuem akzeptieren Verstehen, dass Vertraut-Sein das Ergebnis einer Entwicklung ist, die mit Fremd-Sein beginnt Kinder und Jugendliche sind mit der Entwicklung ihrer Identität beschäftigt. Sie machen im Umgang mit ihrer sozialen Umwelt die Erfahrung, dass Menschen verschiedene Charaktere, Erwartungen, Wünsche und Handlungsmuster haben, dass sie selbst von verschiedenen Personen unterschiedlich behandelt werden und dass soziale Interaktionen umso leichter fallen, je vertrauter die Beteiligten sind und je sicherer sie sich ihrer selbst werden. Kinder und Jugendliche sind aber auch neugierig. Die erfahrene Vielfalt weckt das Interesse dafür, was es noch alles gibt. Die eigene Identitätsfindung braucht eine Palette von Modellen möglicher Identitäten als Orientierungsbasis. Die Suche nach Antworten auf die Frage „Wie kann/will ich werden?“ beginnt mit Vergleichen: So wie XXX kann/will ich auch oder kann/ will ich nicht werden. Dieser Prozess lebt von der Vielfalt – ohne sie ist Person-Werdung nicht möglich. Das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit gebender Vertrautheit und den Horizont erweiternder Fremdheit prägt lebenslang die Entwicklung des Individuums. Die folgenden Arbeitsunterlagen können helfen, sich darauf bewusst einzulassen.

K 1 | 12

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung A1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit verbindet – Verschiedenheit trennt: Beides schafft Gemeinschaft Vertrautes und Fremdes sind Gegensätze, die unser ganzes Leben bestimmen. Sie ermöglichen Orientierung und geben uns Hinweise darauf, welche Handlungen in verschiedenen Situationen sinnvoll sind. Ist etwas vertraut, dann können wir ohne lange Erkundigungen damit umgehen, wissen, was zu tun ist und was uns dabei erwartet. Das erleichtert den Alltag und gibt Sicherheit. Ist etwas fremd, müssen wir uns erst ein Bild davon machen, probieren, wie man damit umgeht, und darauf warten, was dabei herauskommt. Du kennst das vom Essen: deine Lieblingsspeise kannst du einfach bestellen, du weißt, was du bekommen wirst und wie es gegessen wird. Das ist einfach und geht schnell. Steht auf der Speisekarte aber eine Speise, von der du noch nie gehört hast, dann wirst du zuerst fragen, was das ist, welche Zutaten drin sind und welche Geschmacksrichtung du in etwa erwarten kannst. Dann erst wirst du entscheiden, ob du diese Speise bestellst oder nicht. Wenn sie dann auf dem Tisch steht, wirst du vielleicht unsicher sein, ob sie mit dem Messer geschnitten oder mit der Hand gegessen wird. So ist das immer: vertraut = Sicherheit, fremd = Unsicherheit Immer nur die Lieblingsspeise zu essen, würde aber bedeuten, niemals etwas Neues kennenzulernen – das wäre auf Dauer ziemlich langweilig und außerdem ungesund. Und nebenbei: DASS etwas überhaupt zur Lieblingsspeise geworden ist, war ja auch nur möglich, weil du irgendwann einmal davon probiert und festgestellt hast, dass es dir schmeckt. Ständig müssen wir uns mit Fremdem bzw. Neuem auseinandersetzen: Die Schule war am ersten Schultag fremd und neu. Deine FreundInnen mussten dich erst einmal kennenlernen. Neue Schuhe sind meistens nicht so bequem wie alte (trotzdem möchtest du von Zeit zu Zeit welche haben). Menschen, die ein Leben lang miteinander leben wollen, waren einander irgendwann einmal völlig fremd. Alles, was vertraut ist, war zuerst einmal fremd. Neues ist fremd, weil es anders ist als das, was wir schon kennen. Die Verschiedenheit macht uns neugierig. Je mehr davon wir kennenlernen, umso mehr wissen wir von unserer Welt. Dafür lohnt es sich schon, ein bisschen Unsicherheit auszuhalten. Jeder Mensch ist ein Fremder – für die meisten anderen!

K 1 | 13

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung A1: Arbeitsblatt für SchülerInnen 1. Durchgang Wähle bitte eines der drei Bilder. Beschreibe eine der Figuren darauf möglichst genau auf einem Blatt Papier, ohne ihre Platzierung (z. B. „Vierte von rechts“) anzugeben. Schreibe deinen Namen auf das Blatt.

2. Durchgang Wähle bitte eines der drei Bilder. Beschreibe eine der Figuren darauf möglichst genau auf einem Blatt Papier, ohne ihre Platzierung (z. B. „Vierte von rechts“) anzugeben. Schreibe deinen Namen auf das Blatt.

Alle Beschreibungen, die zum selben Bild gehören, werden gesammelt. Ein/e TeilnehmerIn zieht ein Blatt und versucht zu erraten, welche der Figuren beschrieben worden ist ➔ der/die VerfasserIn gibt dazu Rückmeldung (stimmt/stimmt nicht). Wie hoch ist die Trefferquote? 3. Auswertung 1. Welche Merkmale machen eine Person äußerlich unverwechselbar? 2. Wodurch wird das von einzelnen Figuren auf den Bildern betont? 3. Was tust du selbst, um dich von anderen zu unterscheiden? 4. Warum ist das für dich wichtig? 5. Auf den oberen Bildern, auf denen alle gleich sind, sind keine wirklichen Menschen zu sehen – warum nicht?

K 1 | 14

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung A2: Hinweise für LehrerInnen

Meine Großeltern Dauer: ca. 20 Minuten Ziele: Vorurteile als solche erkennen und hinterfragen lernen Sensibilisierung für positive und negative Eindrücke und Zuschreibungen Aufbrechen von Gruppenidentitäten und Geschlechterzuschreibungen Material und Vorbereitung: evtl. Flipchart zum Festhalten der Diskussionsergebnisse Ablauf: Die TeilnehmerInnen werden in vier Gruppen geteilt und gebeten, sich in jeweils eine Ecke des Raumes zurückzuziehen. Die Workshopleitung begibt sich danach von einer Gruppe zur nächsten und gibt der ersten Gruppe den Auftrag, auf einem Blatt Papier die Eigenschaften ihrer Großväter zu sammeln. Diese müssen nicht einheitlich sein, nur eine Sammlung. Die zweite Gruppe bekommt denselben Auftrag mit ihren Großmüttern, die dritte Gruppe soll Eigenschaften von alten Männern und die vierte jene von alten Frauen sammeln. Wichtig ist dabei, dass die Gruppen nicht miteinander kommunizieren dürfen und nicht erfahren sollten, welche Aufträge die anderen Gruppen haben. Nach 10 Minuten werden die Gruppen nacheinander aufgefordert, ihre Ergebnisse den anderen Gruppen mitzuteilen. Nachdem alle vier Gruppen dies getan haben, werden die meist eher positiven Eigenschaften der eigenen Großeltern den meist eher negativen Eigenschaften der älteren Personen bzw. die Eigenschaften der Männer jenen der Frauen gegenübergestellt. Die TeilnehmerInnen werden dann gefragt, wie es zu diesem Unterschied der Eigenschaften kommen kann, wenn die Summe der Großeltern die alten Menschen sind. Die von der Gruppe genannten Punkte können diskutiert und auf einem Flipchart gesammelt werden. Diskussionsfragen: Warum schreiben wir unseren Großeltern eher positive Eigenschaften, alten Menschen eher negative Eigenschaften zu? Wie wäre wohl das Ergebnis dieser Übung, wenn man im Altersheim nach der Jugend bzw. den eigenen Enkeln fragt? Welche Eigenschaften werden den Frauen, welche Eigenschaften werden Männern zugeschrieben? Warum schreiben wir ihnen diese Eigenschaften zu? Treffen alle Eigenschaften einer Gruppe automatisch auf alle Individuen darin zu? Wie können wir im Alltag auf diese Zuschreibungen Rücksicht nehmen? Variante: Bei kleineren Gruppen kann dies auch nur mit den Themen Großeltern und alte Menschen durchgeführt werden, wobei jedoch der geschlechtsspezifische Aspekt wegfällt. (Quelle: Mauthausen Komitee Österreich) K 1 | 15

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 1: Gleichheit und Vielfalt

B) Gemeinsamkeiten Hinweise für LehrerInnen Lernziele Das allgemein Menschliche als verbindend begreifen Menschenrechte und Menschenwürde als universal erkennen Eigene Verpflichtungen daraus ableiten Junge Menschen entwickeln sich in sozialer Interaktion. Sie werden „am Du zum Ich“ (Martin Buber). Das kann nur gelingen, wenn sie von anderen Wertschätzung und Respekt erfahren – und dadurch ihre eigene Würde begreifen. Geschieht das nicht, werden sie Schwierigkeiten haben, Wertschätzung und Würde anderen zukommen zu lassen – und zwar ganz einfach deshalb, weil sie dann nicht verstehen, was damit gemeint ist. Die eigenen Erfahrungen und die Art und Weise, wie sie subjektiv erlebt werden, bilden die Basis für „Hochrechnungen“ darüber, wie andere Menschen erleben und empfinden könnten. Der Grund liegt darin, dass alle Menschen darin einander ziemlich ähnlich sind, dass „die Menschheit“ tatsächlich eine Gesamtheit ist. Gleichzeitig ein Individuum und Teil eines Ganzen zu sein – nur wer das begriffen hat, versteht den universalen Anspruch von Menschenwürde und daraus resultierenden Menschenrechten.

K 1 | 16

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung B1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Menschenwürde – Menschenrechte Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, wie sich die Menschheit entwickelt hat – und ist dabei zu spannenden Ergebnissen gekommen: So wie es aussieht, sind wir nämlich alle miteinander viel enger verwandt, als wir uns das je vorgestellt haben. Wir sind so etwas wie eine riesige Familie, die sich in Hunderttausenden von Jahren entwickelt hat (und zwar wahrscheinlich von Afrika aus). Wir alle haben die gleichen Vorfahren. So ist es auch erklärlich, dass die Menschen vieles gemeinsam haben: Alle lachen und weinen, lieben und hassen, kennen Freude und Angst. Alle Menschen können zwischen Gut und Böse unterscheiden, brauchen die Gemeinschaft mit anderen und wissen als einzige Lebewesen, dass das Leben irgendwann endet. Menschen sind einzigartig – und zwar alle, ganz egal, woher sie kommen, wie sie aussehen oder welche Sprache sie sprechen. Dafür gibt es einen Begriff: Menschenwürde. Alle haben sie, und sie darf niemals verletzt werden. Wer das macht, disqualifiziert sich selbst als Mensch.

Deshalb steht im Artikel 1 der Menschenrechte:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ „Alle Menschen … sollen …“ – das heißt ganz konkret: Ich soll, du sollst, er/sie/es soll … In einer Gruppe bzw. Klasse funktioniert das nur, wenn jede/r bei sich beginnt und alle darin übereinstimmen, was für die Gemeinschaft wichtig ist. In der Gesellschaft gibt es deshalb Gesetze, Verträge, Konventionen und Regeln. Wie ist das bei euch in der Klasse? Was bedeutet die Beachtung der Menschenwürde in eurer Gemeinschaft? ➔ Erarbeite bitte ein „Grundsatzpapier“ oder ein „Klassen-/Gruppenabkommen“. Hier sollen die Mindeststandards für euren Umgang miteinander festgeschrieben sein. So könnte das formuliert sein: „Wir wollen …“ „Wir sind uns darin einig, dass …“ „Wir erwarten von jedem Mitglied …“

K 1 | 17

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung B2: Hinweise für LehrerInnen

Gleiche Rechte für alle? Dauer: 60-90 Minuten Ziele: Die Aktivität bietet einen Einstieg ins Thema Menschenrechte. In der Seminargruppe soll überlegt werden, worin Menschenrechte bestehen, ob diese in Österreich für alle Menschen gleichermaßen gewährleistet werden und wie Verletzungen zu beurteilen sind. Material und Vorbereitung: Plakat, Stifte, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: www.uno.de/menschen/index.cfm?ctg=udhr für Teil 2: kopierte Fragebögen Ablauf: Die Aktivität besteht aus drei Teilen ( je ca. 30 Minuten), von denen die ersten zwei auch einzeln funktionieren. Teil 1: Was sind Menschenrechte? In Kleingruppen werden wichtige Rechte gesammelt, denen der Status von Menschenrechten zukommen sollte. Zwei Gruppen können dabei unterschiedliche Schwerpunkte setzen (z. B. bürger­ liche und politische Rechte vs. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte). Im Anschluss findet eine Diskussion darüber statt, welche Rechte davon die wichtigsten sein sollten. Teil 2: Gleiche Rechte für alle? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bietet sich als Diskussionsanstoß für die Frage an, ob Menschenrechtsverletzungen auch in Österreich vorkommen. Das Team gestaltet einen Fragebogen, in dem verschiedene Menschenrechte genannt sind (entweder die, auf die sich die Gruppe bei dem vorausgegangenen Teil der Aktivität geeinigt hat oder Auszüge aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Der Fragebogen wird als Tabelle gestaltet. Hinter jedem Recht ermöglicht eine Skala die Einschätzung, ob das jeweilige Recht vollständig, mit Einschränkungen oder gar nicht gewährleistet ist. Nun werden zwei oder mehr Gruppen gebildet. Eine Gruppe soll einschätzen, wie gut verschiedene Menschenrechte in Österreich für StaatsbürgerInnen garantiert sind. Die zweite Gruppe überlegt, ob das jeweilige Recht für Asylsuchende und Flüchtlinge gilt. Es können auch noch mehr Gruppen gebildet werden. Teil 3: Anerkannte Fluchtgründe Im Zusammenhang mit dem Thema Flucht und Asyl bietet es sich an, nach einer Vorstellung und Diskussion der Menschenrechte gemeinsam zu überlegen, welche Menschenrechtsverletzungen als Fluchtgründe anerkannt sind.

K 1 | 18

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung B2: Hinweise für LehrerInnen Tipps für LehrerInnen Der zweite Teil der Übung sollte nur gemacht werden, wenn zu erwarten ist, dass die Gruppe Kenntnisse über Menschenrechtsverletzungen hat. In jedem Fall empfiehlt es sich, solche Menschenrechte in den Fragebogen aufzunehmen, bei denen es offensichtlich ist, dass nicht alle die gleichen Rechte haben (Recht auf freie Berufswahl, Recht auf Wohnung, Recht auf Freizügigkeit …). Der dritte Teil der Übung setzt fundierte Kenntnisse des Teams über Asylpolitik voraus. (Quelle: Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit, DGB-Bildungswerk Thüringen e.V., Erfurt. )

K 1 | 19

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung B3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit und Vielfalt 1 1) Alle Menschen lachen gerne – aber lachen sie auch über dasselbe? Lass dir von anderen ihre Lieblingswitze erzählen – am besten solche, die in verschiedenen Sprachen erzählt werden. Das können auch gezeichnete Witze aus anderssprachigen Zeitungen sein. Lange Zeit war zum Beispiel die Wiener Witzfigur „Graf Bobby“ sehr beliebt: Graf Bobby wird einberufen. „Wie wollen Sie denn Ihren Grundwehrdienst ableisten?“ „Natürlich als General.“ „Sind Sie wahnsinnig?!“ „Wieso, ist das Bedingung?“ In jedem Fall sollten sie übersetzt werden, damit ALLE darüber lachen können! Vielleicht stellst du auch fest, dass du manche Witze, über die anderswo gelacht wird, gar nicht lustig findest – und dass deine Lieblingswitze auch nicht von allen anderen verstanden werden. Warum ist das so? Wahrscheinlich ist es eine gar nicht so einfache Herausforderung, „Witze-ÜbersetzerInnen“ zu finden – aber dabei lernst du sicher neue Seiten an deinen Mitmenschen kennen. ➔ Und am Schluss wird daraus das „Internationale Buch des Lachens“. 2) Alle Menschen feiern gerne Feste – aber feiern sie auch dieselben? Welche Feste feiert man in Österreich, in der Türkei, in Slowenien, in der Slowakei, in Polen, in China, in Schweden, in …? Frag Menschen, die aus anderen Ländern kommen, was bei ihnen gefeiert wird und wie sie feiern. Welche Feste werden zwar in mehreren Ländern gefeiert – aber auf verschiedene Weise? Zu vielen Festen gehören ganz bestimmte Speisen. Lass dir davon erzählen! du kannst auch Rezepte dazu sammeln (z. B. aus dem Internet). Welche Art des Feierns gefällt dir besonders gut? Warum? ➔ Feiert miteinander ein „Allerwelts-Fest“ und gestaltet es mit Elementen aus den Festen verschiedener Länder!

K 1 | 20

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung B4: Hinweise für LehrerInnen

Postkarte aus der Heimat 1 Dauer: ca. 45-60 Minuten Ziele: Präsentieren des eigenen kulturellen und sozialen Umfelds und der eigenen Herkunft Reflexion des eigenen Backgrounds und der Identität Besseres Kennenlernen der Gruppe Material und Vorbereitung: Bunte Stifte Leere Karten aus dünnem Karton (etwa DIN A5, eventuell farbig) Ablauf: 1. Die TeilnehmerInnen werden gebeten, eine Postkarte von ihrem Heimatort zu zeichnen, also von dem Ort, an dem sie den größten bzw. wichtigsten Teil ihrer Kindheit (und Jugend) verbracht haben. Die Postkarte kann darstellen, wo dieser Ort sich befindet und wie er aussieht, wie es sich dort lebt, welche Dinge besonders wichtig sind etc. Die GruppenleiterInnen betonen, dass es nicht um eine möglichst realistische Darstellung geht, sondern um die Aspekte, die den Einzelnen persönlich wichtig sind. 2. Dann werden die Bilder im Plenum vorgestellt. Die GruppenleiterInnen beginnen mit der eigenen Postkarte, um den TeilnehmerInnen eine Orientierungshilfe zu geben, was die Art und den Umfang der Vorstellung betrifft. 3. Die Karten werden dann auf der Pinnwand aufgehängt. Selbst wenn die TeilnehmerInnen aus dem gleichen Ort, der gleichen Stadt kommen, ermöglicht diese Übung, über einen biografischen Zugang mehr über das jeweilige Umfeld der Personen und was ihnen daran wichtig ist, zu erfahren. 4. Danach wird auf einem Flipchart gesammelt, welche Elemente aus den Postkarten oft vorkommen und welche seltener, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten es in der Gruppe gibt.

1 Nach: „Wir sind Vielfalt – Methodenvorschläge für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“, Österreichische Bundesjugendvertretung. http://alleandersallegleich.at/content/site/shop/broschuere/index.html

K 1 | 021

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung B5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Menschenrechte Alle Menschen sollen einander „im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“, steht in der Erklärung der Menschenrechte.

Und in Artikel 2 heißt es:

„Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ Die vollständige Erklärung kannst du hier nachlesen: www.un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html

Die Schlagzeilen in Zeitungen und Nachrichten klingen da schon anders:

➔ Schau in Tageszeitungen oder höre dir die Nachrichten im Radio an – du findest sicher noch mehr! ➔ Bitte such dir einen Fall aus – und schreib einen fiktiven Brief an die Verantwortlichen. Erkläre, warum hier gegen Menschenrechte verstoßen wird und warum das nicht in Ordnung ist. Vielleicht hast du einen Vorschlag, was geändert werden könnte. Diskutiere deine Stellungnahmen in der Gruppe.

K 1 | 22

Tipp: Wenn es einen aktuellen Fall gibt, bei dem du feststellen kannst, wer die verantwort­ lichen oder zuständigen Personen sind, schick so eine Stellungnahme wirklich ab! Besonders wirkungsvoll ist das, wenn möglichst viele Personen das gemeinsam tun!

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung B5: Arbeitsblatt für SchülerInnen Und so schreibt man einen solchen Brief:

(hierher gehört die Adresse des Absenders)

An

(hierher gehört die Adresse des Empfängers)

(hierher gehören das Datum und der Ort: z. B. Wien, 24.August 2011)

Sehr geehrte Damen und Herren!

(Zu Anfang sollte kurz gesagt werden, worum es geht – stelle den Sachverhalt klar.)

(Als nächstes teile dein Anliegen mit – was willst du erreichen?)

(Zum Schluss kannst du sagen, worauf du hoffst/was du erwartest – was soll der/die Angesprochene tun?

Mit freundlichen Grüßen

(Schließe den Brief mit ein paar freundlichen und höflichen Worten ab und unterschreibe ihn mit deinem vollen Namen.)

K 1 | 23

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 1: Gleichheit und Vielfalt

C) Differenzen Hinweise für LehrerInnen Lernziele Unterschiede als Ergebnis verschiedener Perspektiven begreifen Meinungsbildung durch mediale Darstellungen erkennen Zwischen Fakten und Interpretation unterscheiden können Ob es gerade Tag oder Nacht ist, hängt vom Standort ab. Und dass es gar nicht einfach ist, sich diesbezüglich umzustellen, weiß man spätestens nach dem ersten Jetlag auf einer Fernreise. Die Vorstellung, dass alles so – und nur so – ist, wie ich es gerade sehe, ist typisch für Kleinkinder. Auf dem Weg zum Erwachsensein müssen wir lernen, dass die Welt in den Köpfen anderer Menschen ganz anders ausschauen kann als im eigenen. Absolute Wahrheiten sind außerhalb von Religionen nur in totalitären Systemen ein Thema. Überall sonst gibt es nur einen einzigen Weg, mit den subjektiven Welten umzugehen: Kommu­ nikation. Einander davon erzählen und darauf neugierig sein, was mein Gegenüber sieht – und warum. Voraussetzung dafür ist einerseits die Einsicht, dass der Versuch, unbedingt Recht zu haben, oft nicht nur aussichtslos, sondern sogar unsinnig ist. Und andererseits die Aufmerksamkeit für die Möglichkeit der Manipulation – dafür, dass es immer jemanden geben wird, der anderen die eigene Sicht der Dinge aufzwingen will. Die folgenden Materialien unterstützen die Entwicklung einschlägiger Kompetenzen.

K 1 | 24

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung C1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Entweder-oder! Sowohl-als auch? Wir haben gerne Klarheit: darüber, ob etwas gut ist oder schlecht, ob jemand klug ist oder dumm, ob jemand gut oder böse ist. Das macht das Leben (scheinbar) einfacher, man kennt sich aus – und braucht nicht weiter nachzudenken. Die Sache hat nur einen Haken: Es ist nicht so! In den Märchen funktioniert das nach diesem Muster. Die erzählen bekanntlich aber auch nicht die Wirklichkeit. In manchen Filmen funktioniert das auch: Die „Guten“ sind schön und vorzugsweise sauber und hell gekleidet, die „Bösen“ sind hässlich, schmutzig und tragen Schwarz. Märchen und Filme dieser Art sind etwas für schlichte Gemüter bzw. für kleine Kinder und zur Zerstreuung. Die Realität sieht anders aus. Keinem Menschen ist anzusehen, ob man ihm trauen kann oder lieber nicht. Da steht niemandem sein Charakter ins Gesicht geschrieben. Und weder die Hautfarbe noch die Kleidung garantieren, dass wir es hier mit den „Guten“ zu tun haben. In der Realität müssen wir uns Gedanken machen und unsere Entscheidungen verantworten. Da ist es notwendig, sich auf die Menschen und Dinge einzulassen, sie kennenzulernen und sich erst dann eine Meinung zu bilden. Da stellen wir schnell fest: Mit dem ENTWEDER-ODER kommen wir nicht allzu weit. Menschen haben SOWOHL gute ALS AUCH schlechte Seiten. Situationen haben SOWOHL Vorteile ALS AUCH Nachteile. Dinge sind weder gut noch schlecht – sondern werden von Menschen für Gutes oder Schlechtes gebraucht (mit einem Messer kann man Brot schneiden – oder jemanden verletzen). ➔ Welche guten und welche weniger guten Seiten hast du selbst? ➔ Was magst du an deinem/deiner besten Freund/in? Was magst du weniger an ihr/ihm?

K 1 | 25

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung C2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

© kaipity - Fotolia.com

© Elenathewise - Fotolia.com

Ansichtssache

Ist dieses Glas halb leer – oder halb voll?

Zeigt das Bild einen Pokal – oder zwei Gesichter im Profil?

Bei beiden Fragen gibt es dasselbe Problem: das kleine Wörtchen ODER! Denn selbstverständlich ist ein Glas, das zur Hälfte gefüllt ist, halb leer UND halb voll zugleich! Und das rechte Bild zeigt einen Pokal UND zwei Profile! Was zuerst ins Auge fällt, hängt von der Sichtweise des Betrachters ab. Kaum etwas IST einfach SO in einer bestimmten Weise – alles ist immer nur FÜR jemanden so, wie er/sie es sieht. Ob das Wasser im Schwimmbecken zu kalt, zu warm oder gerade angenehm ist, ob das Gulasch zu scharf, zu mild oder gerade richtig ist, ob ein Mensch freundlich, abweisend oder einfach nur höflich ist – alles reine Interpretationssache. Manche Menschen neigen dazu, vieles negativ zu sehen, andere sehen nur die guten Seiten. Die einen fahren nicht gerne ins Ausland auf Urlaub – weil es dort kein „ordentliches Schnitzel“ gibt. Die anderen sind neugierig auf alles, was sie dort kennenlernen können.

Foto: Anton aus de.wikipedia.org

➔ Wie ist das bei Dir?

K 1 | 26

Welches der Schwersternpaare ist das kleinste/größte?

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung C3: Hinweise für LehrerInnen

Stille Post 2 Dauer: ca. 45 Minuten Ziele: Schärfen der eigenen Wahrnehmung Erkennen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit subjektiv wahrgenommen und gedeutet wird Einflussfaktoren auf die eigene Deutung von Wirklichkeit erkennen und problematisieren Material und Vorbereitung: Geschichte Sesselkreis (2 Sessel in der Mitte) Schreibunterlagen für Notizen Eventuell Flipchart zum Festhalten der Diskussionsergebnisse Ablauf: 1. Fünf Freiwillige werden gebeten, den Raum zu verlassen. 2. Den verbleibenden TeilnehmerInnen wird der Ablauf der Übung dargelegt und sie werden gebeten, sich Notizen darüber zu machen, wie sich die Geschichte und die Darstellung der Ereignisse durch Weitererzählen verändern. 3. Die erste Person wird hereingebeten und bekommt die Aufgabe gestellt, die folgende Geschichte so genau wie möglich an die nachfolgenden Personen weiterzuerzählen. Mitschreiben und Einsagen durch die anderen TeilnehmerInnen sind verboten. 4. Die Geschichte wird langsam vorgelesen. Danach wird die nächste Person hereingebeten und bekommt von der ersten Person die Geschichte erzählt. Dies setzt sich fort, bis alle fünf Freiwilligen wieder im Raum sind. Die letzte Person erzählt die „Endversion“ der Geschichte der ganzen Gruppe. 5. Danach wird die Originalgeschichte nochmals vorgelesen und in einer Reflexion werden die Diskussionsfragen besprochen. Diskussionsfragen: Welche Teile der Geschichte sind weggefallen? Welche Teile wurden dazu erfunden? Gibt es Teile der Geschichte, die sich verändert haben und wenn ja, warum haben sie sich verändert? Inwieweit sind unsere subjektiven Wahrnehmungen und Informationswiedergaben im Alltag hilfreich, notwendig, harmlos, gefährlich? Was ändert sich, wenn wir uns darüber bewusst sind? Varianten: Der Schwierigkeitsgrad der Übung steigt mit der Anzahl der Freiwilligen, die den Raum verlassen. Kopiervorlage auf der Rückseite 2 Nach: Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit www.baustein.dgb-bwt.de

K 1 | 27

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung C3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Stille Post Text ab 9. Schulstufe „In einer gedrängt vollen S-Bahn rutscht einem schwarzhaarigen, fremdländisch wirkenden, kleinen Mann mit Tirolerhut die aus brauner Synthetik gefertigte Aktentasche unter dem Arm heraus und fällt zu Boden. Wegen der Enge kann der Mann sich nicht bücken und bittet daher die Umstehenden in gebrochenem Deutsch, ein wenig zur Seite zu rücken. In diesem Moment hält der Zug. Die Leute drängen zum Ausgang und stoßen dabei den nach seiner Tasche suchenden Mann um. Eine elegant gekleidete Frau sagt zu ihrem hünenhaften Begleiter, der ein auffällig gemustertes Hemd nach der neuesten Mode trägt: ‚Fürchterlich, diese Ausländer!‘ Als der Mann aufsteht, ist sein Mantel mit Schmutz überdeckt. Er sieht: Seine Tasche ist fort! Schnell läuft er zu dem kleinen, aus rotem Backstein errichteten Stationshaus am Ende des Bahnsteigs und berichtet aufgeregt dem Stationsvorsteher von seinem Missgeschick. Dieser, ein kräftiger Mann mit einem schmucken rötlichen Backenbart, dem die dunkelblaue Uniform hervorragend steht, blinzelt durch seine modern eingefasste Brille mit getönten Gläsern und holt lächelnd aus einem verschlossenen Schrank an der Rückwand des Raumes die gesuchte Tasche hervor. Der kleine Mann bedankt sich überschwänglich, zieht freundlich seinen Hut und läuft schnell davon, um die auf dem Nebenbahnsteig bereits wartende S-Bahn noch zu erreichen.“ Text 7. bis 8. Schulstufe „In einer gedrängt vollen S-Bahn rutscht einem schwarzhaarigen, fremdländisch wirkenden, kleinen Mann mit Tirolerhut die Aktentasche unter dem Arm heraus und fällt zu Boden. Wegen der Enge kann der Mann sich nicht bücken und bittet daher die Umstehenden in gebrochenem Deutsch, ein wenig zur Seite zu rücken. In diesem Moment hält der Zug. Die Leute drängen zum Ausgang und stoßen dabei den Mann um. Eine elegant gekleidete Frau sagt zu ihrem hünenhaften Begleiter: ‚Fürchterlich, diese Ausländer!‘ Als der Mann aufsteht, ist sein Mantel mit Schmutz überdeckt. Er sieht: Seine Tasche ist fort! Schnell läuft er zu dem kleinen, aus rotem Backstein errichteten Stationshaus am Ende des Bahnsteigs und berichtet aufgeregt dem Stationsvorsteher von seinem Missgeschick. Dieser, ein kräftiger Mann mit einem schmucken rötlichen Backenbart blinzelt durch seine Brille mit getönten Gläsern und holt lächelnd aus einem verschlossenen Schrank die gesuchte Tasche hervor. Der kleine Mann bedankt sich überschwänglich, zieht freundlich seinen Hut und läuft schnell davon, um die auf dem Nebenbahnsteig bereits wartende S-Bahn noch zu erreichen.“ (Quelle: Mauthausen Komitee Österreich)

K 1 | 28

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung C4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit und Vielfalt 2 „Die AusländerInnen“ in Österreich gibt es eigentlich nicht – so wenig, wie es „die ÖsterreicherInnen“ gibt. Diese verstehen sich ja oft mehr als WienerInnen, BurgenländerInnen, KärntnerInnen usw. oder auch als BäuerInnen, der Mittelstand, ArbeitnehmerInnen, UnternehmerInnen, Eltern, … du kannst die Liste fortsetzen! Menschen, die nach Österreich zuwandern, sind das alles auch – und außerdem sind sie Menschen, die in verschiedenen Ländern geboren wurden. ➔ Was sagt dir die folgende Grafik darüber? Zuwanderung in Österreich

50.582

Saldo aus Zuwanderung minus Abwanderung (inkl. Österreicher)

34.436

32.964

36.297

19.787

27.477 20.596

17.272 8.451

1998

Herkunftsländer der Nichtösterreicher 2009 (Saldo)

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Türkei: 1.754

Andere EU-Länder: 9.179

Ex-Jugoslawien (ohne Slowenien): 1.461 Andere europäische Länder: 1.215

25.696 Asien: 3.582

Deutschland: 7.168

Afrika: 808 Amerika: 605

Andere: 15

Quelle: APA/Stat (Anmerkung: „Saldo“ bedeutet Folgendes: Wenn 100 Menschen nach Österreich kommen und gleichzeitig 70 Menschen, die länger hier gelebt haben (ÖsterreicherInnen oder AusländerInnen), aus Österreich weggehen, dann sind am Schluss um 30 Menschen mehr hier als zuvor. Das ist der Saldo: 30).

➔ Beantworte bitte folgende Fragen mithilfe der Grafik: 1. Aus welchem Land kommt die größte Gruppe der NichtösterreicherInnen? 2. Innerhalb der Europäischen Union (EU) darf jeder Angehörige eines Mitgliedsstaates sich frei in allen anderen Mitgliedsstaaten niederlassen. Woraus wird das in der Grafik deutlich? 3. Woher kommt die kleinste Gruppe der NichtösterreicherInnen? 4. Wie groß ist der Saldo der ZuwandererInnen im Jahr 2009? 5. Wie groß ist der Prozentsatz der Personen aus der Türkei (bzw. aus aus Deutschland, Asien, …) gemessen am Saldo 2009? 6. Welche Informationen kannst du der Grafik außerdem noch entnehmen?

K 1 | 29

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung C5: Hinweise für LehrerInnen

Identitätsmolekül Dauer: ca. 30 Minuten Ziele: Reflexion über die eigene Identität und Rollen Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der Gruppe Erkennen der eigenen Gruppenzugehörigkeit und der Vielfalt solcher Zugehörigkeiten Erleben und Verstehen von Prozessen der Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung Material und Vorbereitung: Bild Identitätsmolekül Eventuell Flipchart zum Festhalten der Diskussionsergebnisse Ablauf: 1. Die TeilnehmerInnen bekommen kopierte Formulare des Identitätsmoleküls ausgeteilt und werden gebeten, ihren Namen in der Mitte einzutragen. 2. Danach sollen sie in die äußeren Kreise des Moleküls jene Gruppen und Rollen eintragen, denen sie sich zugehörig fühlen, die für sie wichtig sind bzw. prägend waren (z. B. Familie, Freundeskreis, Musik, Stadt, Vereine, Einstellungen, Organisationen, Berufe, Geschlecht usw.). Es können auch Gruppen oder Rollen sein, die man sich nicht selbst aussucht, sondern die einem zugeschrieben werden. Sollten weitere Kreise nötig sein, können diese jederzeit hinzugefügt werden. 3. Wenn sie fertig sind, soll die Gruppe bzw. Rolle markiert werden, die für die TeilnehmerInnen am wichtigsten ist. 4. Als nächstes werden die TeilnehmerInnen aufgefordert aufzustehen, wenn sie sich über eine bestimmte Kategorie identifizieren (z. B. Wohnort, Sport, Politik, Herkunft, Hautfarbe usw.). 5. Zum Schluss werden die Diskussionsfragen mit den TeilnehmerInnen diskutiert. Diskussionsfragen:

Welche Teilidentitäten sind in der Gruppe am wichtigsten? Was können die Ursachen für die Unterschiede in der Prioritätensetzung sein? Können wir uns jede Teilidentität selber aussuchen oder werden auch manche von außen auf uns projiziert? Welche Teilidentitäten werden auf uns projiziert? Wie ist das Gefühl, wenn man gemeinsam mit vielen anderen aufsteht? Wie ist das Gefühl, wenn man alleine aufstehen muss? Bei welchen Teilidentitäten fühlt man sich dabei gut, bei welchen ist es nicht leicht, allein aufzustehen? Welche Rollen kannst du dir aussuchen? Welche sind dir angeboren? Welche Teilidentitäten bringen dir Vorteile, welche Nachteile? Welche Teilidentitäten sind für uns so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht als solche wahrnehmen? (z. B. Behinderungen, Hautfarbe usw.)

(Quelle: Mauthausen Komitee Österreich) Kopiervorlage auf der Rückseite K 1 | 31

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung C5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Identitätsmolekül

1. Schreibe deinen Namen in den inneren Kreis. 2. Schreibe in die anderen Kreise Gruppen, denen du zugehörst bzw. Rollen, die du „spielst“. 3. Wähle eine Gruppe bzw. Rolle, die dir am wichtigsten ist.

K 1 | 32

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 1: Gleichheit und Vielfalt

D) Vorurteile Hinweise für LehrerInnen Lernziele Klischees und Vorurteile als solche erkennen Die Irrationalität von Vorurteilen verstehen Sich über eigene Meinungen und Überzeugungen Rechenschaft geben Das menschliche Gehirn arbeitet effizient. Es hat deshalb Mechanismen entwickelt, die eine schnelle Orientierung in der Umwelt erlauben und uns davor bewahren, immer dieselben Erfahrungen wiederholen zu müssen. Klischees und Vorurteile sind solche Mechanismen – und sie haben ihre Vorteile. Wie viele andere Hilfsmittel werden sie aber in den Händen Unkundiger zur Gefahr. Vorurteile an sich sind kein moralisches Problem. Der erhobene Zeigefinger und die Botschaft: „Du darfst keine Vorurteile haben!“ sind kontraproduktiv – zumal die Forderung gar nicht erfüllbar ist. Sinnvoller ist da schon: „Sei vorsichtig mit Vorurteilen – besonders gegenüber anderen Menschen!“ Das ist eine Anweisung, wie gehandelt werden soll – und sie ist erfüllbar. Aus ihr resultieren die notwendigen Schritte: Sei dir deiner Vorurteile bewusst! Liefere dich nicht aus, sondern betrachte sie kritisch! Du bist dafür verantwortlich, wie du mit Klischees und Vorurteilen umgehst. Auch andere haben Vorurteile – erkenne sie als solche und gehe klug damit um! Die vorliegenden Materialien sollen diese Schritte begleiten.

K 1 | 33

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Das ist eben so! Ist das so? Männer sind stark. Kinder sind lieb. Frauen kaufen gerne Schuhe. Hunde sind treu. Rottweiler (eine Hunderasse) sind gefährlich. Familie ist harmonisch. Obst ist gesund. Nudeln machen dick. Die Liste der Klischees könnte noch lange fortgesetzt werden (Du kannst das ja machen). Klischees sind Vorstellungen, die wir einfach übernommen haben und über die wir nicht weiter nachdenken. Aussagen wie „Das weiß man ja!“ oder „Das ist halt so!“ sind Hinweise auf Klischees. Dass sie manchmal zutreffen können, dass das aber keineswegs immer (sogar eher selten) so ist, wird meist nicht bedacht. Vorurteile sind wertende Urteile, nach denen wir unsere Handlungen ausrichten. Sie beruhen oft auf Klischees: Er hat eine dunkle Hautfarbe – das ist sicher ein Drogendealer! Sie ist hübsch und blond – wahrscheinlich ist sie dumm! Jemand sucht um Asyl an – das ist ein Sozialschmarotzer! Sie trägt ein Kopftuch – sicher eine arme, unterdrückte Frau! ➔ Wo bist du schon Vorurteilen begegnet, die auf solchen Klischees beruhen? ➔ Wie sieht das in den Medien (Zeitung, Radio, TV) aus – welche Klischees und/oder Vorurteile hast du schon festgestellt? ➔ Oft wird zur Rechtfertigung eines Vorurteils angeführt: „Aber ich kenne da wen …“ – Was hältst du davon? ➔ Wirf einen Blick in den Spiegel. Gehörst du zu einer der oben genannten Gruppen? Fühlst du dich von den Vorurteilen gegen diese Gruppe betroffen? ➔ Welche Vorurteile hast du selbst schon gefällt?

K 1 | 34

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit und Vielfalt 3 ➔ Welche Klischees kennst Du? Was „weiß doch jeder“? ➔ Welche Überzeugungen, dass das „eh klar“ ist, gibt es? Gruppe

Klischees zur Gruppe

Buben/Männer

Mädchen/Frauen

AusländerInnen

FußballerInnen

FilmschauspielerInnen

ÖsterreicherInnen

LehrerInnen

VegetarierInnen

Arbeitslose

MigrantInnen

Dicke Menschen

Alte Menschen

➔ Stell in der Gruppe die Klischees und Vorurteile, die du gesammelt hast, zur Diskussion. ➔ Sammele Argumente dagegen! Das geht besonders leicht, wenn du Betroffene selbst fragst, was sie dazu meinen. Was kannst du zum Beispiel jemandem auf den Satz: „Dicke sind gemütlich!“ antworten? (Verboten ist diese Antwort: „Ich kenne eine/n Dicke/n, der/die ist wirklich …!“)

K 1 | 35

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit und Vielfalt 4 Nicht alles, was sich um uns herum abspielt, können wir direkt miterleben. Vieles erfahren wir aus den Medien und bilden uns dann eine Meinung darüber. In Radio, TV und Zeitungen vermitteln JournalistInnen nicht immer „DIE Wahrheit“, sondern ihre eigene Sichtweise. Oft geht das auch gar nicht anders, aber manchmal wollen sie damit ihr Publikum ganz bewusst so beeinflussen, dass HörerInnen, SeherInnen oder LeserInnen möglichst gar nicht auf die Idee kommen, dass es vielleicht auch andere Perspektiven gibt. Das nennt man dann Manipulation. Um sich dagegen zu schützen gibt es nur eines: Selber scharf nachdenken anstatt sich von anderen sagen zu lassen, was man denken soll. Hier sind zwei erfundene – aber typische – Zeitungsartikel, wie sie in verschiedenen österreichischen Tageszeitungen erscheinen könnten. Beide berichten über Menschen mit Migrationshintergrund. ➔ Lese bitte beide Artikel. Zeitungsartikel 1

Leistungen von Zuwanderern beleben unsere Wirtschaft Eine jüngst durchgeführte Umfrage unter Wirtschaftstreibenden brachte ein interessantes – wiewohl nicht ganz überraschendes – Ergebnis:

B

efragt, ob und wie sehr Leistungen von Zuwan­ derern sowohl für den eige­ nen Betrieb als auch für die gesamte Wirtschaft ihrer Meinung nach wichtig sind, gaben nahezu alle Befrag­ ten an, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein wichtiger Bestandteil des Arbeitslebens sind. Die Zu­ wanderer – viele stammen aus den Ländern Ex-Jugo­ slawiens, aus der Türkei, aus den anderen EU-Län­ dern, aus Ost-Europa und auch aus Asien oder Süd­ amerika – sind demnach längst unverzichtbar. Vor

K 1 | 36

allem Gastronomie, Hand­ werk und Pflegedienste kommen ohne sie nicht mehr aus, wobei die Migranten immer häufiger selbst erfolg­ reiche Unternehmer sind. Sie erwirtschaften einen immer größer werdenden Anteil unseres Wohlstandes und tragen durch Steuerleis­ tungen, Sozialleistungen und eben auch als Arbeit­geber zur Weiterentwicklung des Wirtschaftsstandortes Öster­ reich bei. Zuwanderer sind darüber hinaus auch Konsumenten. Sie geben das erarbeitete Geld zu einem großen Teil genauso aus wie alle ande­ ren – umso mehr, je höher ihr Lebensstandard wird. Und der wächst ständig: Im Widerspruch zu oft ver­ breiteten Vorurteilen hält die überwiegende Mehrheit der befragten Wirtschafts­

treibenden große Stücke auf ihre zugewanderten Mitar­ beiter. Zwar gäbe es natür­ lich auch in dieser Gruppe, wie in jeder anderen, solche und solche. Aber vor allem langjährigen Mitarbeitern bescheinigen ihre Arbeitge­ ber Kompetenz und Verläss­ lichkeit. Bedauert wird, dass eine große Anzahl von Migran­ ten gezwungen ist, unter­ halb ihrer (oft recht hohen) Qualifikation zu arbeiten, weil in den Heimatländern erworbene Ausbildungen nicht immer anerkannt wer­ den. Der ausgebildete Arzt, der als Pfleger tätig ist, hat dabei noch Glück gehabt. Wenn aber studierte Inge­ nieure in Reinigungsfirmen Arbeit finden, verlieren alle: Zuwanderer ebenso wie die Gesellschaft, für die sie von Nutzen sein können und wollen.

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Offene Grenzen lassen die Kriminalität steigen Das Geschäft mit den Alarmanlagen läuft gut – seit Österreichs Nachbarländer bei der EU sind, kann kommen, wer will – und zwar ziemlich unkontrolliert. Und sie kommen: Auto- und Fahrraddiebe, Ladendiebe – und etliche andere Betrüger: Asylanten und Migranten sind häufiger kriminell als Österreicher. Ausländer fallen besonders bei schweren Diebstäh­ len und Einbruchsdelikten als Täter auf. Auch unge­ bremste Aggressionen sind immer wieder Auslöser für Gewalttaten. Die Kriminalitätsrate bei Flücht­ lingen und Illegalen steigt, vor allem die Arbeits­ losen unter ihnen werden häufig straffällig. Auch als Drogendealer fallen Ausländer – und da besonders Schwarze – immer wieder auf. Die Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln leidet in den Groß­ städten darunter. Was man sich in jenen ruhigen Gegenden Ös­ terreichs, in denen es keine Ausländer gibt, kaum

vorstellen kann, ist in den Ballungszentren Quelle des täglichen Ärgers: Wo es viele Fremde gibt, gibt es eben auch viele ausländische Kriminelle. In den Gefängnissen kann man mittlerweile schon alle möglichen Sprachen hören. Trotz der emsigen Arbeit der Polizei braucht es deshalb mehr Sicherheitsvorkehrungen: Strikte Überwachung, harte Strafen und eine gesteigerte Zahl von schnellen Verhaftungen sollen es diesen Tagedieben und besonders den kriminellen Ost­ banden schwerer machen, sich auf Kosten der An­ ständigen zu bereichern.

➔ Vergleiche die beiden Artikel: Artikel 1

Artikel 2

Wie werden die Menschen, über die berichtet wird, in den beiden Artikeln bezeichnet?

ZuwanderInnen, …

AusländerInnen, …

Welche Eigenschaften werden ihnen zugeschrieben?

stolz, …

kriminell, …

Welche Bedeutung für die Gesellschaft wird den Menschen zugesprochen?

Über welche Handlungen dieser Menschen wird berichtet?

Welcher Eindruck soll von diesen Menschen wohl erweckt werden?

➔ Was fällt dir auf? ➔ Diskutiere deine Ergebnisse mit denen anderer! ➔ Sammle Artikel zu ähnlichen Themen aus verschiedenen Zeitungen und vergleiche sie ebenso! ➔ Achte in TV, Radio und auf Plakaten darauf, wie mit dem Thema umgegangen wird. Welche Schlüsse ziehst du daraus?

K 1 | 37

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Gleichheit und Vielfalt 5

➔ Schau dir die Gesichter auf dem Plakat an: Du siehst Menschen verschiedener Hautfarbe, offensichtlich verschiedener Herkunft, die sich ganz unterschiedlich präsentieren. Welchen Eindruck machen sie auf Dich? Wer ist dir am meisten/am wenigsten sympathisch? Wen würdest du zu dir nach Hause einladen? Wen hältst du für (weniger) intelligent? Wer wird wohl einmal beruflich erfolgreich sein? An wen würdest du dich wenden, wenn du Hilfe brauchst? ➔ Begründe deine Standpunkte. Diskutiere bitte deine Begründungen mit den anderen, die das vielleicht anders sehen. K 1 | 38

➔ Und zum Schluss sieh dir die acht Gesichter noch einmal ganz genau an …

Das große Plus

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Übung D5: Hinweise für LehrerInnen

Schicksalslotto 3 Dauer: ca. 40 Minuten Ziele: Entwicklung von Verständnis für Vielfalt Perspektivenwechsel: in die Haut anderer schlüpfen, deren soziale Situation sich (völlig) von der eigenen unterscheidet Herausarbeiten von Strategien der Ungleichheit (nach Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Aussehen, Alter, Gesundheit, Ausbildungsniveau, …) und ihren Auswirkungen im Leben der Betroffenen Konkurrenz und Leistungsideologie zum Thema machen Material und Vorbereitung: Lebenskarte für die jede/n TeilnehmerIn Arbeitsblatt Schicksalslotto Eventuell Flipchart zum Notieren der Diskussionsergebnisse Ablauf: 1. Die GruppenleiterInnen erstellen verschiedene Lebenskarten, die mehrere Kategorien umfassen, um möglichst vielfältige, neue Identitäten schaffen zu können (Beispiele für mögliche Lebenskarten finden sich in der Kopiervorlage). 2. Die Karten kommen nun verdeckt in einen Behälter, aus dem die TeilnehmerInnen jeweils eine Karte ziehen. Wichtig ist, dass sie nicht tauschen können (geht in der Realität auch nicht). 3. Anschließend wird das Arbeitsblatt „Schicksalslotto“ verteilt. Die TeilnehmerInnen sollen danach die Fragen für sich beantworten. 4. Dann werden die gefundenen Antworten in Kleingruppen zu je 3–4 Personen diskutiert. 5. Schließlich kommen alle in die große Gruppe zurück, um die Diskussionsfragen zu reflektieren. Mögliche Diskussionsfragen: Wie hast du dich während dieser Übung gefühlt? War es schwer, sich in die Lage eines anderen Menschen zu versetzen? Im Vergleich zu deiner jetzigen Lebenslage: Warst du mit der neuen Identität „besser“ oder „schlechter“ dran? In welchen Bereichen? Warum? Gab es Fragen, die schwierig oder unangenehm zu beantworten waren? Wenn ja, welche und warum? Woher hast du die Informationen darüber, wie es Menschen in bestimmten Lebenslagen geht? Eigene Erfahrung, Medien, …? Weshalb nehmen wir gewisse Einschränkungen der Möglichkeiten bei anderen Menschen häufig nicht wahr? Was, denkst du, bedeuten die Gefühle von Unterlegenheit und Perspektivenlosigkeit bzw. Überlegenheit für die Betroffenen? Welche Möglichkeiten zur Veränderung ihrer Situation haben die verschiedenen Gruppen? Was können wir ändern? (Quelle: Mauthausen Komitee Österreich) 3 Nach: „Wir sind Vielfalt – Methodenvorschläge für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“, Österreichische Bundesjugendvertretung. http://alleandersallegleich.at/content/site/shop/broschuere/index.html

K 1 | 39

KAPITEL 1: Gleichheit und Vielfalt

Das große Plus

Übung D5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Schicksalslotto Vorschläge für Identitäten Diese vorgeschlagenen Rollen sind Beispiele für unterschiedliche Lebenslagen, in denen sich in Österreich lebende Menschen befinden können. Die tatsächlichen Rollen sollten auf die Zusammensetzung der Gruppe abgestimmt werden. Je besser das Spiel auf die eigene Gruppe zugeschnitten ist, desto leichter können die TeilnehmerInnen an ihre eigenen Erfahrungen anknüpfen. Ein 18-jähriger Hilfsarbeiter afghanischer Abstammung mit Hauptschulabschluss Eine 42-jährige ledige Krankenschwester, Arbeitsmigrantin von den Philippinen Eine 20-jährige Schwangere, HlV-positiv, ledig Ein 30-jähriger verheirateter Facharbeiter, der aus Deutschland stammt Eine 19-jährige österreichische Staatsbürgerin, deren Eltern aus der Türkei kommen, mit Matura und traditionell muslimischem Hintergrund Ein 17-jähriger Tischlerlehrling, homosexuell Ein 26-jähriger nigerianischer Asylwerber, ledig Eine 56-jährige Österreicherin, langzeitarbeitslos, geschieden Die 28-jährige aus Thailand kommende Ehefrau eines österreichischen Busfahrers, drei Kinder Ein 32-jähriger wohnsitz- und arbeitsloser Fliesenleger Ein 45-jähriger Österreicher, körperlich behindert Eine 20-jährige Telekom-Mitarbeiterin, nach der Ausbildung nicht übernommen Eine 19-jährige Punkerin, die in einer Bar arbeitet Eine 34-jährige Rechtsanwältin, allein erziehend, 2 Kinder ➔ Versuche, dich in deine neue Situation hineinzuversetzen. Welche Änderungen müsstest du vornehmen und wie würde sich dein Standpunkt zu zahlreichen Fragestellungen ändern? Versuche folgende Fragen so ehrlich wie möglich zu beantworten:

K 1 | 40

1. Nenne mindestens fünf verschiedene Arten, wie sich dein Leben deiner Meinung nach verändern wird. 2. Welche Veränderungen in deiner Einstellung und deinem Verhalten werden deiner Meinung nach auftreten? 3. Wie ehrlich wirst du mit deiner Veränderung umgehen? 4. Wirst du anderen von der neuen Person berichten? 5. Sag voraus, wie andere auf dich reagieren werden (Vor allem dein engeres Umfeld wie Familie, FreundInnen etc.). 6. Was kannst du der Gesellschaft als diese neue Person bieten, was du ihr vorher nicht bieten konntest? 7. Was brauchst oder erwartest du von den anderen, was du vorher nicht gebraucht oder erwartest hast? 8. Wirst du mehr oder weniger Schwierigkeiten haben, in der Nachbarschaft deiner Wahl zu leben? 9. Glaubst du, dass du in deinem neuen Leben glücklich sein wirst? 10. Kannst du mit einem Wort ausdrücken, wie du dich in diesem neuem Schicksal gefühlt hast?

Teil 1

Grundlagen: Vorurteile und Migration Über Gleichheit und Vielfalt in unserer Gesellschaft und die Hintergründe von Migration

Kapitel 2:

Migration – Hintergründe und Entwicklungen

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

2.1. Wander- und Fluchtbewegungen von Menschen „Ein Volk, das seine Fremden nicht ehrt, ist dem Untergang geweiht.“ Goethe

Internationale Wanderungen hat es immer schon gegeben. Verschiedene Gründe bringen Menschen dazu, ihr Heimatland zu verlassen und sich an einem anderen Ort ein neues Leben aufzubauen: Viele Menschen werden aufgrund von Kriegen, religiöser oder politischer Verfolgung zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben. Andere verlassen ihr Land auf der Suche nach Beschäftigung oder besseren Arbeitsbedingungen. In den letzten Jahren sind inter­ nationale Wanderungsbewegungen angestiegen, und Migration ist zu einer globalen Heraus­ forderung geworden. Bei den Ursachen für Migration werden „Schub“ und „Sog “ unterschieden. „Schub-Faktoren“ bewegen Menschen dazu, ihre Wohngebiete aus einer unerträglichen oder bedrohlichen Situation heraus zu verlassen. Diese Faktoren können unterschiedlicher Art sein: von Naturkatastrophen über Armut und soziale Diskriminierung bis hin zu Krieg und Verfolgung. Im Gegensatz dazu wirken „Sog-Faktoren“ anziehend auf die Menschen. Dabei handelt es sich um Angebote des Ziellandes: zum Beispiel verfügbare Arbeitsplätze, befriedigendes Einkommen, Sicherheit und Freiheit.

ZITAT

„S

chon bei den früheren Auswanderungswellen in die Kolonien oder in die ‚klassischen‘ Einwanderungsregionen in Nord- und Südamerika, im südlichen Afrika und in Ozeanien vermengten sich ebenso Schub- und Sogfaktoren wie bei den heutigen Wanderungs­bewegungen aus dem Süden in den Norden oder zu Wohlstandsinseln innerhalb des Südens. Beispielsweise riskierten die irischen ‚boat people‘ die gefahrvolle Überfahrt auf den ‚schwimmenden Särgen‘ nach Nordamerika nicht aus Sehnsucht nach dem gelobten Land, sondern weil sie vom ‚Großen Hunger‘ dazu getrieben wurden. Sie waren geradezu klassische ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘, die vor dem Verhungern flüchteten.“ 1

Während Schub-Faktoren bei Fluchtbewegungen überwiegen, werden Sog-Faktoren vor allem im Zusammenhang mit „Arbeitsmigra­ tion“ wirksam. Selten verlassen Menschen jedoch ihre Heimat aus nur einem einzigen Grund. Meist führt eine Kombination mehrerer Gründe zur Migration, wobei es häufig zu einer Vermengung von Schub- und Sog-Faktoren kommt. Ein Motiv haben wohl alle MigrantInnen gemeinsam: das Ziel, ihre Lebens­situation durch die Wanderung zu verbessern.

Franz Nuscheler

1 Franz Nuscheler: Internationale Migration. Flucht und Asyl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 103

K 2 | 01

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Große Migrationsströme zu Beginn des 21. Jahrhunderts

von Asien

von Südamerika

In die USA und Kanada

nach Japan von ganz SO-Asien

sehr bedeutender Migrationsstrom bedeutender Migrationsstrom Quelle: Martin und Wídgren 2002

2.1.1. Nicht wirtschaftlich motivierte Migration – Flucht und Vertreibung Migration ist nicht immer freiwillig. Vielmehr macht erzwungene Migration einen großen Teil der weltweiten Wanderungsbewegungen aus. Flucht und Vertreibung gibt es, seit sich Menschen in Gesellschaften organisieren und um Macht und Raum konkurrieren. Historische und literarische Quellen, die Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählen, reichen weit zurück: Ein berühmtes Beispiel ist Homers „Odyssee“. Auch die Bibel steckt voller Flucht­ geschichten. Heute sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen, Verfolgung und Repression, ethnischen und religiösen Konflikten oder aufgrund von Umweltkrisen.

UNHCR Statistik: Arten von Vertriebenen (Ende 2009) Andere: 1,1 % Staatenlose: 18,0 % Flüchtlinge: 28,5 % zurückgekehrte Binnenvertriebene: 6,1 %

Gesamtzahl: 36,5 Mio. zurückgekehrte Flüchtlinge: 0,7 % Asylsuchende: 2,7 %

Binnenvertriebene: 42,9 % Quelle: UNHCR 2009 Global Trends Report

K 2 | 02

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Manchmal haben Menschen bei plötzlicher Bedrohung keine andere Wahl als die sofortige Flucht. In anderen Fällen bereiten Menschen ihre Flucht etappenweise vor. Die Unterscheidung von freiwilliger Migration und erzwungener Flucht ist nicht immer eindeutig. Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Flüchtling eine Person, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung geflohen ist, keinen Schutz vor dieser Verfolgung durch den Heimatstaat erhalten hat und nicht in ihre Heimat zurückkehren kann und will. 2

Asyl, AsylwerberInnen und Asylberechtigte Asyl (griechisch-lateinisch: „Unverletzliches“) bedeutet Unterkunft, Heim, Aufnahme und Schutz, Zufluchtsort. Wer in einem Land z. B. aufgrund seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner politischen Überzeugung verfolgt wird, hat das Recht, in einem anderen Land als seinem Heimatland um Asyl anzusuchen. Das Recht

Asylantrag oder Antrag auf internationalen Schutz. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wird überprüft, ob sie unter den Schutz des Asylrechtes fallen oder nicht. Trifft dies zu, wird aus einer/einem AsylwerberIn

auf Asyl ist ein Menschenrecht.

ein/e Asylberechtigte/r.

Das Ansuchen bedeutet jedoch nicht, dass Asyl auch gewährt wird. Die einzelnen Länder überprüfen die Asylansuchen genau. Die konkreten Bestimmungen zur Asylgewährung sind dabei von Land zu Land verschieden. AsylwerberInnen beantragen in einem fremden Land Aufnahme und Schutz vor politischer, religiöser, ethnischer oder geschlechtsspezifischer Verfolgung in ihrer Heimat. Das heißt, sie stellen einen

Asylberechtigte sind Personen, die Asyl erhalten haben. Sie sind somit Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und werden in ihrem Heimatland z. B. wegen ihrer Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt. Asylberechtigte bleiben dauerhaft in Österreich und sind ÖsterreicherInnen weitgehend (auch arbeitsrechtlich) gleichgestellt.

Quellen: http://www.politik-lexikon.at/asyl/ und www.integrationsfonds.at/publikationen/glossar/

Genfer Flüchtlingskonvention Seit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 dürfen Personen, auf welche die Kriterien eines Flüchtlings zutreffen, nicht gegen ihren Willen in den Verfolgerstaat zurückgeschickt werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde von den meisten Staaten der Welt unterzeichnet, in Österreich trat sie im Jahr 1955 in Kraft.

ZITAT

„Kein vertragschließender Staat darf einen

Flüchtling in irgendeiner Form in ein Gebiet ausweisen oder zurückweisen, wo sein Leben oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten bedroht wäre.“ 3 Genfer Flüchtlingskonvention, Artikel 33, Abs. 1

Das UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) ist zuständig für solche Menschen, auf die die Beschreibung „Flüchtling“ zutrifft, wie sie im Abkommen von 1951 enthalten ist. Angesichts von Massenfluchten ist aber gar nicht feststellbar, ob diese Merkmale – in jüngerer Zeit wird auch geschlechtspezifische Verfolgung als Fluchtgrund anerkannt – für jeden einzelnen Flüchtling wirklich zutreffen. So erweiterte sich allmählich der

2 vgl. www.unhcr.at/fileadmin/unhcr_data/pdfs/rechtsinformationen/1_International/1_Voelkerrechtliche_Dokumente/01_GFK/02_Gfk-de-logo.pdf 3 vgl. ebd.

K 2 | 03

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Aufgabenbereich des UN-Flüchtlingskommissars. Seine Bevollmächtigten sind, in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen wie dem Roten Kreuz, auch in den Brennpunkten von Massen­fluchtbewegungen tätig, versuchen aktuelle Not in den Flüchtlingslagern zu lindern, kümmern sich um Weiterleitung und um Aufnahme der Heimatlosen. Auch wenn die Stellung von Flüchtlingen in der Genfer Flüchtlingskonvention definiert ist, ihre rechtliche Situation ist schwierig. Können Verfolgung und Bedrohung glaubhaft nachgewiesen werden, wird der Flüchtlingsstatus anerkannt und das Recht auf Asyl gewährt. Tendenziell werden die Voraus­ setzungen für die Asylgewährung in Europa zunehmend eingeschränkt und schwieriger zu durchblicken.

ZITAT

„Der Flüchtlingsbegriff ist also ein Sammel­

begriff, der sehr unterschiedliche Typen von Flüchtlingen mit jeweils spezifischen Fluchtmotiven umgreift. Dem asylrechtlichen Flüchtlingsbegriff liegt dagegen ein Idealtypus des Flüchtlings mit ganz besonderen Eigenschaften, nicht der Realtypus heutiger Massenfluchtbewegungen zugrunde.“ 4 Franz Nuscheler

UNHCR: Schutz für Flüchtlinge Das UNHCR ist das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen. Derzeit bietet es Schutz und Unterstützung für mehr als 20 Millionen Menschen, von denen etwa die Hälfte Flüchtlinge oder Asylsuchende sind. Das UNHCR wurde 1951 von der UN-Generalversammlung gegründet, um Millionen von europäischen Flüchtlingen in der Folge des Zweiten Weltkrieges zu helfen. Es setzt

K 2 | 04

4 Nuscheler 2004, S. 107 5 vgl. www.unhcr.at

i

Flucht Bevölkerungsdruck

w Um

un re g rn i b h a un (K l usg at g s i m a a s e n eu ürl prog erwä tu ich ram rmung ); ng e r G me ; r vo n R und la gen; ohs toff en

sv ic ch e r s ne klu aft; chuld ung lle n g ; r L sp o eb liti k; en sfo rm e n ts

Gewalt

Begrenzte Ressourcen

Ungerechtigkeit

Auß en aus unte w r Ma i r t s st ü Me n n g e c ha tzu l f s Auf chen an G tlic rec re r h c soz ial terh ht er a U n Re pr e

ut

Kr

tet each ung heiten); en en ng geb hu r G e ie zz relle ege; . i tu e rk r u . a t r te po

Ar

la us i r eA w nd Miss ntw hse E io Wac lte dit feh ra Ver ng t öru

t Zers

nd

m

Kolon iale s ethini sche Erbe r un (v. d s a. Ste ozio Gre Wa llve kul n ffe rtr ne e x

eg

en Elit er en; t p s rru res ; ko Inte eiten n; g h n n e rei unge h df r etz s s e un verl g kra de s n e i h ltu rsc te n io ss

rs tö r

Fluchtursachen

sich auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention weltweit dafür ein, dass Menschen, die von Verfolgung bedroht sind, in anderen Staaten Asyl erhalten. Laut seinem Mandat hat das UNHCR auch die Aufgabe, dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge zu finden. Dazu gehören die freiwillige Rückkehr, die Integration im Aufnahmeland oder die Neuansiedlung in einem Drittland. 5

elt

ze

T on e ß v ä nd k l o t l s Aus strie twic g n n du e En hun usb I n e c in d ch A Fals spru ne an esse e b r m Übe nge Una

Quelle: siehe Nuscheler: Internationale Migration, S. 109

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

2.1.2. Ökonomisch motivierte Migration – Arbeitsmigration MexikanerInnen wandern auf der Suche nach Arbeit in die USA aus, chinesische Arbeitskräfte ziehen nach Russland, junge AfrikanerInnen aus den Sahelländern arbeiten auf Plantagen in den Küsten­staaten. Heute findet man ArbeitsmigrantInnen über die ganze Welt verteilt. Niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen oder schlichtweg keine Chance auf einen Arbeitsplatz sind Auslöser, die Menschen zur Auswanderung in ein anderes Land bewegen. Dort erhoffen sie sich größere Chancen am Arbeitsmarkt und bessere Lebensumstände. Arbeitsmigration ist kein neues Phänomen. Sie war und ist stets von Veränderungen in der Wirtschaft geprägt: Im 18. und 19. Jahrhundert führten wachsende industrielle Zentren zu neuartigen Arbeitswanderungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen europäische Länder mit der Anwerbung von „GastarbeiterInnen“ – so auch Österreich in den 1960er- und 1970er-Jahren (siehe Kapitel 2.2). Mit der zunehmenden Globalisierung wurde das Phänomen der Arbeitsmigration verstärkt. „Globalisierung“ der Arbeit Durch die Öffnung der Märkte und die globale Konkurrenz verlieren viele Menschen ihre Arbeit in ihren Herkunftsorten, BäuerInnen und ArbeiterInnen sehen sich gezwungen abzuwandern. Gleichzeitig entstehen neue Industriestädte und neue Arbeitsplätze: Großunternehmen verlagern ihre Produktionsstätten in „Billiglohnländer“ in der Dritten Welt, wo große Nachfrage nach günstigen Arbeitskräften entsteht. Auf diese Weise werden Migrationsschübe wie etwa in Südostasien ausgelöst: In Singapur haben rund 30 Prozent der Arbeitskräfte eine ausländische Staatsbürgerschaft. Vor allem junge Frauen aus Indonesien und von den Philippinen kommen zum Beispiel als Arbeiterinnen in der Textilindustrie zum Einsatz – oft unter fragwürdigen Arbeitsbedingungen.

„Brain Drain“

Umweltflucht

Computerfachleute aus Indien gehen nach Österreich, österreichische WissenschaftlerInnen finden in den USA bessere Arbeitsbedingungen und Förderungen.

Wassermangel und Wüstenbildung, Rodung der Regenwälder sowie Folgen von Bergbau und Industrieansiedlungen vertreiben Millionen von Menschen aus ihren ursprünglichen Lebensräumen. „Umweltflüchtlinge“ werden aus ökologischen Gründen zur Abwanderung gezwungen. Häufig sind unangemessene RohstoffAusbeutung und eine Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen für die Umweltschäden verantwortlich.

Der Begriff „Brain Drain“ (wörtl. „Abfließen von Verstand“) bezeichnet die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte. Häufige Routen sind vom Osten oder Süden Europas in reichere EU-Länder oder von Europa in die Vereinigten Staaten. Hervorragende Wissen­schaftlerInnen, SportlerInnen oder Wirtschafts­ treibende sind auf den internationalen Arbeitsmärkten höchst willkommen, Aufenthalts- und Arbeitsberechtigungen werden den hochqualifizierten MigrantInnen häufig gewährt. Aus Sicht des Ziel­landes wird der Vorgang als „Brain Gain“ (wörtl. „Zugewinn von Verstand“) bezeichnet.

Auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Wirbelstürme oder Erdbeben vertreiben Menschen aus ihren traditionellen Wohngebieten. Durch die Erwärmung der Erdatmosphäre und das Steigen des Meeresspiegels könnte es in Zukunft zu einem starken Anstieg von Umweltflucht kommen. Da es sich um ein relativ neues Phänomen handelt, lassen sich die Konsequenzen von Umweltkrisen noch nicht absehen.

Die Globalisierung fördert auch die Migration der Eliten: Industrieländer, vor allem die USA, bieten herausragenden WissenschaftlerInnen Anreize zur Einwanderung. Stellenangebote für gut ausgebildete Fachleute sind international geworden, und weltweit herrscht ein Ringen um hochqualifizierte MigrantInnen. Der internationale Arbeitsmarkt stellt damit neue Anforderungen an die Arbeitskräfte: Bereitschaft zur Mobilität und ein hohes Maß an Flexibilität werden immer wichtigere Voraussetzungen für eine (internationale) Karriere.

K 2 | 05

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

2.2. Migration in Österreich Österreich ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Einwanderungsland geworden. Dies geschah allerdings nicht freiwillig aus einer humanitären Grundhaltung heraus, sondern als Folge einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und eines stabilen, demo­ kratischen Systems. Österreich war, und das zeigt auch ein kurzer Blick in die jüngere Vergangen­ heit, sowohl Ein- als auch Auswanderungsland und darüber hinaus des öfteren Durchzugsland für MigrantInnen bzw. Flüchtlinge. Bis ins 19. Jahrhundert war das deutschsprachige Kernland der Habsburgermonarchie von unter­ schiedlich motivierten Migrationsströmen bestimmt: die politisch und religiös motivierte Zwangsaussiedlung von ProtestantInnen, die wirtschaftlich bestimmte Saisonwanderung aus den Alpen- in die Agrargebiete des Alpenvorlandes und Ungarns und schließlich die Zuwanderung politischer und wirtschaftlicher Eliten aus dem Ausland nach Wien. Zwischen 1900 und 1910 wurde die Habsburgermonarchie zu einem Auswanderungsland ersten Ranges. Allein aus dem Gebiet des heutigen Burgenlandes emigrierten 30.000 Personen in die USA. Ab dem Einmarsch Hitlers und dem Anschluss an Deutschland begann die Massenflucht bzw. -abwanderung von JüdInnen und anderen Menschen, die verfolgt wurden. Rund 125.000 österreichischen JüdInnen gelang die Flucht, ca. 45.000 wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Seit 1945 sind einige weitere quantitativ bedeutende Flüchtlingsbewegungen zu verzeichnen: Kurz nach Kriegsende gelangte eine Million Volksdeutsche aus Osteuropa nach Österreich (die Hälfte ließ sich auf Dauer nieder), 1956/57 wurden rund 180.000 Menschen aus Ungarn aufgenommen und der „Prager Frühling“ ließ 160.000 Menschen nach Österreich flüchten (allerdings stellten nur 12.000 Tschechen und Slowaken tatsächlich einen Asylantrag). 1981/82 kamen vorübergehend 120.000 Menschen aus Polen nach Österreich, als in ihrem Heimatland das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Zwischen 1991–1996 gelangten viele Flüchtlinge und vertriebene Menschen aus der Balkan- und Kaukasusregion in Folge der Bürgerkriege beim Zerfall der alten staatlichen Ordnung (Jugoslawien, Sowjetunion) nach Österreich. Von 1992 bis 1995 kamen rund 90.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich. Und von März 1998 bis Mai 1999 flüchteten 795.000 Menschen aus dem Kosovo, davon 665.000 in die unmittel­ baren Nachbarländer. Österreich nahm schließlich rund 5.000 Flüchtlinge auf. Die Nachfrage nach Arbeitskräften in den entwickelten westeuropäischen Industriestaaten setzte Anfang der 1960er Jahre ein. Ab diesem Zeitpunkt wurden gezielt MigrantInnen für den österreichischen Arbeitsmarkt angeworben. Österreich benötigte zusätzliche Arbeitskräfte für einen befristeten Zeitraum, die ArbeiterInnen wollten in kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen und sparen, um damit ihre Familien im Heimatland zu unterstützen. Gingen „GastarbeiterInnen“ und „Gastland“ ursprünglich von einer vorübergehenden Situation aus, wurde die Rückkehr der ausländischen Arbeitskräfte häufig verschoben. Schließlich ließen sich viele von ihnen dauerhaft in Österreich nieder und holten später ihre Familienangehörigen nach. Vom Beginn der „Gastarbeit“ an lassen sich drei Zuwanderungsperioden unterscheiden, die im Folgenden mit den wichtigsten Fakten und Daten dargestellt werden sollen: 6

K 2 | 06

6 Die Einteilung der Zuwanderungsperioden stammt aus dem 2. Österreichischen Migrations- und Integrationsbericht: vgl. Fassmann (Hg.) 2007, S. 166 f. Die chronologische Darstellung der Ereignisse orientiert sich an dem Ausstellungskatalog „Gastarbajteri“: vgl. Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Sylvia Mattl (Hg.): Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration, S. 30–45

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

2.2.1. Erste Migrationsperiode: Anwerbung der „Gastarbeiter“ Im Sommer des Jahres 1961 fanden erste Anwerbungen von sogenannten „FremdarbeiterInnen“ für die Bauwirtschaft statt. Dabei handelte es sich um etwa 1800 Personen, die zum Teil aus Italien stammten. Diese Art der Arbeitsmigration resultierte aus einer staatlich geregelten Anwerbungspolitik. 1961 gab es unter den 7.074.000 EinwohnerInnen Österreichs etwa 102.000 ausländische Staatsangehörige. Den größten Anteil stellten deutsche Staatsangehörige dar. 1962 nahm die Arbeitsgemeinschaft für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in der Bundes­ wirtschaftskammer ihre Tätigkeit auf. Die gängige Bezeichnung für die ausländischen Arbeitskräfte war zu dieser Zeit und in den folgenden Jahren „FremdarbeiterInnen“. Das Anwerbeabkommen mit Spanien im selben Jahr zeigte keine Anwerbeerfolge. Nachdem 1964 das Anwerbeabkommen mit der Türkei vereinbart worden war, wurde die Anwerbestelle in Istanbul offiziell eröffnet. Das Anwerbeabkommen mit Jugoslawien mit der Gründung der Anwerbekommission in Belgrad folgte zwei Jahre später. Bis zum Jahr 1973 spielten die Anwerbestellen allerdings eine geringe Rolle – die meisten Arbeitskräfte reisten zunächst als TouristInnen nach Österreich. Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis wurden im Nachhinein gewährt. Ende der 1960er-Jahre kamen nicht nur ArbeitsmigrantInnen nach Österreich: Nach der Nieder­ schlagung des Prager Frühlings 1968 befanden sich rund 160.000 tschechische und slowakische Flüchtlinge in Österreich. Die Bezeichnung „FremdarbeiterInnen“ wurde in der Öffentlichkeit zunehmend durch den Begriff „GastarbeiterInnen“ ersetzt. Die ArbeiterInnen-Kontingente des Jahres 1970 umfassten fast 100.000 Personen. Die Volkszählung ergab ein Jahr später, dass von den 7.492.000 EinwohnerInnen Österreichs etwa 212.000 ausländische Staatsangehörige waren. Jugoslawische Staatsangehörige bildeten die größte Gruppe. 605.500 EinwohnerInnen waren nicht in Österreich geboren. Um der beginnenden Fremdenfeindlichkeit gegen GastarbeiterInnen in der Zeit der ersten Ölkrise entgegenzu­wirken, wurden 1973 in Österreich – im Rahmen einer privaten Kampagne – Plakate produziert, die einen Bub in der Lederhose zeigen, der zu einem offenkundig südländischen Menschen aufblickt. Das Plakat thematisiert den Umstand, dass auch „AltösterreicherInnen“ mit slawi­ scher Herkunft aus der Zeit der Donaumonarchie ihre kürzlich zugewanderten MitbürgerInnen abwertend als „Tschuschen“ bezeichneten. Quelle: I haaß Kolaric; Agentur LINTAS, im Auftrag der Aktion Mitmensch der Werbewirtschaft Österreichs, 1973 (Mit freundlicher Genehmigung der Initiative Minderheiten)

Für das Jahr 1974 wurden von den Sozialpartnern Kontingente von 162.789 Personen vereinbart. Der Integration der „GastarbeiterInnen“ in die österreichische Gesellschaft wurde – wie auch in anderen zentraleuropäischen Ländern – allerdings zu wenig Augenmerk geschenkt.

K 2 | 07

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

2.2.2. Zweite Migrationsperiode: Anwerbestopp, Niederlassung, Familiennachzug Im Jahr 1974 wurde die Wiedereinreise von ausländischen Arbeitskräften, die zwischenzeitlich ausgereist waren, eingeschränkt und die Toleranz für die Beschäftigung von „TouristInnen“ war zu Ende. Neue ArbeitnehmerInnen sollten nur mehr beschäftigt werden, wenn sie in ihrem Herkunftsland angeworben wurden. Zur gleichen Zeit begann der Familiennachzug. Aufgrund der guten Wirtschaftslage blieben viele „GastarbeiterInnen“ in Österreich. Auch die Arbeit­ geberInnen wollten die mittlerweile angelernten Arbeitskräfte oft nicht wieder wegschicken. Das „Ausländerbeschäftigungsgesetz“ bestimmte, dass ausländische ArbeitnehmerInnen nur so lange in Österreich bleiben sollten, wie sie gebraucht wurden. Bis 1978 wurden nach Angaben des türkischen Arbeitsamtes etwa 38.000 ArbeitnehmerInnen – vorwiegend Männer – nach Österreich vermittelt. Die Bezeichnung „GastarbeiterInnen“ wurde in der Alltagssprache durch „AusländerInnen“ ersetzt. 1991 begann der Krieg in Jugoslawien. In diesem Jahr waren von 7.796.000 EinwohnerInnen Österreichs ca. 518.000 ausländische Staatsangehörige, von denen 301.000 berufstätig waren. Die größte Gruppe bildeten jugoslawische Staatsangehörige. 2.2.3. Dritte Migrationsperiode: Reglementierung der Zuwanderung Die dritte Migrationsperiode ist durch eine deutliche Einschränkung der Zuwanderung und durch Veränderungen der Asylgesetze gekennzeichnet. Wie viele andere westeuropäische Staaten änderte auch Österreich den Kurs seiner Migrationspolitik und verschärfte die Asyl­ gesetze, um die Zuwanderung stärker zu reglementieren. 1995 trat Österreich der EU bei. 1998 trat das Schengener Abkommen in Österreich in Kraft, ebenso das neue Fremdengesetz. Im Jahr 2001 waren von 8.033.000 EinwohnerInnen Österreichs etwa 711.000 ausländische Staatsangehörige. Die häufigste Staatsangehörigkeit war Serbien-Montenegro. Eine Million EinwohnerInnen war im Ausland geboren. 2002 beschloss die Regierung nach dem Motto „Integration vor Neuzuwanderung“ die „Integrationsvereinbarung“: Diese verlangte von ZuwanderInnen verpflichtende Kurse in Deutsch, Staatsbürgerkunde und „europäischen Werten“. Bei Nichterfüllung wurden zunächst Geldstrafen verhängt, nach vier Jahren bestand die Möglichkeit einer Abschiebung. Das Fremdenrechtspaket 2005 wurde mit parlamentarischer Mehrheit beschlossen und hatte eine stärker reglementierte Zuwanderung zum Ziel. Am 1. April des Jahres 2009 trat eine Novellierung des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes in Kraft. Diese sieht eine weitere Verschärfung vor.

K 2 | 08

Bregenz

Wald, Almen und Ödland

12,0 % und mehr

9,0 – 11,9 %

6,0 – 8,9 %

3,0 – 5,9 %

0,0 – 2,9 %

Innsbruck

Anteil der Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit an der Bevölkerung insgesamt

Bevölkerung am 1.1.2010: ausländische Staatsangehörige nach Gemeinden

Salzburg

Graz

St. Pölten

Wien

Eisenstadt

Quelle: Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes, erstellt am 20.5.2010

Klagenfurt

Linz

Das große Plus KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

K 2 | 09

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

2.3. Migration und EU Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Europa ein Auswanderungskontinent. Zahlreiche EuropäerInnen verließen ihre Heimat in der Hoffnung auf eine bessere Lebens- und Arbeits­ situation – ein Großteil hatte die USA als Ziel. Das änderte sich nach 1945, dem Ende des Zwei­ ten Weltkrieges: Aufgrund der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs kehrten sich in vielen europäischen Staaten die Migrationsströme um. Europa wurde zum Einwanderungsgebiet. Migration in und nach Europa Quelle: derStandard, „Es kommen die, denen man es nicht verbieten kann“; Printausgabe 22.3.2010

2.3.1. Migrations- und Asylpolitik in der EU Jährlich kommen bis zu eine Million ZuwanderInnen in die Europäische Union. Es gibt jedoch keine EU-weit einheitliche Einwanderungspolitik – ihre Gestaltung obliegt den einzelnen Mitgliedstaaten. EU-BürgerInnen können sich im ganzen EU-Raum niederlassen und sind auf dem Arbeitsmarkt den inländischen Arbeitskräften gleichgestellt. Übergangsregelungen gelten für die BürgerInnen der 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten (Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien und Slowakei – mit Ausnahme von Malta und Zypern) in den meisten europäischen Staaten. 7 Die Mehrheit der ZuwanderInnen besteht aus ArbeitsmigrantInnen und ihren Familien­ angehörigen. Im Gegensatz zu den damals sogenannten „GastarbeiterInnen“ der 1960er- und 1970er-Jahre handelt es sich bei den heutigen ArbeitsmigrantInnen um spezielle Gruppen, deren Arbeitskraft äußerst gefragt ist: z. B. hochqualifizierte Fachkräfte in den Bereichen der Wissenschaft und Technik, aber auch SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft. K 2 | 10

7 Weiterführende Informationen zu den Übergangsregelungen unter: www.eu-info.de/arbeiten-europa/erweiterung/Uebergangsregelungen-EU

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

2.3.2. „Festung Europa“? Auf der einen Seite braucht Europa ZuwanderInnen, auf der anderen Seite wird vor allem die illegale Zuwanderung von Staaten außerhalb der EU gefürchtet. Zum Symbol für die Abgrenzung Europas gegenüber diesen sogenannten „Drittstaaten“ ist das „Schengener Abkommen“ geworden. 1985 trafen sich PolitikerInnen aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten im kleinen Ort Schengen in Luxemburg, um die Grenzkontrollen zwischen den europäischen Ländern abzubauen und zugleich die Kontrollen entlang den Außengrenzen zu verstärken. Der schrittweise Abbau der Grenzkontrollen im Personenverkehr wurde beschlossen. 1995 fielen die Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen von Deutschland, Frankreich und den BeneluxStaaten weg. Weitere Länder kamen hinzu: Österreich trat dem „Schengener Abkommen“ 1995 bei, die Grenzkontrollen wurden 1997 eingestellt.

„Ihr solltet wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?“ Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Auschwitz-Häftling

Während die Grenzen innerhalb der EU geöffnet wurden, verstärkte man die Absicherung der Außengrenzen. Wegen der strikten Überprüfung von Personen an Grenzen zu Staaten außerhalb der EU und der strengen Zugangsbestimmungen (Visum, Aufenthaltserlaubnis etc.) wird die EU oft als „Festung Europa“ bezeichnet. Aus demografischen und ökonomischen Gründen strebt die EU eine kontrollierte Einwanderung an. Aufgrund der verschärften Zuwanderungsbestimmungen in vielen EU-Ländern gibt es jedoch immer mehr Menschen, die auf rechtlich nicht erlaubtem Weg in EU-Staaten gelangen. Für Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland ist es schwierig, ihre Küstengebiete zu kontrollieren. Flüchtlinge kommen in Booten aus Afrika und Asien, gehen an Land und reisen in andere EU-Länder weiter. Professionelle Schlepperorganisationen bringen Menschen für hohe Geldsummen nach Europa und verdienen an deren Notlage. Neue Ansätze zur Verhinderung ungewollter Zuwanderung konzentrieren sich weniger auf weitere Abgrenzung oder Überwachung, sondern auf die Vorsorge: Die Herausforderungen der Zukunft liegen in der Eindämmung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration. Die EU müsse ihre weltpolitische Rolle hier noch finden, meint Franz Nuscheler: „Ihre Zukunft liegt nicht hinter den Gräben und Mauern einer ,Festung Europa‘.“ 8

8 Nuscheler 2004, S. 186

K 2 | 11

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

2.4. Medien und Links Für SchülerInnen Literatur KONKRET. Flucht und Asyl. Nr. 4/2007 Ein kompakter Überblick zum Thema Flucht und Asyl mit Arbeitsimpulsen für die Schule und Jugendgruppe. www.jugendrotkreuz.at/konkret Wagner, Helmut (Hg.): Segmente. Wirtschafts- und sozialgeographische Themenhefte. Migration – Integration. Wien: Ed. Hölzel 2005 In dem Heft werden globale Migrationsprozesse, die europäische Migrationspolitik und die Rolle Österreichs anschaulich und schülergerecht aufbereitet. Ergänzendes Lehrmaterial zum Unterricht im Fach Geografie und Wirtschaftskunde. Welsh, Renate: … und raus bist du. Innsbruck/Wien: Obelisk Verlag 2008 Ein Roman zum Thema Migration für Kinder ab 12 Jahren, erzählt am Beispiel zweier Geschwister und ihrer Mutter, die aus einem vom Krieg zerstörten Land flüchten.

Medien Online-Spiel der UNHCR: „Last Exit Flucht“ www.lastexitflucht.org In diesem Spiel können Jugendliche (13–16 Jahre) den Weg eines jungen Menschen nachvollziehen, der vor der Unterdrückung in seinem Heimatland flüchten und in einem anderen Land neu anfangen muss. Persepolis. Animationsfilm. Frankreich 2007 www.sonyclassics.com/persepolis Die erfolgreiche Verfilmung des autobiografischen Comicromans von Marjane Satrapi über ihr Leben im Iran während der Revolution und im Exil in Wien.

Links Humanitäres Völkerrecht www.hvr-entdecken.info Die Website zum humanitären Völkerrecht. In verständlicher Form aufbereitet, bietet sie SchülerInnen, StudentenInnen und LehrerInnen in vorwiegend deutscher Sprache zusätzliche Infos, Referatsund Rechercheunterlagen sowie FAQs, Links, Comics, Fachartikel und Buchtipps zur Vertiefung (u. a. zu den Themen Flucht und Asyl, Flüchtlinge im Krieg). UNHCR www.unhcr.at Die Website des UN-Flüchtlingshochkommissariats beinhaltet neben Informationen auch umfangreiche Unterrichtsmaterialien zum Thema.

K 2 | 12

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Für LehrerInnen Literatur Fassmann, Heinz (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006. Klagenfurt: Drava 2007 – Das Nachschlagewerk zum Thema Migration und Integration: Verschiedene ExpertInnen informieren umfassend und wissenschaftlich fundiert über rechtliche Rahmenbedingungen, demografische Entwicklungen und sozioökonomische Strukturen. Gürses, Hakan/Kogoj, Cornelia/Mattl, Sylvia (Hg.): Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Wien: Mandelbaum Verlag 2004 – Der Katalog zur Ausstellung „Gastarbajteri“ bietet weiterführende Informationen und Texte zu dieser besonderen Form der Migration im Nachkriegseuropa. Hirsch, Helga: Schweres Gepäck. Flucht und Vertreibung als Lebensthema. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2004 – Die Autorin thematisiert das Schicksal von Menschen der zweiten Generation von Vertriebenen und beschreibt deren Suche nach ihren Wurzeln und die Belastungen durch den Heimatverlust. Milborn, Corinna: Gestürmte Festung Europa. Frankfurt: Fischer 2008 – Das Buch beleuchtet Brennpunkte der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Ein Zustandsbericht über Menschen am Rand der europäischen Gesellschaft. Nuscheler, Franz: Internationale Migration. Flucht und Asyl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004 – Standardwerk zum Thema Migration, Flucht und Asyl. Schumacher, Sebastian: Gesetzessammlung Fremdenrecht. Fremdenrechtspaket 2005; Gesetzessammlung zu Migration, Ausländerbeschäftigung, Asyl und Verwaltungsverfahren. Wien: Schumacher Eigenverlag – Pichler Medienvertrieb 2006 – Die Neuauflage des Ratgebers des Fremdenrechts­ experten Sebastian Schumacher bringt Licht in den Dschungel des Fremdenrechts. Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. Weinheim/München: Juventa Verlag 2008 – Anhand exemplarischer Wanderungsereignisse untersucht die Autorin die individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Migration.

Links Ausstellung „Gastarbajteri“ online www.gastarbajteri.at Ausstellung zur Geschichte der Arbeitsmigration in Österreich seit den 1960er-Jahren der Initiative Minderheiten und des Wien Museums. Österreichischer Integrationsfonds www.integrationsfonds.at

K 2 | 13

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

A) Hier will ich sein. Hinweise für LehrerInnen Lernziele Migration als weltweites Phänomen begreifen Über die Unterschiedlichkeit von Lebensbedingungen Bescheid wissen Soziale, politische und ökonomische Einflüsse auf das Leben Einzelner kennen Einflüsse von Migrationsbewegungen auf die eigene Familie kennen Die Begriffe Migration, Emigration, Immigration, Flucht und Asyl verstehen Für Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund ist es meist selbstverständlich, da „zu Hause“ zu sein, wo sie leben. Dieses Zuhause endgültig zu verlassen – vielleicht sogar verlassen zu müssen – ist für sie unvorstellbar. Was Migration für den Einzelnen bedeutet, ist deshalb für nicht Betroffene nur schwer vermittelbar. Außerdem weckt die Erkenntnis, dass es möglich ist, keine Lebensgrundlage zu haben oder gar an Leben und Gesundheit bedroht zu sein, unter Umständen tiefe Ängste. Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund fehlt dagegen oft das Empfinden, „daheim“ zu sein, selbstverständlich dahin zu gehören, wo sie sind. Abhängig von ihrer individuellen Geschichte sind sie vielleicht traumatisiert, wenig verwurzelt oder haben ein geringes Selbstwertgefühl. Die Entwicklung von Empathie, sozialem Verantwortungsbewusstsein und Respekt ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig – und manchmal schwierig. Sich in einen anderen Menschen einzufühlen gelingt umso leichter, je besser man seine Erfahrungen, Emotionen und Befindlichkeiten nachvollziehen kann – was umso eher der Fall ist, je ähnlicher die zugrunde liegenden Erfahrungen sind. Gerade das ist aber hier nicht der Fall. Die folgenden Materialien versuchen, diesen Prozess zu unterstützen.

K 2 | 14

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Übung A1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Ein Platz zum Leben Für manche Menschen ist es das Selbstverständlichste auf der Welt, für manche Menschen ist es ein unerfüllter Wunschtraum: ein Zuhause. Das ist mehr als ein Platz zum Schlafen, auch mehr als eine Adresse, an die Post zugestellt wird. Das ist etwas, wo man ganz sicher weiß: Da gehöre ich hin. Da will ich gerne sein. Das muss nicht unbedingt der Ort sein, an dem man geboren oder aufgewachsen ist. Es kann aber kein Ort sein, an dem man sich nicht sicher fühlen kann oder an dem es keine ausreichenden Lebensgrundlagen gibt. Wer ein Zuhause hat, verreist vielleicht gerne – kommt aber auch gerne wieder zurück. Wer kein Zuhause hat, der sucht einen Platz, wo er sich eines schaffen kann. Migration heißt Wanderung. Immer schon sind Menschen gewandert – auf der Suche nach einem guten Platz zum Leben. Bei manchen Völkern war und ist das Wandern die eigentliche Lebensweise: Nomaden zum Beispiel gingen immer schon dorthin, wo ihr Vieh genug Wasser und Futter fand und sie selbst etwas zum Leben sowie einen möglichst sicheren Platz zum Lagern hatten. Dort schlugen sie ihre Zelte auf, bauten ganze Dörfer auf Zeit. Gab es für die Tiere nichts mehr zu fressen, zogen sie weiter. Ihr Zuhause war der Stamm bzw. die Sippe, unabhängig davon, wo sie gerade waren. Auch wenn die Menschen sesshaft geworden sind – sie brauchen immer noch zumindest Wasser und Nahrung zum Leben und ein Dach über dem Kopf an einem Ort, an dem sie sich sicher fühlen. In vielen Ländern ist das für die überwiegende Mehrheit der Menschen erreicht: Es gibt sauberes Wasser, genügend Nahrungsmittel und sozialen Wohnbau, und die Staaten sorgen dafür, dass möglichst alle in Sicherheit sind. Wo das nicht so ist, gehen Menschen wieder auf Wanderung. Es gibt aber auch viele, die ein schönes und sicheres Zuhause haben – und trotzdem lieber anderswo leben wollen. Beispielsweise kommen nicht nur viele nach Österreich, um hier zu leben – es gehen auch viele ÖsterreicherInnen in andere Länder, um eine Zeit lang oder auch für immer dort zu bleiben. ➔ Kennst du so jemanden? ➔ Könntest du dir vorstellen, für immer anderswo zu leben?

K 2 | 15

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A2: Hinweise für LehrerInnen

Wer bin ich? Dauer: ca. 20 Minuten Ziele: Auseinandersetzung mit und Aufbrechen von kulturellen und nationalspezifischen Stereotypen Material und Vorbereitung: Post-Its Kugelschreiber Ablauf: Die TeilnehmerInnen stellen sich im Kreis auf. Jede/r bekommt ein Post-It, auf das er/sie eine Nationalität seiner/ihrer Wahl schreibt, z. B. amerikanisch, ungarisch etc. Die TeilnehmerInnen kleben nun jeweils ihr Post-it dem-/derjenigen, der/die rechts von ihnen steht, auf den Rücken. Anschließend bewegen sich die MitspielerInnen frei im Raum und versuchen, ihre eigene Nationalität mittels Entscheidungsfragen (die Antwort muss „Ja“ oder „Nein“ lauten) an die anderen zu erraten. Wenn alle ihre eigene Nationalität herausgefunden haben, wird die Gruppe wieder zur Nachbesprechung zusammengebracht. Mögliche Diskussionsfragen: Welche Nationalitäten hatten die TeilnehmerInnen? Welche Fragen hast du gestellt, um die eigene Nationalität in Erfahrung zu bringen (Fragen hinsichtlich Geografie, Sprache, Kultur ...)? Welche dieser Fragekategorien haben sich als besonders hilfreich erwiesen? Was wird als typisch für gewisse Nationalitäten erachtet und warum? Sind diese Zuschreibungen berechtigt? Woher kennst du vermeintlich typische nationale Eigenschaften – aus eigener Erfahrung, aus dem Fernsehen ...? Worin bestehen positive und negative Funktionen von Verallgemeinerungen dieser Art? (Quelle: „Wir sind Vielfalt! Methodenvorschläge für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“, Österreichische Kinder und Jugendvertretung; in Anlehnung an „Who am I?“ aus dem irischen Methodenpaket von „alle anders – alle gleich“)

K 2 | 16

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 1 Menschen sind keine Bäume. Deshalb können sie ... 1. selbst bestimmen, wo sie leben wollen und 2. dorthin gehen, wo sie sein wollen. Und das lebenslang. Sie tun das auch. Manche heiraten und ziehen in einen anderen Ort. Manche finden einen weit entfernten Arbeitsplatz und wollen dann auch in dessen Nähe wohnen. Manche sind einfach neugierig und wollen wissen, wie es anderswo ist. Ein paar Generationen später sind ihre Nachkommen dann oft der Meinung, dass die Familie „immer schon“ da war. Wie ist das in deiner Familie? Haben deine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern immer schon da gelebt, wo Sie jetzt daheim sind? Haben alle dieselbe Sprache gesprochen wie Du? Oder haben Sie vielleicht „Wurzeln“ ganz woanders? Sind vielleicht Teile deiner Familie in ein anderes Land gegangen und dort geblieben? ➔ Werde zum/r FamilienforscherIn! Befrage deine Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten – oder wer immer dir Auskunft geben kann! Sammle alles, was du erfahren kannst – die folgende Tabelle unterstützt dich dabei: Frage

Befragte Person/Antwort

Wo hast du als Kind gewohnt? Wie lauten die Geburtsnamen* deiner Eltern? Woher sind sie gekommen? Welche Sprache/welchen Dialekt haben deine Großeltern gesprochen? Sind deine Eltern oder Großeltern aus einem anderen Bundesland gekommen? Sind deine Eltern oder Großeltern aus einem anderen Land eingewandert? Woher? Warum? Ist jemand aus deiner Familie anderswohin ausgewandert? Wohin? Warum? Hast du schon einmal daran gedacht, anderswo zu leben?

* Familiennamen vor einer evtl. Namensänderung bei Heirat

K 2 | 17

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 2 Du kommst eines Tages von der Schule nach Hause und deine Eltern überraschen dich mit der Nachricht, dass alle für ein paar Jahre in einem anderen Land leben werden, weil deine Eltern dort eine interessante und sehr gut bezahlte Arbeitsstelle bekommen haben. ➔ Was möchtest du über das Zielland wissen? ➔ Wohin würdest du dir wünschen zu gehen? ➔ Wohin würdest du nur sehr ungern gehen? Sammle die Informationen, die dich interessieren würden, über die folgenden Länder*: Deutschland, Polen, USA, Türkei, Serbien und Schweden. Nutze das Internet, je nach Interesse eventuell auch Sachbücher oder Reiseführer oder frage – wenn du die Möglichkeit dazu hast – Personen, die eines der Länder kennen. *Wenn du dich für andere Länder interessierst, kannst du die Liste selbstverständlich erweitern oder verändern.

➔ Stell dir vor, dass du keine Urlaubsreise planen, sondern in diesem Land leben sollst! Was macht den Unterschied? Was ist für TouristInnen wichtig – was für das Leben im Alltag? Schritt 1 Das möchte ich über die Länder wissen: Frage 1: Frage 2: Frage 3: Frage 4: Frage 5:

Schritt 2 Das habe ich erfahren über … … Deutschland: Zu Frage 1: Zu Frage 2: Zu Frage 3: Zu Frage 4: Zu Frage 5:

K 2 | 18

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Übung A4: Arbeitsblatt für SchülerInnen … Polen: Zu Frage 1: Zu Frage 2: Zu Frage 3: Zu Frage 4: Zu Frage 5:

… die USA: Zu Frage 1: Zu Frage 2: Zu Frage 3: Zu Frage 4: Zu Frage 5:

… die Türkei: Zu Frage 1: Zu Frage 2: Zu Frage 3: Zu Frage 4: Zu Frage 5:

… Serbien: Zu Frage 1: Zu Frage 2: Zu Frage 3: Zu Frage 4: Zu Frage 5:

➔ Vergleiche die Ergebnisse! ➔ In welches dieser Länder würdest du am liebsten gehen? ➔ Begründe deine Entscheidung! ➔ Zu welcher Entscheidung sind andere gekommen und mit welcher Begründung?

K 2 | 19

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 3 Damit Menschen ein gutes Leben haben können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Du brauchst andere Menschen, mit denen du gerne zusammen bist, auf die du dich verlassen kannst, für die du da sein kannst und von denen du dich verstanden fühlst. Das sind soziale (= gesellschaftliche) Voraussetzungen.

2. Du brauchst eine Umgebung, in der du dich sicher fühlst, deine Lebensbedingungen frei mitbestimmen kannst, deine Rechte und Pflichten klar geregelt und gewährleistet sind. Das sind politische Voraussetzungen.

3. Du brauchst die Möglichkeit, deinen Lebensunterhalt ausreichend sicherzustellen, deine Kinder ausbilden zu lassen, sodass auch diese ihren Lebensunterhalt verdienen können, und die Sicherheit, dass du im Notfall Hilfe bekommst. Das sind ökonomische (= wirt­schaftliche) Voraussetzungen.

➔ Wodurch werden diese Voraussetzungen für dich erfüllt? Nenne drei Beispiele: 1. 2. 3.

K 2 | 20

➔ Wodurch können diese Lebensbedingungen gefährdet werden? ➔ Wodurch können sie verbessert werden? ➔ Wer ist für ihren Fortbestand verantwortlich?

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A6: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 4 Wenn von Menschen die Rede ist, die ihren Wohnsitz dauerhaft wechseln, kommt es oft zu Begriffsverwirrungen. Da ist die Rede von Migration, Emigration, Immigration, Flucht und Asyl beziehungsweise von MigrantIn, EmigrantIn, ImmigrantIn, Flüchtling und AsylantIn. Weißt Du, was die folgenden Begriffe bedeuten?

Migration heißt Wanderung und bedeutet, dass einzelne Menschen oder ganze Gruppen ihr Lebensumfeld auf Dauer wechseln, dass sie von da, wo sie ursprünglich gelebt haben, fortgehen und sich anderswo ansiedeln. Der Begriff sagt nichts über die Gründe aus. Betroffene Personen sind MigrantInnen.



Emigration heißt Auswanderung und bedeutet, dass jemand aus einem Land endgültig fortgeht. Auch dieser Begriff gibt keine Gründe an. Betroffene Personen sind EmigrantInnen. EmigrantIn ist man dort, von wo man weggeht.



Immigration heißt Einwanderung und bedeutet, dass Menschen endgültig in ein Land kommen und sich niederlassen. Der Begriff sagt nichts über die Gründe aus. Betroffene Personen sind ImmigrantInnen. ImmigrantIn ist man da, wo man hinkommt.





Flucht bedeutet, dass Menschen von da, wo sie bisher gelebt haben, fortmüssen, weil sie verfolgt oder bedroht werden oder weil in ihrer Heimat Krieg herrscht und es keine Lebensgrundlagen mehr gibt. Flucht ist dann die einzige Möglichkeit, das Leben zu retten. Der Begriff erklärt, warum jemand sein Lebensumfeld verlässt – aber nicht, warum er/sie verfolgt/bedroht wird. Betroffene Personen sind Flüchtlinge. Sie haben ein Recht auf Schutz, das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben ist. Asyl ist ein Zufluchtsort, ein Ort, wo man Schutz findet und in Sicherheit ist. Asyl wird von einem Land gewährt, wenn Flüchtlinge, deren Sicherheit bedroht ist oder die oft sogar schreckliche Erfahrungen machen mussten, um Schutz bitten. Es bedeutet, dass solche Menschen im Land bleiben dürfen, wo sie vor ihren Verfolgern sicher sind.

AsylwerberInnen Auch der Umgang mit Asyl­werberInnen ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt. Wenn sie Asyl bekommen haben (d. h., wenn sie bleiben dürfen), spricht man von anerkannten Flüchtlingen oder Asyl­ berechtigten. K 2 | 21

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung A6: Arbeitsblatt für SchülerInnen ➔ Ordne bitte die folgenden Personen zu – zu welcher Gruppe gehören sie? A) Herr M. hat in seiner Heimat etwas getan, was bei uns ganz selbstverständlich ist: Er hat in einem Leserbrief an eine Tageszeitung geschrieben, dass er bestimmte Maßnahmen der Regierung für falsch hält. Von diesem Moment an wurde er bedroht, er verlor seinen Job und wurde mehrmals aus heiterem Himmel zur Polizei vorgeladen und verhört. Dabei wurde er öfters verprügelt und man drohte ihm, dass seiner Frau und seinen Kindern etwas passieren würde, wenn er weiterhin Kritik üben sollte. Ein Nachbar berichtete der Polizei, Herr M. hätte über den Regierungschef geschimpft. Zum Glück erfuhr Herr M. rechtzeitig davon. Er konnte nur Dokumente und etwas Bargeld mitnehmen, als er mit seiner Familie überstürzt das Haus verließ – kurz bevor die Polizei ihn festnehmen konnte. Er ist überzeugt, dass weder er noch seine Familie das überlebt hätten – wie viele andere in seinem Land vor ihm. Herr M. und seine Familie sind

.

B) Frau D. kommt aus Österreich und hat Meeresbiologie studiert. Jetzt hat sie ein tolles Angebot bekommen: in Mexiko! Sie hat immer gewusst, dass sie ihren Beruf wahrscheinlich nicht in Österreich (grenzt nicht an ein Meer) ausüben wird, und freut sich über die Chance. Sie wird nach Mexiko übersiedeln, sich dort eine Wohnung oder ein Haus suchen, aber natürlich immer wieder auf Besuch in ihre alte Heimat kommen. Bestimmt werden sie ihre Eltern und Geschwister in Mexiko besuchen. Frau D. ist

.

C) Familie S. kommt aus einem Land, in dem es einen Bürgerkrieg gab. Der ist jetzt vorbei – aber die Seite, der die Familie angehört, hat ihn verloren. Die SiegerInnen gehen mit den VerliererInnen nicht zimperlich um, deshalb hat Familie S. das Land verlassen und bittet darum, hierbleiben zu dürfen. Sie fürchten um ihr Leben, wenn sie zurückgehen. Die Mitglieder der Familie S. sind

.

D) Herr G. stammt aus einem asiatischen Land. Er hat eine Österreicherin kennengelernt und sich in sie verliebt. Die beiden wollen heiraten und in Österreich leben. Herr G. hat einen Beruf, der in Österreich gesucht ist. Er hat auch schon einen Arbeitsplatz gefunden und eine Arbeits­ erlaubnis bekommen. Sobald das möglich ist, möchte er die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Er will Österreicher werden. Herr G. ist in Österreich ein

K 2 | 22

.

Das große Plus

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

B) Wo darf ich sein? Hinweise für LehrerInnen Lernziele Migration aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten Fakten über Migration innerhalb der EU kennen Zusammenhänge zwischen der demografischen Entwicklung von Gesellschaften und den Bedingungen von Migration erkennen Migrationsbewegungen sind nicht nur aus der Perspektive der unmittelbar Betroffenen zu sehen, sondern auch aus jener der abgebenden oder aufnehmenden Gesellschaften. Deren Interessen bestimmen wesentlich die Bedingungen, unter denen insbesondere Emigration und Immigration stehen. So gibt es Länder, deren Wirtschaft wesentlich von den Zuwendungen ihrer EmigrantInnen abhängig ist, ohne die sie nicht funktionieren würde. Andere Länder wiederum sind auf Immigranten angewiesen, um ihren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Der freie Personenverkehr innerhalb der EU schafft Unterschiede zwischen MigrantInnen: So kann es z.B. keine AsylwerberInnen aus EU-Staaten geben, weil diese alle als sichere Staaten gelten. „Illegale“ Einwanderung ist (abgesehen von einigen auslaufenden Übergangsbestimmungen) nur von außerhalb der EU möglich. Es sind im Wesentlichen Fragen der Menschlichkeit einerseits und der Wirtschaft andererseits, die den Umgang mit Migration bestimmen. Beides zu unterscheiden und dennoch entsprechend zu beachten macht die Qualität dieses Umgangs aus.

K 2 | 23

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung B1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 5 Mach ein Gedankenspiel: In einer Gemeinde soll ein Wohnhaus errichtet werden. Es steht eine bestimmte Summe für das nötige Grundstück und den Bau zur Verfügung – sie ist nicht erweiterbar. Es müssen – noch bevor die konkrete Planung beginnen kann – einige grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden: Soll mit den Wohnungen in erster Linie Geld verdient oder Wohnraum geschaffen werden? Wie viele Wohnungen sollen entstehen? Sollen es teure Wohnungen für Wohlhabende sein oder günstige, die zum Beispiel für junge Familien leistbar sind? Welche Zusatzeinrichtungen sollen eingeplant werden? (Spielplätze, Gemeinschaftsräume, …) Sollen die Wohnungen verkauft oder vermietet werden? Sind Anzahl und Qualität der Wohnungen wichtiger als die Lage? Wer soll einziehen – Menschen, die schon in der Gemeinde leben, oder Zuwanderer? Sobald das Haus steht, sind weitere Entscheidungen nötig. Wenn das Interesse größer ist als die Anzahl der Wohnungen, müssen z.B. folgende Fragen geklärt werden: Nach welchen Kriterien werden die Wohnungen vergeben? ( junge Familien, Senioren, Alteingesessene, erwünschte/benötigte Berufe, besondere Bedürfnisse, ….) Welche Auswirkungen auf das Zusammenleben im Haus und auf das Gemeindeleben sind zu erwarten? (Lärmentwicklung, Arbeitsplätze, Gewinn/Kosten für die Gemeinde, …) Wer hat ein Mitspracherecht bei der Auswahl der zukünftigen BewohnerInnen? Was geht im Zweifelsfall vor: Interessen der Gemeinde oder das Wohlergehen der WohnungswerberInnen? Gibt es dafür immer gültige Grundsätze? ➔ Sammelt Argumente! Diskutiert darüber! Bildet zwei Gruppen: 1. Vertreter der Gemeinde, die über die Vergabe der Wohnungen entscheiden 2. WohnungswerberInnen ➔ Welche Argumente sind überzeugend, welche nicht? Für wen? ➔ Betrachtet Überlegungen und Argumente – was davon ist auf Fragen der Migration übertragbar? Welche Lösungsvorschläge kennst du?

K 2 | 24

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung B2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 6 In jeder Gemeinschaft ist es so: Damit sie auf Dauer funktionieren kann und alle haben, was sie brauchen, müssen die dafür nötigen Aufgaben sinnvoll verteilt sein: Es müssen die Lebensgrundlagen erwirtschaftet werden – jemand muss also arbeiten und Geld verdienen. Kinder müssen versorgt und ausgebildet werden, Kranke müssen behandelt und Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können, unterstützt werden. Jedes Mitglied der Gemeinschaft bekommt, wenn es alt geworden ist und nicht mehr so viel beitragen kann wie früher, Unterstützung von denen, die es früher großgezogen hat Es ist ein ununterbrochenes Geben und Nehmen. Wer wann wem wie viel gibt und wer wann von wem wie viel bekommt – das wird immer wieder neu ausgehandelt. Darin besteht eine wichtige Aufgabe der Politik. Weißt du, was du von der Gemeinschaft bekommst? Wer zahlt für die Schule, die du besuchst? Wer zahlt für den Arzt, das Spital oder die Medikamente, wenn du krank bist? Wer zahlt für die Straßen und die Straßenbeleuchtung? ➔ Setze die Liste bitte fort: Was brauchst du im Alltag alles, wofür die Gemeinschaft (der Staat/die Gemeinde/die Sozialversicherung) aufkommt? Frage auch deine Eltern, was und wie viel sie für dich bekommen! Tipp: Gehe gedanklich einen ganz normalen Tag oder eine Woche durch – dann fällt dir schnell auf, worum es geht! Ergänze die Liste auch mit nicht alltäglichen Situationen (z. B. Krankheit, Unfall etc). Wofür?

Das stellt die Gemeinschaft zur Verfügung:

Schulweg

Straße, öffentliche Verkehrsmittel, …

Schule

Gebäude, Bücher, …

Sport

Gesundheit

Infrastruktur*

* Darunter versteht man alles, was das Zusammenleben im Alltag organisiert – z. B. Müllentsorgung, Energieversorgung.

K 2 | 25

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung B3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 6a Das Geben und Nehmen in einer Gemeinschaft kann nur dann funktionieren, wenn für alle Aufgaben jemand da ist, der sie übernimmt. Damit du (weitgehend) kostenlose Schulbücher bekommst, muss jemand das Geld, das sie kosten, erarbeiten. Es muss also genug Menschen geben, die Arbeit haben – denn sie bezahlen mit ihren Steuern unter anderem auch deine Bücher (und alles, was du auf der vorigen Liste zusammengestellt hast). Was passiert wohl in einer Familie, in der die Großeltern, die Eltern und die erwachsenen Kinder Geld verdienen und damit gemeinsam den Lebensunterhalt bestreiten, wenn die Großeltern alt oder krank werden und nicht mehr arbeiten können, ein Elternteil nach einem Unfall arbeitsunfähig wird, der zweite seine Arbeit verliert und einige der erwachsenen Kinder wegziehen? Richtig: Es gibt plötzlich viel weniger Geld, wahrscheinlich sogar zu wenig, damit das Leben so weitergehen kann wie bisher. Und wer noch ein Einkommen hat, muss auf einmal viel mehr davon mit den anderen teilen.

K 2 | 26

Dasselbe passiert in einem Staat: Wenn es viele Menschen gibt, die nicht (mehr) arbeiten können, weil sie zu alt oder zu krank dazu sind und gleichzeitig nur wenige, die ein Einkommen haben, weil es nicht genug Menschen im arbeitsfähigen Alter gibt oder weil sie keine gute Ausbildung und/oder keine Arbeit haben, dann können viele Leistungen der Gemeinschaft nicht mehr erbracht werden, die vorher möglich waren.

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung B3: Arbeitsblatt für SchülerInnen Deshalb geht es Gesellschaften gut, wenn das Verhältnis zwischen Arbeitenden und nicht Arbeitenden ausgewogen ist. In Österreich werden immer weniger Kinder geboren. Es gibt deshalb immer weniger Arbeitende und immer mehr Menschen in Pension. Die „Statistik Austria“ hat das genau errechnet: „Die Altersstruktur verschiebt sich deutlich hin zu den älteren Menschen. Stehen derzeit 23 % der Bevölkerung im Alter von 60 und mehr Jahren, so werden es mittelfristig (2020) rund 26 % sein, langfristig (ca. ab 2030) sogar mehr als 30 %.“ Das schaut so aus: Bevölkerungspyramide 2008, 2030 und 2050 (mittlere Variante) Männer

Lebensjahre

Frauen

90 80 70 60 50 40 30 20 10

2008 2030 2050

0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Personen in 1.000 Quelle: Statistik Austria

Die dickste Stelle dieser Darstellung sagt Dir, in welchem Alter die meisten Menschen sind, die Umrisse sagen dir, wann das war bzw. sein wird. ➔ Wo wird die dickste Stelle im Jahr 2030 sein? Wie alt werden die meisten Menschen dann sein? Wie alt wirst du selbst dann sein? ➔ Diskutiere: Was bedeutet das für Österreich? Für die Menschen, die schon hier sind – und für jene, die kommen (wollen)? Was bedeutet es für dich und deine KollegInnen?

K 2 | 27

KAPITEL 2: Migration – Hintergründe und Entwicklungen

Das große Plus

Übung B4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Migration – Hintergründe und Entwicklungen 7 Weil Menschen, die Arbeit haben, dafür sorgen, dass es allen gut geht, laden manche Staaten, die solche Menschen brauchen, sie zum Kommen ein. Sie machen es ähnlich wie jemand, der klug einkaufen geht: Zuerst stellen sie fest, was bzw. wen sie brauchen (z. B. BauarbeiterInnen, Pflegepersonal oder TechnikerInnen), und dann sorgen sie dafür, dass sie genau das bzw. diese Personen bekommen. So ist allen geholfen: Die einen bekommen die benötigten ArbeitnehmerInnen, die anderen die Arbeit, die sie suchen. ArbeitsmigrantInnen/MigrantInnen Was haben Menschen, die Arbeit suchen, möglicherweise zu bieten? Unter welchen Bedingungen bzw. mit welchen Vorbereitungen würden sie wohl zum Arbeiten in ein fremdes Land gehen? Was brauchen Menschen, die in ein fremdes Land kommen? ArbeitgeberInnen Wovon könnte es abhängen, wer gebraucht wird und eingeladen werden sollte? Was würdest du wohl anbieten, damit Menschen aus anderen Ländern bei dir arbeiten wollen? ➔ Sammelt Antworten auf die obigen Fragen:





K 2 | 28

Relevante Aspekte sind z. B. Ausbildung, Sprachkenntnisse, berufliche Erfahrung, Wohnsituation, Einkommensverhältnisse, Familienverhältnisse, gesundheitsbezogene Bedürfnisse, Arbeitszeiten, Betriebsstrukturen, …) Aus den gefundenen Möglichkeiten entwirft danach eine Gruppe (A) das Beispiel eines Migranten/einer Migrantin, der/die Arbeit sucht und eine zweite Gruppe (B) das eines Arbeitgebers/einer Arbeitgeberin, der/die MitarbeiterInnen sucht. Präsentiere deine Ergebnisse. Stelle fest, worin Ihr übereinstimmt und worin Ihr unterschiedlicher Meinung seid. Lege deine Argumente dar. Könnt Ihr eine Einigung finden? Was kann nicht gelöst werden?

Teil 2

„Wer trägt was bei?“ Über den Beitrag von Menschen mit Migrationshintergrund zur österreichischen Gesellschaft und Wirtschaft

Kapitel 3:

Arbeitsmarkt und Sozialsystem

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

3.1. Personen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt Die Mehrheit der ZuwanderInnen ist nach Österreich auf der Suche nach Arbeit gekommen: um mehr zu verdienen oder um überhaupt die Chance auf eine geregelte Beschäftigung zu erlangen. Arbeitssuche ist nicht nur ein häufiger Grund für Migration in ein anderes Land, sondern auch eine wichtige Voraussetzung für die Integration in einer fremden Gesellschaft. Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund sind ArbeitnehmerInnen, doch immer mehr ZuwanderInnen werden UnternehmerInnen. 3.1.1. ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund findet man meist in anderen Bereichen und oft in weniger angesehenen Positionen als inländische Erwerbstätige. „Insgesamt dominieren bei der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Produktion, Bauwesen, Hotelgewerbe und Gastronomie. Hinzu kommen Tätigkeiten als Hauswart, in der Landwirtschaft oder in Handwerksberufen. ArbeitnehmerInnen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft sind darüber hinaus häufig in Pflegeberufen und im Handel tätig. Anteil Erwerbstätiger nach Berufen und Geburtsland 8,4

Hilfsarbeitskräfte

25,9 13,0

Handswerks- und verwandte Berufe

13,6

Dienstleistungsberufe, Verkäufer in Geschäften und auf Märkten Techniker und gleichrangige nichttechnische Berufe 8,8 5,7

Anlagen- und Maschinenbediener sowie Montierer Bürokräfte, kaufmännische Angestellte

21,0

10,2

7,8 14,5

7,4

Angehörige gesetzgeb. Körperschaften, leit. Verw.bed., Führungskräfte i.d. Privatwirtschaft

in % 0 (bezogen auf die jeweilige Gesamtgruppe der Erwerbstätigen)

14,9

12,8

Wissenschaftler

Fachkräfte in der Landwirtschaft und Fischerei

15,6

7,2

5,3

Österreich Nicht-Österreich

6,2

1,2 5

10

15

20

25

30

Quelle: Statistik Austria, MZ-Arbeitskräfteerhebung 2. Quartal 2008

Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei finden sich überdurchschnittlich häufig in Positionen, die von inländischen Arbeitskräften gemieden werden. Männer sind häufiger als Facharbeiter, Frauen in Hilfs- und angelernten Arbeiten beschäftigt. Die Tätigkeiten sind oft belastend oder gefährlich und gering entlohnt. Die ZuwanderInnen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei sind überwiegend in bestimmten Branchen tätig: „Sie arbeiten in Saisonbranchen, also in der Land- und Forstwirtschaft, im Tourismus und im Bauwesen, weiters in der Nahrungsmittelerzeugung und im Verkehr. “ 1

K 3 | 01

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Anders stellen sich die Beschäftigungsmuster von ZuwanderInnen aus den alten EU-Staaten (Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien etc.) dar. So sind etwa deutsche ZuwanderInnen im Schnitt höher qualifiziert und beruflich deutlich besser gestellt als manche andere. Sie sind häufiger als Angestellte oder auch als BeamtInnen tätig. Die Zuwanderungsgruppe verteilt sich auf Arbeitsplätze in allen Branchen. „Schwerpunkte sind in den Bereichen der unternehmensorientierten Dienste, in der Forschung, der Energieversorgung und im Tourismus zu finden.“ 2 Diese Tätigkeiten werden meist gut entlohnt und sind angesehen.

Wissen

Schlüsselfaktor Bildung Die Position am Arbeitsmarkt ist eng mit der Qualifikation verbunden. Das Bildungsniveau der ZuwanderInnen liegt im Schnitt unter dem der einheimischen Bevölkerung. Dabei zeichnen sich Qualifikationsunterschiede je nach Herkunftsregion ab. Qualifikation nach Herkunft? Unter den deutschen MigrantInnen ist das durchschnittliche Bildungsniveau hoch. Jeder vierte Mann und jede siebente Frau hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium – ein Wert, der rund dreimal so hoch ist wie unter den ÖsterreicherInnen: Die deutschen MigrantInnen sind also besser ausgebildet, als der/die durchschnittliche ÖsterreicherIn. Die ehemaligen „GastarbeiterInnen“ weisen hingegen meist eine schlechtere Ausbildung auf. 77 Prozent der Türken und 89 Prozent der Türkinnen haben nur eine Pflichtschulausbildung. 3

Folgen am Arbeitsmarkt. Die Folgen: Viele Personen mit Migrationshintergrund arbeiten in Hilfsberufen, haben niedrigere Einkommen und sind häufiger arbeitslos. Die Arbeitslosenquote lag 2009 in Öster­ reich bei 4,8 Prozent, unter Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft bei 10,3 Prozent. Damit gehen ein höheres Armutsrisiko und ein niedrigerer Lebensstandard einher. Auch besser Ausgebildete finden häufig keinen Job oder arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau: Zugewanderte AkademikerInnen fahren Taxi oder räumen im Supermarkt Regale ein. Sie sind „überqualifiziert“ bleiben aber in diesen „Jobs“, weil ihnen in Österreich der Zugang zu höher qualifizierter Arbeit oft verwehrt ist. Ursachen davon sind unter anderem die mangelnde Anerkennung ausländischer Diplome, Sprachbarrieren und das Fehlen persönlicher Netzwerke.

3.1.2. UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund Immer mehr Personen mit Migrationshintergrund sind in Österreich als UnternehmerInnen tätig. Der Weg in die Selbstständigkeit bietet eine Möglichkeit, am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und damit die Chance auf sozialen Aufstieg und Integration. Für manche bedeutet die Gründung eines eigenen Geschäfts oder Büros einen Ausweg aus der Arbeits­ losigkeit. Seit den 1980er-Jahren wuchs der Anteil von Personen mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft, die als UnternehmerInnen tätig sind, deutlich an: Lag etwa der Anteil der ausländischen StaatsbürgerInnen an den in Wien wohnhaften Selbstständigen 1971 bei nur drei Prozent, betrug er im Jahr 2001 bereits 13 Prozent.

K 3 | 02

1 Helmut Wagner (Hg.): Segmente. Wirtschafts- und sozialgeographische Themenhefte. Migration – Integration. Wien: Ed. Hölzel 2005, S. 21 2 vgl. ebd. 3 vgl. Heinz Fassmann, Ursula Reeger: „Lebensformen und soziale Situation von ZuwanderInnen“. In: Fassmann (Hg.) 2007, S. 192

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Woher kommen UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund? Ex-Jugoslawien(ohne Slowenien)

2,5 3,1

Türkei

14,3

Naher Osten 10,4

Asien

13,2

Amerika und Ozeanien 11,3

Afrika und sonstige

14,0

alte EU-Staaten und EFTA 9,1

neue EU-Staaten

10,7

Österreich in % 0

3

6

9

12

15

18

Quelle: Statistik Austria

Eine Branche ist hauptsächlich den langansässigen ÖsterreicherInnen vorbehalten: die selbstständige Tätigkeit in der Landwirtschaft. UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund sind daher hauptsächlich im nicht landwirtschaftlichen Bereich tätig. Dort konzentrieren sie sich, ebenso wie österreichische UnternehmerInnen, auf vier Branchen: Handel und Reparatur, unternehmensorientierte Dienste, Hotelgewerbe und Gastronomie sowie persönliche Dienste. Überdurchschnittlich oft im Vergleich zu inländischen UnternehmerInnen findet man Selbstständige mit Migrationshintergrund außerdem im Bereich des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung, in sonstigen Dienstleistungen sowie im Kredit- und Versicherungswesen. 4 In welchen Branchen sind UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund tätig? 13,9

Handel und KFZ-Reparatur

Verkehr und Nachrichtenübermittlung

10,5 Eingebürgerte

8,9

ÖsterreicherInnen

4,8 15,2

Unternehmensbezogene Dienstleistungen

17,0 14,6

Gastgewerbe

18,8 17,2

Persönliche Dienstleistungen in % 0

16,0 5

10

15

20

25

Quelle: Statistik Austria

Vor allem UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund positionieren sich in Nischen der Wirtschaft und decken dort einen wichtigen Bedarf ab, beispielsweise in Handwerksberufen, als KrankenpflegerIn, in der Gastronomie oder im Kulturbereich.

4 v gl. Gudrun Biffl: „Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit: die Bedeutung von Einbürgerung, Herkunftsregion und Religionszugehörigkeit“. In: Heinz Fassmann (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006. Klagenfurt: Drava 2007, S. 265–282, S. 277

K 3 | 03

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Die Vielfalt der Wiener Wirtschaft Die Wiener Wirtschaft ist vielfältiger, als die meisten Menschen glauben. So hat etwa jede/r dritte EinzelunternehmerIn in Wien Migrationshintergrund. Quer durch alle Branchen sind Selbstständige, die selbst oder deren Eltern zugewandert sind, ein fixer und wichtiger Teil des heutigen Wirtschaftslebens in Wien. Und das mit großem Erfolg: Migrantische UnternehmerInnen sichern nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 25.000 Arbeitsplätze in Wien. Doch damit nicht genug: Sie verbessern auch die Angebotsvielfalt, sorgen für funktionierende Versorgungsstrukturen und stärken mit ihren grenzüberschreitenden Kontakten den Wirtschaftsstandort. Es ist sehr wichtig für die Wiener Wirtschaft, dass es UnternehmerInnen mit Migrations­ hintergrund gibt, die ihre internationalen Wurzeln und ihre interkulturelle Erfahrung ein­ bringen. Sie tragen dazu bei, dass die Stadt in einer zunehmend globalen Wirtschaftswelt gut vernetzt ist. Und das macht den Standort Wien noch attraktiver – auch für die rund 120 internationalen Konzerne, die ihre Osteuropazentrale in Wien angesiedelt haben. Petr Zak:

Amra Bergman-Buchbinder:

Petr Zak wuchs in der ehemaligen Tschechoslowakei auf und emigrierte 1989 nach Österreich. Der Student der Computerwissenschaften arbeitete zunächst als Haushaltshilfe und Hilfselektriker.

Amra Bergman-Buchbinder ist Kostüm- und Bühnenbildnerin auf großen Bühnen. Aber auch mit ihrer Modemarke „Amra ot Couture“ macht sie Furore.

Unternehmer und Pilot

Er lernte Deutsch, entwickelte Software für Modelleisenbahnsteuerungen und Flug­ sicherungssysteme und besuchte nebenbei die Wirtschaftsuniversität. Schließlich gründete er sein eigenes Unternehmen für drahtlose Datenkommunikationssysteme. Im zweiten Bildungsweg erfüllte er sich den Traum vom Fliegen und wurde Pilot. Petr Zak möchte zeigen, dass es möglich ist, in einer neuen Heimat den eigenen Weg zu verfolgen. Als Botschafter im projektXchange (www.projekt­xchange.at) besucht er Schulen, erzählt den Kindern seine Geschichte und ermutigt sie zum Sprachenlernen. K 3 | 04

Foto: Nadja Meister

Auf Bühne und Laufsteg zu Hause

Als 13-Jährige floh sie vor dem Krieg in Bosnien. Nach einer Ausbildung am Salzburger Mozarteum kam sie durch Zufall zum Theater und bestand die Aufnahmeprüfung an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Während des Kunststudiums baute sie als Assistentin von Erich Wonder Bühnenbilder und entwarf Kostüme, die von der Presse begeistert aufgenommen wurden. Beim Diesel Designerwettbewerb in Triest kam sie ins Finale, der Weg in die Modewelt war geebnet. 2005 gründete sie die Marke „Amra ot Couture“ und eröffnete den Laden „Amra in Wien“. Seitdem brilliert die Künstlerin in beiden Welten. Quelle: Text aus Kampangne „Erfolg kennt keine Grenzen“ von Wirtschaftskammer Wien und Wiener Wirtschaftsförderungsfonds Foto: Christian Müller

Das große Plus

Murat Koc:

„Ich tue, was ich sage.“

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Aleksandra und Damian Izdebski:

„Ein PC ist kein Massenprodukt“

Murat Koc ist ehrgeizig, fleißig, professionell. Und stolz. Dazu hat der 29-Jährige allemal Grund: Quasi über Nacht führte er seinen Laden „x-mobile“ zum Erfolg.

Aleksandra und Damian Izdebski begannen 1997, Computer zu reparieren. Mittlerweile ist „DiTech“ Marktführer am heimischen Computerfachmarkt.

Nach Österreich kam Koc mit sechs Jahren, mit 20 schloss er die HTL für Maschinenbau ab. Dass er sich nach der Ausbildung selbstständig machen würde, hatte er schon mit 16 beschlossen. Den Abschluss in der Tasche, eröffnete Koc mit einem Schulfreund im September 2000 einen Callshop. Nach zwei Jahren trennten sich die Partner, Koc kaufte die Anteile des Freundes auf und gründete 2003/2004 x-mobile. Nach einem Jahr Anlaufphase „ging es ruck, zuck“, erzählt Koc. 2005 kam x-mobile österreichweit unter die Top drei Fachhändler, 2006 schaffte er es zum besten Fachhändler. Koc ist einer, der anpackt. Bei der Arbeit kennt er keine Uhrzeit, der Tag hat so viele Stunden, wie es eben sein muss. „Das macht mir nichts, meine Arbeit bereitet mir viel Freude, und daher kommt auch der Erfolg. Und daher, dass ich tue, was ich sage.“ Dass x-mobile sich unter so vielen Fachhändlern durchsetzen konnte, erklärt sich Koc mit der klaren Positionierung und mit den vielen zufriedenen Stammkunden, die per Mundpropaganda Werbung machen.

„Ein Computer ist ein Individuum, genauso wie seine BenutzerInnen. KonsumentInnen entscheiden sich oft für Funktionen, die sie niemals nutzen. Bei uns werden die Geräte an die Kundenwünsche angepasst“, umreißt die gebürtige Polin Aleksandra Izdebska das Geschäftsmodell von DiTech. Es ist ein Erfolgsmodell, mit dem das ambitionierte Unternehmerpaar genau den Nerv der Zeit getroffen hat. Die Umsatzzahlen haben sich seit dem Jahr 2005 auf 64 Millionen Euro verdreifacht, die Zahl der MitarbeiterInnen ist im Laufe der Zeit auf eine dreistellige Zahl angewachsen.

Quelle: Text aus Kampangne „Erfolg kennt keine Grenzen“ von Wirtschaftskammer Wien und Wiener Wirtschaftsförderungsfonds Foto: Christian Müller

Damian und Aleksandra Izdebski übersiedelten 1992 von Warschau nach Wien. Sie schloss die Studien Handelswissenschaften und Dolmetsch ab, er die HTL. 1997 eröffnete Damian Izdebski dann als selbstständiger EDV-Dienstleister ein kleines Büro im 20. Bezirk, in dem er kleine Server, Webdesign und Wartung von Software anbot, schließlich gründete das Ehepaar 1999 „DiTech“. Die beiden stellten die ersten Techniker ein, die Nachfrage stieg und stieg. Wegen der wachsenden Belegschaft zog die Firma 2001 in ein größeres Büro. War es schwer für die gebürtigen Polen, so etwas in Österreich aufzuziehen? „Wenn du es in Österreich geschafft hast, schaffst du es überall“, antwortet Aleksandra mit einem Lächeln. Quelle: Text aus Kampangne „Erfolg kennt keine Grenzen“ von Wirtschaftskammer Wien und Wiener Wirtschaftsförderungsfonds Foto: Christian Müller

K 3 | 05

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

3.1.3. Wir brauchen sie! Nicht immer werden Menschen mit Migrationshintergrund so freundlich willkommen geheißen, wie es sich viele wünschen würden. Am Arbeitsmarkt sind sie oft Vorurteilen ausgesetzt: vom Vorwurf „Ausländer wollen nicht arbeiten!“ bis zum gegenteiligen Klischee „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ Die Angst um Arbeitsplätze ist besonders seit der Wirtschafts- und Finanzkrise präsent, MigrantInnen nehmen in dieser Hinsicht oft eine Sündenbock-Funktion ein. Ohne die Arbeitskraft von Personen mit Migrationshintergrund würde jedoch eine Versorgungslücke entstehen – viele Bereiche unseres Lebens würden still stehen.

Österreich ohne Zuwanderung? Migration ist Alltag. Migration ist auch zum Motor der demografischen Entwicklung Österreichs geworden: Das heißt, nicht die Geburtenraten, sondern die Zuwanderung ist für das Wachstum verantwortlich. 17 Prozent der Menschen in Österreich haben einen Migrationshintergrund. Sie gehen zur Schule, zur Arbeit, zahlen ins Sozialsystem ein. Doch wie würde Österreich ohne Migration aussehen? Was würde passieren, wenn sämtliche ZuwanderInnen plötzlich aus dem Land verschwänden? Nichts Erfreuliches: Die Gesellschaft würde schrumpfen, die Nachfrage sinken, das Bruttoinlandsprodukt zurückgehen. Die Gesellschaft würde schneller überaltern, die Menschen müssten länger arbeiten, um das Pensionssystem zu finanzieren. Die gesamte Wirtschaft wäre betroffen: „Kurzfristig gesehen würde einiges nicht funktionieren“, sagt der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz, „eine Versorgungslücke entsteht.“ 5 Besonders betroffen wären der Tourismus und der Pflegebereich: Hotels müssten zusperren, Pflegepersonal würde fehlen. Ohne die MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund würde etwa im Wiener AKH das Chaos ausbrechen: „Dann müssten wir zehn Prozent der Betten schließen, hätten zehn Pro­ zent weniger Operationen, längere Wartezeiten“ 6 , sagt AKH-Leiter Reinhard Krepler. In einem Szenario ohne ZuwanderInnen müssten mittelfristig Einheimische die Lücken am österreichischen Arbeitsmarkt füllen –

K 3 | 06

und unterbezahlte Jobs annehmen, die sie derzeit meiden. „Langfristig gesehen kann das Fehlen der Migranten zu einer erheblichen Verteuerung in einigen Branchen führen“ 7, folgert Rainer Münz. Das Szenario führt vor Augen: Personen mit Migrations­ hintergrund spielen eine wichtige Rolle am österreichischen Arbeitsmarkt. „Dass Zugewanderte eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum haben, steht außer Frage“ 8, so die Migrationsexpertin Gudrun

Biffl. Aufgrund der Konzentration von ZuwanderInnen auf bestimmte Arbeitsmarktsegmente, aus denen Einheimische aus verschiedenen Gründen abwandern, gebe es „verhältnismäßig wenig direkten“ Wettbewerb zwischen Personen mit Migrationshintergrund und InländerInnen. 9 Zum Teil werben Unternehmen und Organisationen aber auch ganz gezielt um ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund. Die Polizei und die Stadt Wien suchen etwa über die Aktion „Wien braucht dich!“ junge Männer und Frauen, welche die Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln. Schließlich hat über ein Drittel der EinwohnerInnen Wiens Migrationshintergrund. Ziel ist es, dass in jeder Polizeiinspektion Wiens mindestens ein Beamter bzw. eine Beamte mit Migrationshintergrund Dienst tut. Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz sind eine wertvolle Ressource – was auch am Arbeitsmarkt zunehmend erkannt wird.

5 zitiert nach „Die Presse“ vom 24.02.2009 6 zitiert nach „Kurier“ vom 23.01.2010 7 zitiert nach „Die Presse“ vom 24.02.2009 8 Gudrun Biffl: „Wahrnehmung einer – vermeintlichen – Bedrohung durch Zuwanderung und empirische Realität.“ In: Sir Peter Ustinov Institut (Hg.) 2009, S. 21 9 vgl. ebd., S. 23

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

3.2. Personen mit Migrationshintergrund im Sozialsystem „Viele Menschen hegen Ängste bezüglich der Auswirkungen von Migration auf den Wohlfahrtsstaat“ 10 , beschreibt der aktuelle Human Development Report. Demnach befürchtet die Hälfte der EuropäerInnen, dass MigrantInnen die öffentlichen Finanzen belasten. ZuwanderInnen haben Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen, doch sie leisten ebenso wie Einheimische Beiträge für das Sozialsystem. In Summe tragen Sie mehr zum Sozialsystem bei, als sie wieder heraus bekommen. 3.2.1. Sozialsystem Bereits in der Antike und im Mittelalter gab es Versuche einzelner Staaten, die Not ihrer BürgerInnen zu lindern. Ziel war es, Unruhen zu verhindern und die politische Stabilität zu sichern. Aus einer ähnlichen Motivation heraus entstand der moderne Sozialstaatsgedanke, der sich infolge der industriellen Revolution und der Massenverelendung breiter Bevölkerungsschichten entwickelte. Durch staatliche Umverteilung sollten Arme und Schwache eine Grundsicherung erhalten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Großteil der Sozialsysteme in Europa eingeführt. Ein Sozialsystem umfasst die sozialen Absicherungen für die Bevölkerung, die über Steuern und Sozialabgaben finanziert werden. Dazu zählen unter anderem Pensions-, Kranken-, Unfallund Arbeitslosenversicherung. Der moderne Sozialstaat strebt soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Gerechtigkeit für alle BürgerInnen an. Aufgrund von strukturellen Problemen steht der Sozialstaat heute in vielen Industrienationen vor vielfältigen Herausforderungen – auch in Österreich.

Wissen

Sozialstaat Österreich Anfänge. Der Grundstein für den österreichischen Sozialstaat wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert gelegt. 1887 wurde die Unfallversicherung, 1888 die Krankenversicherung für ArbeiterInnen eingeführt. Damit wurde die Tradition einer an Erwerbstätigkeit gebundenen Sozialversicherung begründet. 1906 folgte die Pensionsversicherung für Angestellte, Ende der 1930er-Jahre die Altersversicherung für ArbeiterInnen. In der Zweiten Republik wurde der Sozialstaat ausgebaut, 1955 das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz beschlossen. Bereiche. Man unterscheidet vier große Bereiche des österreichischen Sozialstaats, die sich in einem über

100 Jahre andauernden Prozess herauskristallisiert haben: „die soziale Sicherung mit den beiden ,Netzen‘ der Sozialversicherung und Sozialhilfe, die Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen, die aktive Arbeitsmarktpolitik und (…) familienrelevante Leistungen“. 11 Entwicklung. In den Jahrzehnten nach 1945 ist der Sozialstaat von Ausweitung gekennzeichnet. Ab den 1980er Jahren gerät die sozialstaatliche Absicherung zunehmend unter Druck. Ursachen sind unter anderem die fortschreitende Globalisierung und der Standortwettbewerb, der demografische Wandel und das Überaltern der Gesellschaft.

10 http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr2009 11 Emmerich Tálos: Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945–2005. Innsbruck: Studienverlag 2005, S. 13

K 3 | 07

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

3.2.2. Sozialleistungen Österreich verfügt über ein dichtes Netz an Sozialleistungen. Hier soll ein kurzer Überblick über die Sozialschutzsysteme gegeben werden, die sich in verschiedene Bereiche gliedern lassen: 12 Sozialversicherung Die gesetzliche Sozialversicherung ist „das zentrale Regelungsinstrument für die Absicherung gegen die wesentlichen Lebensrisken (Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit)“. 13 Sie wird überwiegend durch Beiträge der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen finanziert. „Wesentlich für die Sozialversicherung ist, dass im Vordergrund der Gedanke des sozialen Ausgleichs steht. Zur Sozialversicherung zählen die Pensionsversicherung, die Unfallversicherung und die Krankenversicherung. Insgesamt bestehen dafür 22 Sozialversicherungsträger, die im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zusammengeschlossen sind. Arbeitslosenversicherung Die Arbeitslosenversicherung umfasst Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und aktive Arbeitsmarktmaßnahmen. Sie wird überwiegend aus lohnbezogenen ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnen-Beiträgen finanziert. Die Arbeitslosenversicherung wird vom Arbeitsmarktservice verwaltet. Die BezieherInnen sind krankenversichert, zum Teil auch unfall- und pensionsversichert. Universelle Systeme Universelle Sozialschutzsysteme gelten unabhängig vom Erwerbsstatus und von den Einkommensverhältnissen einer Person für die gesamte Wohnbevölkerung. Dazu zählen die Familien­beihilfe und der Kinderabsetzbetrag, das Kinderbetreuungsgeld und das Pflegegeld. Die Familienbeihilfe wie auch das Kinderbetreuungsgeld werden aus dem Familienlastenausgleichsfonds bezahlt, der aus lohnbezogenen Abgaben und allgemeinen Steuergeldern finanziert wird. Das Pflegegeld wird aus Steuereinnahmen finanziert. Bedarfsorientierte Leistungen Die bedarfsorientierten Leistungen werden abhängig von der Höhe des Einkommens vergeben. Sie umfassen vor allem die Mindestsicherung in der Pensionsversicherung, die Notstandshilfe in der Arbeitslosenversicherung, die Sozialhilfe sowie Stipendien für SchülerInnen und Studierende. Mit Ausnahme der Notstandshilfe sind die bedarfsorientierten Leistungen steuer­ finanziert. Sozialschutz für Beamte Für die Mehrheit der öffentlich Bediensteten gelten in bestimmten Sozialschutzbereichen eigene Regelungen. Sie sind nicht arbeitslosen- und pensionsversichert, sondern haben direkte Ansprüche gegenüber ihren DienstgeberInnen. Für jüngere BeamtInnen gelten Übergangsbestimmungen bzw. das Pensionsrecht der ASVG-Versicherten.

K 3 | 08

12 Gliederung gemäß der Broschüre „Sozialschutz in Österreich“, vgl. www.bmsk.gv.at/cms/site/attachments/4/1/2/CH0106/CMS1218539525956/sozialschutz_in_oesterreich.pdf 13 vgl. Rudolf Thienel: „Integration als rechtliche Querschnittsmaterie“. In: Heinz Fassmann (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006. Klagenfurt: Drava 2007, S. 83–126, S. 113

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Sozialentschädigung Für bestimmte Risiken, für die der Staat Verantwortung übernimmt, gibt es eigene Sozialschutzsysteme. Sie beinhalten Leistungen für Kriegs- und Heeresopfer, Opfer des National­ sozialismus oder auch für Verbrechensopfer und Opfer von Impfschäden. Die Finanzierung erfolgt aus dem Bundesbudget. Arbeitsrechtlicher Schutz Arbeitsrechtliche Absicherungen umfassen unter anderem Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bei Schwangerschaft, Kündigungsfristen, Regelung der Arbeits- und Ruhezeiten etc. Kollektivverträge garantieren ein Mindesteinkommen auf Branchenebene. Betriebliche Formen der Altersvorsorge Die betriebliche Mitarbeiterfürsorge gilt für neu ins Berufsleben eintretende ArbeitnehmerInnen und für Personen, die freiwillig vom derzeitigen Abfertigungsrecht in dieses System wechseln. Soziale Dienste In diesen Bereich fallen unter anderem Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, außerschulische Kinderbetreuung, Alten- und Pflegeheime und weitere soziale Betreuungseinrichtungen. 3.2.3. Ein- und Auszahlungen ins Sozialsystem ZuwanderInnen werden manchmal als Bedrohung für den Sozialstaat bezeichnet – das ist ein Vorurteil – das Gegenteil ist der Fall. ArbeitnehmerInnen und UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund leisten einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung des Österreichischen Sozialsystems – und sie bekommen daraus weniger, als sie einzahlen. Hier ein paar Fakten: Das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) hat die Beitragszahlungen in das Sozialsystem und die erhaltenen Geldleistungen für das Jahr 2008 ausgewertet. Das Ergebnis: Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft zahlen mehr in das Sozialsystem ein, als sie herausbekommen, Personen aus EU-27-Staaten und anderen Ländern sind also „NettozahlerInnen“ in die beitragsfinanzierten Sozialsysteme (Pensions-, Kranken-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung und Familienlastenausgleichsfonds). ÖsterreicherInnen zahlen 89,3 Prozent aller Beiträge und erhalten 93,8 Prozent aller Geldleistungen, während AusländerInnen 10,7 Prozent einzahlen, aber nur 6,2 Prozent herausbekommen. Laut EU (2008) wurden 33,3 Milliarden Euro an Sozialleistungen an ÖsterreicherInnen ausbezahlt, 0,9 Milliarden an AusländerInnen aus EU-Ländern und 1,3 Milliarden an andere AusländerInnen. 14 ÖsterreicherInnen

AusländerInnen aus EU-Staaten

AusländerInnen aus anderen Ländern

Gesamt

Beiträge

89,3 %

4,7 %

6,0 %

100 %

Finanzielle Sozialleistungen

93,8 %

2,5 %

3,7 %

100 %

14 vgl. www.bmsk.gv.at/cms/site/dokument.html?channel=CH0106&doc=CMS1255697765939

K 3 | 09

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Dass ZuwanderInnen in die Staatskasse offen­ bar mehr einzahlen als sie heraus bekommen, hängt laut dem Migrationsexperten Heinz Fassmann mit ihrer Alters­struktur zusammen: „Zuwanderer sind in der Regel jünger als die ,einheimische‘ Bevölkerung, damit häufiger erwerbstätig und erhöhen automa­ tisch die Zahl der Beitragszahler in das Sozial­ system (Arbeits­losen-, Kranken-, Unfall- und Pensionsver­sicherung), ohne selbst davon zu profitieren. Die Renten- und die Krankenversi­ cherung werden durch Zuwanderung zunächst einmal entlastet.“ Doch auch MigrantInnen sind nicht unsterblich. Das heißt: Auch sie können nicht ewig arbeiten und kommen ins Pensionsalter. „Spätestens dann werden wieder neue Zuwanderer benötigt, um das Sozialsystem zu entlasten, oder die Sozialsysteme selbst werden so umgebaut, dass sie demogra­ fisch nachhaltig funktionieren“, so Fassmann.

K 3 | 10

Das große Plus

Buchtipp Robert Dempfer:

Wozu Ausländer?

Eine Chance für unsere Gesellschaft Anfang der Sechzigerjahre sind die Ersten von Ihnen gekommen, um die schwersten Arbeiten zu verrichten und zum Wohlstand beizutragen. Fünfzig Jahre später schafft es die Mehrheits­ gesellschaft immer noch nicht, den Kindern und Kindeskindern der Gastarbeiter die notwendigen Kompetenzen für ein erfolgreiches Leben in der neuen Heimat zu vermitteln. Tatsache ist, dass Integration viel erfolgreicher verläuft, als die Öffentlichkeit das wahrnimmt. Zuwanderung und Integration sind Teil eines größeren Projekts: Sie dienen dem Erhalt des Sozial‑ staates, der durch die demografische Entwicklung und die wirtschaftliche Globalisierung unter Druck gekommen ist. Wenn die Österreicher ihr komfortables Dasein in der Zukunft fortschreiben wollen ist eine andere Haltung gegenüber Migranten notwendig. Der Schlüssel dafür liegt nicht in weniger Zuwanderung, sondern in mehr Bildung und besserer Qualifikation - und in höherer Akzeptanz von Zuwanderern.

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

3.3. Medien und Links Für SchülerInnen Literatur Wagner, Helmut (Hg.): Segmente. Wirtschafts- und sozialgeographische Themenhefte. Migration – Integration. Wien: Ed. Hölzel 2005 – In dem Heft werden globale Migrationsprozesse, die europäische Migrationspolitik und die Rolle Österreichs anschaulich und schülergerecht aufbereitet. Ergänzendes Lehrmaterial zum Unterricht im Fach Geografie und Wirtschaftskunde. RedX – die anderen Seiten. Ein Magazin des Österreichischen Jugendrotkreuzes. Nr. 3/Mai 2010: Wer bin ich? – Das Schülermagazin des Jugendrotkreuzes geht das Thema Migration jugendgerecht an und lässt junge MigrantInnen selber zu Wort kommen. Infos und Bestellung: www.redx.at

Für LehrerInnen Literatur Dempfer, Robert: Wozu Ausländer? – Eine Chance für unsere Gesellschaft. Wien: Verlag Carl Ueberreuter 2011 – Der Leiter für Gesellschaftspolitik beim Österreichischen Roten Kreuz wagt einen frischen und realistischen Blick auf die Themen Zuwanderung und Integration. Fassmann, Heinz (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006. Klagenfurt: Drava 2007 – Das Nachschlagewerk zum Thema Migration und Integration: Verschiedene ExpertInnen informieren umfassend und wissenschaftlich fundiert über rechtliche Rahmenbedingungen, demografische Entwicklungen und sozioökonomische Strukturen. Tálos, Emmerich: Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945–2005. Innsbruck: Studienverlag 2005 – Der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos analysiert den Wandel des österreichischen Sozialstaates von 1945 bis zur Gegenwart.

Links Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz www.bmask.gv.at – Das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) berichtet über aktuelle Tätigkeiten und bietet Hintergrundinformationen. Österreichische Sozialversicherung www.sozialversicherung.at – Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger informiert über sämtliche Belange der Sozialversicherung. Projektbericht „Integration durch Ehrenamt“ (PDF) www.roteskreuz.at/uploads/media/Integration_durch_Ehrenamt_Handbuch.pdf – Die Ergebnisse des Integrationsprojektes des Roten Kreuzes wurden in einem Bericht dokumentiert und ausgewertet. Mauthausen Komitee Österreich www.mkoe.at Das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) tritt für eine freie demokratische Gesellschaft und die Wahrung aller Menschenrechte ein, unabhängig von Staatsangehörigkeit, politischer Gesinnung und Religion. Seit vielen Jahren führt das MKÖ zahlreiche Projekte mit dem Schwerpunkt auf der Arbeit mit Jugendlichen, wie beispielsweise das Antirassismus-Planspiel „Miramix“ oder Begleitungen durch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen mit Workshops zur Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuchs durch. Informationen dazu unter www.mkoe.at/angebote

K 3 | 11

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

A) Arbeitsmarkt Hinweise für LehrerInnen Lernziele Aspekte des Wesens und des Funktionierens des Arbeitsmarktes kennen Persönliche Ressourcen als Basis der Berufswahl erkennen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Interessen von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen kennen Unterschiede von selbstständiger Arbeit/Unternehmertum und unselbstständiger Arbeit kennen Ausbildung, Arbeit und Integration als einander beeinflussend begreifen Dass man arbeitet, um Geld zu verdienen, ist allen bekannt. Keineswegs alle Kinder bzw. Jugendlichen haben aber eine konkrete Vorstellung davon, womit ihre Eltern Geld verdienen. Selbst wenn sie den Beruf benennen können, wissen sie nicht unbedingt, welche Tätigkeiten damit verbunden sind. Und noch weniger wissen sie, welche Berufe es sonst noch gibt und worin diese Arbeit besteht. Darin liegt eine von vielen Ursachen, warum zum Beispiel immer noch einige wenige Lehr­ berufe überlaufen sind, andere Berufssparten dagegen von Nachwuchssorgen geplagt sind. Es ist auch eine von vielen Ursachen, warum Arbeitsmigration Ängste um den Arbeitsplatz auslösen kann. Der Arbeitsmarkt ist komplex, sein Funktionieren vielschichtig. Der wesentlichste Punkt: Es gibt Arbeiten, die erledigt werden müssen – wer das tut, wird dafür entlohnt. Arbeit und Arbeitskraft müssen einander finden. Je zielsicherer sie das tun und je umfassender das funktioniert, desto besser für alle. Innerhalb der Europäischen Union und unter dem Aspekt der Globalisierung haben Arbeitsmärkte längst nicht mehr ausschließlich nationale Dimensionen. Sie funktionieren teilweise in größeren Zusammenhängen. Das bringt Veränderungen mit sich, die Einzelne als Chance oder als Bedrohung erleben können. Die Fähigkeit zum Wechsel der Perspektive, zu vernetztem Denken und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, helfen, die Chancen zu finden. Die vorliegenden Materialien bieten Unterstützung dabei.

K 3 | 12

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Übung A1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt – Sozialsystem – Solidarität Damit Lebensunterhalt und Lebensqualität gesichert sind, müssen viele Aufgaben erledigt werden: Lebensmittel werden erzeugt, verarbeitet und vertrieben, Häuser und Straßen werden gebaut, Energie und Wasser werden bereitgestellt. Für Hygiene und Gesundheit wird gesorgt, Dienstleistungen werden angeboten. Es wird wissenschaftlich geforscht, Kinder werden großgezogen. Junge Menschen werden ausgebildet und alles wird verwaltet. In modernen Gesellschaften kann niemand mehr all das für sich allein leisten. Nur wenn jeder eine andere Aufgabe übernimmt, bekommen alle, was sie brauchen. Das nennt man Arbeits­ teilung. Der Arbeitsmarkt ist die Folge davon – hier wird die Arbeit „verteilt“. Dazu gehört auch, dass gemeinsam für diejenigen gesorgt wird, die das nicht selbst tun können: weil sie noch zu jung, weil sie krank, zu alt oder aus einem anderen Grund nicht dazu imstande sind. Das ist Solidarität (Gemeinschaftssinn, Zusammenhalten). Das Sozialsystem regelt, wie das geschehen soll. Die Arbeit, die der/die Einzelne leistet, wird üblicherweise bezahlt. Von dem verdienten Geld wird ein Teil an die Gemeinschaft abgegeben – in Form von Steuern und Sozialabgaben. Damit werden einerseits Dinge bezahlt, die alle brauchen (z. B. Schulen, Straßen), und andererseits werden damit diejenigen unterstützt, die darauf angewiesen sind (z. B. mit Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Pensionen). Darüber, wie viel vom Einkommen abgegeben werden soll und wie dieses Geld verwendet wird, entscheidet die Politik, indem sie dafür Gesetze macht. Viele Menschen in einem Staat haben natürlich viele verschiedene Interessen und wollen das gemeinsame Geld für unterschiedliche Zwecke ausgeben – jedem sind andere Dinge wichtig. Daher wird darüber verhandelt und manchmal gestritten. Der Plan, der den Umgang mit den Einnahmen und Ausgaben festlegt, heißt Budget. Das Budget zu erstellen gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer Regierung. Wenn du beim Einteilen des Geldes für den Staat (also beim Erstellen des Budgets) mitreden könntest: Wofür würdest du mehr, wofür eher weniger Geld ausgeben? Welche Ausgaben kann man deiner Meinung nach keinesfalls einsparen? Bei welchen kann man deiner Meinung nach leichter sparen? ➔ Begründe deine Meinung und diskutiere darüber mit deinen KollegInnen! K 3 | 13

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 1 Im Wort „Arbeitsmarkt“ steckt nicht zufällig das Wort „Markt“. Auch hier geht es um Angebot und Nachfrage. Menschen bieten ihre Arbeitskraft an – wird sie gebraucht, dann wird dafür auch bezahlt. Wie auf jedem Markt hängt auch auf dem Arbeitsmarkt der zu erzielende Preis (Verdienst, Lohn, Gehalt) von mehreren Dingen ab: Wie viel gibt es? Wovon es nur wenig gibt, das ist teuer; was im Überfluss vorhanden ist, ist billig. Deshalb sind Früchte in guten Erntejahren billiger als in schlechten. ➔ Menschen mit Qualifikationen, die nur wenige andere Menschen haben, haben am Arbeitsmarkt gute Chancen. Wie gut ist es? Hohe Qualität kostet mehr – man hat aber auch mehr davon; mindere Qualität ist billiger zu haben. Deshalb ist Bio-Fleisch teurer als Fleisch aus „Tierfabriken“. ➔ Menschen, die das, was sie können, besonders gut können, werden in der Regel dafür besser bezahlt als andere. Wie viele wollen es haben? Was alle wollen, wird teurer; was fast niemand haben will, kostet wenig. Deshalb gibt es im Ausverkauf Reststücke oft zum halben Preis. ➔ Menschen mit Qualifikationen, die an vielen Arbeitsstellen gebraucht werden, haben gute Karten. Hier sind ein paar Informationen dazu: 1. Im Jahr 2010 waren die beliebtesten Lehrberufe bei Mädchen: Einzelhandelskauffrau, Bürokauffrau, Friseurin Im selben Jahr waren die beliebtesten Lehrberufe bei Burschen: KFZ-Techniker, Installations- und Gebäudetechniker, Elektroinstallationstechniker (Quelle: www.wko.at)

K 3 | 14

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A2: Arbeitsblatt für SchülerInnen 2. Bei den gewählten Studienrichtungen ist es ähnlich: 60,4 Prozent der Studienanfänger wählen ein Zehntel der angebotenen Studienfächer. Ordentliche Studien im ersten Semester, WS 2009/10 60,4% entfallen auf 20 Studiengänge

62.179 Studien

39,6% entfallen auf die übrigen 183 Studiengänge



Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Rechtswissenschaften Publizistik, Kommunkationswissenschaften Pädagogik Psychologie Wirtschaftsrecht Biologie Anglistik und Amerikanistik Deutsche Philologie Architektur Informatik Humanmedizin Wirtschaftswissenschaften Betriebswissenschaften Übersetzen und Dolmetschen Geschichte Poltikwissenschaft Pharmazie Soziologie Theater-, Film-, Medienwissenschaft

4991 4843 2348 2220 2174 2040 1831 1754 1608 1521 1491 1396 1386 1276 1274 1222 1217 1043 1009 928

Quelle: APA/Universitäten

Technikermangel führt zu Engpässen von Stefan Mey | 10. 4. 2008

Wien. 89 Prozent der produzierenden Unternehmen hatten schon mit Kapazitätsengpässen zu tun. Das ist das Ergebnis einer Studie, die vom Gallup Institut im Auftrag von Festo unter 207 Industrie­ unternehmen Österreichs aller Branchen und Größen durchgeführt wurde. Das Resultat der Überbelas­ tung: Vier Prozent müssen Aufträge ablehnen. Als eine Hürde wird der Mangel an Fachpersonal gesehen: 65 Prozent der Befragten sehen Techniker­ mangel „sicher oder wahrscheinlich“ als Problem. Und diesem Problem wollen sie mit verstärkter Aus- und Weiterbildung begegnen: 68 Prozent planen, das Bud­ get für Weiterbildung in naher Zukunft zu erhöhen.

Auffallend dabei ist, dass inzwischen auch in den sehr technischen Branchen von 86 Prozent die Bedeutung von Soft Skills als sehr hoch oder hoch eingeschätzt wird. „Technische Seminare, die soziale Kompetenzen vermitteln, werden immer mehr nach­ gefragt“, beschreibt Wolfgang Keiner, Geschäfts­ führer Festo Österreich, den Trend. Besonders sicht­ bar sei das im Bereich der Instandhaltung: Wenn hier ein/e TechnikerIn ein kleines Problem nicht schnell und klar beschreiben kann, dann wird aus einer lockeren Schraube leicht ein großer Fehler. Keiner: „Soft Skills tragen somit auch hier deutlich zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit bei.“

Quelle: www.wirtschaftsblatt.at/archiv/technikermangel-fuehrt-zu-engpaessen-322365/index.do

➔ Stell dir ein Gespräch mit einem Freund/einer Freundin vor, der/die dich fragt: „Ich habe noch keine richtige Vorstellung, was ich lernen soll. Was meinst du dazu?“ ➔ Was würdest du sagen? Begründe deine Meinung auch mit den oben stehenden Informationen!

K 3 | 15

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 2 Ist mehr Arbeit vorhanden als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, haben diejenigen ein Problem, die Arbeit vergeben – die UnternehmerInnen. Es kommt zu Arbeitskräftemangel. Wenn nicht genug Arbeit für alle da ist, haben diejenigen ein Problem, die Arbeit suchen – die ArbeitnehmerInnen. Es kommt zu Arbeitslosigkeit. Wenn genug Arbeit für alle da ist, sich aber niemand findet, der sie tun kann/will – dann gibt es ein Strukturproblem. Ob Arbeit nicht gemacht bzw. gewollt wird, weil die Qualifikationen dafür fehlen oder weil sie zu „minder“ (= schlecht bezahlt) ist – beides führt dazu, dass nach entsprechenden Arbeitskräften gesucht werden muss – eine mögliche Ursache für Arbeitsmigration. ➔ In Österreich werden von ZuwanderInnen oft Arbeiten übernommen, die wenig Qualifikation voraussetzen und nicht besonders gut bezahlt werden. Welche sind das? Welche kennst Du?

➔ Welche Gründe für diese Arbeitsverteilung vermutest Du?

➔ Was bedeuten die von dir angenommenen Gründe für die Integration* dieser Menschen mit Migrationshintergrund?

K 3 | 16

* Eingliederung; gemeint ist das Zusammenfinden von ZuwanderInnen und ansässiger Bevölkerung

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 3 Auf dem Arbeitsmarkt gibt es nicht nur ArbeitnehmerInnen. Wer Arbeit von ArbeitnehmerInnen „nimmt“, der/die ist UnternehmerIn: so jemand besitzt einen Betrieb, den er/sie selbstständig und eigenverantwortlich führt und für seine MitarbeiterInnen ein/e ArbeitgeberIn ist. UnternehmerInnen tragen die umfassende Verantwortung für ihren Betrieb und haben finanziell (= was das Geld betrifft) ein hohes Risiko. Wenn sie erfolglos sind, dann können sie alles verlieren. Wenn sie erfolgreich sind, können sie allerdings auch viel mehr Geld als ArbeitnehmerInnen verdienen: Sie haben weniger Sicherheit als ArbeitnehmerInnen, dafür aber mehr Chance auf ein hohes Einkommen. ArbeitnehmerInnen

UnternehmerInnen

bekommen ihre Arbeit von dem/der ArbeitgeberIn zugewiesen

entscheiden selbst, welche Arbeit sie übernehmen

haben gegenüber dem/der ArbeitgeberIn arbeitsrechtlich abgesicherte Ansprüche wie z. B. bezahlter Urlaub, Sonderzahlungen, Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall, Bezahlung von Überstunden etc.

haben solche Ansprüche nicht; sie versichern sich im Allgemeinen selbst (bei Pensionsversicherung, Krankenversicherung etc.)

sind dem/der ArbeitgeberIn gegenüber verantwortlich

sind für den Erfolg des Betriebes und damit auch für den Erhalt der Arbeitsplätze verantwortlich

In Österreich wird schon ein Drittel der neuen Unternehmen von MigrantInnen gegründet: MigrantInnen als erfolgreiche UnternehmerInnen:

Österreichs Wirtschaft spricht viele Sprachen Jede/r dritte UnternehmensgründerIn ist ZuwanderIn Firmengründer aus 85 Ländern MigrantInnen haben eine höhere Bereitschaft, Unternehmen zu gründen, als ÖsterreicherInnen: Allein in Wien haben 2008 Menschen aus 85 Ländern eine Firma aus dem Boden gestampft. Sie tragen wesentlich zur Angebotsvielfalt und Versorgungssicherheit bei, und dass Wien in einer globalisierten Wirtschaft so gut vernetzt ist, ist auch ihnen zu verdanken. Außerdem schaffen sie Zehntausende Arbeitsplätze. Die migrantische Gründungsfreude mag an einer höheren Risikobereitschaft liegen – aber durchaus auch an einer Gesellschaft, die AusländerInnen und ihren Nachkommen die Türe gern vor der Nase zuschlägt.

„Was hätte ich denn machen sollen, putzen?“, meint etwa Yilmaz Munsur, der in Wien vier Reisebüros betreibt. Er kam mit einem fertigen Wirtschaftsstudium aus der Türkei nach Wien – doch die Anerkennung seines Abschlusses hätte Jahre gebraucht.

ZuwanderInnen oft überqualifiziert Im Schnitt sind ZuwanderInnen deutlich besser qualifiziert als ÖsterreicherInnen: Unter den Arbeit­ nehmerInnen haben über 16 Prozent einen Hochschulabschluss – verglichen mit 12 Prozent bei der Mehrheitsbevölkerung. Viele landen allerdings trotzdem in Hilfstätig­ keiten. 40 Prozent der Hilfsarbeite-

rInnen mit Migrations­hintergrund sind für ihren Job überqualifiziert. Einige, wie Ossiri Gnaoré von der Elfenbeinküste, machen aus der Not eine Tugend. Der Germanist, der die Diplomatische Akademie in Wien abgeschlossen und in Banken und einer Exportfirma gearbeitet hatte, fand sich plötzlich familiär in Wien gebunden – und als Taxifahrer wieder: Einen anderen Job zu finden war für den Hochqualifizierten unmöglich. Fünf Jahre lang führte er Fahrgäste durch Wien, bis er den Sprung ins Unternehmertum wagte. Seine Akademie, in denen MigrantInnen für den Deutschtest büffeln, beschäftigt heute 20 DeutschlehrerInnen.

Quelle: Format, Corinna Milborn (Autorin) Gesamter Artikel unter: www.format.at/articles/0939/525/251893/migranten-unternehmer-oesterreichs-wirtschaft-sprachen

K 3 | 17

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A4: Arbeitsblatt für SchülerInnen Bitte beantworte folgende Fragen: ➔ Welche Gründe werden dafür genannt, dass so viele Unternehmen von ZuwanderInnen gegründet werden?

➔ Was erfährst du über die Qualifikation (= Befähigung, Ausbildung) der MigrantInnen?

➔ Stell dir vor, du möchtest selbst UnternehmerIn werden? Welche Überlegungen würdest du anstellen? Was wären unbedingte Voraussetzungen? Was würde dich abhalten?

K 3 | 18

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 4 UnternehmerInnen und ArbeitnehmerInnen haben ein gemeinsames Interesse: Der Betrieb soll erfolgreich sein – nur dann können beide Seiten davon leben. Trotzdem haben beide Gruppen aber auch unterschiedliche Interessen – es gibt Interessenkonflikte: UnternehmerInnen wollen

ArbeitnehmerInnen wollen

möglichst wenig Geld für die geleistete Arbeit bezahlen

möglichst viel Geld für die geleistete Arbeit bekommen

möglichst wenig Zeitverlust – während nicht gearbeitet wird, wird auch nichts verdient

geregelte Arbeitszeiten und das Recht auf angemessene Pausen

kurzfristig entscheiden können – je nachdem, wie das Geschäft läuft (z. B. ArbeitnehmerInnen dann einstellen, wenn es viel zu tun gibt, und dann kündigen, wenn wenig zu tun ist)

einen sicheren Arbeitsplatz, Berechenbarkeit auf längere Zeit

geringe Lohnnebenkosten*

eine umfangreiche Absicherung, die über das Arbeits­ verhältnis hinausgeht und zu einem möglichst großen Anteil vom Arbeitgeber finanziert wird (Arbeitslosenversicherung, Pensionsversicherung etc.)

➔ Welche Interessenskonflikte zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen fallen dir zusätzlich ein? UnternehmerInnen wollen

ArbeitnehmerInnen wollen

* Das sind die Kosten, die ein/e ArbeitgeberIn zusätzlich zum Lohn/Gehalt für eine/n ArbeitnehmerIn zahlen muss; hauptsächlich die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (= Krankenversicherung, Pensionsversicherung)

K 3 | 19

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A5: Arbeitsblatt für SchülerInnen Löhne bzw. Gehälter hängen zum Teil auch davon ab, wie gut ausgebildet ArbeitnehmerInnen sind. Wer keine oder nur eine geringe Ausbildung hat, kann nur einfache Arbeiten übernehmen – und die sind meistens schlecht bezahlt. Deshalb haben UnternehmerInnen, in deren Betrieben es einfache Tätigkeiten (sogenannte Hilfsarbeiten – Arbeiten, für die es keine Bildung braucht) zu erledigen gab, viele Jahre lang sogenannte „GastarbeiterInnen“ eingestellt. Weil der geringe Lohn oft immer noch mehr war, als sie zu Hause verdienen konnten, sind sie trotzdem gekommen. Menschen mit einer guten Ausbildung sind aber eher nicht gekommen – sie haben sich lieber Arbeitsplätze anderswo gesucht, wo es interessantere Arbeit und bessere Bezahlung gab. ➔ Macht es einen Unterschied, ob Menschen mit guter Ausbildung in unser Land kommen oder Menschen, die keine oder nur eine geringe Ausbildung haben?

➔ Wenn du UnternehmerIn wärst – wonach würdest du ArbeitnehmerInnen für deinen Betrieb aussuchen?

➔ Wenn du ArbeitnehmerIn wärst – wonach würdest du nach Möglichkeit deinen Arbeitsplatz aussuchen?

K 3 | 20

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A6: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 5 Führe ein Interview mit einem/einer UnternehmerIn! Das kann der/die BäckerIn sein, der/die FrisörIn, der/die InhaberIn eines Reisebüros oder einer anderen Firma. Eben jede/r, der/die ein eigenes Unternehmen bzw. Geschäft hat – egal, wie groß es ist. Frag danach, wie es ist, selbstständig zu sein, Verantwortung auch für ArbeitnehmerInnen zu haben. Vielleicht kannst du sogar eine/n UnternehmerIn mit Migrationshintergrund fragen. Lass dir erzählen, wie er oder sie dazu gekommen ist, UnternehmerIn zu werden! Die folgende Frageliste hilft dir dabei: Frage

Antwort

1. Welches Unternehmen haben Sie? 2. Wie viele ArbeitnehmerInnen sind bei Ihnen beschäftigt? 3. Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie neue MitarbeiterInnen einstellen? 4. Arbeiten bei Ihnen auch ZuwanderInnen? 5. Welche Arbeiten verrichten sie – im Vergleich zu den anderen MitarbeiterInnen? 6. Haben Sie selbst genau so viel Freizeit wie Ihre MitarbeiterInnen? 7. Warum sind Sie UnternehmerIn geworden?

8. Welche Vor- und Nachteile hat es, einen eigenen Betrieb zu haben? 9. War es schwierig, einen eigenen Betrieb zu gründen? 10. Wollten Sie das schon immer – oder hat es sich ergeben? 11. Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund sind beschäftigt? 12. Welche Ausbildung haben Sie?

➔ Schau dir sich die Antworten genau an. Welche Antworten sind für dich eher überraschend? Welche hast du erwartet – und warum?

K 3 | 21

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A7: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 6 Ein Bereich, in dem ZuwanderInnen als UnternehmerInnen schon immer gerne gesehen waren, ist das Gastgewerbe. Ob Pizza, Döner, süßsaures Schweinefleisch oder Sushi – gutes Essen soll ruhig „Migrationshintergrund“ haben. ➔ Wo gibt es in deiner Umgebung solche Angebote? ➔ Wo haben sie ihren Ursprung?

Mach dich auf die Suche: Im Telefonbuch, im Internet oder bei einem Spaziergang – schreib auf, wo du Restaurants oder Schnellimbiss-Angebote findest, die Speisen aus anderen Ländern anbieten. So entsteht eine Liste, die vielleicht gute Dienste leisten kann: Name des Lokals

K 3 | 22

Adresse

angebotene Speisen

➔ Hast du schon in einem dieser Lokale gegessen? ➔ Welche der angebotenen Speisen hast du schon gekostet? ➔ Was schmeckt dir besonders gut?

Herkunft

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A8: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 7 Im März 2010 haben in Frankreich viele ZuwanderInnen einen Tag lang nicht gearbeitet. „24 Stunden ohne uns“ war das Motto, mit dem sie darauf aufmerksam machen wollten, dass der Alltag ohne sie ziemlich schwierig wäre und dass sie fehlen würden. In Österreich wäre das auch so! Überprüfe es. Zeichne eine Woche lang auf, wann du im Alltag Menschen begegnest, die einen Migrationshintergund haben – und was sie tun! Vielleicht verkaufen sie dir die Ladekarte fürs Handy oder frisches Obst, vielleicht schneiden sie Haare, reparieren Fahrräder oder lenken einen Bus? Manchmal wirst du an der Sprache erkennen können, ob jemand aus einem anderen Land kommt; manchmal haben z. B. KassiererInnen im Supermarkt Namensschilder, die dich darauf bringen könnten. Manchmal ist das Äußere ein Hinweis – und manchmal wirst du im ersten Moment vielleicht gar nicht darauf kommen. Wenn du dir nicht sicher bist, dann kannst du (höflich) nachfragen – zum Beispiel so: „Darf ich Sie bitte etwas fragen? Ich möchte feststellen, wie wichtig ZuwanderInnen in unserem Alltag sind. Ihr Name/Ihre Aussprache, … lässt mich annehmen, dass Sie vielleicht aus einem anderen Land nach Österreich gekommen sind. Stimmt das?“ Wenn du das Gefühl habst, dass man dir gerne Antwort gibt, kannst du auch noch nach dem Herkunftsland fragen. Wenn jemand deine Fragen beantwortet hat, vergiss bitte nicht, dich freundlich zu bedanken. So könntest du deine Aufzeichnungen führen: Ort

Tätigkeit

Herkunftsland

Supermarkt

Kassiererin

Bosnien

➔ Legt Eure Listen in der Gruppe zusammen: Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund habt Ihr selbst getroffen? ➔ Erkundige dich (Eltern, Lehrpersonen, …): Wo arbeiten weitere MigrantInnen, denen du nicht selbst begegnet bist (z. B. im Spital)?

K 3 | 23

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung A9: Hinweise für LehrerInnen

Streit beim Karussell 1

Ressourcenkonflikte und Gerechtigkeit Dauer: ca. 30 Minuten Ziele: Erarbeitung (politischer) Handlungsoptionen in Ressourcenkonflikten Kennenlernen verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen Gerechtigkeitsvorstellungen werden auf das Themenfeld Arbeitswelt und Migration übertragen Erkennen von Chancen und Grenzen der einzelnen Lösungsansätze gegenüber rechts­ extremer Argumentation Material und Vorbereitung: Verdeckt angepinnte „Fälle“ (siehe Kopiervorlage) Metaplankärtchen in 3 Farben Pinnwand Flipchart für Auswertung Ablauf: 1. Die GruppenleiterInnen kündigen ein Brainstorming für Handlungsoptionen bei Ressourcen­ konflikten an. (Eventuell muss der Begriff des Ressourcenkonflikts erläutert werden.) 2. Der erste Fall wird aufgedeckt, vorgelesen und die TeilnehmerInnen werden gebeten, spontane Ideen zu Handlungsoptionen zu äußern. Die WorkshopleiterInnen notieren die Ideen auf einzelnen Kärtchen gleicher Farbe. 3. Gleiches Vorgehen bei den nächsten beiden Fällen 4. Gemeinsame Auswertung: Die WorkshopleiterInnen weisen darauf hin, dass Lösungs­ vorschläge bei Ressourcenkonflikten unterschiedlichen Logiken und Gerechtigkeitsvorstellungen unterliegen. (Die wichtigsten finden sich weiter unten.) 5. Die Lösungsvorschläge zu den drei Themen werden im Dialog mit den TeilnehmerInnen den entsprechenden Gerechtigkeitsvorstellungen zugeordnet. 6. Abschließend werden die Diskussionsfragen besprochen. Mögliche Diskussionsfragen: Welche der genannten Lösungen werden von Rassisten vertreten? Wie würden Rassisten argumentieren, wenn die Gruppe „Starke Mäuse“ eine reine MigrantInnengruppe wäre? Welche anderen Beispiele für Ethnisierung von Ressourcenkonflikten fallen euch ein? Wie kann einer solchen Ethnisierung begegnet werden? (Quelle: Mauthausen Komitee Österreich) Kopiervorlagen auf den folgenden Seiten K 3 | 24

1 vgl. REIMER/KÖHLER (2008).

„Kindergartengruppe ‚Rosa Elefanten‘ verdrängt Gruppe ‚Starke Mäuse‘ vom Karussell.“ Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Fall 1

K 3 | 25

„Junge nehmen Alten die Arbeitsplätze weg.“ K 3 | 26

Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Fall 2

„AusländerInnen nehmen den Österreichern die Arbeitsplätze weg.“ Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Fall 3

K 3 | 27

1.  Ressourcen sind knapp – allen das Gleiche K 3 | 28

Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (1)

2.  Ressourcen sind knapp – Zuteilung nach Dringlichkeit des Bedürfnisses Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (2)

K 3 | 29

3.  Ressourcen sind knapp – Zuteilung nach Leistung oder Durchsetzungsstärke K 3 | 30

Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (3)

4.  Ressourcen sind knapp – Zuteilung nach (ethnischer) GruppenZugehörigkeit Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (4)

K 3 | 31

5.  Ressourcen sind knapp – Erweiterung der Ressourcen K 3 | 32

Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (5)

6.  Weitere Ideen: Übung A9: Streit beim Karussell · Arbeitsblatt für SchülerInnen · Gerechtigkeitsvorstellungen (6)

K 3 | 33

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

B) Sozialsystem Hinweise für LehrerInnen Lernziele Ziele und Sinn des Sozialsystems verstehen Das Sozialsystem als wesentliche Voraussetzung für sozialen Frieden begreifen Den Zusammenhang von demografischen Gegebenheiten und dem Funktionieren des Sozialsystems verstehen Das Sozialsystem sichert über Steuern und Abgaben die Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Es ist ein Solidarsystem, weil es darauf beruht, dass jede/r nach seinen/ihren Möglichkeiten dazu beiträgt und jede/r nach seinen/ihren Bedürfnissen etwas bekommt. Das führt dazu, dass die Unterschiede im Umfang des Gebens und Nehmens ziemlich groß werden können – dass manche viel geben und wenig bekommen, andere wenig geben und viel bekommen. Damit dieses System von allen getragen wird, braucht es eine Ethik der gesellschaftlichen Verantwortung: Gerechtigkeit, gleiche Chancen für alle sowie gleicher Lohn für gleiche Leistung sind drei wichtige Grundsätze dabei. Ein Verständnis von „Gleichmacherei“, das darin besteht, dass „jede/r gleich viel“ geben und bekommen muss – egal welche Leistung er/sie dafür erbringt – wäre kontraproduktiv. Der soziale Ausgleich und seine Finanzierung sind zentrale Aufgaben der Politik. Sie sind deshalb auch dauernd Gegenstand von Diskussion und notwendigem Interessenausgleich. Die unterschiedlichen Haltungen, auf deren Basis diese Auseinandersetzung geführt wird, beruhen auf verschiedenen Menschenbildern und davon abgeleiteten Ansprüchen an die Gesellschaft. Diese können zwar gut begründet ihre „Richtigkeit“ oder „Unrichtigkeit“ haben, das kann aber nicht bewiesen werden. Eines der wichtigsten Argumente für den Sozialstaat besteht darin, dass ein funktionierendes Sozialsystem den sozialen Frieden sichert. Möglichst keine der gesellschaftlichen Gruppierungen soll sich allzu sehr benachteiligt oder übervorteilt fühlen, zu starke Abhängigkeiten sollen vermieden werden. Wenn die Würde und Autonomie des Einzelnen weitgehend gewahrt bzw. vom Staat garantiert sind, sollten Feindseligkeiten innerhalb einer Gesellschaft vermieden werden können. Die Ethik der Solidarität, Menschenwürde als unabhängig von Vorleistungen und das daran geknüpfte Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zu vermitteln, ist besonders dann schwierig, wenn im gewohnten Schema von Leistung vs. Bezahlung gedacht wird. Kosten-NutzenRechnungen werden dem menschlichen Zusammenleben nicht gerecht. Eine der wichtigsten Bildungsaufgaben besteht darin, das verständlich zu machen. Diese Arbeitsmaterialien helfen dabei.

K 3 | 34

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Übung B1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Geben und Nehmen Österreich ist ein sogenannter Wohlfahrtsstaat. Das bedeutet, dass der Staat in einem gewissen Umfang für das Wohlergehen seiner BürgerInnen sorgt. Wichtigstes Instrument dazu ist das Sozialsystem. Damit wird dafür gesorgt, dass jede/r das Notwendige zum Leben bekommt, im Krankheitsfall ärztlich versorgt wird und dass im hohen Alter der Lebensunterhalt gesichert ist. Das kostet viel Geld. Es kommt aus den Steuern und Abgaben, die jede/r, die/der Geld durch Arbeitsleistung verdient, abliefern muss. Niemand darf alles für sich behalten was er/sie verdient, damit diejenigen, die nicht (genug) verdienen können, keine Not leiden müssen. Außerdem ist das Sozialsystem bei vielen Leistungen eine „Versicherung“ – so zahlt man in die Pensions-Versicherung ein und bekommt in der Pension wieder etwas heraus. Jeder hat die Sicherheit, selbst unterstützt zu werden, wenn sie/er es braucht. Nicht jede/r zahlt gleich viel: Wer mehr verdient, zahlt mehr als jemand, der nur wenig verdient. Wer so wenig hat, dass er/sie kaum selbst davon leben kann, muss keine Steuern zahlen – er/sie bekommt aber trotzdem, was er/sie braucht. Wer mehr bekommt, als er/sie einzahlt, ist ein/e NettoempfängerIn. Wer sehr viel verdient, zahlt auch viel ein – bekommt aber wenig oder gar keine Unterstützung, weil er/sie sie ja nichts braucht. Wer mehr zahlt, als er/sie bekommt, ist ein/e NettozahlerIn. Je mehr NettoempfängerInnen es gibt, desto mehr müssen die NettozahlerInnen abgeben. Deshalb ist es wichtig, dass es möglichst vielen Menschen so gut geht, dass sie mitzahlen können, und möglichst wenigen so schlecht, dass sie auf Unterstützung angewiesen sind. Dann verteilt sich die Last so, dass alle gut damit leben können. Das Bundesministerium für Arbeit, Sozials und Konsumentenschutz hat berechnet: „Unser Sozialsystem profitiert von den Ausländern, sie sind Nettozahler.“ (15. Oktober 2009) Dass das so ist, hat damit zu tun, dass es sehr viel mehr junge ZuwanderInnen gibt als ältere. Diese arbeiten und verdienen und zahlen daher Steuern und Abgaben. Und damit zahlen sie z. B. auch die Pensionen für die vielen österreichischen PensionistInnen mit. Weil MigrantInnen derzeit auch mehr Kinder bekommen als ÖsterreicherInnen (und deswegen auch mehr arbeitende ZuwanderInnen „nachwachsen“, die in das Sozialsystem einzahlen), wird das noch eine ganze Weile so bleiben. ➔ Frage deine Eltern, was sie an Abgaben für das Sozialsystem zahlen und was sie bekommen! ➔ Denke darüber nach, was passieren würde, wenn es das Sozialsystem nicht mehr gäbe – wenn also jeder nur von dem leben müsste, was er verdient (denk dabei an Arbeits­losigkeit, Krankheit usw.)! ➔ Hole Informationen darüber ein, wie das in Staaten aussieht, deren Sozialsystem anders funktioniert – z. B. in den USA, wo viele Menschen sich keine Krankenversicherung leisten können! K 3 | 35

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung B2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 8 Menschen, die sehr reich sind, und Menschen, die bitterarm sind. Menschen, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld machen sollen, und Menschen, die nicht genug zum Leben haben. Das hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben – und das gibt es auch heute noch. Das war und ist gefährlich. Wer in Not ist und zusehen muss, wie andere mehr haben als sie brauchen, entwickelt leicht Wut, Verzweiflung und schließlich Hass. Zum Versuch, sich mit Gewalt zu holen, was einem nicht gegeben wird, ist es dann manchmal nicht mehr weit. Ein funktionierendes Sozialsystem kann das verhindern. ➔ Hast du das Folgende schon einmal erlebt? Andere haben etwas, was du nicht bekommen kannst. Vielleicht protzen sie auch damit, stoßen dich mit der Nase darauf. Du empfindest das das ungerecht und fragst dich: „Wieso der/die und ich nicht?“ Bitte schreibe solche Geschichten auf! Was hast du gedacht, was hast du gefühlt? Wie bist du damit umgegangen? Warum nicht ich?

K 3 | 36

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Übung B3: Hinweise für LehrerInnen

By My Bootstraps Dauer: ca. 20 Minuten Ziele: Unterschiedliche Voraussetzungen der einzelnen Menschen in der Gesellschaft aufzeigen Das Konzept der neoliberalen „Chancengleichheit“ hinterfragen Aufzeigen, dass nicht alles Ergebnis individueller Handlungsverantwortung ist Ableitung für ein Zusammenleben in der Gesellschaft entwickeln Fördernde und hemmende Voraussetzungen kennenlernen Material und Vorbereitung: Fragenkatalog Großer Platz, Wiese oder Turnsaal Preis für GewinnerIn, z. B. Kekse, Schokolade o.ä. Ablauf: 1. Die TeilnehmerInnen stellen sich auf einer Wiese in einer Linie auf und reichen sich die Hände. Vor ihnen sollten mindesten 20 Meter, hinter ihnen mindestens 10 Meter Platz sein. 2. Danach werden Fragen aus dem Fragenkatalog vorgelesen und die TeilnehmerInnen gebeten, entsprechend der Antwort nach vorne oder nach hinten zu gehen. Es empfiehlt sich, die Fragen an die Gruppe anzupassen bzw. entsprechend zu erweitern. 3. Wenn alle Fragen verlesen wurden, begibt sich der/die WorkshopleiterIn zu einer imaginären Ziellinie ca. 10 Meter vor der vordersten Person. Danach werden die TeilnehmerInnen darüber informiert, dass die erste Person, die das Ziel erreicht, ein Geschenk (z. B. Schokolade) erhält. 4. Nach der feierlichen Übergabe des Geschenks an den/die GewinnerIn werden die Diskussions­ fragen besprochen.

K 3 | 37

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung B3: Hinweise für LehrerInnen Diskussionsfragen: Wie habt ihr euch während der Übung gefühlt? Wie beim Wettlauf? (Gezielt auch die Vordersten bzw. Letzten fragen.) Hat sich wirklich der/die Schnellste durchgesetzt? Wie war es, als der Handkontakt zu dem/der NachbarIn abgerissen ist? Wie könnte dieser symbolische Bruch gesellschaftlich gedeutet werden? War es immer leicht, die „Betroffenheit“ bei einer Frage klar zu beantworten? Was ist dir bei den anderen aufgefallen? Gab es Fragen, bei denen du keine Auswirkungen auf die Lebenschancen entdecken konntest oder bei denen sogar die angegebene Bewegungsrichtung für dich falsch war? Was sind eure Ableitungen aus der Übung? Welche Eigenschaften verschaffen dir Vorteile im Spiel bzw. in der Gesellschaft? Welche Eigenschaften sind zu deinem Nachteil? Was sind die Folgen von Macht und Privilegien auf der einen, Machtlosigkeit und Benachteiligung auf der anderen Seite? Falls einige TeilnehmerInnen nicht gelaufen sind, warum haben sie das nicht getan? Wie kann dies auf die Gesellschaft umgelegt werden? Wie könnten die Vorderen/die Hinteren/alle zu einem gerechteren Ergebnis im Spiel bzw. zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen? (Quelle: Mauthausen Komitee Österreich) Kopiervorlage auf den folgenden Seiten

K 3 | 38

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Übung B3: Arbeitsblatt für SchülerInnen

By My Bootstraps Fragenkatalog: wenn du in einer Hauptschule bist/warst (1 zurück) wenn du in einer AHS oder BMHS bist oder abgeschlossen hast (1 vor) wenn dein Vater und/oder deine Mutter Matura haben (1 vor) wenn dein Vater und/oder deine Mutter studiert haben (1 vor) wenn du eine sichtbare oder unsichtbare Behinderung hast (1 zurück) wenn du in einer Familie aufgewachsen bist, die der Mittelschicht zugeordnet wird (1 vor) wenn du in einer Familie aufgewachsen bist, die der gehobenen Mittelschicht oder Oberschicht zugeordnet wird (1 vor) wenn du mehr als zwei Geschwister hast (1 zurück) wenn dein Vater und/oder deine Mutter als PolitikerIn, ÄrztIn, ManagerIn, SpitzenbeamtIn, AnwältIn oder UniprofessorIn arbeiten (2 vor) wenn deine Familie außer Haus/Wohnung über weitere Immobilien verfügt oder Geld in Wertpapieren veranlagt hat wenn du in einem Bezirk aufgewachsen bist, wo die Mehrheit der PolitikerInnen deiner ethnischen Gruppe angehören (1 vor) wenn du in einer Familie aufgewachsen bist, die arm ist (1 zurück) wenn du in einer Region aufgewachsen bist, wo die Mehrheit der RichterInnen bzw. AnwältInnen deiner ethnischen Gruppe angehören (1 vor) wenn Deutsch nicht deine Muttersprache ist (1 zurück) wenn du zu Hause Internetzugang hast (1 vor) wenn deine Eltern ihre Informationen fast zur Gänze aus maximal zwei Medien beziehen (1 zurück) wenn du in einer Gegend aufgewachsen bist, wo du dich auch nachts sicher gefühlt hast (1 vor) wenn du mit öffentlichen Verkehrsmitteln länger als eine halbe Stunde zur nächsten Stadt mit über 40.000 EinwohnerInnen brauchst/brauchtest (1 zurück) wenn du als sehr gute/r SchülerIn eingestuft wirst (1 vor) Wenn dein Vater und/oder deine Mutter ArbeiterIn sind/ist (1 zurück) wenn du nur von einem Elternteil erzogen wurdest (1 zurück) wenn du in einer Region aufgewachsen bist, wo die Mehrheit der PolitikerInnen und VertreterInnen deiner ethnischen Gruppe angehören (1 vor) wenn du eingewandert bist (1 zurück) wenn du in einer Region aufgewachsen bist, wo die Mehrheit der PolitikerInnen und VertreterInnen nicht dein Geschlecht hatten (1 zurück) wenn du in einer Gegend aufgewachsen bist, wo die Mehrheit der PolizistInnen deiner ethnischen Gruppe angehören (1 vor) wenn dein Vater und/oder deine Mutter selbständig arbeiten/arbeitet (1 vor) wenn du in deiner Kindheit in einem Ort aufgewachsen bist, wo die Mehrheit dieselbe Religion wie du hatte (1 vor) wenn dein Leben jemals auf Grund körperlicher Behinderung eingeschränkt war oder ist (1 zurück)

K 3 | 39

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung B3: Arbeitsblatt für SchülerInnen wenn du die Schule ohne motorisierten Untersatz erreichen kannst (1 vor) wenn du auf eine Privatschule gehst (1 vor) wenn es an deiner Schule jemals Zwischenfälle mit Drogen gegeben hat (1 zurück) wenn deine Lehrpersonen die gleiche Religion wie du haben (1 vor) wenn es an deiner Schule viel Werbung gibt (1 vor) wenn du einmal sitzen geblieben bist (1 zurück) wenn deine Eltern schon einmal über längere Zeit arbeitslos waren und/oder Sozialhilfe empfangen haben (1 zurück) wenn du in deiner Kindheit sehr viel ferngesehen hast (1 zurück) wenn du seit deiner Kindheit viel liest (1 vor) wenn du mit deinen Eltern mindestens einmal eine (Erwachsenen-)Theatervorstellung besucht hast (1 vor) wenn du in eine außergewöhnlich schwere Lebenssituation gekommen bist (1 zurück) wenn jemand in deiner Familie an psychischen Problemen leidet (1 zurück) wenn du ein Mann bist (1 vor) wenn du eine Frau bist (1 zurück) wenn du weiß bist (1 vor)

K 3 | 40

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung B4: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 9 In früheren Gesellschaften war es wichtig, viele Kinder zu haben. Sie waren die Garantie dafür, dass die Eltern im Alter versorgt waren. Wer keine Kinder hatte, musste lebenslang selbst für seinen Unterhalt sorgen oder war auf Almosen angewiesen. Heute bekommen die Menschen in entwickelten Gesellschaften nicht mehr so viele Kinder – und sie bekommen sie nicht wegen der Altersvorsorge. Trotzdem ist es noch immer so: Zuerst versorgt die Elterngeneration den Nachwuchs. Dann folgt meistens eine Zeit, in der beide Generationen für sich selbst sorgen. Und schließlich sorgen die Jungen für die Alten. Das nennt man den Generationenvertrag. Allerdings spielt sich das nicht mehr innerhalb der Familien ab, sondern innerhalb ganzer Gesellschaften. Das funktioniert mit dem sogenannten Umlagesystem: Wenn die arbeitenden Generationen in das Sozialsystem einzahlen, wird das Geld nicht aufgehoben, bis sie selbst alt sind, sondern es werden davon sofort die Pensionen der Älteren bezahlt. Derzeit erhalten 100 Erwerbstätige ungefähr 72 PensionistInnen.

ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen zahlen in das Sozialsystem ein

Sozialsystem

2 Sozialsystem

1

PensionistInnen und andere erhalten Leistungen aus dem Sozialsystem

Was passiert, wenn es immer weniger Erwerbstätige oder immer mehr PensionistInnen gibt? Der Generaldirektor der Pensionsversicherungsanstalt, Winfried Pinggera, sagte in einem Interview am 24. Juli 2010: „Wenn, wie seit 25 Jahren, für 2 Leute (die in Pension gehen, Anm.) nur 1,4 nachkommen, können wir das nur mit Migration auffangen. Wir brauchen fast 20.000 Zuwanderer pro Jahr. Umso höher qualifiziert, desto besser, weil das in der Regel zu mehr Beitragsleistung führt.“ (Quelle: www.nachrichten.at/nachrichten/politik/innenpolitik/art385,433564)

K 3 | 41

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Das große Plus

Übung B4: Arbeitsblatt für SchülerInnen Dass möglichst viele Menschen Arbeit haben und gut verdienen, ist eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des Sozialsystems, weil sie dann entsprechende Beiträge leisten können. Gut verdient, wer eine gute Ausbildung hat. Das bedeutet: Je mehr Menschen eine gute Ausbildung, Arbeit und ein hohes Einkommen haben, desto wirkungsvoller kann das Sozialsystem diejenigen unterstützen, die es brauchen. ➔ Gestalte einen Aufruf an Jugendliche, sich eine umfassende Ausbildung anzueignen. Mach deutlich, welche Vorteile sie davon haben und welche Bedeutung ihre Qualifikation für die ganze Gesellschaft hat. ➔ Befrage wenigstens fünf Jugendliche (zumindest zwei davon sollten – wenn möglich – Migrationshintergrund haben), die das Pflichtschulalter bald oder schon überschritten haben (= bald 15 Jahre alt oder älter sind), wovon ihre Entscheidung für eine Berufs­ ausbildung abhängt. Welche Folgerungen ergeben sich daraus? Damit junge Menschen eine gute Berufsausbildung erwerben, brauchen sie Folgendes:

K 3 | 42

Das große Plus

KAPITEL 3: Arbeitsmarkt und Sozialsystem

Übung B5: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Arbeitsmarkt und Sozialsystem 10 Es gibt Menschen, die nicht wollen, dass ZuwanderInnen nach Österreich kommen. Sie haben Angst davor, dass diese ihnen „Arbeitsplätze wegnehmen“, sie glauben, dass sie viel Geld kosten, oder wissen einfach nicht, wie sie mit ihnen im Alltag umgehen sollen. Es gibt Menschen, die wollen ZuwanderInnen nach Österreich holen. Sie wissen, dass sie für viele Arbeiten gebraucht werden, dass sie als NettozahlerInnen in das Sozialsystem einzahlen oder sind neugierig auf ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Art zu leben. Es gibt auch Menschen, die sind sich nicht so sicher, was sie davon halten sollen. Sie hören und lesen, dass es ganz verschiedene Aussagen dazu gibt. Sie glauben, dass sie sich selber keine Meinung bilden können, weil sie „davon nichts verstehen“. Ihnen soll geholfen werden: Halte eine kurze Rede – ungefähr so, wie das PolitikerInnen im Parlament machen. Erkläre deinen Standpunkt und die Gründe dafür. So sollte deine Rede aufgebaut sein (Du kannst sie gleich hier entwerfen): Das ist mein Standpunkt:

Das sind meine Gründe dafür (wenigstens drei sollten es schon sein!):

Vielleicht hat jemand diesen Einwand (damit zeigst du, dass du dir auch über andere Meinungen Gedanken gemacht hast)

Darauf sage ich …

Ich fasse zusammen (das Wichtigste in EINEM Satz!):

➔ Sprich deutlich und versuche, das Publikum zu überzeugen! ➔ Diskutiere auf dieser Grundlage mit jemandem, der/die in seiner Rede eine andere Meinung vertreten hat!

K 3 | 43

Teil 2

„Wer trägt was bei?“ Über den Beitrag von Menschen mit Migrationshintergrund zur österreichischen Gesellschaft und Wirtschaft

Kapitel 4:

Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft Viele Menschen, die in Österreich leben, haben ihre Wurzeln anderswo. 17 Prozent der Bevölkerung Österreichs haben einen Migrationshintergrund. Ein „erweiterter Migrationshintergrund“ wird allerdings in den Statistiken nicht erfasst: von Personen, bei denen etwa nur ein Elternteil oder die Großeltern eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Vielfalt entsteht auch durch einen immer „mobileren“ Lebensstil: Viele Personen kommen vorübergehend nach Österreich, um hier zu arbeiten oder eine Ausbildung zu absolvieren. Und schließlich verschlägt es auch viele ÖsterreicherInnen aus beruflichen oder privaten Gründen an andere Orte und in andere Länder. Wohnsitze in zwei Staaten zu haben, ist heute keine Seltenheit mehr. Immer noch in Kategorien von „Wir“ und den „Anderen“ zu denken ist angesichts dieser Entwicklung nicht mehr sinnvoll. Denn wer sind „Wir“? Und wer sind die „Anderen“? Das „Wir“ hat seine Selbstverständlichkeit verloren und ist längst durch eine Vielheit ersetzt worden, die gestaltet werden will. Allerdings ist es noch längst nicht selbstverständlich, dass Menschen mit Migrationshinter­ grund in allen Bereichen der Gesellschaft verankert sind. Die Beleuchtung von Österreichs Arbeitsmarkt und Sozialsystem im vorigen Kapitel hat gezeigt: MigrantInnen füllen wichtige Arbeitsplätze in der Gesellschaft aus. Sie zahlen mehr in das Sozialsystem ein, als sie heraus­ bekommen. Doch der Zugang zur Arbeitswelt ist nach wie vor für viele von ihnen mit Hürden verbunden. In anderen gesellschaftlichen Bereichen ist die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund schon lange der gewohnte Alltag: im kulturellen Bereich, in der wissen­ schaftlichen Gemeinschaft oder in sportlichen Vereinen und Mannschaften. Zunehmend werden MigrantInnen auch in den Medien berücksichtigt. Im folgenden Kapitel wird die Rolle von Menschen mit Migrationshintergrund in den Bereichen Kultur (insbesondere Literatur, Film, Kunst und Musik), Medien, Wissenschaft und Sport umrissen und anhand von Beispielen veranschaulicht.

K 4 | 01

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

4.1. Sport Ivica Vastic, David Alaba, Mirna Jukic: Im Sport sind ÖsterreicherInnen mit Migrationshintergrund gern gesehen – vor allem, wenn sie internationale Erfolge verbuchen und „nach Hause“ bringen können. Sport kann auch abseits der Profi-Liga eine integrative Wirkung haben: In Sportvereinen können Menschen unabhängig von ihrer Herkunft einem gemeinsamen Interesse nachgehen. Gemeinsame Aktivitäten wie Trainings, Turniere und Ausflüge verbinden und fördern Kontakt und Austausch. Beispiel Fußball Insbesondere für den österreichischen Fußball leisten Menschen mit Migrationshintergrund seit jeher einen wichtigen Beitrag. Schon die ersten Fußballklubs in der Monarchie wurden von Briten und anglophilen Einheimischen gegründet. Seither wird der österreichische Profifußball von den sogenannten „Legionären“ entscheidend mitbestimmt. In der Geschichte des Fußballs spiegelt sich die Geschichte der Zuwanderung: „Kamen Anfang der 1990er Jahre verstärkt die Migranten und Migrantinnen aus Osteuropa, so folgte schon bald die Zuwanderung aus immer unterschiedlicheren Herkunftsländern. Diese beiden Trends sind auch im Fußball bemerkbar“ 1 schildert der Politikwissenschaftler Georg Spitaler, der im Rahmen eines Forschungsprojekts die „Migration im österreichischen Fußball nach 1945“ untersuchte. Heute sind im österreichi­ schen Fußball Spieler aus allen Kontinenten vertreten. Die Reaktionen von Fans und Medien auf ausländische SpielerInnen waren und sind wech­ selhaft. Anfang der 1960er Jahre war in den Sportmedien von einer „ausländischen Invasion“ zu lesen. Seit 2001/2002 muss in jedem Spiel eine Quote an inländischen SpielerInnen erfüllt werden. Auch gegenwärtig kommt es noch zu Debatten über Mannschaften mit hohem MigrantInnenanteil und ausländische SpielerInnen werden gerne für schlechte Leistungen der österreichischen KickerInnen verantwortlich gemacht. 2 In Österreich setzt sich die Initiative „FairPlay“ gegen Diskriminierung und Rassismus im österreichischen Sport ein. In der Praxis gilt damals wie heute eine ebenso einfache wie zweifelhafte Formel: Wer Erfolg hat, wird von den Fans geliebt und vom ganzen Land einverleibt. So wie Ivica Vastic, der bei der WM 1998 in letzter Minute das 1:1 gegen Chile erzielte: „Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher“, titelte damals eine große Zeitung. 3 Ivica Vastic war zwar schon vor diesem Torschuss ein „echter Österreicher“ – inklusive österreichischer Staatsbürgerschaft – manchen Medien reicht das aber nicht. JungsportlerInnen als Vorbilder „Echte“ ÖsterreicherInnen sind auch die Fußball-Nachwuchshoffnungen David Alaba, Marko Arnautovic und Rubin Okotie oder die Schwimmstars Mirna und Dinko Jukic. Mit ihren Erfolgsgeschichten fungieren sie als Vorbilder für viele NachwuchssportlerInnen und machen ihnen Mut. Sie zeigen, dass sportlicher Erfolg ein Weg zum Aufstieg in einer Gesellschaft ist – und dass es auf die Leistung, nicht auf die Herkunft der Eltern oder den Klang des Namens ankommt.

K 4 | 02

1 zitiert nach: www.fwf.ac.at/de/public_relations/press/pv200606-de.html 2 vgl. ebd. 3 vgl. www.fairplay.or.at/archiv/archiv-einzelansicht/browse/1/article/ivo-jetzt-bist-du-ein-echter-oesterreicher

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Extra: Jungstars im Porträt David Alaba:

Nachwuchsstar im Fußball

Foto: Steindy von Wikipedia

David Alaba wurde 1992 in Wien geboren und wuchs dort auf. Seine Mutter stammt von den Philippinen, sein Vater aus Nigeria. Bereits mit 15 Jahren saß David Alaba beim FK Austria Wien auf der Wechselbank. Der Mittelfeld­ spieler hat den Ruf eines Ausnahmetalents: Mit 17 war er der bisher jüngste Nationalspieler Österreichs aller Zeiten. Seit Sommer 2008 ist er beim FC Bayern München unter Vertrag und schaffte im Winter 2009/2010 den Sprung in den Kader der Profiabteilung. Sein Motto auf dem Fußballplatz: „Vollgas und Disziplin“ 4. Kraft dafür holt er sich an seinen freien Tagen am liebsten zu Hause in Wien – mit Freunden und der Familie.

Mirna Jukic:

Schwimmerin auf der Überholspur

Foto: ari fink von Wikipedia

Mirna Jukic ist eine der erfolgreichsten öster­ reichischen Schwimmerinnen. Sie wurde 1986 in Novi Sad geboren, kam 1999 nach Öster­ reich und ist seit 2000 österreichische Staats­ bürgerin. Sie lernte rasch Deutsch, maturierte 2005 mit Auszeichnung und begann ein Studium. Daneben trieb die Schwimmerin, die von ihrem Vater trainiert wurde und deren Bruder Dinko ebenfalls Schwimmer ist, ihre sportliche Karriere voran: Mirna Jukic erzielte zahl­ reiche Siege und gewann 2008 ihre erste Olympia-Medaille. 2002, 2008 und 2009 wurde sie in Österreich zur „Sportlerin des Jahres“ gewählt. Sport hat für sie eine verbindende Kraft: „Ob jemand serbisch-orthodox, katholisch oder muslimisch ist – im Schwimmbecken sind wir alle gleich.“ 5

4 zitiert nach: „Kurier“ vom 11. 10. 2009 5 zitiert nach: www.integrationsfonds.at/wissen/integration_im_fokus/integration_im_fokus_ausgabe_32008/oesterreichischer_integrationsfonds/ schwimmstar_und_sprachtalent

K 4 | 03

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

4.2. Kunst und Kultur Anna Netrebko ist das Paradebeispiel: begabt, erfolgreich und anerkannt, Künstlerin, Publikums- und Medienliebling. Die Opernsängerin aus Russland hat sich ihren Platz in der Kulturszene und Gesellschaft Österreichs gesichert und ist international gefragt. Die österreichische Staatsbürgerschaft wurde ihr 2006 per Ministerratsbeschluss aufgrund „außerordentlicher Leistungen auf künstlerischem Gebiet“ verliehen. Auf den Bühnen der Hochkultur sind KünstlerInnen mit Migrationshintergrund keine Selten­ heit. Mobilität wird hier vorausgesetzt und verlangt: Gast- und Festspiele, befristete Engage­ ments und Tourneen treiben Personen aus allen Ländern an andere Flecken der Erde. Auch Österreich profitiert von KünstlerInnen aus aller Welt und ist stolz auf den Glanz, den Stars der internationalen Kulturszene auf unser Land werfen. Allerdings werden nicht alle zugewanderten KünstlerInnen mit solch offenen Armen empfangen wie Netrebko und Co. Für viele sind die Arbeits- und Lebensbedingungen eine Herausforde­ rung: Sie haben keinen österreichischen Pass, die Aufenthaltsgenehmigung muss regelmä­ ßig verlängert werden. Hinzu kommt, dass zugewanderte KünstlerInnen nur durch ihre Kunst verdienen dürfen, was vor allem für junge und noch nicht erfolgreiche KünstlerInnen kein ein­ faches Unterfangen ist. Dennoch ist das Kulturland Österreich für zugereiste KünstlerInnen attraktiv – und ohne sie könnten so manche Kulturveranstalter nicht überleben. 6 Eine andere Herausforderung stellen die Meinungen dar, mit denen KünstlerInnen mit Migrationshintergrund häufig konfrontiert sind. Viele von ihnen werden als ExpertInnen für ihr Herkunftsland wahrgenommen, ihre Bücher, Kunstwerke oder Filme werden im Zusammen­ hang mit ihrer Migrationsgeschichte gesehen. Doch Kunst von Personen mit Migrationshinter­ grund ist nicht unbedingt Kunst mit Migrationshintergrund. Sie sehen sich in erster Linie als RegisseurInnen, AutorInnen, bildende KünstlerInnen oder MusikerInnen – nicht als MigrantInnen. Das Label „MigrantIn“ lässt sich allerdings nicht so leicht abschütteln: „Ich will kein ,Balkankünstler‘ sein“, sagt der bildende Künstler Dejan Kaludjerovi´c, der aus Serbien stammt und in Wien lebt. „Aber es ist egal, wie sehr du vor diesem Label davonläufst – es wird immer da sein.“ 7 Kunst soll seinem Verständnis nach das Verhältnis zwischen „InländerInnen“ und „AusländerInnen“, zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ hinterfragen. Das „MigrantInnen-Label“ hat allerdings auch Anziehungskraft, und Kunst-, Kultur- und Musik­ festivals mit Multikulti-Touch, Folklore und einem Schuss Exotik haben ihr Publikum. Festivals wie vielerorts beliebte „Afrika-Tage“ können nur Teilaspekte einer Kultur vermitteln – aber immer­ hin die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Menschen lenken.

K 4 | 04

6 vgl. „Das Leid der zugewanderten Künstler“, in: „Die Presse“ vom 2.6.2010 7 zitiert nach: „Die Presse“ vom 2. 6. 2010

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Andere Festivals setzen weniger auf Exotik, sondern auf Begegnung und Zusammenleben in der Nachbarschaft. In Graz fand 2009 das Festival „Istanbul Metropolis“ statt. Die Veran­ staltungsserie verstand sich zum einen als Versuch, das oft einseitige Bild von der Türkei in Österreich zu korrigieren, zum anderen als Angebot an die türkischstämmige Bevölkerung, dem Selbstbild neue Facetten hinzuzufügen. 8 Im Wiener Brunnenviertel findet jedes Jahr das Festival „Soho in Ottakring“ statt, das Stadtteilentwicklung, künstlerisches Schaffen und Möglich­ keiten der Beteiligung im lokalen Umfeld verbinden will. 9 Weltmusik in Wien Immer mehr MusikerInnen mit ausländischen Wurzeln lassen sich in Österreichs Hauptstadt nieder. KünstlerInnen wie der Akkordeonist Martin Lubenov oder die Sängerin Fatima Spar mit ihrer Band, den Freedom Fries, haben dazu beigetragen, dass Wien zu einem Zentrum für „Weltmusik“ geworden ist. Alte Musiktraditionen werden mit neuen Einflüssen kombiniert und weiterentwickelt. Festivals wie „Balkan Fever“, „Salam Orient“ oder „KlezMORE“ bieten Möglichkeiten zum Auftritt und Austausch. Musik kann über die Inhalte oder über die Zusammensetzung von Bands und Ensembles eine politische Botschaft vermitteln. Und sie kann auch einen bestimmten Lebensstil verkörpern. Ein Beispiel ist die Hip-Hop-Szene: Für viele Jugendlichen der zweiten und dritten Generation ist Hip-Hop ein Sprachrohr, über das auch gerne provoziert wird. In Deutschland heizen Rapper wie Bushido und Sido die öffentliche Debatte über Migration und Integration an. In Österreich – und via MTV auch darüber hinaus – hat es etwa Nazar, ein Rapper mit persischen Wurzeln, zu einiger Berühmtheit gebracht. In seinen Texten prangert Nazar politische und gesellschaftliche Zustände an und nimmt sich kein Blatt vor den Mund. 10 Vielfalt als Qualität Die junge Generation mit Migrationshintergrund findet vermehrt Eingang in das Gesell­ schafts- und Kulturleben Österreichs. Der Kunst- und Kulturbereich hat besonderes Potenzial für ein gelingendes Zusammenleben: Hier finden Begegnung und Austausch statt und vor allem werden Einzigartigkeit und Vielfalt als Qualitäten wahrgenommen.

8 vgl. www.literaturhaus-graz.at/IstanbulMetropolis 9 vgl. www.sohoinottakring.at 10 vgl. www.dasbiber.at/content/der-boxer%2C-der-rapper-und-ihr-bürgermeister

K 4 | 05

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

4.3. Medien „Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ 11, sagt Niklas Luhmann. Das Zitat des Sozialwissenschaftlers gilt auch im Migrationskontext: Die Bilder in den Medien haben Einfluss auf das Bild von MigrantInnen in der Gesellschaft. Vor allem jene Personen, die selbst wenig Kontakt mit Zugewanderten haben, holen sich ihr Wissen über Migration und Integration aus den Schlagzeilen oder aus dem Fernsehen. Das ist nicht unproblematisch: Denn in der dargebotenen Medienrealität kommen Personen mit Migrationshintergrund meist nur am Rande vor – und wenn, dann häufig in negativem Kontext. Darstellung von Personen mit Migrationshintergrund in den Medien Eine Untersuchung über „Einstellungen von ChronikjournalistInnen österreichischer Tageszeitungen zu den Themen Migration und mediale Integration“ zeigt: 81 Prozent der befragten JournalistInnen sind der Meinung, dass MigrantInnen überwiegend negativ dargestellt werden. Als Zusammenhänge, in denen am häufigsten über MigrantInnen berichtet wird, wurden vor allem Kriminalität, soziale Themen, politische Konflikte, Einzelschicksale und Sprachprobleme genannt. Die Berichterstattung über Integration wurde als stark anlassbezogen beurteilt – im Sinne von „Bad news are good news!“. Die Hälfte der Befragten ist der Meinung, in öster­ reichischen Medien werde zu wenig über MigrantInnen berichtet. Der Großteil, nämlich 85 Prozent, glaubt, dass die Berichterstattung in den Medien den Integrationsprozess beeinflussen kann.11 In einer Untersuchung des deutschen TV-Senders ZDF über die Darstellung von Migration und Integration in seinen Programmen wird explizit auf die Verantwortung der Medien verwie­ sen: „Den Medien kommt die Aufgabe zu, Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften miteinander bekannt zu machen und ins Gespräch zu bringen.“ 11 Das kann über verschiedene Wege passieren: über die vermehrte und ausgewogenere Berichterstattung über MigrantInnen, über spezifische Medien und Formate von und für MigrantInnen sowie über die stärkere Einbindung und Mitarbeit von Personen mit Migrationshintergrund in privaten und öffentlich-rechtlichen Medien.

K 4 | 06

11 zitiert nach „Die Presse“ vom 27.07.2010

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

4.4. Wissenschaft ForscherInnen zählen zu den mobilsten Berufsgruppen: Internationalität ist in der Wissenschaft ein Qualitätsmerkmal, Mobilität eine Grundvoraussetzung. Der Naturforscher Alexander von Humboldt ist mit seinen weit gedehnten Forschungsreisen, die ihn bereits im frühen 19. Jahrhundert bis nach Lateinamerika und Zentralasien führten, der Prototyp des reisenden Wissenschaftlers. In unserer globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist das Reisen einfacher und für WissenschaftlerInnen selbstverständlich geworden: Internationale Konferenzen, Forschungsreisen und Aufenthalte im Ausland gehören zum wissenschaftlichen Alltag. Perspektiven im Ausland Bereits Studierende können über Mobilitätsprogramme wie Erasmus bei einem Auslandsaufent­ halt von anderen Perspektiven und neuen Erfahrungen profitieren. Für junge Wissenschaft­ lerInnen stellt Mobilität ein Muss für die Karriere dar. DissertantInnen sollen sich mit den „besten Köpfen der Welt messen“, empfiehlt der Innsbrucker Quantenphysiker Rudolf Grimm, der „Wissenschaftler des Jahres 2009“ wurde. 12 Ein bewährtes und renommiertes Programm zur Förderung internationaler Mobilität bilden die Erwin-Schrödinger-Auslandsstipendien des Wissenschaftsfonds FWF. Junge und beson­ ders qualifizierte WissenschaftlerInnen aus Österreich werden gefördert, um an führenden Forschungseinrichtungen im Ausland mitarbeiten zu können. Sie erhalten Zugang zu neuen Wissenschaftsgebieten, Methoden, Verfahren und Techniken, um nach der Rückkehr auch zur weiteren Entwicklung der Wissenschaften in Österreich beizutragen. 13 „Den Wert eines Auslandsaufenthalts für die eigene wissenschaftliche Karriere, aber auch für die Scientific Community eines kleinen Landes wie Österreich kann man gar nicht hoch genug einschätzen“, sagt FWFPräsident Christoph Kratky. „Mehr als tausend junge WissenschaftlerInnen haben mittlerweile diese Chance ergriffen, darunter viele, die sich in der Folge zu führenden ForscherInnen in unserem Land entwickelt haben.“ 14 Austausch von Wissen Andere Programme holen ForscherInnen aus dem Ausland nach Österreich: Das Lise-MeitnerProgramm des FWF richtet sich an hochqualifizierte WissenschaftlerInnen aller Fachdisziplinen, die an einer österreichischen Forschungsstätte zur weiteren Entwicklung der Wissenschaften beitragen können. 15 Die Initiative „brainpower austria“ zeigt ausländischen WissenschaftlerIn­ nen und im Ausland forschenden ÖsterreicherInnen Karrieremöglichkeiten in Österreich auf und fördert die Vernetzung innerhalb der Scientific Community. 16 „Brain Gain“, nicht „Brain Drain“, erhofft sich Österreich vom wissenschaftlichen Austausch. Denn geforscht wird, wo die WissenschaftlerInnen die besten Bedingungen vorfinden. US-amerikanische Universitäten haben eine große Anziehungskraft auf Jungwissenschaft­ lerInnen, aber auch aufstrebende Wissenschaftsmächte wie Singapur locken mit attraktiven Angeboten. 17 Österreich braucht – so wie jedes Land – FoscherInnen aus dem Ausland, um als Wissensstandort attraktiv zu bleiben. 12 zitiert nach: „Die Presse“ vom 8. 2. 2010 13 vgl. www.fwf.ac.at/de/projects/schroedinger.html 14 www.schroedinger-portal.at/intro_praesident.html 15 vgl. www.fwf.ac.at/de/projects/meitner.html 16 vgl. www.brainpower-austria.at 17 vgl. „Moderne Nomaden“, in: „heureka! Das Wissenschaftsmagazin im Falter“ Nr. 1/09

K 4 | 07

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Exkurs: Vertreibung der Vernunft im Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus wurden mehr als 135.000 ÖsterreicherInnen aufgrund von politischer oder rassistischer Verfolgung ins Exil getrieben. Auch Tausende WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle mussten vor den Nazis fliehen, weil sie regimekritisch waren, oder wegen ihrer religiösen Überzeugung als JüdInnen. Sie sahen sich gezwungen, ihr altes Leben zurückzulassen und sich unter Anstrengungen eine neue Existenz und neue Tätigkeitsfelder aufzubauen. Andere wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Kultureller Exodus Die systematische Vertreibung und Vernichtung von Intellektuellen und KünstlerInnen im Nationalsozialismus hatte weitreichende Folgen: Das kulturelle und geistige Kapital des Landes ging verloren. Die Namen der Vertriebenen lesen sich wie ein „Who is who“ des österreichi­ schen Geisteslebens: Der Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud, der Philosoph Karl Popper, der Mathematiker Kurt Gödel, die Physikerin Lise Meitner, die Sozialwissenschafterin Marie Jahoda sind nur einige von ihnen. Emigration und Remigration Manche kehrten zurück, der Großteil blieb dauerhaft im Exil. Den RemigrantInnen wurde die Rückkehr oft nicht leicht gemacht, gegenseitiges Misstrauen bestimmte das Verhältnis. Die Schriftstellerin Hilde Spiel ging bereits 1936 ins Londoner Exil, nachdem ihr Professor Moritz Schlick von einem ehemaligen Studenten ermordet worden und eine antisemitische Hetzkam­ pagne gegen Schlick in den Medien gefolgt war. 1946 kehrte sie erstmals nach Wien zurück. In ihrem Buch „Rückkehr nach Wien“ schildert Spiel eine Episode, welche die Kluft zwischen Zurückgekehrten und Dagebliebenen verdeutlicht: Als sie das Literatencafé ihrer Jugend auf­ sucht, begegnet ihr der Oberkellner mit den Worten: „Die Frau Doktor haben gut daran getan, daß Sie fort sind. Allein die Luftangriffe – dreimal haben sie die ganze Stadt in Brand gesteckt.“ 18 Erforschung des Exils Die Erforschung des Exils setzte in Österreich vergleichsweise spät ein. In den Achtzigerjahren erschienen die von Friedrich Stadler herausgegebenen umfangreichen Bände „Vertriebene Vernunft“ zu Emigration und Exil in der österreichischen Wissenschaft. Mittlerweile ist die Exilforschung eine etablierte Wissenschaft. Die Österreichische Gesellschaft für Exilforschung widmet sich der Aufarbeitung und Dokumentation von Exilerfahrungen.

K 4 | 08

18 Hilde Spiel: Rückkehr nach Wien. Ein Tagebuch. Mit einem Beitrag von Marcel Reich-Ranicki. München: Amalthea 1996, S. 74

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

4.5. Medien und Links Für LehrerInnen und SchülerInnen ( je nach Alter und Voraussetzungen) Bücher Dinev, Dimitré: Engelszungen. Roman. München: btb 2005 Nach ihrer Flucht aus Bulgarien sind Iskren und Svetljo über Umwege in Wien gestrandet. Sie wissen nicht, dass ihre Schicksale seit ihrer Geburt eng miteinander verknüpft sind. Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen. München: btb 2006 Dinev erzählt mit viel Humor in einer ebenso prägnanten wie poetischen Sprache von Menschen, die an der Grenze leben. Kim, Anna: Die Bilderspur. Graz: Droschl 2004 Eine Erzählung über Suchen, Finden und Verlieren und eine Parabel über das Fremdsein und die ewige Suche nach einer „Heimat“. Kim, Anna: Die gefrorene Zeit. Roman. Graz: Droschl 2008 Seit Kriegsende in Ex-Jugoslawien wurden dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes mehr als 30.000 Menschen als vermisst gemeldet. Anna Kim erzählt von der Suche eines Kosovaren nach seiner verschwundenen Frau. Rabinowich, Julya: Spaltkopf. Roman. Wien: Deuticke 2009 Die Geschichte einer jüdischen Familie, die in den 1970er Jahren Russland in Richtung Westen verlässt. Eine Geschichte der Zersplitterung, Entwurzelung und Neudefinition.

Filme Bock for President. Dokumentarfilm. Österreich 2009. Regie: Houchang und Tom-Dariusch Allahyari Die Filmemacher Houchang und Tom-Dariusch Allahyari begleiteten die Wiener Flüchtlingshelferin Ute Bock bei ihrer Arbeit und privat mit der Kamera. Empfohlen ab 12. www.bockforpresident.at Ein Augenblick Freiheit. Spielfilm. Österreich/Frankreich/Türkei 2008. Regie: Arash T. Riahi Ein tragikomischer Ensemblefilm, der die Odyssee mehrerer Flüchtlinge auf dem Weg in das heilige Land der Freiheit erzählt. Empfohlen ab 12. www.einaugenblickfreiheit.com Kick off. Dokumentarfilm. Österreich 2009. Regie: Hüseyin Tabak Eine Fußball-Doku der anderen Art über die Vorbereitung dreier Kicker auf den „Homeless World Cup“. Empfohlen ab 12. www.kickoff-derfilm.at Little Alien. Dokumentarfilm. Österreich 2009. Regie: Nina Kusturica Dokumentation über Teenager, die allein und unter größter Gefahr aus Krisenregionen nach Europa flüchten und für ein normales Leben kämpfen. Empfohlen ab 14. www.littlealien.at tschuschen:power. Serie. Österreich 2007–2008. Regie: Jakob M. Erwa ORF-Mini-Serie über den Alltag von Wiener Teenagern mit unterschiedlichem Migrationshintergrund. Empfohlen ab 13. http://kundendienst.orf.at/aktuelles/tschuschenpower.html Unterrichtsmaterialien dazu jeweils unter: www.mediamanual.at oder www.filmabc.at

K 4 | 09

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Medienprojekte Stadtmagazin „biber“ Das Magazin „mit scharf“ ist jung, frech und selbstbewusst. Die JournalistInnen mit Migrations-Background nehmen sich kein Blatt vor den Mund. www.dasbiber.at dastandard.at Junge JournalistInnen mit Migrationsbiografie berichten in deutscher Sprache über die verschiedensten Themen rund um Zuwanderung. www.dastandard.at Integrationsseiten der Tageszeitung „Die Presse“ MigrantInnen schreiben für die Tageszeitung „Die Presse“. www.diepresse.com/integration Okto.tv Community-TV-Sender mit mehrsprachigem Programm im Angebot. http://okto.tv Radio FRO Freies Linzer Stadtradio mit Programmen von und für Personen mit Migrationshintergrund. www.fro.at Radio Orange 94,0 Freies Radio in Wien, das in mehreren Sprachen sendet. http://o94.at Yeni Vatan Gazetesi („Neue Heimat Zeitung“). Österreichische türkischsprachige Zeitung. www.yenivatan.com

K 4 | 10

Das große Plus

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Für LehrerInnen Literatur Liegl, Barbara/Spitaler, Georg: Legionäre am Ball. Migration im österreichischen Fußball nach 1945. Wien: Braumüller: Wien 2008 Eine umfassende soziologische Bestandsaufnahme zum Thema Fußball und Migration in Österreich. Sandrisser, Wilhelm/Winkler, Hans: Kultur und Medien. Die Stärken der kulturellen Vielfalt. In: Bundesministerium für Inneres (Hg.): Gemeinsam kommen wir zusammen. Expertenbeiträge zur Integration. Wien 2008 Ein Expertenbeitrag zu Kultur und Medien im Migrationskontext mit O-Tönen von Personen aus dem Kulturbereich und der Kulturpolitik. Terkessidis, Mark: Interkultur. Berlin: Suhrkamp 2010 Mark Terkessidis plädiert für eine radikale interkulturelle Öffnung, um die Potenziale einer vielfältigen Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Links FairPlay www.fairplay.or.at Die Initiative setzt sich gegen Diskriminierung im österreichischen Fußball und Sport ein. Mit verschiedenen Projek­ ten ist FairPlay auch im Schulbereich aktiv. ForscherInnen ohne Grenzen www.researcherswithoutborders.at Das Projekt unterstützt hochqualifizierte Flüchtlinge und AsylwerberInnen, geeignete Arbeit entsprechend ihrer Ausbildung zu finden. M-Media www.m-media.or.at Eine Initiative von MigrantInnen, die ihr Bild in den Medien selbst gestalten wollen. Österreichischer Integrationsfonds www.integrationsfonds.at Aktuelle Informationen, Publikationen und Dossiers zum Thema Integration. Zentrum Exil Die Website informiert über Veranstaltungen und Schulworkshops des „Zentrums Exil“ sowie über Veröffentlichungen im Verlag „Edition Exil“. www.editionexil.at

Thema Exil im Nationalsozialismus: Literatur Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940. Reihe Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur Wissenschaftsgeschichte. 2 Bände. Münster: LIT Verlag 2004 Zwei Sammelbände dokumentieren Emigration und Exil der zahlreichen aus Österreich vertriebenen WissenschafterInnen während der Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

Links: Österreichische Mediathek www.mediathek.at/virtuelles-museum/Exil Die Österreichische Mediathek, eine Außenstelle des Technischen Museums Wien, bietet im audiovisuellen Archiv Aufnahmen zu Musik, Literatur, Kunst und Wissenschaft im Exil. Österreichische Gesellschaft für Exilforschung www.exilforschung.ac.at Projekte und Dokumentationen beschäftigen sich mit Schicksal und Werk jener, die Österreich im 20. Jahrhundert aufgrund rassistischer und politischer Verfolgung verlassen mussten.

K 4 | 11

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

A) Sport Hinweise für LehrerInnen Lernziele Den Begriff „Spitzensport“ erklären können Zur Identifikation mit SpitzensportlerInnen eine begründbare Meinung entwickeln Funktionen (internationaler) sportlicher Wettkämpfe kennen Sport und SportlerInnen gehören ebenso wie Kunst und KünstlerInnen zu den wichtigen Identi­ fikationsbereichen vieler Menschen. Ihre Erfolge sind „unsere“ Erfolge, und sogar ihre Niederlagen werden vereinnahmt. Auf sie wird projiziert, was im eigenen Leben zu fehlen scheint. Deshalb werden als unfair empfundene Entscheidungen persönlich genommen, deshalb feiern Menschen einen Sieg, zu dem sie selbst absolut nichts beigetragen haben. Geht es gar um internationale Wettbewerbe, kommt das Nationalgefühl dazu: „Wir“ haben gewonnen, „wir“ sind Meister oder „wir“ haben Pech gehabt. Ganz besonders Jugendliche, die gerade eine eigene Identität entwickeln, wenden sich solchen Idolen zu, orientieren sich an ihnen, bilden über Identifikation oder Ablehnung Meinungen und Positionen heraus, mit denen sie auch experimentieren. Es entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl, das gerade in dieser Lebensphase gesucht wird: Fanclubs und Ähnliches sind typisch dafür. Die Frage, woher jemand kommt und welche Sprache er spricht, tritt in den Hintergrund. Selbst Personen, die im Alltag ZuwanderInnen eher ablehnend gegenüberstehen, jubeln ihnen zu, wenn sie „für uns“ Tore schießen oder „für Österreich“ Medaillen erringen. Dann ermöglichen sie nämlich, was so schmerzhaft fehlt: die Hebung des Selbstwertgefühls. Und dafür werden sie allemal gratis und franko zu „den Unseren“ gemacht. Dazu kommt, dass der Sport etwas ist, worin sich Jugendliche schnell als ExpertInnen fühlen: Selbst völlig unsportliche Personen pflegen doch gern das Gefühl, „das“ auch zu können – wenn sie es nur wollten. Spitzensport wird im Bewusstsein des Publikums dabei nicht vom Alltagsport unterschieden. Das hat zur Folge, dass gegenüber SportlerInnen – im Gegensatz zu ProtagonistInnen verschiedener Kunstformen – leichter der Eindruck erhalten werden kann, mit ihnen „auf Augenhöhe“ zu sein. Ihr Status wird als prinzipiell erreichbar interpretiert – sie sind „zum Anfassen“, sind „wie ich“. Diese Strukturen lassen sich für die Bewusstseinsarbeit im Zusammenhang mit Migration gut nutzen. Weil Sport und SportlerInnen im Allgemeinen positiv besetzt sind, bietet sich hier ein Zugang, der Chancen auf Nachhaltigkeit hat. Dazu werden Begriffe geklärt und Zusammenhänge deutlich gemacht.

K 4 | 12

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Übung A1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Sport 1 Kennst du Ivica Vasti´c, David Alaba, Mirna Jukic oder Dinko Jukic? Vasti´c und Alaba können Fußball spielen, die Geschwister Jukic können schwimmen. Das könntest du wahrscheinlich auch. Allerdings machst du es zu deinem Vergnügen, vielleicht sogar in einem Verein, nimmst mögli­ cherweise auch an Wettbewerben teil. Aber SpitzensportlerIn bist du (noch?) nicht. Spitzensport heißt, unter den Weltbesten zu sein. Das hat mit dem sonntäglichen Schwimm­ vergnügen im Strandbad oder dem Match gegen den Fußballverein der Nachbargemeinde nichts zu tun. SpitzensportlerInnen stellen ihr ganzes Leben auf den Sport ein, ihre Erfolge sind mit harter Arbeit, Verzicht und oft auch gesundheitlichen Problemen erkauft. Aber sie faszinieren ihr Publikum, weil sie unsere Möglichkeiten aufzeigen: Schaut, was alles möglich ist! Seht, wozu der Mensch fähig ist! Und das sagt uns: DAS steckt irgendwie auch in mir. Deshalb sehen wir in SpitzensportlerInnen zuerst ihre Leistungen. Dass Mirna Jukic aus Kroatien stammt, ändert nichts daran, dass sie 2002, 2008 und 2009 zur „Österreichischen Sportlerin des Jahres“ gekürt wurde und dass ihre Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen eine Medaille für Österreich war. Der Sport scheint möglich zu machen, was im Alltag oft so schwierig scheint: dass die Person wichtiger ist als ihre Herkunft. Das ist nicht nur in Österreich so: Eine Karriere als Fußball- oder Basketball-Spieler gilt in Lateinamerika oder den USA als Chance, aus den Slums herauszukommen. Latinos und Farbige, die dort häufig zu den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten zählen, versuchen diese Möglichkeit zu nutzen. Berichtet einander in der Gruppe und diskutiert: ➔ Welcher Spitzensport interessiert dich besonders? ➔ Kennst du SportlerInnen persönlich, die in diesem Sport erfolgreich sind? ➔ Gibt es in diesem Sport SpitzensportlerInnen, die nicht aus Österreich stammen, aber bei Wettbewerben für Österreich antreten? ➔ Bist du selbst in einem Sport aktiv? In einem Verein? ➔ Warum wohl wirkt Sport verbindend? Welche Sportarten sind dabei besonders wirkungsvoll?

K 4 | 13

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Übung A2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Sport 2 SpitzensportlerInnen werden oft für Werbezwecke eingesetzt. Der Schifahrer Hermann Maier, der Schispringer Andreas Goldberger, aber auch ganze Teams werben für Banken, Getränke oder Lebensmittel. Die Liste ist längst nicht vollständig. Die SportlerInnen werden dafür gut bezahlt. Aber warum werden sie von den Firmen ange­ worben? ➔ Mach ein Rollenspiel! Eine Werbekampagne soll geplant werden. Ziel ist, dass möglichst viele Menschen in kurzer Zeit das beworbene Produkt kennen und dazu angeregt werden, es zu kaufen. Drei für die Werbung verantwortliche Personen präsentieren ihre Idee, dass ein/e SportlerIn als „Gesicht“ für die Kampagne angeworben werden soll – und welche/r es sein soll. Überlege dir ein Produkt: Dass ein/e SchifahrerIn Werbung für Baby­windeln macht, ist wahrscheinlich nicht sehr naheliegend – aber welche Produkte passen zu SportlerInnen? Und warum? ➔ Und so wird gespielt: Die drei „SchauspielerInnen“ haben etwa zehn Minuten Vorbereitungszeit, in der sie sich absprechen: Welches Produkt? Welche/r SportlerIn? Was ist von ihm/ihr zu erwarten, wie wird er/sie wohl auf die KonsumentInnen wirken? Das „Publikum“ bereitet sich ebenfalls vor – welche/r SportlerIn könnte mich anregen, mich für ein Produkt zu interessieren? Wen würde ich gern in einem Werbespot sehen? Für wel­ che Produkte würde ein/e SportlerIn auf mich glaubwürdig wirken – für welche nicht? TIPP: Bereite dich schriftlich vor, schreibe dir Stichworte auf – während der „Vorstellung“ vergisst man leicht auf etwas, was vorher besprochen wurde! Das gilt für SchauspielerIn­ nen und Publikum! Die Szene wird gespielt und sollte höchstens zehn Minuten dauern. Dann wird besprochen: Waren die Überlegungen der SchaupielerInnen ähnlich denen des Publikums – oder ganz andere? Worüber gibt es weitgehende Übereinstimmung – worüber geteilte Meinungen? Wer kann seine Position gut begründen – vielleicht sogar jemanden überzeugen?

K 4 | 14

Das große Plus

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Arbeitsmaterialien zu Kapitel 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

B) Kunst und Kultur Hinweise für LehrerInnen Lernziele Einen Überblick über kulturelle/künstlerische Aspekte des Alltags gewinnen Funktionen von Kunst innerhalb einer Gesellschaft kennen Kunst als kulturübergreifend verstehen Medien als Quelle der Information und auch von Meinungen erkennen Etliche AsylwerberInnen mögen sich fragen, ob man nicht einfach singen können müsste, um die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die Frage, wer für eine Gesellschaft wichtig ist bzw. Bedeutung hat, ist schon deshalb immer schwierig zu beantworten, weil die Antwort unweigerlich auch darüber Auskunft gibt, wer NICHT wichtig ist/KEINE Bedeutung hat. Fragen zu Menschenbildern, Gerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit drängen sich Jugendlichen unweigerlich auf – sind sie doch selbst gerade dabei, ihrer eigenen Wichtigkeit und Bedeutung nachzuspüren. Dazu gehören auch Überlegungen darüber, welche Tätigkeiten geschätzt werden. Wer dabei ist, sich Gedanken über die eigene Berufsausbildung und -laufbahn zu machen, kommt nicht darum herum, über Möglichkeiten, Einkommen, Interessen und Begabungen nachzudenken. Die enge Verbindung zwischen Einkommen und gesellschaftlicher Achtung ist gerade im Zusammenhang mit Kunst für junge Menschen oft ein Problem: Wer „KünstlerIn“ – welcher Art auch immer – als Berufswunsch angibt, bekommt zu hören: „Lern was G’scheites!“ Und doch sind die im Blickfeld Jugendlicher arbeitenden KünstlerInnen z. B. aus der Pop-Kultur oft anerkannte GroßverdienerInnen. Die Bedeutung von Kunst und Kultur wird in Sonntagsreden beschworen, aber gleichzeitig wird in diesem Bereich auch sehr schnell eingespart. Ist Kunst also unnötiger Luxus für Menschen, die sonst keine Sorgen haben – oder doch ein wichtiger und bereichernder Lebensaspekt? Das noch wenig entwickelte Bild von Kunst und Kultur, ihrer Bedeutung im Alltag und ihre – wenn nicht unbedingt inhaltlich, so doch dem Prinzip nach – weitgehende Unabhängigkeit von territorialen, sprachlichen, religiösen und anderen Grenzen müssen bewusst werden, wenn das Thema auch im Zusammenhang mit Migration und MigrantInnen konstruktiv bear­ beitet werden soll. Die folgenden Materialien können dazu eingesetzt werden.

K 4 | 15

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Übung B1: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Kunst und Kultur 1 Hörst du gerne Musik? Hast du vielleicht sogar öfter einen „Stöpsel im Ohr“, weil dich Lieb­ lingssongs durch den Tag begleiten? Du fragst wahrscheinlich eher selten danach, woher die SängerInnen und MusikerInnen kommen, denen du zuhörst. Vielleicht bevorzugst du eine bestimmte Sprache – weil du die Texte dann gut verstehst oder weil du gerne mitsingst – viel­ leicht kommt es dir auf den Rhythmus an oder mehr auf die Instrumente und die Stimmen. Wenn du ins Kino gehst oder Filme im Fernsehen siehst, dann kannst du ziemlich sicher sein, dass die meisten davon in anderen Ländern produziert wurden, dass die SchauspielerInnen vielleicht „MigrantInnen“ sind – möglicherweise nach Hollywood ausgewandert. Außerdem werden die Filme, die dir gefallen, in vielen Ländern gesehen. Ihr Publikum setzt sich aus Men­ schen zusammen, die verschiedene Sprachen sprechen, verschiedene Religionen haben und sich ganz verschieden kleiden – aber etwas gemeinsam haben: Sie alle mögen dieselben Filme wie Du! Ähnlich ist es auch mit Büchern, mit Bildern, Theaterstücken oder Skulpturen: Es kommt dabei nicht darauf an, woher die KünstlerIn stammt – wichtig ist das Werk. Dasselbe gilt für Häuser, Mode, Autos oder Lampen, Möbel (und viele andere Gebrauchsgegenstände) – auch diese Gegenstände des Alltags werden oft von künstlerisch tätigen Menschen entworfen. Was Kunst ist, wird viel diskutiert. Hier sind damit die sogenannten darstellenden Künste (Theater, Tanz, Film), die bildenden Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur) sowie Literatur und Musik gemeint. Sie alle sind aus unserem Leben nicht wegzudenken: Sie machen es schöner und interessanter, sie unterhalten uns oder bringen uns zum Nachdenken, sie zeigen uns Möglich­ keiten, die wir selbst nicht gefunden hätten, und sie regen uns dazu an, selbst Neues auszu­ probieren. Weil alle diese Funktionen zu allen Zeiten und auf der ganzen Welt gleich – und gleich wichtig – sind, ist Kunst zwar von der Zeit und dem Ort, an dem sie entsteht, beeinflusst, aber nicht an Zeit oder Ort gebunden: Die Bilder von van Gogh oder die Musik von Mozart, die Bauten eines Johann Lucas von Hildebrandt, die Stimme von Maria Callas oder der Sound der Beatles – sie alle sind Beispiele dafür. ➔ Welche Kunstrichtung spricht dich besonders an? ➔ Welche KünstlerInnen kennst du? ➔ Stelle fest, woher SängerInnen oder SchauspielerInnen kommen, die du besonders magst!

K 4 | 16

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Übung B2: Arbeitsblatt für SchülerInnen

Kunst und Kultur 2 Was haben Zaha Hadid, Margarete Schütte-Lihotzky, Jørn Utzon, Hans Hollein und Le Corbusier gemeinsam? Sie sind oder waren ArchitektInnen, sie haben berühmte Bauten oder Designs (z. B. für Möbel) geschaffen und sie sind/waren in der ganzen Welt tätig und geschätzt. Was unterscheidet Zaha Hadid, Margarete Schütte-Lihotzky, Jørn Utzon, Hans Hollein und Le Corbusier? Sie stammen aus verschiedenen Ländern, wirk(t)en zu verschiedenen Zeiten und sind Frauen bzw. Männer. Doris Lessing, Orhan Pamuk, Imre Kertész, José Saramago und Elfriede Jelinek habe alle den Nobelpreis für Literatur erhalten. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Wolfgang Amadeus Mozart, Edvard Grieg, Giacomo Puccini und Leoˇs Janáˇcek waren bedeutende Komponisten, deren Musik auf der ganzen Welt gehört wird. Die hier genannten Personen sind nur eine kleine Auswahl, deren künstlerisches Schaffen weltweit Bedeutung hat. Ihre Geburtsorte und ihre Muttersprachen sind dabei unwichtig – ihre Werke stehen im Mittelpunkt. ➔ Finde Informationen über diese KünstlerInnen und beantworten die folgenden Fragen: Name

Ein berühmtes Werk

Geburtsland

Geburtsjahr

Zaha Hadid M. Schütte-Lihotzky Jørn Utzon Hans Hollein Le Corbusier Doris Lessing Orhan Pamuk Imre Kertész José Saramago Elfriede Jelinek P. I. Tschaikowsky W. A. Mozart Edvard Grieg Giacomo Puccini Leoˇs Janáˇcek

K 4 | 17

KAPITEL 4: Gelebte Vielfalt – in Sport, Kunst und Kultur, Medien und in der Wissenschaft

Das große Plus

Übung B2: Arbeitsblatt für SchülerInnen ➔ Finde je drei MusikerInnen und drei SchauspielerInnen, die aus verschiedenen Kulturen (vielleicht sogar von verschiedenen Kontinenten) kommen! Fasse die Informationen über sie zusammen: Name

Ein berühmtes Werk

Geburtsland

Gemeinsam bekommt ihr einen guten Überblick: Kunst ist grenzenlos.

K 4 | 18

Geburtsjahr

Suggest Documents