Tunnelblick. Die Olympischen Spiele im Fernsehen

http://www.mediaculture-online.de Autor: Gangloff, Tilmann P.. Titel: Tunnelblick. Die Olympischen Spiele im Fernsehen. Quelle: epd medien Nr. 87/200...
Author: Frank Fischer
0 downloads 1 Views 95KB Size
http://www.mediaculture-online.de

Autor: Gangloff, Tilmann P.. Titel: Tunnelblick. Die Olympischen Spiele im Fernsehen. Quelle: epd medien Nr. 87/2000. 2000. S. 7-9. Verlag: epd medien. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Tilmann P. Gangloff

Tunnelblick Die Olympischen Spiele im Fernsehen

"Wahnsinn": Wolf-Dieter Poschmann fehlten die Worte. "Wahnsinn", wiederholte er, und nach einer Weile des Schweigens: "unglaublich". Olympia macht halt doch am meisten Spaß, wenn ein deutscher Athlet eine Medaille holt, erst recht, wenn ihn keiner auf der Rechnung hatte; einer wie 800-Meter-Läufer Nils Schumann zum Beispiel. Dazu noch am selben Tag Gold für die Dressurreiterinnen und für Radfahrer Jan Ullrich: Olympia kann so schön sein. Und so grausam, jedenfalls aus deutscher Sicht: all die Eigentore oder Gegentore in letzter Minute bei Hockey, Fußball und Handball, die vielen vierten Plätze, die abgesoffenen Schwimmer, die geschlagenen Fechter: Wer Olympia auf Medaillen fürs eigene Land reduziert, hatte wenig Freude. Aber die Bilder! Wer sich den Luxus leisten konnte, stundenlang die Übertragungen aus Sydney zu verfolgen, sah nicht nur Sport auf höchstem Niveau. Bilder mit Gänsehauteffekt, Bilder mit Rührung oder mit beidem: der hundertausendfache Jubel, als Cathy Freeman das Olympische Feuer entzündet, nur noch übertroffen von der grenzenlosen Begeisterung, als sie zehn Tage später dem unglaublichen 1

http://www.mediaculture-online.de

Erwartungsdruck standhält und die Goldmedaille über 400 Meter gewinnt; der Freudentaumel von Nils Schumann, vom ZDF genüsslich kitschig mit dem Lied "Heroes live forever" unterlegt; die Fassungslosigkeit der deutschen Handballer, die wenige Sekunden vor dem Abpfiff von den Spaniern aus allen Medaillenträumen gerissen werden; Zehnkämpfer Maczey, der ausgerechnet an seinem Geburtstag in die erste Hürde kracht und später heulend im Arm des Vaters von Frank Busemann liegt; die entsetzte australische Geherin, die nach einer Distanz von knapp 20 Kilometern die Goldmedaille praktisch schon in der Hand hat und ein paar hundert Meter vor dem Ziel disqualifiziert wird; und viele, viele andere große Momente.

Wann immer ein Tränchen quillt: Großaufnahme! Olympia lebt von Emotionen, aber auch von Technik: Das australische Fernsehen präsentierte höchstes optisches Niveau; nicht zuletzt wegen der oftmals verblüffenden Perspektiven. Beim Schwimmen sauste eine Kamera über den Beckenboden und ermöglichte interessante Studien der unterschiedlichen Schwimmstile. Beim Stabhochsprung zeigte eine Kamera den Sprung aus der Froschperspektive, eine andere war ganz oben am Gestänge befestigt; hinzu kam eine Krankamera hinter der Sprunganlage. Beim Bogenschießen blickte man direkt durchs "Bull's Eye", durch das Zentrum der Zielscheibe, und sah die Pfeile auf sich zufliegen. Mehr Quoten aber bringen die Emotionen. Wo immer sich ein Tränchen ankündigte, folgte der aus dem Boulevard-Fernsehen oder schlechten Filmen bekannte Reflex: die Großaufnahme. Als eine rumänische Kugelstoßerin unmittelbar vor Beginn der Qualifikation wegen Dopings ausgeschlossen wird, bahnt sich die Kamera regelrecht einen Weg zu der Athletin, um möglichst nah an ihr Gesicht heranzukommen. "Muss das sein?" fragte am Abend dieses Tages Johannes B. Kerner; gezeigt hat er die Aufnahmen trotzdem, und im ZDF waren sie im Laufe des Tages immer wieder zu sehen. Für die Tränen von C.J. Hunter hatte man beim Fernsehen weniger Verständnis. Der amerikanische, Kugelstoßer war in Sydney gar nicht gemeldet, wurde dort aber von einer früheren positiven Dopingprobe eingeholt. Heulend beteuerte Hunter, Händchen haltend mit Ehefrau Marion Jones (Olympiasiegerin über 100 und 200 Meter), bei einer 2

http://www.mediaculture-online.de

Pressekonferenz seine Unschuld; "inszeniert" lautete das vernichtende Urteil in den Kommentaren. Weniger Probleme hatten die Reporter mit den Bekleidungsvorschriften. Was immer auch der olympische Gedanke zur Erotik meint, die Herren der Ringe haben ihren Standpunkt deutlich gemacht: Beim Beach-Volleyball ist der Bikini Pflicht; sogar die Größe des Höschens ist vorgeschrieben. Die Kommentatoren von Eurosport hatten offenbar ihren Spaß an den knappen Textilien und daher wenig Verständnis für die zaghaften Proteste der Sportlerinnen: "Wenn's dem Publikum doch gefällt...".

Je knapper die Frauentrikots, umso schöner Zu gucken gab's in der Tat eine Menge. Athletinnen, die ihre Medaillen vermarkten wollen, haben nun mal größere Chancen, wenn sie auch noch hübsch sind; das gilt im Übrigen für Männer nicht weniger. Trotzdem fiel natürlich auf, dass die Kameramänner gern von unten nach oben so manchen Frauenkörper abfuhren. Das Gegenteil von Ästhetik gab's auch: Gewichtheberinnen sind selten hübscher als ihre männlichen Kollegen, und kein Sender ließ sich den Gag nehmen, man müsse schon zweimal hinschauen, um den Unterschied zu erkennen. Übrigens ist es auch für die schönste Sprinterin eher von Nachteil, wenn man ihr verzerrtes Gesicht in Superzeitlupe zeigt. Dafür waren die Rahmenberichte von ARD und ZDF diesmal deutlich seltener ein Ärgernis als beim letzten sportlichen Großereignis im Fernsehen, der Fußballeuropameisterschaft. Zum Glück war in Sydney ständig was los, und wenn nix los war, war Nacht. ARD und ZDF fanden also gar keine Muße für jene peinlichen Versuche, mit denen während der EM die Zeit humoristisch totgeschlagen wurde. Kaum war der olympische Tag rum (bei uns zur Mittagszeit), ging's schon wieder von vorn los, diesmal mit der Zusammenfassung. Sowohl die Live-Berichte als auch die kompakten Rückblicke waren meist so packend und lebendig, dass man sogar gerne noch mal anschaute, was man gerade erst gesehen hatte. Das lag nicht nur an den Darbietungen. Beim Fußball wird ja mittlerweile auch das unwichtigste Spiel übertragen; die Stärken, vor allem jedoch die Schwächen der Reporter 3

http://www.mediaculture-online.de

sind hinlänglich bekannt. Die Experten für weitaus weniger populäre Sportarten aber hört man selbst als sportinteressierter Zuschauer ungleich seltener. Wie gut die sind, um wie vieles besser als ihre viel bekannteren Kollegen vom Fußball, stellt mancher tatsächlich nur alle vier Jahre fest. Und sie nutzen ihre Chance: Spielen sich nicht als Experten auf, sondern versuchen, der Randsportart ein bisschen Popularität zu verschaffen. Ausnahmen sind allerdings das Reiten und das Radfahren. Gerade aus dem Dressurreiten wird fast schon traditionell eine Art Geheimwissenschaft gemacht; dabei könnte man gerade hier den Blick für die Feinheiten schärfen. Und zum Radfahren, einer vergleichsweise simplen Sportart, verirren sich ebenfalls seit vielen Jahren bloß Journalisten, die offenbar nicht in der Lage sind, vernünftige, einfache Sätze zu bilden; da türmen sich regelmäßig endlose Ungetüme auf, bis sie sich hoffnungslos verhaspeln und ihr Publikum wie Komiker Piet Klocke mit unvollendeten Satzhälften zurücklassen. Dabei sind ausgerechnet die Radreporter die großen Nutznießer von Jan Ullrichs Erfolgen bei der Tour de France. Die anderen Experten werden in ein paar Tagen wieder in der Versenkung verschwinden; schade.

Bei Eurosport wird die Nationalhymne der Werbung geopfert Für die Duos Wolf-Dieter Poschmann/Peter Leissl und Gerd Rubenbauer/Dieter Adler gilt das nicht. Für viele Zuschauer gehen die Olympischen Spiele mit der Leichtathletik erst richtig los. Ständig passiert was, Favoriten straucheln, und Unbekannte wachsen über sich hinaus - so wie Frank Busemann vor vier Jahren in Atlanta oder wie jetzt der australische Weitspringer Jai Taurima, der immer wieder konterte, am Schluss doch noch unterlag und vom Publikum trotzdem fast noch frenetischer gefeiert wurde als Cathy Freeman. Auch bei der Leichtathletik profitierten die Reporter von der Technik. Bei allen Laufwettbewerben flitzte eine ferngesteuerte Kamera neben der Laufbahn her. Eine ganz andere Technik sorgte dafür, dass die Sprungwettbewerbe eine Menge an Faszination gewannen: Beim Weitsprung zeigte eine virtuelle Linie in der Sprunggrube die Weite, die der jeweils Führende vorgelegt hatte (schon beim Schwimmen hatte ein virtueller Balken im Wasser angezeigt, wie schnell man schwimmen musste, um auf

4

http://www.mediaculture-online.de

Weltrekordkurs zu liegen). So ganz funktionierte die Technik allerdings noch nicht, denn die Springer landeten immer wieder hinter der Linie und waren doch nicht Erster. Reizvoll für Zuschauer, die etwas mehr von der Sportart verstehen, waren die Vergleiche der Technik beim Anlauf und beim Sprungverhalten: Es wurden einfach die Zeitlupenstudien zweier Springerinnen oder Springer übereinander gelegt. Nur eins störte regelmäßig den Genuss: Weit gefehlt, wer glaubte, vormittags bei ARD und ZDF vor Werbung sicher zu sein. Schon um halb elf musste man die erste Reklame überstehen, eingerahmt von den unvermeidlichen Sponsorenhinweisen (drei!). Und wenn das ZDF sein "Olympia Studio" um 19.15 Uhr begann, konnte der Sender um 19.50 Uhr noch satte sieben Minuten Werbung machen. Bei Eurosport opferte man den permanenten Werbepausen gern mal vermeintliche Nebensächlichkeiten; Siegerehrungen fanden hier mitunter ohne Nationalhymne statt.

Haas: "Ich mach doch mein eigenes Ding." - Beckmann: "Gut." Natürlich gab's bei ARD und ZDF auch wieder ein Gewinnspiel, um auf diese Weise auch nach 20 Uhr noch mit bewegten Bildern Werbung zu machen. Partner ist aus verschiedenen Gründen nicht mehr die Deutsche Telekom, sondern ein InternetReiseveranstalter. Die Intelligenz beleidigten die Fragen allerdings immer noch. "Heroes" hieß das Spiel, bei dem ein Kind sein Idol vorstellte. Selbst wenn man die Athleten nicht kannte, musste man schon mit Blindheit geschlagen sein, um den im Bild sichtbaren Lösungshinweis nicht wahrzunehmen. "Wer ist mein Hero?" fragte das Kind. Zur Auswahl standen zum Beispiel drei Weitspringer aus Kuba, Jamaika und von den Kayman Inseln. Auf der Brust des gesuchten Springers war deutlich "Cuba" zu lesen... Durchwachsen, gerade im Vergleich zu den Live-Berichten, waren oft auch die abendlichen Zusammenfassungen. Während sich das ZDF hier meist auf Sachlichkeit beschränkte, versuchte die ARD, dem Anlass eine Show abzugewinnen: "Olympia Boulevard". Gerade Reinhold Beckmann hat dem Journalismus offenbar mittlerweile abgeschworen und will bloß noch dem altmodischen Berufsbegriff des Showmasters genügen. Die meisten seiner Gespräche hatten bestenfalls das Niveau der Plaudereien

5

http://www.mediaculture-online.de

Gottschalks in "Wetten, dass ... ?". Manchmal war Beckmann sogar unerträglich arrogant. Der Informationsgehalt aber war immer gleich null. Typischer Dialog mit Tennisprofi Haas: "Viele sagen, Thomas Haas müsste sein eigenes Ding durchziehen, müsste sich emanzipieren von der Entourage". Haas: "Ich mach'doch mein eigenes Ding." Beckmann: "Gut." An Giganten wie Maurice Greene oder Michael Johnson kam Beckmann überhaupt nicht ran. Mit Greene lümmelte er sich auf den Stufen des Studios; er hätte sich genauso gut in den Staub werfen können. Und Johnson hatte schon vorher klare Grenzen gesetzt: Wenn Beckmann Fragen nach Doping im Allgemeinen und C.J. Hunter im Besonderen stelle, würde er das Studio verlassen. Über andere Dinge wollte Johnson offenbar auch nicht reden. Beckmanns durchaus angebrachter Frage, welchen Einfluss die Videowand im Stadion auf das Laufverhalten habe - die Spitzenreiter können die ganze Zeit verfolgen, was hinter ihnen passiert -, wich Johnson aus; das sei gar kein Thema für ihn und überhaupt eine typische Journalistenfrage. Natürlich, was denn sonst?! Trotzdem: Die "ungefönten Interviews" am Rand der Laufbahn, wo Gerhard Delling (ARD) und Florian König (ZDF) immer auch die Superstars vors Mikro bekamen, waren sympathischer; und meistens auch informativer. Weitaus knackiger als noch bei der EM waren hingegen die Rubriken. Und weitaus komischer waren sie auch; Tom Theunissens Sammlungen bizarrer Momente, Ringe unter'n Augen" (ARD), waren oft sogar außerordentlich komisch. Auch die "Kängu-News" fassten die Ereignisse vom Tag in der ARD vor allem launig zusammen. Gleichfalls hübsch: "By the way" von Hennes Gally (ZDF) oder die Versuche der Sportler beim ZDF, einem Didgeridoo salonfähige Töne zu entlocken. Und schließlich besser als befürchtet: "Blacky's Sydney" (ARD), nicht bloß fröhliches Sightseeing, sondern auch mal kritische Töne. Die gab's sonst eher selten. Bei den Gewichtheberinnen, siehe oben, beschränkten sie sich auf satirische Anmerkungen. Zu den Aufnahmen reihenweise stürzender Pferde beim Military merkte Poschmann immerhin an: "Der Sport mag seinen Reiz haben; mir erschließt er sich nicht."

6

http://www.mediaculture-online.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

7