Vorlesung zur Pr¨ asenzphase des

Vorkurses Mathematik fu ¨ r die Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften Dr. Martin Folkers Institut fu ¨r Stochastik Karlsruher Institut fu ¨r Technologie (KIT) Karlsruhe 2010

KIT

Universit¨ at

www.kit.edu

des

Landes

Baden-W¨ urttemberg

und

nationales

Forschungszentrum

in

der

Helmholtz-Gesellschaft

Vorwort Dieses Skriptum behandelt den Stoff, der im Rahmen der Pr¨asenzphase des Vorkurses Mathematik f¨ ur die Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften in der Vorlesung pr¨asentiert werden soll. Die Kenntnis der 5 Einheiten der Onlinephase • Mengenlehre • Zahlbereiche • Abbildungen • Die Sprechweise der Stochastik • Kurvendiskussion werden zumindestens in Teilen als bekannt vorausgesetzt. Die Inhalte dieser 5 Einhei¨ ten werden jeweils nachmittags in den Ubungen nochmals wiederholt und einge¨ ubt. Die Inhalte der Vorlesungen sind in 3 Kapitel aufgeteilt. • Kapitel 1: Zahlbereiche In diesem Kapitel wird nochmals eingegangen auf den Aufbau der Zahlen und insbesondere die ganzzahlige Arithmetik ein wenig weiter ausgebaut. Im Mittelpunkt steht die Einf¨ uhrung des Begriffs eines Pr¨ ufziffernsystems. Dieser Begriff ist von zentraler Bedeutung in der Barcodetechnologie, eine der Grundlagen der modernen Logistik. Als Beispiele werden behandelt das System der Internationalen Buchnummern (ISBN) und das System der Global Trade Item Numbers (GTIN, fr¨ uher EAN f¨ ur Europ¨aische Artikelnummern), welche jeder aus dem Supermarkt kennt. Um einen Eindruck von moderner Logistik, einem zentralen Thema des Wirtschaftsingenieurwesens, zu bekommen, sei jedem empfohlen, sich z.B. die Internetseiten der BLG (Bremer Lagerhausgesellschaft) anzusehen. Die BLG ist einer der weltgr¨oßten Logistikunternehmen. Die Darstellung des GTIN-Systems stammt in leicht u ¨berarbeiteter Version aus einer sehr gelungenen Seminarausarbeitung der Studierenden des Wirtschaftsingenieurwesens: Tim Hilgert, Gerlinde Utsch und Kai Windscheid. Diese drei Studierenden haben im SS 2010 in unserem Mathematischen Seminar f¨ ur die Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften u ber das Thema Pr¨ u fzeichensysteme ¨ einen insgesamt 3-st¨ undigen Vortrag gehalten. 1

2

• Kapitel 2: Relationen In diesem Kapitel wird der Begriff einer Relation, welcher schon aus der Einheit Mengenlehre bekannt ist, weiter ausgebaut. Im Zentrum steht der Be¨ griff einer Aquivalenzrelation auf einer Menge. Wie wir sehen werden, f¨ uhren ¨ Aquivalenzrelationen zu einer Klasseneinteilung auf der Menge. Klasseneinteilungen sind jedem aus dem Alltag wohlbekannt. So werden z.B. Kinder in der Schule in (Schul-) Klassen eingeteilt, Lebensmittel in Warengruppen (Klassen) ¨ oder Handelsklassen, Produkte in Qualit¨atsklassen u.s.w.. Aquivalenzrelationen dienen daher dazu, den Vorgang der Klassifizierung von Objekten einer Grundgesamtheit nach irgendwelchen Richtlinien mathematisch zu modellieren. • Kapitel 3: Polynome In diesem Kapitel werden Polynome (in einer Variablen) behandelt, wobei die Polynomarithmetik im Vordergrund steht. Die aus der Schule bzw. aus der letzten Einheit der Onlinephase bekannte Kurvendiskussion kommt nur am Rande vor. Das Thema Kurvendiskussion wird in der Vorlesung Mathematik 1 noch ausf¨ uhrlich behandelt werden. Die Polynomarithmetik, also das Rechnen mit Polynomen, spielt in vielen Teilen der Mathematik eine große Rolle, z.B. in der Zahlentheorie, in der (linearen) Algebra, in der Geometrie, in der Codierungstheorie, in der numerischen Mathematik. Ein Grundproblem der Numerik, die Aufgabe der Polynominterpolation wird in diesem Kapitel gel¨ost. Die Pr¨asenzphase des Vorkurses hat mehrere Ziele. Erstens soll sie vorbereiten auf die Vorlesung Mathematik 1 und hier den fachlichen Einstieg erleichtern. Wichtig ist mir, dass gleich am Anfang einige Themen aus der Praxis zumindestens angesprochen werden, welche dann erst in sp¨ateren Vorlesungen vertieft behandelt werden. Es ist nicht das Ziel, Stoff aus der Vorlesung schon vorwegzunehmen. Viele Dinge sowohl aus der Online- wie auch der Pr¨asenzphase kommen in der Vorlesung nochmals zur Sprache. Zweitens soll die Pr¨asenzphase als auch die in der folgenden Woche stattfindende O-Phase der Fachschaft Wirtschaftswissenschaften dazu dienen, sich gegenseitig kennenzulernen. Sie werden ziemlich schnell feststellen, dass das gemeinsame Lernen in stabilen Kleingruppen einen deutlich h¨oheren Lernerfolg mit sich bringt.

Karlsruhe, den 30.September 2010

Dr. Martin Folkers

Kapitel 1 Zahlbereiche 1.1

Die natu ¨ rlichen Zahlen

Die nat¨ urlichen Zahlen sind die beim Z¨ahlen vewendeten Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, . . . . Die Menge der nat¨ urlichen Zahlen wird mit dem Symbol N bezeichnet, also N = {1, 2, 3, 4, 5, 6, . . .}. In moderner Sprechweise haben die nat¨ urlichen Zahlen ihren Ursprung in dem Grundbed¨ urfnis, endliche Mengen abzuz¨ahlen, also z. B. die Anzahl von Nutztieren in einer Herde zu bestimmen. Ist A eine endliche Menge, so l¨asst sich die M¨achtigkeit |A| von A mit irgendeinem festgelegten Symbol notieren. Zwei gleichm¨achtige (endliche) Mengen bekommen das gleiche Symbol f¨ ur ihre M¨achtigkeit zugeordnet, zwei (endliche) Mengen von verschiedener M¨achtigkeit bekommen verschiedene Symbole f¨ ur ihre jeweiligen M¨achtigkeit zugeordnet. Auf diese Weise wurden schon sehr fr¨ uh in der Geschichte der Menschen Zahlsymbole eingef¨ uhrt. Unsere heute verwendeten Zahlsymbole haben ihren Ursprung in den arabischen L¨andern, man spricht daher auch von den arabischen Ziffern bzw. Zahlen. Eine mathematische Kennzeichnung der nat¨ urlichen Zahlen auf Grundlage der Mengenlehre gab erstmals der deutsche Mathematiker Richard Dedekind (1831 - 1916) in Was sind und was sollen die Zahlen (1888). Der italienische Mathematiker Giuseppe Peano (1858 - 1932) formalisierte Dedekinds Axiome. Mit der Peano-Axiomatik der nat¨ urlichen Zahlen (das Prinzip der vollst¨andigen Induktion) beginnt die Vorlesung Mathematik 1. Auf der Menge N der nat¨ urlichen Zahlen l¨aßt sich in bekannter Weise (vergleiche die Einheit Zahlbereiche) eine Addition definieren. Aufgefasst als Abbildung ordnet die Addition jedem Paar (a, b) ∈ N2 = N×N nat¨ urlicher Zahlen eine neue Zahl a+b ∈ N, genannt die Summe der beiden Zahlen a und b, zu + : N × N → N, (a, b) 7→ a + b. 3

1.1. Die nat¨ urlichen Zahlen

4

Die Zahlen a, b ∈ N nennt man auch die Summanden. Es gelten die folgenden Rechengesetze. • Das Assoziativgesetz der Addition F¨ ur alle a, b, c ∈ N gilt

(a + b) + c = a + (b + c), dies bedeutet, dass man die Addition mehrerer nat¨ urlicher Zahlen klammerfrei notieren kann. • Das Kommutativgesetz der Addition F¨ ur alle a, b ∈ N gilt

a + b = b + a, diese bedeutet, dass die Reihenfolge der Summanden in einer (endlichen) Summe gleichg¨ ultig ist. Weiter l¨aßt sich auf der Menge N der nat¨ urlichen Zahlen in bekannter Weise (vergleiche die Einheit Zahlbereiche) eine Multiplikation definieren. Wieder aufgefasst als Abbildung ordnet die Multiplikation jedem Paar (a, b) ∈ N2 = N × N nat¨ urlicher Zahlen eine neue Zahl a · b ∈ N, genannt das Produkt der beiden Zahlen a und b, zu · : N × N → N, (a, b) 7→ a · b.

Die Zahlen a, b ∈ N nennt man auch die Faktoren. Es gelten die folgenden Rechengesetze. • Das Assoziativgesetz der Multiplikation F¨ ur alle a, b, c ∈ N gilt

(a · b) · c = a · (b · c), dies bedeutet, dass man die Multiplikation mehrerer nat¨ urlicher Zahlen klammerfrei notieren kann. • Das Kommutativgesetz der Multiplikation F¨ ur alle a, b ∈ N gilt

a · b = b · a, diese bedeutet, dass die Reihenfolge der Faktoren in einem (endlichen) Produkt gleichg¨ ultig ist.

1.1. Die nat¨ urlichen Zahlen

5

Die Verbindung der Addition und der Multiplikation wird durch die beiden Distributivgesetze hergestellt. • F¨ ur alle a, b, c ∈ N gelten a · (b + c) = a · b + a · c und (a + b) · c = a · c + b · c. Der n¨achste Schritt beim Aufbau der Zahlbereiche ist die Einf¨ uhrung der Zahl 0 (Null). Es wird die Notation N0 = N ∪ {0} = {0, 1, 2, 3, 4, 5, . . .} verwendet. Historisch steht die Null bzw. das heute gebr¨auchliche Zeichen 0 f¨ ur das Leere oder das Nichts, in moderner Sprechweise also f¨ ur die M¨achtigkeit der leeren Menge. Bis zu Beginn der Neuzeit galt die Null im allgemeinen nur als L¨ uckenzeichen im Positionssystem, welches f¨ ur sich nichts bedeutet. Die Auffassung der Null als Zahl, mit der auch gerechnet werden kann, setzte sich erst langsam ab dem 16. Jh. durch (z. B. bei dem belgischen Ingenieur Simon Stevin, 1548 - 1620). Es ist zu bemerken, dass die indischen Mathematiker mindestens seit Brahmagupta (geb. 598) mit dem Rechnen mit Null vertraut sind, die Kenntnisse der indischen Mathematik sind aber im Abendland zu Beginn der Renaissance unbekannt. Die Addition und die Multiplikation lassen sich durch die Festsetzungen • a + 0 = 0 + a = a, a ∈ N0 , und • a · 0 = 0 · a = 0, a ∈ N0 , auf die Menge N0 der erweiterten nat¨ urlichen Zahlen fortsetzen. Die oben angegebenen Rechengesetze (Assoziativgesetze, Kommutativgesetze, Distributivgesetze) bleiben erhalten. Bemerkung 1.1.1 (Lineare Anordnung der nat¨ urlichen Zahlen). Die nat¨urlichen Zahlen bzw. die erweiterten nat¨ urlichen Zahlen lassen sich in nat¨ urlicher Weise der Gr¨oße nach anordnen, wir schreiben 0 < 1 < 2 < 3 < 4 < 5 < 6 < . . .. Sprechweise 0 kleiner 1 kleiner 2 kleiner 3 kleiner 4 kleiner 5 kleiner 6 kleiner . . .

1.2. Die ganzen Zahlen

6

Sind a, b ∈ N0 zwei Elemente der erweiterten nat¨ urlichen Zahlen, so meint die Notation a ≤ b, dass die Zahl a entweder gleich der Zahl b ist oder die Zahl a in der obigen Anordnung kleiner als die Zahl b ist. Die Notation a > b meint, dass die Zahl a gr¨oßer als die Zahl b ist, in dem Fall gilt also b < a. Die Notation a ≥ b meint, dass die Zahl a entweder gleich der Zahl b ist oder die Zahl a gr¨oßer als die Zahl b ist, in dem Fall gilt also b ≤ a.

1.2

Die ganzen Zahlen

Im Bereich der erweiterten nat¨ urlichen Zahlen N0 l¨aßt sich f¨ ur vorgegebene Zahlen a, b ∈ N0 die lineare Gleichung a+x=b

nur dann l¨osen, falls b ≥ a gilt. Die (sogar eindeutig bestimmte) L¨osung lautet in diesem Fall x = b − a.

Um auch im Fall b < a eine L¨osung zu erhalten, werden die negativen Zahlen eingef¨ uhrt (vergleiche die Einheit Zahlbereiche). Es ergibt sich der Zahlbereich der ganzen (ganzrationalen) Zahlen Z = {. . . , −3, −2, −1, 0, 1, 2, 3, . . .}.

Die Anerkennung der negativen Zahlen setzt sich zu Beginn des 17. Jhs. im Abendland allm¨ahlich durch. Die heute u uhrung der negativen Zahlen, bezeich¨bliche Einf¨ net mit den Symbolen −a, a ∈ N als L¨osungen der Gleichungen a + x = 0, a ∈ N, und die Rechengesetze f¨ ur negative Zahlen findet man z. B. zu Beginn des 19. Jhs. bei Martin Ohm (1792 - 1872, Bruder des Physikers Georg Simon Ohm). In anderen Kulturen wurde schon sehr viel fr¨ uher mit negativen Zahlen gerechnet, so z. B. in einem u ¨ ber 2000 Jahre alten chinesischen Rechenbuch. Auch bei Brahmagupta findet man die Rechenregeln f¨ ur negative Zahlen. Sowohl die Addition als auch die Multiplikation lassen sich auf den Bereich Z der ganzen Zahlen fortsetzen. 1. F¨ ur die Addition + : Z × Z → Z, (a, b) 7→ a + b, gelten die folgenden Rechengesetze. • Das Assoziativgesetz der Addition

a + (b + c) = (a + b) + c f¨ ur alle a, b, c ∈ Z.

• Das Kommutativgesetz der Addition

a + b = b + a f¨ ur alle a, b, c ∈ Z.

1.2. Die ganzen Zahlen

7

• Die Existenz eines neutralen Elements (bzgl. der Addition): 0 = Null, 0 + a = a + 0 = a f¨ ur alle a ∈ Z.

• Es gibt eine Inversenbildung (bzgl. der Addition), diese wird Subtraktion genannt, d.h. zu jedem a ∈ Z gibt es ein Element, welches mit (−a) bezeichnet wird, mit a − a = a + (−a) = (−a) + a = 0. 2. F¨ ur die Multiplikation · : Z × Z → Z, (a, b) 7→ a · b, gelten die folgenden Rechengesetze. • Das Assoziativgesetz der Multiplikation

a · (b · c) = (a · b) · c f¨ ur alle a, b, c ∈ Z.

• Das Kommutativgesetz der Multiplikation

a · b = b · a f¨ ur alle a, b, c ∈ Z.

• Die Existenz eines neutralen Elements (bzgl. der Multiplikation): 1 = Eins, 1 · a = a · 1 = a f¨ ur alle a ∈ Z. 3. Die Verbindung zwischen der Addition und der Multiplikation wird hergestellt durch die beiden Distributivgesetze • erstes Distributivgesetz

a · (b + c) = a · b + a · c f¨ ur alle a, b, c ∈ Z

und • zweites Distributivgesetz

(a + b) · c = a · c + b · c f¨ ur alle a, b, c ∈ Z.

Sprechweise: Ist M 6= ∅ eine nichtleere Menge, und sind auf der Menge M eine Addition und eine Multiplikation

+ : M × M → M, (a, b) 7→ a + b, · : M × M → M, (a, b) 7→ a · b,

definiert, welche die obigen Rechengesetze erf¨ ullen, so nennt man das Tripel (M, +, ·) einen kommutativen Ring mit Eins. In diesem Sinn bildet das Tripel (Z, +, ·) einen kommutativen Ring mit Eins.

1.2. Die ganzen Zahlen

8

Bemerkung 1.2.1 (Rechenregeln). Mit Hilfe der obigen Rechengesetze in Z ergeben sich die folgenden Rechenregeln • −(−a) = a,

a ∈ Z,

• (−a) · b = −a · b,

a, b ∈ Z,

• a · (−b) = −a · b,

a, b ∈ Z,

• (−a) · (−b) = a · b,

a, b ∈ Z.

Beachte Diese Rechenregeln lassen sich leicht aus den Rechengesetzen f¨ ur einem kommutativen Ring (mit Eins) ableiten. Die Einf¨ uhrung der negativen Zahlen und ihre Rechengesetze wurde bis in die Mitte des 19. Jhs. viel diskutiert (z. B. von Emanuel Kant, Bernhard Bolzano). Insbesondere die vierte Rechenregel, nach der das Produkt zweier negativer Zahlen eine positve Zahl ist, stellte viele Mathematiker und Philosophen vor Probleme. So nimmt William Rowan Hamilton (1805 - 1865) im Jahr 1833 Anstoß daran, dass das Produkt zweier Zahlen, die weniger als nichts bedeuten, eine Gr¨oße sein soll, die mehr als nichts ist. Erst durch die oben skizzierte axiomatische Betrachtungsweise, in der die negativen Zahlen als neue Symbole f¨ ur die L¨osungen der Gleichungen a + x = 0, a ∈ N, eingef¨ uhrt werden (z. B. bei Hermann Hankel, 1839 - 1873) wurde das f¨ ur uns heute selbstverst¨andliche Rechnen mit den ganzen Zahlen auf eine sichere mathematische Grundlage gestellt. Man beachte, dass bei dieser Definition der ganzen Zahlen die neuen abstrakten Symbole −a f¨ ur die negativen Zahlen zun¨achst keinerlei Bezug zu realen, z. B. physikalischen oder wirtschaftlichen Gr¨oßen haben. Interpretiert man z. B. die postiven ganzen Zahlen als Guthaben und die negativen ganzen Zahlen als Schulden, so ist die Aussage Schulden multipliziert mit Schulden ergibt ein Guthaben nur schwer zu interpretieren. Die Interpretation der negativen Zahlen als Schulden findet man z. B. bei Leonardo von Pisa (genannt Fibonacci, geb. ca. 1170 , gest. nach 1240). Bemerkung 1.2.2 (Bemerkung Integrit¨atsbereich oder integerer Ring). (Z, +, ·) ist ein kommutativer, nullteilerfreier Ring, oder man sagt auch: (Z, +, ·) ist ein Integrit¨ atsbereich oder integerer Ring, d.h. es gilt aus a · b ∈ Z, a · b = 0 folgt a = 0 oder b = 0. Beachte Die Eigenschaft der Nullteilerfreiheit folgt aus der Definition der Multiplikation der ganzen Zahlen (vergl. die Einheit Zahlbereiche).

1.2. Die ganzen Zahlen

9

Bemerkung 1.2.3 (Lineare Anordnung). Die ganzen Zahlen sind auf dem Zahlenstrahl in nat¨ urlicher Weise linear angeordnet. Sind a, b ∈ Z zwei ganze Zahlen, so heißt a kleiner als b, in Zeichen: a < b, falls die Zahl a auf dem Zahlenstrahl links von der Zahl b steht. Wir schreiben wieder a ≤ b, in Worten: a kleiner oder gleich b, falls a = b oder a < b gilt. Die hierdurch auf der Menge Z definierte (lineare) Ordnung hat die folgenden Eigenschaften. • Die Eigenschaft der Reflexivit¨ at: f¨ ur alle a ∈ Z gilt a ≤ a. • Die Eigenschaft der Antisymmetrie: f¨ ur alle a, b ∈ Z gilt aus a ≤ b und b ≤ a folgt a = b. • Die Eigenschaft der Transitivit¨ at: f¨ ur alle a, b, c ∈ Z gilt aus a ≤ b und b ≤ c folgt a ≤ c. • Die Eigenschaft der Totalordnung: f¨ ur alle a, b ∈ Z gilt a ≤ b oder b ≤ a. Dies bedeutet, dass man von zwei verschiedenen ganzen Zahlen a, b ∈ Z stets sagen kann, welche die gr¨oßere und welche die kleinere Zahl ist. Beachte: F¨ ur Ungleichungen gelten eine Reihe von Rechenregeln. Hierzu wird auf die Einheit Zahlbereiche verwiesen. Eine oft verwendete Eigenschaft der nat¨ urlichen Zahlen ist das folgende Prinzip des kleinsten T¨aters. Satz 1.2.4 (Das Prinzip des kleinsten T¨aters). Ist T ⊂ N (bzw. N0 ) eine Teilmenge der (erweiterten) nat¨ urlichen Zahlen, so besitzt die Menge T ein kleinstes Element, d.h. es gibt ein Element m ∈ T mit m ≤ t f¨ ur alle t ∈ T . Beachte Das Prinzip des kleinsten T¨aters l¨asst sich ausdehnen auf alle nach unten beschr¨ankten Teilmengen T ⊂ Z. Dabei heißt eine Teilmenge T ⊂ Z nach unten beschr¨ankt, falls es eine ganze Zahl a ∈ Z gibt, so dass f¨ ur alle t ∈ T gilt: a ≤ t.

1.3. Teilbarkeit

1.3

10

Teilbarkeit

Definition 1.3.1 (Teilbarkeit, Primzahlen). 1. Es seien a, b ∈ Z zwei ganze Zahlen. Die Zahl a heißt ein Teiler der Zahl b, oder die Zahl b heißt teilbar durch die Zahl a, in Zeichen: a | b, falls es eine ganze Zahl x ∈ Z gibt mit b = x · a. 2. Eine ganze Zahl p ∈ Z, p > 1, heißt eine Primzahl, falls p nur die Teiler ±1 und ±p besitzt.

Beispiele 1.3.2.

• Die Menge aller positiven Teiler der Zahl n1 = 28 lautet {1, 2, 4, 7, 14, 28}. • Die Menge aller Teiler der Zahl n2 = −20 lautet {−1, +1, −2, +2, −4, +4, −5, +5, −10, +10, −20, +20}. • Die Zahlen 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, . . . , 257, . . . , 65537, . . . sind Primzahlen. Bemerkungen 1.3.3 (Eigenschaften der Teilbarkeitsbeziehung). 1. 1 teilt jede Zahl a ∈ Z, also f¨ ur alle a ∈ Z gilt: 1 | a. 2. Jede ganze Zahl teilt 0, also f¨ ur alle a ∈ Z gilt: a | 0. 3. Jede ganze Zahl teilt sich selber, also f¨ ur alle a ∈ Z gilt: a | a. 4. 0 | 0 und 0 ∤ y f¨ ur alle y ∈ Z mit y 6= 0. 5. F¨ ur alle a, b, c ∈ N (oder auch a, b, c ∈ Z) gilt: aus a | b und b | c folgt a | c. 6. F¨ ur alle r, a, b ∈ Z gilt: aus r | a und r | b folgt r | (a + b). 7. F¨ ur alle r, a, c ∈ Z gilt: aus r | a folgt r | (a · c).

1.3. Teilbarkeit

11

Bemerkung 1.3.4 (Teilbarkeit als Ordnungsrelation). Durch a, b ∈ N, a | b ⇐⇒ a teilt b wird auf der Menge N eine Ordnungsrelation definiert, d.h. es gilt • die Eigenschaft der Reflexivit¨ at: a teilt a f¨ ur alle a ∈ N, • die Eigenschaft der Antisymmetrie: f¨ur alle a, b ∈ N gilt: aus a | b und b | a folgt a = b, • die Eigenschaft der Transitivit¨ at: f¨ur alle a, b, c ∈ N gilt: aus a | b und b | c folgt a | c. Beachte: 1. ”| ” liefert keine Totalordnung auf N, d.h. nicht alle ganzen Zahlen sind bzgl. der Teilbarkeitsrelation miteinander vergleichbar. So gilt z. B. 5 ∤ 6 und 6 ∤ 5. 2. ”| ” liefert keine Ordnungsrelation auf Z, denn die Forderung der Antisymmetrie ist nicht erf¨ ullt. So gilt z. B. (−1) | (+1) und (+1) | (−1), aber −1 6= +1. Theorem 1.3.5. Jede nat¨urliche Zahl n ∈ N, n > 1, besitzt eine Darstellung als Produkt von Primzahlen, diese Darstellung ist bis auf die Reihenfolge der Faktoren eindeutig bestimmt. Beispiele 1.3.6. • 28 = 2 · 2 · 7 = 22 · 7, • 20 = 2 · 2 · 5 = 22 · 5, • 65537 = 65537, • 7988945525550 = 2 · 32 · 52 · 11 · 97 · 101 · 257 · 641.

1.3. Teilbarkeit

12

Der folgende Satz ist schon in der Antike bekannt. Erfindet sich z. B. in den Elementen von Euklid. Theorem 1.3.7 (Euklid). Es gibt unendlich viele Primzahlen. Die Primzahlen bilden innerhalb der ganzen Zahlen die atomaren Bausteine, aus denen sich alle von 0 verschiedenen ganzen Zahlen (bis auf das Vorzeichen und bis auf die Reihenfolge der Faktoren) multiplikativ eindeutig zusammensetzen lassen. Es ist bis heute kein effizientes Verfahren (¨offentlich) bekannt, eine 160-stellige Dezimalzahl (oder gr¨osser) in ihre Primfaktoren zu zerlegen (von Sonderf¨allen abgesehen). Es gibt dagegen effiziente Algorithmen, welche entscheiden, ob eine vorgelegte Zahl eine Primzahl ist. Diese Algorithmen erm¨oglichen es, sehr große Primzahlen aufzufinden. Genau auf dieser Tatsache basieren eine Reihe von mathematischen Verfahren der Kryptologie, der Wissenschaft der Verschl¨ usselung von Nachrichten. Ein (probabilistischer) Primzahltest ist z. B. im Computeralgebrasystem Maple realisiert. Im Bereich Z der ganzen Zahlen l¨aßt sich eine uneingeschr¨ankte Division (als Umkehrung der Multiplikation) noch nicht einf¨ uhren. Es gilt aber der folgende Satz von der Division mit Rest, welcher die Grundlage vieler Algorithmen und weiterf¨ uhrender Aussagen innerhalb der ganzen Zahlen bildet. Theorem 1.3.8 (Satz von der Division mit Rest). Es seien a, b ∈ Z, b 6= 0. Dann gibt es eindeutig bestimmte Zahlen q, r ∈ Z mit a = q · b + r,

0 ≤ r < |b|.

Sprechweise Die Menge {0, 1, 2, . . . , |b| − 1} stellt ein vollst¨ andiges Restsystem f¨ ur die Division durch b ∈ Z, b 6= 0, dar. Beispiele 1.3.9. • a = 7, b = 3, 7 = 2 · 3 + 1, also q = 2 und r = 1; • a = 33, b = 11, 33 = 3 · 11 + 0, also q = 3 und r = 0; • a = 33, b = 40, 33 = 0 · 40 + 33, also q = 0 und r = 33. Definition 1.3.10 (gr¨oßter gemeinsamer Teiler (ggT)). Es seien a, b ∈ Z. Eine Zahl d ∈ Z heißt gro ¨ßter gemeinsamer Teiler von a und b, falls gilt: 1. d | a und d | b, 2. aus t | a und t | b, t ∈ Z, folgt: t | d.

1.3. Teilbarkeit

13

Beachte: • Der ggT zweier ganzer Zahlen a, b ∈ Z, a, b 6= 0, ist bis auf das Vorzeichen eindeutig bestimmt, in der Regel entscheidet man sich f¨ ur das positive Vorzeichen und schreibt d = ggT(a, b), d ∈ N (engl.: d = gcd(a, b), greatest common divisor). • Es gilt ggT(0, 0) = 0 und ggT(a, 0) = a f¨ ur alle a 6= 0. • Es gilt ggT(a, b) = 0 genau dann, wenn a = b = 0 gilt. Theorem 1.3.11 (Existenz des ggT). In (Z, +, ·) besitzen zwei Elemente a, b ∈ Z einen gr¨oßten gemeinsamen Teiler. Beweis: Euklidischer Algorithmus!!! (vergl. die Vorlesung Mathematik 1) Definition 1.3.12 (Teilerfremdheit). Zwei Zahlen a, b ∈ Z heißen teilerfremd, falls 1 ein gr¨oßter gemeinsamer Teiler von a und b ist, also falls gilt ggT(a, b) = 1 (bei Normierung auf das positive Vorzeichen). Beispiele 1.3.13. • Gesucht ist der gr¨osste gemeinsame Teiler der beiden Zahlen a = 51 und b = 36. Die Menge der positiven Teiler von a lautet: T (51) = {1, 3, 17, 51}, die Menge der positiven Teiler von b lautet: T (36) = {1, 2, 3, 4, 6, 9, 12, 18, 36}, die gemeinsamen (positiven) Teiler sind also 1 und 3, es gilt damit d = ggT(51, 36) = 3. • Die Zahlen a = 51 und c = 28 sind teilerfremd, es gilt ggT(51, 28) = 1. Der gr¨osste gemeinsame Teiler zweier Zahlen a, b ∈ Z l¨aßt sich besonders gut ausrechnen, falls man die Primfaktorzerlegungen dieser beiden Zahlen kennt. In diesem Fall l¨aßt sich n¨amlich die Menge der gemeinsamen Teiler von a und b bequem hinschreiben. Interessanterweise kann man aber den ggT(a, b) auch sehr ”effizient” ausrechnen, wenn man die Primfaktorzerlegungen nicht kennt. Der Euklidische Algorithmus, welchen schon Euklid vor 2000 Jahren kannte, liefert einen Existenzbeweis f¨ ur den ggT zweier ganzer Zahlen und gleichzeitig ein effizientes Verfahren, den gr¨oßten gemeinsamen Teiler zweier ganzer Zahlen zu berechnen. Dieser Algorithmus wird in der Vorlesung Mathematik 1 vorgestellt werden. Er ist in jedem Computeralgebrasystem (CAS) (z. B. Maple, Mathematica, Mupad) realisiert.

1.4. Kongruenzrelationen

1.4

14

Kongruenzrelationen

Eine der wichtigsten Aussagen in der Zahlentheorie ist der Satz von der Division mit Rest. Sind a ∈ Z und m ∈ N, so besagt dieser Satz, dass es eindeutig bestimmte Zahlen q, r ∈ Z gibt mit a = q · m + r und 0 ≤ r < m. Zwei ganze Zahlen a, b ∈ Z liefern bei der Division durch m ∈ N genau dann denselben Rest r ∈ Z, 0 ≤ r < m, falls die Differenz a − b durch m teilbar ist. Dies f¨ uhrt auf die folgende Definition. Definition 1.4.1 (Kongruenzrelationen in Z ). Es sei m ∈ N eine nat¨urliche Zahl. Wir f¨ uhren in Z die folgende Kongruenzrelation modulo m ein: Zwei Zahlen x, y ∈ Z heißen kongruent modulo m, in Zeichen: x ≡ y (mod m), wenn die Differenz x − y ein ganzzahliges Vielfaches von m ist, also x ≡ y (mod m) ⇐⇒ m | (x − y) ⇐⇒ es gibt ein k ∈ Z mit x − y = k · m. Beispiele 1.4.2. Es sei m = 12, dann gilt z. B. 15 ≡ 3 (mod 12), 15 ≡ 27 (mod 12), 12 ≡ 0 (mod 12), 11 ≡ −1 (mod 12). Beachte: Zwei ganze Zahlen x, y ∈ Z sind genau dann mod m kongruent, wenn sie bei der Division durch m denselben Rest r ∈ {0, 1, . . . , m − 1} lassen. Die Menge {0, 1, . . . , m − 1} stellt ein vollst¨ andiges Restsystem mod m, das kleinste nichtnegative Restsystem mod m dar. Ein anderes vollst¨andiges Restsystem mod m, das betragskleinste Restsystem mod m, ist gegeben durch n m mo . r∈Z:− 0, genannt der Stichproben-Variationskoeffizient. vx

=

Beispiel 2.7.2. Vorgelegt sie die folgende Stichprobe x = (x1 , . . . , x20 ) vom Umfang n = 20 (z. B.: Studiendauer gemessen in Anzahl von Semestern) 10 11 9 7 9 11 11 9 10 12 13 12

22 12 13 9 11 10 10 12

Es gilt 20 X

xj = 223,

j=1

also

1 · 223 = 11.15. 20 Problem: das arithmetische Mittel reagiert ziemlich stark auf ”Ausreißerdaten”, so ergibt sich z. B., falls der gr¨oßte Wert 22 gestrichen wird 1 · 201 ≈ 10.58. 19 x=

2.7. Statistische Maßzahlen

57

Bemerkung 2.7.3 (Formel zur Berechnung von s2x ). Es gilt ) ( n n X X 1 1 s2x = · (xi − x)2 = · x2i − n · x2 , n − 1 i=1 n−1 i=1 Beispiel 2.7.4 (Fortsetzung des obigen Beispiels). F¨ ur die Stichprobenvarianz im obigen Beispiel ergibt sich 20 X

x2i = 2655,

i=1

also 1  · 2655 − 20 · 11.152 19 1 · 168.55 ≈ 8.8711, = 19

s2x =

damit lautet die Standardabweichung im obigen Beispiel p sx = + s2x ≈ 2.9784.

Auch s2x reagiert sehr empfindlich auf ”Ausreißerdaten”, ohne den Wert 22 ergibt sich 1 · {2171 − 19 · 10.582 } ≈ 2.48. 18 Definition 2.7.5 (Empirischer Median). Gegeben sei die Stichprobe x = (x1 , . . . , xn ) vom Umfang n, n ∈ N. • Die aus den aufsteigend sortierten Elementen x(1) ≤ x(2) ≤ . . . ≤ x(n) von x1 , . . . , xn bestehende Stichprobe x() = (x(1) , x(2) , . . . , x(n) ) heißt die geordnete Stichprobe (zu x). • Die Gr¨oße x˜ =

(

x( n+1 ) , falls n ungerade 2  1 · x( n ) + x( n +1) , falls n gerade 2 2

2

heißt der Stichproben-Median (Zentralwert) von x.

2.7. Statistische Maßzahlen

58

Beispiele 2.7.6. • Die geordnete Stichprobe x() zur Stichprobe x = (3, 2, 2, 1) lautet x() = (1, 2, 2, 3). Damit ergibt sich der Median zur Stichprobe x zu x˜ =

1 · (2 + 2) = 2. 2

• Die geordnete Stichprobe x() zur Stichprobe x = (5, 3, 3, 1, 2) lautet x() = (1, 2, 3, 3, 5). Damit ergibt sich der Median zur Stichprobe x zu x˜ = x(3) = 3. Bemerkungen 2.7.7 (zum Median). 1. Der (empirische) Median ist unempfindlich gegen¨ uber ”Ausreißerdaten”, man nennt diese Eigenschaft Robustheit. 2. Etwa die H¨alfte der Daten sind ”≤” und etwa die H¨alfte der Daten sind ”≥” x e.

Beispiel 2.7.8. Vorgelegt sie die folgende Stichprobe x = (x1 , . . . , x20 ) vom Umfang n = 20 (z. B.: Studiendauer gemessen in Anzahl von Semestern). 10 11 9 7 9 11 11 9 10 12 13 12

22 12 13 9 11 10 10 12

Die zugeh¨orige geordnete Stichprobe x( ) = (x(1) , x(2) , . . . , x(20) ) lautet 7 9 9 9 9 10 11 11 11 12 12 12

10 10 10 11 12 13 13 22

Als empirischer Median ergibt sich, da n = 20 gerade ist 1 x e = · (x(10) + x(11) ) = 11. 2 Definition 2.7.9 (Vergl. Floor-Fkt. in der Einheit ”Sprechweise der Stochastik”). ⌊y⌋ = max{k ∈ Z : k ≤ y} ist die gr¨oßte ganze Zahl, welche kleiner oder gleich einer reellen Zahl y ist, also z. B. ⌊1.2⌋ = 1, ⌊−0.3⌋ = −1, ⌊5⌋ = 5.

2.8. Ordnungsrelationen

59

Definition 2.7.10 (α-getrimmte Mittel). Sei α ∈ [0, 0.5) und k = ⌊n · α⌋. Dann heißt x¯α =

1 · (x(k+1) + . . . + x(n−k) ) n−2·k

das α-getrimmte (gestutzte) Stichproben-Mittel. Insbesondere ist x¯ = x¯0 . Beispiel 2.7.11 (Beispiel zum α-gestutzten Mittel). Vorgelegt sie die folgende Stichprobe x = (x1 , . . . , x20 ) vom Umfang n = 20 (z. B.: Studiendauer gemessen in Anzahl von Semestern). 10 11 9 7 9 11 11 9 10 12 13 12

22 12 13 9 11 10 10 12

Die zugeh¨orige geordnete Stichprobe x( ) = (x(1) , x(2) , . . . , x(20) ) lautet 7 9 9 9 9 10 11 11 11 12 12 12

10 10 10 11 12 13 13 22

Es sei α = 0.12, k = ⌊20 · 0.12⌋ = ⌊2.4⌋ = 2, dann gilt x0.12 =

2.8

1 1 · (223 − 16 − 35) = · 172 = 10.75. 16 16

Ordnungsrelationen

Definition 2.8.1. Eine Relation R ⊂ X × X heißt Ordnungsrelation auf der Menge X, falls sie • reflexiv ist, d.h. falls f¨ur alle x ∈ X gilt (x, x) ∈ R, • transitiv ist, d.h. falls f¨ur alle x, y, z ∈ X gilt aus (x, y) ∈ R und (y, z) ∈ R folgt (x, z) ∈ R, • antisymmetrisch ist, d.h. falls f¨ ur alle x, y ∈ X gilt aus (x, y) ∈ R und (y, x) ∈ R folgt x = y. In diesem Fall schreibt man anstatt (a, b) ∈ R a ≤ b.

2.8. Ordnungsrelationen

60

Definition 2.8.2. Eine Ordnungsrelation R ⊂ X × X heißt vollst¨ andig oder eine Totalordnung, falls sie • vollst¨ andig ist, d.h. falls f¨ur alle x, y ∈ X gilt (x, y) ∈ R oder (y, x) ∈ R. Beispiele 2.8.3. 1. Auf den Mengen X = N bzw. N0 , Z, Q, R ist durch die nat¨ urliche Ordnung a ≤ b :⇐⇒ b − a ist nicht negativ, a, b ∈ X, eine Totalordnung definiert. 2. Auf der Mengen X = N der nat¨ urlichen Zahlen ist durch n  m :⇐⇒ n | m (sprich: n teilt m oder n ist ein Teiler von m) eine Ordungsrelation definiert. Diese Ordungsrelation auf der Menge der nat¨ urlichen Zahlen ist aber keine Totalordnung, denn z. B. sind die Zahlen 5 und 6 bzgl. der Teilbarkeit nicht miteinander vergleichbar. 3. Es sei X eine nichtleere Menge, welche durch die Relation ≤ geordnet ist. Dann wird durch  (x1 , x2 , . . . , xn ) ≤ (y1 , y2, . . . , yn )  x1 < y1     oder x1 = y1 ∧ x2 < y2    oder x1 = y1 ∧ x2 = y2 und x3 < y3 :⇐⇒ oder    ..   .    oder x = y ∧ . . . ∧ x 1 1 n−1 = yn−1 ∧ xn < yn

eine Ordnungsrelation auf dem n−fachen kartesischen Produkt X n definiert. Diese Ordnungsrelation nennt man die lexikografische Ordnung auf der Menge X n . Ist die Menge X durch ≤ sogar totalgeordnet, so ist auch die lexikografische Ordnung auf der Menge X n eine Totalordnung. Die lexikografische Ordnung kennt jeder von Karteikartensystemen z. B. in Bibliotheken. Alle B¨ ucher werden (innerhalb einer Fachgruppe) nach Verfassernamen sortiert

2.8. Ordnungsrelationen

61

aufgestellt, zuerst die Verfasser, deren Namen mit dem Buchstaben a beginnen, dann diejenigen, deren Namen mit dem Buchstaben b beginnen, usw.. Die Menge X ist hier also das Alphabet, die Totalordnung auf X die nat¨ urliche Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet. Stimmen die Anfangsbuchstaben von zwei Verfassern u ¨berein, so entscheidet der zweite Buchstabe des Verfassernamens u ucher. F¨ahrt man so fort, bekommt ¨ber die Einsortierung der B¨ jedes Buch einen Platz im Regal und kann anhand der Kartei schnell wieder aufgefunden werden. Es ist hierbei zu beachten, dass sich in diesem Beispiel trotzdem keine Totalordnung auf der Menge der B¨ ucher ergibt, da z. B. viele B¨ ucher in mehreren Exemplaren vorhanden sind. Um eine Totalordnung zu erreichen, k¨onnte man z. B. die Inventarnummern heranziehen. Definition 2.8.4 (Pr¨aferenzrelation). Es sei X eine nichtleere Menge. Eine Relation R ⊂ X × X heißt eine Pr¨ aferenzrelation auf X, falls sie • reflexiv ist, d.h. falls f¨ur alle x ∈ X gilt (x, x) ∈ R, • transitiv ist, d.h. falls f¨ur alle x, y, z ∈ X gilt aus (x, y) ∈ R und (y, z) ∈ R folgt (x, z) ∈ R, • vollst¨ andig ist, d.h. falls f¨ur alle x, y ∈ X gilt (x, y) ∈ R oder (y, x) ∈ R. In diesem Fall schreibt man a  b und sagt: a ist h¨ochstens so gut wie b, oder b ist mindestens so gut wie a. Beispiel 2.8.5. Es sei X = {a, b, c, d, e}. Dann wird durch • a  b, a ist h¨ochstens so gut wie b, • b  c, b ist h¨ochstens so gut wie c, • c  d, d  c, c und d sind gleich gut, • e  a, e ist h¨ochstens so gut wie a, eine Pr¨aferenzrelation auf der Menge X erzeugt. Man beachte, dass die Forderung der Reflexivit¨at zu den Beziehungen a  a, b  b, c  c, d  d, e  e

2.8. Ordnungsrelationen

62

und die Forderung der Transitivit¨at zu den Forderungen a  c, a  d, b  d, e  b, e  c, e  d f¨ uhrt. Die Relation ist in dem folgenden Bild dargestellt. X

6 e

e

e

e

e

u

d

u

u

u

u

u

c

u

u

u

u

u

b

u

u

e

e

u

a

u

e

e

e

u -

a

c

b

d

e

X

Zum Abschluss wird noch eine Aufgabe zum Thema Relationen, welche vor vielen Jahren in einer Klausur gestellt wurde, behandelt. Aufgabe (alte Klausuraufgabe) Es sei X die Menge aller in Karlsruhe gemeldeten Personen. Auf der Menge X werden die beiden folgenden Relationen definiert: (1) xR1 y :⇐⇒ x hat den gleichen Vater wie y; (2) xR2 y :⇐⇒ x ist Tochter von y. Untersuchen Sie diese beiden Relationen auf Reflexivit¨at, Symmetrie, Antisymmetrie und Transitivit¨at. L¨ osung:

R1 ist R2 ist

reflexiv ja nein

symmetrisch

×

× ×

ja

nein

×

antisymmetrisch ja

×

transitiv

nein

ja

×

×

nein

×

Kapitel 3 Polynome 3.1

Das Rechnen mit Polynomen

Polynome, genauer Polynomfunktionen, in einer Variablen bilden die ”einfachste” große Klasse von Funktionen, deren Graphen schon in der Schule im Rahmen der Differentialrechnung (Stichwort: Kurvendiskussion) n¨aher untersucht werden. Polynome spielen eine zentrale Rolle in vielen Zweigen der Mathematik. Definition 3.1.1. Vorgegeben seien eine nat¨urliche Zahl n ∈ N0 und reelle Zahlen a0 , a1 , a2 , . . . , an−1 , an ∈ R. Ein (reelles) Polynom (in einer Variablen) f (X) ¨ uber den reellen Zahlen ist ein Rechenausdruck der Form f (X) = a0 + a1 · X + a2 · X 2 + . . . + an−1 · X n−1 + an · X n .

Die Zahlen a0 , a1 , a2 , . . . , an−1 , an ∈ R heißen die Koeffizienten des Polynoms f . Gilt an 6= 0, so nennt man n den Grad des Polynoms f und schreibt grad(f ) = deg(f ) = n.

Dem Nullpolynom g = 0 wird der Grad −∞ zugewiesen. Manche Autoren weisen dem Nullpolynom keinen Grad zu. Mit Hilfe der Summennotation l¨aßt sich ein Polynom in der handlicheren Form n P f (X) = ak · X k = a0 + a1 · X + a2 · X 2 + . . . + an−1 · X n−1 + an · X n k=0

schreiben. Die Menge aller reellen Polynome in der Variablen X wird mit R[X] bezeichnet, also n P R[X] = { ak · X k : a0 , a1 , a2 , . . . , an−1 , an ∈ R, n ∈ N0 }. k=0

Beachte: Die Menge R der reellen Zahlen ist eine Teilmenge der Menge aller reellen Polynome: R ⊂ R[X]. Eine reelle Zahl, aufgefasst als Polynom, nennt man auch eine Konstante. 63

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

64

Definition 3.1.2. Es sei n P f (X) = ak · X k = a0 + a1 · X + a2 · X 2 + . . . + an−1 · X n−1 + an · X n ∈ R[X] k=0

ein reelles Polynom. Dann wird durch f eine Funktion, die zugeh¨orige Polynomfunktion, welche wieder mit dem Buchstaben f bezeichnet wird, definiert   R → R, n P f: ak · xk .  x 7→ f (x) = k=0

Die Polynomfunktion f entsteht aus dem Polynom f (X), indem in dem Rechenausdruck f (X) ∈ R[X] f¨ur die Variable X beliebige reelle Zahlen x ∈ R eingesetzt werden.

Beachte: Es muss zun¨achst sauber getrennt werden zwischen den beiden Begriffen Polynom und Polynomfunktion, denn es ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob zwei verschiedene Polynome (Rechenausdr¨ ucke) zu derselben Polynomfunktion f¨ uhren k¨onnen. Wir werden sehen, dass dies f¨ ur reelle Polynome nicht eintritt, so dass wir sp¨ater im Bereich der reellen Analysis (Differential- und Integralrechnung) nur von Polynomen reden werden, aber stets Polynomfunktionen meinen. In anderen Teilen der Mathematik (z.B. in der Codierungstheorie), in denen Polynome als Rechenausdr¨ ucke u ¨ber anderen Rechenbereiche betrachtet werden, kann dies aber zu Fehlern f¨ uhren. Wir werden uns in diesem Kapitel ausschließlich auf Polynome u ¨ ber dem Rechenbereich der reellen Zahlen beschr¨anken. Definition 3.1.3 (Addition in R[X]). Auf der Menge R[X] aller Polynome l¨aßt sich eine Addition + : R[X] × R[X] → R[X], (f, g) 7→ f + g, definieren. Sind f (X) = a0 + a1 · X + a2 · X 2 + . . . + an−1 · X n−1 + an · X n ∈ R[X] und g(X) = b0 + b1 · X + b2 · X 2 + . . . + bm−1 · X m−1 + bm · X m ∈ R[X] zwei reelle Polynome und gilt m ≤ n, so ist die Summe f + g definiert durch (f + g)(X) = (a0 + b0 ) + (a1 + b1 ) · X + (a2 + b2 ) · X 2 + . . . + (am−1 + bm−1 ) · X m−1 +(am + bm ) · X m + am+1 · X m+1 + . . . + an · X n .

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

65

Beachte Setzt man bk = 0 f¨ ur k = m + 1, m + 2, . . . , n, so l¨aßt sich die Addition von f und g in Summenschreibweise u ¨bersichtlicher schreiben in der Form n m n n n P P P P P (f + g)(X) = ak · X k + bk · X k = ak · X k + bk · X k = (ak + bk ) · X k . k=0

k=0

k=0

k=0

k=0

Beachte Die Polynomfunktion, welche zur Summe f + g geh¨ort, ist dann definiert durch   R → R, n m P P f +g : ak · xk + bk · xk .  x 7→ (f + g)(x) = f (x) + g(x) = k=0

k=0

Beispiel 3.1.4. Die Summe der beiden Polynome

f (X) = 3 · X 4 − X 3 + 5 · X + 1

und

g(X) = −3 · X 4 + 2 · X 2 − 3 · X + 2

lautet f (X) + g(X) = −X 3 + 2 · X 2 + 2 · X + 3. Bemerkung 3.1.5. Sind f, g ∈ R[X] zwei (reelle) Polynome, so gilt

grad(f + g) ≤ max (grad(f ), grad(g)).

Bemerkungen 3.1.6 (Rechengesetze f¨ ur die Addition). F¨ur die Addition von Polynomen gelten die folgenden Rechenregeln. • Das Assoziativgesetz der Addition F¨ur alle f, g, h ∈ R[X] gilt (f + g) + h = f + (g + h), dies bedeutet, dass man die Addition mehrerer Polynome klammerfrei notieren kann. • Das Kommutativgesetz der Addition F¨ur alle f, g ∈ R[X] gilt f + g = g + f, dies bedeutet, dass die Reihenfolge der Summanden bei einer Addition von Polynomen gleichg¨ultig ist.

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

66

• Die Existenz eines neutralen Elements (bzgl. der Addition): 0 = Null (Nullpolynom), 0 + f = f + 0 f¨ ur alle f ∈ R[X]. Beachte: Die zum Nullpolynom geh¨orende Polynomfunktion ist die Funktion konstant gleich 0, also die Funktion 0 : R → R, x 7→ 0(x) = 0. • Es gibt eine Inversenbildung bzgl. der Addition (Einf¨ uhrung der Subtraktion), d.h. zu jedem Polynom f ∈ R[X] gibt es ein Polynom (−f ) ∈ R[X] mit f − f = f + (−f ) = (−f ) + f = 0. Beachte: Ist das Polynom f ∈ R[X] gegeben durch f (X) = a0 +a1 ·X+a2 ·X 2 +. . .+an−1 ·X n−1 +an ·X n , a0 , a1 , a2 , . . . , an−1 , an ∈ R, so gilt f¨ ur das zu f additiv inverse Polynom (−f ) ∈ R[x] (−f )(X) = −f (X) = −a0 − a1 · X − a2 · X 2 − . . . − an−1 · X n−1 − an · X n . Definition 3.1.7 (Multiplikation in R[X]). Es seien f (X) = a0 + a1 · X + a2 · X 2 + . . .+ an−1 · X n−1 + an · X n = und g(X) = b0 +b1 ·X +b2 ·X 2 +. . .+bm−1 ·X m−1 +bm ·X m =

n P

i=0 m P

j=0

ai · X i ∈ R[X], n ∈ N0 ,

bj ·X j ∈ R[X], m ∈ N0 .

Dann ist das Produkt f · g ∈ R[X] definiert durch !  n n+m m P P P ck · X k bj · X j = (f · g)(X) = f (X) · g(X) = ai · X i · j=0

i=0

mit

ck =

P

i+j=k

k=0

ai · bj ,

wobei in der letzten Summe zu summieren ist ¨ uber alle Paare (i, j) ∈ {1, 2, . . . , n} × {1, 2, . . . , m} mit i + j = k.

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

67

Beachte Das Produkt entsteht, wenn man den Rechenausdruck f (X) · g(X) distributiv ausmultipliziert. Dieses ist im Folgenden exemplarisch f¨ ur die beiden Polynome f (X) = a4 · X 4 + a3 · X 3 + a2 · X 2 + a1 · X + a0 und g(X) = b3 · X 3 + b2 · X 2 + b1 · X + b0 durchgef¨ uhrt. Es gilt (f · g)(X) = f (X) · g(X)

  = a4 · X 4 + a3 · X 3 + a2 · X 2 + a1 · X + a0 · b3 · X 3 + b2 · X 2 + b1 · X + b0 = (a4 · b3 ) · X 7

+ (a4 · b2 + a3 · b3 ) · X 6

+ (a4 · b1 + a3 · b2 + a2 · b3 ) · X 5

+ (a4 · b0 + a3 · b1 + a2 · b2 + a1 · b3 ) · X 4 + (a3 · b0 + a2 · b1 + a1 · b2 + a0 · b3 ) · X 3 + (a2 · b0 + a1 · b1 + a0 · b2 ) · X 2 + (a1 · b0 + a0 · b1 ) · X + (a0 · b0 ) .

Setzt man ai = 0 f¨ ur alle i > n

und

bj = 0 f¨ ur alle j > m,

so lassen sich die Koeffizienten ck , 0 ≤ k ≤ n + m, welche sich bei der Multiplikation der beiden Polynome f (X) =

n P

ai · X i

m P

bj · X j

i=0

und g(X) =

j=0

ergeben, u ¨bersichtlicher schreiben in der Form ck =

k P

i=0

ai · bk−i ,

k = 0, 1, 2, . . . , n + m.

Man beachte die G¨ ultigkeit von ck =

k P

i=0

ai · bk−i =

k P

j=0

ak−j · bj ,

0 ≤ k ≤ n + m.

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

68

F¨ ur die beiden Polynome f (X) = a4 · X 4 + a3 · X 3 + a2 · X 2 + a1 · X + a0 und g(X) = b3 · X 3 + b2 · X 2 + b1 · X + b0 ist dies im Folgenden wieder exemplarisch durchgef¨ uhrt. (f · g)(X) = f (X) · g(X)

  = a4 · X 4 + a3 · X 3 + a2 · X 2 + a1 · X + a0 · b3 · X 3 + b2 · X 2 + b1 · X + b0 



=  a7 ·b0 + a6 ·b1 + a5 ·b2 + a4 · b3 + a3 · b4 +a2 · b5 +a1 · b6 +a0 · b7  ·X 7 |{z} |{z} |{z} |{z} |{z} |{z} |{z} =0 =0 =0 =0 =0 =0 | =0 {z } =c7   +  a6 ·b0 + a5 ·b1 + a4 · b2 + a3 · b3 + a2 · b4 +a1 · b5 +a0 · b6  ·X 6 |{z} |{z} |{z} |{z} |{z} =0 =0 =0 =0 =0 | {z } =c6   +  a5 ·b0 + a4 · b1 + a3 · b2 + a2 · b3 + a1 · b4 +a0 · b5  ·X 5 |{z} |{z} |{z} =0 =0 =0 | {z } =c5   + a4 · b0 + a3 · b1 + a2 · b2 + a1 · b3 + a0 · b4  ·X 4 |{z} =0 | {z } =c4

+ (a3 · b0 + a2 · b1 + a1 · b2 + a0 · b3 ) ·X 3 | {z } =c3

+ (a2 · b0 + a1 · b1 + a0 · b2 ) ·X 2 | {z } =c2

+ (a1 · b0 + a0 · b1 ) ·X | {z } =c1

+ (a0 · b0 ) | {z } =c0 7

= c7 · X + c6 · X 6 + c5 · X 5 + c4 · X 4 + c3 · X 3 + c2 · X 2 + c1 · X + c0 =

7 X k=0

ck · X k .

3.1. Das Rechnen mit Polynomen

69

Bemerkung 3.1.8. Sind f, g ∈ R[X] zwei (reelle) Polynome, so gilt grad(f · g) = grad(f ) + grad(g). Beispiel 3.1.9. Das Produkt der beiden Polynome f (X) = 2 · X 3 − x + 3

und

g(X) = X 4 + 3 · X 3 − X 2 − 1

lautet   f · g(X) = f (X) · g(X) = 2 · X 3 − X + 3 · X 4 + 3 · X 3 − X 2 − 1

= 2 · X7 + 6 · X6 − 2 · X5 − 2 · X3 − X5 − 3 · X4 + X3 + X + 3 · X4 + 9 · X3 − 3 · X2 − 3

= 2 · X 7 + 6 · X 6 − 3 · X 5 + 8 · X 3 − 3 · X 2 + X − 3.

Bemerkungen 3.1.10. F¨ur die Multiplikation von Polynomen · : R[X] × R[X] → R[X], (f, g) 7→ f · g, gelten die folgenden Rechengesetze. • Das Assoziativgesetz der Multiplikation F¨ur alle f, g, h ∈ R[X] gilt (f · g) · h = f · (g · h), dies bedeutet, dass man die Multiplikation mehrerer Polynome klammerfrei notieren kann. • Das Kommutativgesetz der Multiplikation F¨ur alle f, g ∈ R[X] gilt f · g = g · f, dies bedeutet, dass die Reihenfolge der Faktoren bei einer Multiplikation von Polynomen gleichg¨ultig ist. • Die Existenz eines neutralen Elements (bzgl. der Multiplikation): 1 = Eins (jetzt aufgefasst als Polynom), 1 · f = f · 1 = f f¨ ur alle f ∈ R[X].

3.2. Teilbarkeit im Polynomring

70

Bemerkungen 3.1.11 (Distributivgesetze). Die Verbindung zwischen der Addition und der Multiplikation von Polynomen wird wieder hergestellt durch die beiden Distributivgesetze • erstes Distributivgesetz f · (g + h) = f · g + f · h f¨ ur alle f, g, h ∈ R[X] und • zweites Distributivgesetz (f + g) · h = f · h + g · h f¨ ur alle f, g, h ∈ R[X]. Beachte Die oben aufgef¨ uhrten Rechengesetze f¨ ur Polynome sind auch richtig im Bereich der zugeh¨origen Polynomfunktionen. Dabei ist die Addition von zwei reellwertigen Abbildungen f und g definiert durch f + g : R → R, x 7→ (f + g)(x) = f (x) + g(x),

und die Multiplikation durch

f · g : R → R, x 7→ (f · g)(x) = f (x) · g(x).

Beachte Aus dem bisher Gesagten folgt, dass wie die Menge Z der ganzen Zahlen auch die Menge der (reellen) Polynome in einer Variablen, versehen mit den oben definierten Addition und Multiplikation einen kommutativen Ring mit Eins bildet, den Polynomring R[X] in einer Variablen X u ¨ber dem Konstantenbereich R. Dieser Ring ist wieder nullteilerfrei, denn f¨ ur f, g ∈ R[X] gilt aus f · g = 0 folgt f = 0 oder g = 0.

Das Tripel (R[X], +, ·) bildet also genauso wie der Ring Z der ganzen Zahlen einen Integrit¨atsbereich.

3.2

Teilbarkeit im Polynomring

Wie im Integrit¨atsbereich Z gilt auch im Polynomring R[X] ein Satz von der Division mit Rest. Satz 3.2.1. Es seien f (X), g(X) ∈ R[X] zwei Polynome, und es gelte g(X) 6= 0 (gemeint ist hier, dass das Polynom g verschieden vom Nullpolynom sein soll!). Dann gibt es eindeutig bestimmte Polynome q(X), r(X) ∈ R[X] mit f (X) = q(X) · g(X) + r(X) und 0 ≤ grad(r(X)) < grad(g(X)) oder r(X) = 0.

3.2. Teilbarkeit im Polynomring

71

Bemerkung 3.2.2 (Teilbarkeit). Gilt bei der obigen Division r(X) = 0, also f (X) = q(X) · g(X), so sagt man, dass das Polynom g(X) ein Teiler des Polynoms f (X) ist, oder dass das Polynom f (X) durch das Polynom g(X) teilbar ist. Sind f (X), g(X) ∈ R[X] zwei Polynome, so schreibt man wieder g(X) | f (X), falls es ein Polynom q(X) ∈ R[X] gibt mit f (X) = q(X) · g(X). Die Eigenschaften der Teilbarkeitsbeziehung, welche wir schon im Integrit¨atsbereich Z notiert haben, bleiben auch im Polynomring R[X] erhalten. Wir verzichten darauf, diese an dieser Stelle nochmals aufzuf¨ uhren. Um f¨ ur vorgegebene Polynome f (X), g(X) ∈ R[X], g(X) 6= 0, die Polynome q(X), r(X) ∈ R[X] gem¨aß dem Satz von der Division mit Rest zu bestimmen, wird der aus der Schule bekannte Divisionsalgorithmus f¨ ur Polynome durchgef¨ uhrt. Dieser wird im folgenden Beispiel exemplarisch vorgef¨ uhrt. Beispiel 3.2.3. Es seien f (X) = 2 · X 4 + 3 · X 3 + X 2 − 2 · x + 1 und g(X) = X 2 − X + 3. Polynomdivision ergibt 2 · X4 2 · X4

+ −

3 · X3 2 · X3 5 · X3 5 · X3

+ + − −

X2 6 · X2 5 · X2 5 · X2



2·X

+

1

− + −

2·X 15 · X 17 · X

+

1

+

1

:

X2 − X + 3

=

2 · X2 + 5 · X

Folglich gilt f (X) = (2 · X 2 + 5 · X) ·g(X) + (−17 · X + 1). | {z } | {z } =q(X)

=r(X)

Der Satz von der Division mit Rest im Polynomring hat eine wichtige Konsequenz, welche im folgenden Satz formuliert ist. Satz 3.2.4 (Division mit Rest im Polynomring). Es sei f (X) ∈ R[X], f (X) 6= 0, ein von 0 verschiedenes Polynom. Dann besitzt die zugeh¨orige Polynomfunktion f (x) genau dann eine Nullstelle an der Stelle a ∈ R, falls es ein Polynom q(X) ∈ R[X] gibt mit f (X) = q(X) · (X − a), falls also das Polynom f (X) durch das lineare Polynom (X − a) teilbar ist.

3.2. Teilbarkeit im Polynomring

72

Beweis: Gilt f (X) = q(X) · (X − a) f¨ ur ein Polynom q(X) ∈ R[X], so erh¨alt man durch einsetzen sofort f (a) = q(a) · (a − a) = q(a) · 0 = 0. Es sei jetzt umgekehrt a ∈ R eine Nullstelle des Polynoms f (X) (genauer der zugeh¨origen Polynomfunktion). Division mit Rest ergibt f (X) = q(X) · (X − a) + r(X) mit q(X), r(X) ∈ R[X] und 0 ≤ grad(r(X)) < 1 oder r(X) = 0. Es folgt f (X) = q(X) · (X − a) + r mit q(X) ∈ R[X] und r ∈ R. Einsetzen von a ergibt 0 = f (a) = q(a) · (a − a) + r = q(a) · 0 + r = r, also f (X) = q(X) · (X − a), was zu beweisen war. Folgerung 3.2.5. Ist f (X) ∈ R[X] ein Polynom vom Grad n ∈ N, so besitzt f (X) h¨ochstens n verschiedene Nullstellen. Beispiel 3.2.6. Wie man leicht nachrechnet, besitzt das Polynom f (X) = X 4 + X 3 − 5 · X 2 + X − 6 ∈ R[X] die Nullstelle x1 = 2. Polynomdivision ergibt f (X) = g(X) · (X − 2) mit g(X) = X 3 + 3 · X 2 + X + 3. Das Polynom g(X) ∈ R[X] besitzt die Nullstelle x2 = −3. Eine weitere Polynomdivision ergibt g(X) = (X 2 + 1) · (X + 3).

3.2. Teilbarkeit im Polynomring

73

Insgesamt folgt f (X) = X 4 + X 3 − 5 · X 2 + X − 6 = (X − 2) · (X + 3) · (X 2 + 1), das Polynom f (X) besitzt also zwei Nullstellen: x1 = 2 und x2 = −3. Unten sehen Sie ein Schaubild des Graphen der zugeh¨origen Polynomfunktion f : R → R, x 7→ f (x) = x4 + x3 − 5 · x2 + x − 6.

200

150 Y 100

50

–4

–3

–2

–1

0

1

2

3

4

X

Schaubild der Graphen der Funktion f (x) = x4 + x3 − 5 · x2 + x − 6 f¨ ur x ∈ [−4, 4]. Folgerung 3.2.7 (Identit¨atssatz f¨ ur Polynome). Es seien f (X), g(X) ∈ R[X] zwei Polynome. F¨ ur die zugeh¨origen Polynomfunktionen   R → R, R → R, f: und g : x 7→ f (x), x 7→ g(x), gelte f (x) = g(x) f¨ ur alle x ∈ R. Dann sind die beiden Polynome gleich, d.h. in R[X] gilt f (X) = g(X). Die Aussage der Folgerung, besagt, dass es im Bereich der reellen Polynome eine bijektive Zuordnung zwischen den Polynomen und den zugeh¨origen Polynomfunktionen gibt. Solange wir uns im Bereich der reellen Polynome aufhalten, brauchen wir daher keine Unterscheidung zwischen Polynomen und den zugeh¨origen Polynomfunktionen machen. Wir werden daher im Folgenden auch nur von (reellen) Polynomen sprechen.

3.3. Interpolation

74

Bemerkungen 3.2.8 (Nullstellen von Polynomen). Ein ausserordentlich wichtiges Grundproblem beim Rechnen mit Polynomen ist die Nullstellenbestimmung. Das Auffinden von Formeln f¨ ur die Nullstellen von vorgelegten Polynomen, sogenannte Aufl¨ osungsformeln, war ab dem ausgehenden Mittelalter eine der Hauptuntersuchungsgegenst¨ande in der aufkommenden Algebra. • Einen ersten Erfolg erzielte der franz¨osische Jurist und Mathematiker Francois Viete (Vieta) (1540 - 1603) mit der Angabe einer Aufl¨osungsformel f¨ ur Polynome f (x) = x2 + a · x + b = 0, a, b ∈ R, vom Grad 2, sie lautet x1/2

a =− ± 2

r

a2 − b, falls a2 − 4 · b ≥ 0. 4

Im Fall a2 − 4 · b < 0 besitzt das Polynom f (x) keine reellen Nullstellen. • Der italienische Arzt, Philosoph und Mathematiker Geranimo (Girolamo) Cardano (1501 - 1576) gab Aufl¨osungsformeln f¨ ur Polynome dritten und vierten Grades an, die Formeln stammen aber urspr¨ unglich nicht von ihm. Beide Formeln sind f¨ ur das praktische Rechnen zu kompliziert, sie haben daher nur theoretische Bedeutung. • Die Frage nach der Existenz von allgemeing¨ ultigen Aufl¨osungsformeln f¨ ur Polynome h¨oheren Grades wurde erst am Beginn des 19. Jhs. beantwortet. Der jung verstorbene norwegische Mathematiker Niels Henrik Abel (1802 - 1829) bewies, dass es ab dem Grad 5 keine allgemeing¨ ultigen Aufl¨osungsformeln geben kann.

3.3

Interpolation

Eine in der Praxis h¨aufiger auftretende Aufgabe ist die Folgende. Vorgegeben seien n paarweise verschiedene Punkte a1 , a2 , . . . , an ∈ R,

ai 6= aj f¨ ur i 6= j, i, j = 1, . . . , n,

Gesucht ist eine Funktion f : R → R, x 7→ y = f (x), mit f (aj ) = bj f¨ ur j = 1, . . . , n,

n ∈ N.

3.3. Interpolation

75

dabei seien b1 , . . . , bn ∈ R vorgeschriebene Werte. Gesucht ist also eine Funktion f , deren Graph durch die vorgegebenen Punkte (a1 , b1 ), . . . , (an , bn ) verl¨auft. Eine solche Aufgabe nennt man eine Interpolationsaufgabe. Nat¨ urlich gibt es sehr viele verschiedene Funktionen, die das Verlangte tun. Daher wird man sich meistens auf eine bestimmte Klasse von Funktionen einschr¨anken, z. B. auf die Klasse der (reellen) Polynome. Man spricht dann von einer Polynominterpolation. Im Folgenden wird f¨ ur vorgegebene Punkte (a1 , b1 ), . . . , (an , bn ) ∈ R2 mit ai 6= aj f¨ ur i 6= j, i, j = 1, . . . , n, n ∈ N ein Polynom angegeben, das sogenannte Interpolationspolynom von Lagrange, f¨ ur das f (aj ) = bj f¨ ur j = 1, . . . , n, gilt. Man bilde hierzu zun¨achst f¨ ur j = 1, . . . , n die Polynome Lj (x) =

n Y

i=1,i6=j

x − ai ∈ R[x]. aj − ai

Beachte 1. Da die Punkte a1 , a2 , . . . , an als paarweise verschieden vorausgesetzt sind, gilt stets aj − ai 6= 0 f¨ ur i 6= j, es wird also nirgends durch 0 dividiert. 2. Das Produkt besteht aus (n − 1) Faktoren, es gilt folglich grad(Lj (x)) = n − 1,

j = 1, . . . , n.

3. F¨ ur k = 1, . . . , n gilt Lj (ak ) =



0, 1,

falls k 6= j, falls k = j.

Zum besseren Verst¨andnis sind im Folgenden f¨ ur n = 4 und Punkte a1 , a2 , a3 , a4 ∈ R, a1 6= a2 , a3 , a4 , a2 6= a3 , a4 , a3 6= a4 , die vier Polynome Lj (x), j = 1, 2, 3, 4, ausgeschrieben.

3.3. Interpolation

76

(x − a2 ) · (x − a3 ) · (x − a4 ) , (a1 − a2 ) · (a1 − a3 ) · (a1 − a4 ) (x − a1 ) · (x − a3 ) · (x − a4 ) L2 (x) = , (a2 − a1 ) · (a2 − a3 ) · (a2 − a4 ) (x − a1 ) · (x − a2 ) · (x − a4 ) L3 (x) = , (a3 − a1 ) · (a3 − a2 ) · (a3 − a4 ) (x − a1 ) · (x − a2 ) · (x − a3 ) L4 (x) = , (a4 − a1 ) · (a4 − a2 ) · (a4 − a3 )

L1 (x) =

L1 (a1 ) = 1, L1 (a2 ) = 0, L1 (a3 ) = 0, L1 (a4 ) = 0, L2 (a1 ) = 0, L2 (a2 ) = 1, L2 (a3 ) = 0, L2 (a4 ) = 0, L1 (a1 ) = 0, L1 (a2 ) = 0, L1 (a3 ) = 1, L1 (a4 ) = 0, L1 (a1 ) = 0, L1 (a2 ) = 0, L1 (a3 ) = 0, L1 (a4 ) = 1.

Das Interpolationspolynom nach Lagrange lautet jetzt L(x) =

n X j=1

Beachte

bj · Lj (x) =

n X j=1

bj ·

n Y

i=1,i6=j

! x − ai . aj − ai

1. Es gilt grad(L(x)) ≤ n − 1. 2. F¨ ur k = 1, . . . , n gilt L(ak ) =

n X j=1

bj · Lj (ak ) = bk .

Damit ist die gestellt Interpolationsaufgabe gel¨ost. Beispiel 3.3.1. Es seien Dann gilt

a1 = −2, a2 = −1, a3 = 2, a4 = 3. (x + 1) · (x − 2) · (x − 3) , 20 (x + 2) · (x − 2) · (x − 3) L2 (x) = , 12 (x + 2) · (x + 1) · (x − 3) L3 (x) = − , 12 (x + 2) · (x + 1) · (x − 2) L4 (x) = . 20

L1 (x) = −

F¨ ur b1 = 3, b2 = 2, b3 = −2, b4 = −1,

3.3. Interpolation

77

ergibt sich das Interpolationspolynom nach Lagrange zu L(x) = b1 · L1 (x) + b2 · L2 (x) + b3 · L3 (x) + b4 · L4 (x) 2 1 107 3 = · x3 + · x2 − ·x+ . 15 20 60 10

3

2

1

–4

–3

–2

–1

1

2

3

4

x –1

–2

Schaubild der Graphen des Polynoms L(x) f¨ ur x ∈ [−4, 4]. Beachte Sind f, g ∈ R[x] zwei Polynome, welche die gestellte Interpolationsaufgabe l¨osen, welche also f¨ ur k = 1, . . . , n die Bedingungen f (ak ) = bk = g(ak ) erf¨ ullen, so folgt f (ak ) − g(ak ) = 0 f¨ ur k = 1, . . . , n. Das Polynom f − g ∈ R[x] besitzt folglich die n paarweise verschiedene Nullstellen a1 , . . . , an . Mit Hilfe von Satz 3.2.4. erh¨alt man hieraus die Darstellung f (x) − g(x) = (x − a1 ) · . . . · (x − an ) · q(x) mit einem Polynom q ∈ R[x]. Wegen grad((x − a1 ) · . . . · (x − an )) = n folgt hieraus, dass sich zwei verschiedene Polynome f und g, welche die gestellte Interpolationsaufgabe l¨osen, sich um ein Polynom unterscheiden, welches mindestens den Grad n hat. Wegen grad(L(x)) ≤ n − 1 ist das Interpolationspolynom von Lagrange das eindeutig bestimmte Polynom mit dem kleinsten Grad, welches die gestellte Interpolationsaufgabe l¨ost.

3.4. Ableitungen von Polynomen

3.4

78

Ableitungen von Polynomen

Schon in der Schule (vergl. die Einheit Kurvendiskussion) wird die Ableitung einer Funktion f : R → R, x 7→ f (x),

in einem Punkt x = a, a ∈ R, als Grenzwert, falls existent, eingef¨ uhrt f (x) − f (a) f ′ (x) = lim . x→a x−a Die Funktion f heißt differenzierbar auf R, falls dieser Grenzwert in jedem Punkt a ∈ R existiert, und die Funktion f ′ : R → R, x 7→ f ′ (x),

nennt man die Ableitung der Funktion f . Ist die Ableitung f ′ wiederum differenzierbar, so kann man die zweite Ableitung f ′′ als Ableitung der Funktion f ′ bilden. F¨ahrt man sofort, so erh¨alt man die h¨oheren Ableitungen f ′′ , f ′′′ , f (4) , f (5) , . . . , f (n) , . . .. Jedes Polynom f (x) ∈ R[x] besitzt Ableitungen beliebiger Ordnung. Gilt

f (x) = a0 + a1 · x + a2 · x2 + a3 · x3 + . . . + an−1 · xn−1 + an · xn ∈ R[x], n ∈ N0 ,

so ist die Ableitung von f wieder ein Polynom, die Ableitung lautet

f ′ (x) = a1 + 2 · a2 · x + 3 · a3 · x2 + . . . + (n − 1) · an−1 · xn−2 + n · an · xn−1 .

Ist also f ein Polynom vom Grad n, n ∈ N, so ist die Ableitung f ′ von f ein Polynom vom Grad (n − 1). Definition 3.4.1. Ist

f : R → R, x 7→ y = f (x),

eine (auf R) differenzierbare Funktion mit der Ableitung f ′ : R → R, x 7→ f ′ (x),

so nennt man die Nullstellen der Ableitung f ′ die station¨ aren Punkte der Funktion f . Beachte Ist x0 ∈ R, so lautet die Gleichung der Tangente an den Graphen der Funktion f im Punkt (x0 y0 ) = (x0 , f (x0 ) y = y0 + f ′ (x0 ) · (x − x0 ).

Die station¨aren Punkte einer differenzierbaren Funktion f sind folglich genau die Punkte, in denen die Tangente parallel zur x-Achse verl¨auft.

3.4. Ableitungen von Polynomen

79

Beispiel 3.4.2. Es sei f (x) = 2 · x3 + 3 · x2 − 12 · x + 1,

x ∈ R.

Die Ableitung der Funktion f lautet f ′ (x) = 6 · x2 + 6 · x − 12 = 6 · (x − 1) · (x + 2),

x ∈ R.

Die Funktion f besitzt folglich die beiden station¨aren Punkte x1 = 1 und x2 = −2. Definition 3.4.3. Es sei f (x) = a0 + a1 · x + a2 · x2 + . . . + an−1 · xn−1 + an · xn ∈ R[x] ein reelles Polynom. Weiter sei x0 ∈ R eine Nullstelle des Polynoms f . Die Nullstelle x0 heißt eine k-fache Nullstelle, k ∈ N, falls es ein Polynom q ∈ R[x] gibt mit f (x) = (x − x0 )k · q(x)

und

q(x0 ) 6= 0 (also (x − x0 ) ∤ q(x)).

Bemerkung 3.4.4. Es seien f ∈ R[x] ein reelles Polynom und x0 ∈ R eine k-fache Nullstelle von f, k ∈ N. Dann ist x0 eine (k −1)-fache Nullstelle der Ableitung f ′ (x). Insbesondere ist im Fall k = 1 die Nullstelle x0 keine Nullstelle der Ableitung f ′ . Beweis: Stellt man das Polynom f wie oben dar in der Form f (x) = (x − x0 )k · q(x) mit q(x) ∈ R[x] und q(x0 ) 6= 0, so ergibt sich mit Hilfe der Produktregel f¨ ur die Ableitung f ′ (x) = k · (x − x0 )k−1 · q(x) + (x − x0 )k · q ′ (x)

= (x − x0 )k−1 · (k · q(x) + (x − x0 ) · q ′ (x)) . | {z } =e q (x)

Einsetzen von x = x0 ergibt

qe(x0 ) = k · q(x0 ) + (x0 − x0 ) · q ′ (x) = k · q(x0 ) 6= 0,

und dies bedeutet, dass die Ableitung f ′ (x) die (k − 1)-fache Nullstelle x0 besitzt.

3.4. Ableitungen von Polynomen

80

Aus der obigen Bemerkung folgt unmittelbar der folgende Satz. Satz 3.4.5. Es sei f ∈ R[x] ein reelles Polynom. Genau dann ist x0 ∈ R eine k-fache Nullstelle von f , wenn f¨ur die Funktion f und ihre Ableitungen gilt f (x0 ) = f ′ (x0 ) = . . . = f (k−1) (x0 ) = 0

und

f (k) (x0 ) 6= 0.

Definition 3.4.6 (Lokale Extremstellen). Eine Funktion f : R → R, x 7→ y = f (x), besitzt im Punkt x0 ∈ R • ein lokales Maximum, falls es ein ε > 0 gibt mit f (x) ≤ f (x0 ) f¨ur alle x ∈ R mit x0 − ε < x < x0 + ε, bzw. • ein lokales Minimum, falls es ein ε > 0 gibt mit f (x) ≥ f (x0 ) f¨ur alle x ∈ R mit x0 − ε < x < x0 + ε. Satz 3.4.7. Jede lokale Extremstelle (lokale Maximal- bzw. Minimalstelle) einer (auf R) differenzierbaren Funktion ist ein station¨arer Punkt der Funktion f . Beachte Wie das Beispiel f : R → R, x 7→ y = f (x) = x3 + 1, zeigt, ist aber nicht jeder station¨are Punkt einer Funktion f eine lokale Extremstelle von f . Wie man sofort nachrechnet, besitzt die Funktion f (x) = x3 + 1 im Punkt x0 = 0 einen station¨aren Punkt. Der Punkt x0 = 0 ist aber weder eine lokale Maximalstelle noch eine lokale Minimalstelle der Funktion f . Satz 3.4.8. Es seien f ∈ R[x]\R ein nichtkonstantes Polynom und x0 ∈ R ein station¨arer Punkt der Funktion f . Unter diesen Voraussetzungen ist x0 ∈ R eine k-fache Nullstelle des Polynoms g(x) = f (x) − f (x0 ), wobei k ≥ 2 gilt. Man beachte, dass f¨ ur die Ableitungen der Funktion g gilt g (j) (x) = f (j) (x) f¨ ur alle j ∈ N.

3.4. Ableitungen von Polynomen

81

Da x0 eine k-fache Nullstelle von g ist, folgt g(x) = (x − x0 )k · q(x) mit einem Polynom q ∈ R[x] mit q(x0 ) 6= 0, also f (x) = f (x0 ) + (x − x0 )k · q(x) mit einem Polynom q ∈ R[x] mit q(x0 ) 6= 0. Es k¨onnen mehrere F¨alle eintreten. 1. Fall Es sei k ≡ 0 (mod 2), also k = 2 · ℓ mit ℓ ∈ N, also f (x) = f (x0 ) + (x − x0 )2·ℓ · q(x) mit einem Polynom q ∈ R[x] mit q(x0 ) 6= 0. Fall 1.1. Es gelte q(x0 ) > 0, in diesem Fall besitzt die Funktion f im Punkt x0 eine lokale Minimalstelle. Fall 1.2. Es gelte q(x0 ) < 0, in diesem Fall besitzt die Funktion f im Punkt x0 eine lokale Maximalstelle. 2. Fall: Es sei k ≡ 1 (mod 2), also k = 2 · ℓ + 1 mit ℓ ∈ N. In diesem Fall besitzt die Funktion f im Punkt x0 keine lokale Extremstelle. Beispiel 3.4.9. Es sei f (x) = x7 + 8 · x6 + 23 · x5 + 22 · x4 − 24 · x3 − 80 · x2 − 80 · x − 25 = 7 + (x + 2)4 · (x3 − x − 2), x ∈ R. | {z } =q(x)

Es gilt

f ′ (x) = (x + 2)3 · (7 · x3 + 6 · x2 − 5 · x − 10), f ′ (−2) = 0, f ′′ (x) = (x + 2)2 · (42 · x3 + 72 · x2 + 4 · x − 40), f ′′ (−2) = 0, f ′′′ (x) = 6 · (x + 2) · (35 · x3 + 90 · x2 + 50 · x − 12), f ′′′ (−2) = 0,

f (4) (x) = 840 · x3 + 2880 · x2 + 2760 · x + 528,

f (4) (−2) = −192 6= 0.

Folglich ist x0 = −2 eine 4-fache Nullstelle der Funktion f , und es gilt q(−2) = −8 + 2 − 2 − 8 < 0, also besitzt die Funktion f im Punkt x0 = −2 eine lokale Maximalstelle.