TOURETTE-SYNDROM. T i c ( k ) e n S i e r i c h t i g?

TOURETTE-SYNDROM Tic(k)en Sie richtig? Facharbeit von Michaela Fasser 2006/2007 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.....................................
Author: Krista Berger
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TOURETTE-SYNDROM

Tic(k)en Sie richtig?

Facharbeit von Michaela Fasser 2006/2007

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung....................................................................................................S. 1 2 Geschichte...................................................................................................S. 2 2.1 Biographie von Georges Albert Edouard........................................S. 2 Brutus Gilles de la Tourette 2.2 Geschichte des Tourette-Syndroms...............................................S. 3 2.3 Berühmte Tourette-Patienten.........................................................S. 4 3 Krankheitsbild ..............................................................................................S. 5 3.1 Tics ................................................................................................S. 5 3.1.1 Motorische Tics ................................................................S. 7 3.1.2 Vokale Tics .......................................................................S. 8 3.2 Andere Verhaltensprobleme ..........................................................S. 8 3.2.1 Zwanghafte Verhaltensweise............................................S. 8 3.2.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) .S. 10 3.2.3 Lernschwierigkeiten........................................................S. 11 3.2.4 Störungen der Impulskontrolle........................................S. 11 3.2.5 Schlafstörungen, Ängstlichkeit und Depressivität ...........S. 11 3.2.6 Andere Verhaltensauffälligkeiten ....................................S. 12 3.3 Beginn des Tourette-Syndroms....................................................S. 12 3.4 Verlauf des Tourette-Syndroms ...................................................S. 13 4. Ursache ....................................................................................................S. 14 5. Diagnose ..................................................................................................S. 16 6. Behandlung ..............................................................................................S. 16 7. Soziales ....................................................................................................S. 18

1. Einleitung Widerhall eines freien Gefangenen

Gib mich frei, du böser Dämon. Verfolg’ mich nicht mit Spott und Hohn. Befrei’ mich aus den engen Geleisen, Und laß mich aus der Hölle reisen.

Du stellst die Uhr, und ich muß tic-ken, Läßt meine Seele in der Qual ersticken. Ich könnt’ mich nie gegen dich stellen, Muß zwanghaft deine Befehle bellen.

In einer unbewußten dunklen Seelenschicht Leuchtet blaß mein zweites Gesicht. Es gibt Impulse an mein Denken: Ich will mich wieder selber lenken. Willi Schweighofer, ein Tourette-Kranker

Als ich meine Recherchen für diese Facharbeit begann, war mir noch nicht ganz klar was mich erwartet. Dieses Gedicht hat es mir wesentlich leichter gemacht, zu verstehen, was in einem Tourette-Kranken vor sich gehen muss. Zum Thema „Tourette-Syndrom“ hatte ich schon im Hauptschulalter einen besonderen Bezug. Einer meiner damaligen Mitschüler litt an dieser Krankheit. Für die anderen, auch für mich, war sein „komisches“ Verhalten unverständlich und deswegen wurde er ständig gehänselt. Während des Unterrichts stand er oft auf, lief in der Klasse herum und sang lauthals aktuelle Lieder. Auch stieß er, wenn er nervös war, pferdeähnliche Laute aus und berührte den Genitalbereich seiner männlichen Mitschüler. Ich bin froh, dass ich dieses Thema gewählt habe, denn nun werde ich versuchen Betroffenen derartiger Krankheiten viel offener entgegen zu treten.

2. Geschichte 2.1 Biographie von Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette

Dr. Georges Gilles de la Tourette wurde am 30. Oktober 1857 in Saint-Gervais-lesTrois-Clochers in Frankreich als Sohn eines Kaufmanns geboren. In seiner Familie gab es bereits schon viele Ärzte und Gelehrte. Gilles war Schüler in der Internatsschule von Chatellerault und galt dort als sehr begabt aber auch unruhig und aufsässig. Er legte oft in einem Jahr zwei Jahresabschlussprüfungen ab, da er beträchtliche Mengen an Energie besaß. Als er mit 16 Jahren das Abitur vorzeitig bestand, begann Gilles sein Studium an der Medizinischen Fakultät von Poitiers und setzte es 1881 in Paris fort. 1884 wurde er zum Assistenzarzt, später sogar Chefarzt, von Jean Martin Charcot (1825 – 1893) im Pariser Krankenhaus Salpêtrière berufen. Charcot war ein sehr wichtiger moderner Neurologe. Im Jahr 1885 wurde Gilles auch Assistenzarzt von Paul Brouardel, einem Professor für Rechtsmedizin. Durch Brouardel bekam er den Lehrauftrag als Dozent für den „Kurs in forensischer Medizin“. Im selben Jahr machte auch die Erforschung des Tourette-Syndroms einen großen Schritt nach vorne: Gilles veröffentlichte seine Studie über „Ein Nervenleiden, das gekennzeichnet ist durch motorische Inkoordination in Begleitung von Echolalie und Koprolalie“ und bezeichnete diese neurologische Krankheit als „Maladie des Tics“. 1887 heiratete er seine um zehn Jahre jüngere Cousine Marie Detrois, mit der er später zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Auch wurde Gilles in diesem Jahr von Charcot zum Klinikchef befördert. Er hatte unter anderem die Leitung verschiedener Klinikstationen, die Entwicklung von Therapien und das Unterrichten von Medizinstudenten zur Aufgabe. Das Jahr 1893 war ein sehr trauriges für Gilles de la Tourette: Sein Sohn Jean starb an den Folgen einer Gehirnhautentzündung, sein Freund Jean Martin Charcot starb an einem Lungenödem und Gilles selbst wurde in seiner Wohnung von einer jungen Frau mit einem Revolver niedergeschossen. Die Frau hieß Rose Kamper und behauptete, dass sie als Patientin im Krankenhaus Salpêtrière gegen ihren Willen hypnotisiert worden sei und dadurch ihre Gesundheit verloren habe. Die Wunde war zwar nur oberflächlich, jedoch verschlechterte sich Gilles Gesundheit trotzdem: Er

hatte starke Depressionen, da er glaubte, dass er an Rückenmarksschwindsucht leide. 1901 musste er gesundheitsbedingt seine Anstellung im Krankenhaus aufgeben, da er an Hirnsyphillis, einer um diese Zeit recht verbreitete Geschlechtskrankheit, litt. Friedrich Nietzsche, ein Vertreter des metaphysisch-ethischen Nihilismus, litt und starb ebenfalls an dieser Krankheit. Unklar ist, wo sich Gilles infiziert haben könnte. Es entstanden zwei Hypothesen: Entweder hatte er sexuelle Kontakte über die er sich angesteckt hatte oder die Infektion, auch honorige Syphilisinfektion genannt, erfolgte vor der Einführung von Latexhandschuhen, was oft bei Pathologen und Gynäkologen vorkam. Am 22. Mai 1904 starb Gilles de la Tourette in der Schweizer Klinik Cery.1

2.2 Geschichte des Tourette-Syndroms

 Die älteste Erwähnung des Tourette-Syndroms stammt von dem griechischen Gelehrten und Arzt Aretäus (auch Aretaios) von Kappadokien, der ca. Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus lebte. Er war bekannt für seine Berichte über akute und chronische Krankheiten. 2 Das Syndrom galt für die Griechen als ein von den Göttern gesandter Fluch, der sich durch das Auftreten von Zuckungen und Geräuschen bemerkbar macht. 3

 Dass die Krankheit in jedem Volk, jeder Kultur und jeder Gesellschaftsschicht vorkam, zeigt das Beispiel des römischen Imperators Claudius (10 v. Chr. – 54 n. Chr.). Nach Berichten des römischen Geschichtsschreibers Sueton wies Claudius unangenehme Merkmale, wie zum Beispiel ein unkontrolliertes Lachen, Zuckungen und Speichelfluss auf.4

 Im Mittelalter war das Tourette-Syndrom ein Zeichen für Besessenheit, da die Betroffenen den Zwang hatten Dinge zu tun, die sie selbst gar nicht wollten.5 1

vgl. www.tourette.de (16.01.2007) vgl. Mann, A: Die auf uns gekommenen Schriften des Kappadocier Aretaeus, S. 53 3 vgl. www.kinderaerzte-im-netz.de (10.01.2007) 4 vgl. www.meine-gesundheit.de/781.0.html (19.01.2007) 5 vgl. www.erzwiss.uni-hamburg.de/sonstiges/Neuropsychologie/Syndrome/Tourette.htm (10.01.2007) 2

Der Exorzismus, das Austreiben böser Dämonen, wurde als die einzige Rettung gesehen. Half dies auch nichts, so wurden die Betroffenen oft verbrannt, um wenigstens ihre Seele zu retten. Viele Tourette-Kranke starben so im Feuer der Inquisition oder mussten oft in ständiger Angst leben, entdeckt zu werden. 6

 1885: Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette, ein französischer Nervenarzt, befasst sich ebenfalls mit dieser Krankheit. Er verknüpft seine eigenen Studien, darunter auch der Fall der adeligen Dame Madame de Dampierre, mit historischen Erfahrungen und versucht das Syndrom von anderen neurologischen Erkrankungen, wie zum Beispiel der Epilepsie, zu unterscheiden. Zu Ehren Gilles de la Tourettes wurde die Krankheit nach ihm benannt.7

2.3 Berühmte Tourette-Patienten

Es liegen zahlreiche historische Dokumente vor, die darauf hinweisen, dass einige berühmte Persönlichkeiten am Tourette-Syndrom gelitten haben dürften. Wolfgang Amadeus Mozart, ein österreichischer Komponist, beispielsweise war dafür bekannt, hohen Herrschern am Fürstenhof in Salzburg Unanständigkeiten an den Kopf zu werfen, Grimassen zu schneiden und in lautes Gekicher zu verfallen. Viele meinten, dies sei aufgrund seines Genies zu erklären. Wahrscheinlich handelte es sich bei seinen unkontrollierbaren Zuckungen und verbalen Ausbrüchen um das TouretteSyndrom.8 Auch wird spekuliert, ob Claudius, Napoleon, Molière oder Peter der Große an dieser Krankheit litten.9

6

vgl. www.tourette.de/forschung/gesch.shtml (19.01.2007) vgl. www.behindertenecke.de (10.01.2007) 8 vgl. Castelnuovo, Rossella: Schluckauf im Gehirn, Echo, 2/2007, S. 14 9 vgl. www.tourette.ch (5.1.2007) 7

3. Krankheitsbild Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Krankheit. Die Neuropsychologie ist ein Teilgebiet der Medizin und der Psychologie, das sich mit den Zusammenhängen psychischer Vorgänge mit dem Nervensystem befasst. Die Symptome des Tourette-Syndroms beinhalten sowohl mehrere motorische und mindestens einen vokalen Tic als auch andere Verhaltensprobleme.10

3.1 Tics

Bereits im 17. Jahrhundert bezeichnete „ticquet“ oder „ticq“ ein Phänomen bei Pferden, denen plötzlich der Atem stockte, gefolgt von einem gurgelnden Geräusch. Später wurde der Begriff auch auf Menschen angewendet, die durch unkontrollierbare motorische und vokale Ausbrüche auffallen.11 Tics werden in einem Lehrbuch für Psychiatrie so definiert: „Unter Tics versteht man unwillkürliche, plötzliche, schnelle, sich wiederholende und nichtrhythmische, stereotype Bewegungen oder Lautäußerungen. Dabei werden umschriebene Muskelgruppen, deren Aktivität für sich genommen zweckvoll sein kann (Blinzeln, Räuspern, Kopfschütteln) unsinnig häufig bewegt.“ 12 Die Bezeichnung „unwillkürlich“ wird jedoch oft missverstanden, da betroffene Personen eine gewisse Kontrolle über ihre Symptome haben. Diese Kontrolle hält aber nur für Sekunden, manchmal für Stunden, an, sodass Tourette-Kranke schwere Tic-Entladungen zeitlich hinausschieben können. Dass ein unterdrückter Tic überhaupt nicht nach außen kommt, ist jedoch sehr selten und benötigt intensives Training.13 Wenn man einem vom Tourette-Syndrom Nicht-Betroffenen den Ablauf eines Tics erklären will, kann man das anhand des Beispiels Schluckaufs tun. Wenn wir Schluckauf haben, dann können wir diesen zwar für gewisse Zeit unter Kontrolle halten, aber wir merken, dass dieser Drang immer stärker wird und immer mehr nach Erfüllung des Bewegungsimpulses verlangt. Schließlich müssen wir dem Schluckauf 10

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 121 vgl. Castelnuovo, Rossella: Schluckauf im Gehirn, Echo, 2/2007, S. 15 12 Gastpar, M.T.: Psychiatrie, S. 271 13 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 122 11

dann freien Lauf lassen. Der Schluckauf tritt auf und es geht eine gewisse Zuckung durch den Körper. Das kommt dem ausgeführten Tic gleich. Eine weitere Ähnlichkeit tritt beim Zubettgehen auf, wenn wir kurz vor dem Einschlafen sind und der ganze Körper noch mal zuckt. Danach sind wir entspannt und schlafen ruhig ein. Diese Zuckung kann man ebenfalls mit dem Erleben eines Tics vergleichen.14 In der Schule und bei der Arbeit versuchen Menschen mit dem Tourette-Syndrom ihre Symptome zu unterdrücken und in einer geschützten und gewohnten Umgebung lassen sie ihnen dann freien Lauf. In Zusammenhang mit Ärgernis, Freude, Anspannung, Aufgeregtheit (freudig oder ärgerlich), Sorgen, Müdigkeit und Stress nehmen die Tics deutlich zu. Berichten von Betroffenen zufolge sollen prämenstruelle (= der Menstruation vorausgehend) Spannungen, manche Nahrungsmittel oder Nahrungszusatzstoffe Tics ebenfalls verstärken.15 In entspannten Zuständen, wie beispielsweise morgens nach dem Aufstehen oder bei Konzentration auf interessante Aufgaben lassen sie eher nach und im Schlaf sind sie ganz selten. 16 Es gilt als erwiesen, dass Tics während der Schlafphase – oft schon im wachen Zustand im Liegen – deutlich abnehmen. Es sind jedoch im Schlaf schon Tics beobachtet worden, an die sich der Betroffene am nächsten Tag nicht erinnern kann. Diese Tics stören die Nachtruhe, sie ist somit weniger erholsam. Sie tragen außerdem zur Tagesmüdigkeit bei, machen den Betroffenen stressempfindlicher und sind mitverantwortlich für vermehrte Tics bei Tag.17 Die Tics können zu- oder abnehmen, manchmal für Wochen oder Monate verschwinden, aber auch unvermutet wieder auftreten. 18 Betroffene Kinder merken oft selbst nichts von ihren Tics. Meistens sind es die Mütter, die sie wahrnehmen und sich oft fragen, ob sie in der Erziehung etwas falsch gemacht haben. Ungefähr ab dem zehnten Lebensjahr verspüren Tourette-Kranke direkt vor einem Tic Vorgefühle, beispielsweise Kribbeln im Bauch oder Spannungsgefühl im Nacken-Schulter-Bereich. Ferner nehmen sie die Muskelzuckung oder Lautäußerung erst wahr, wenn sie auftreten – bei leichter Ausprägung oft gar nicht. Selten kommt es durch die Tics zu körperlichen Schmerzen, wie zum Beispiel Nackenschmerzen, ganz im Gegensatz zu

14

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 128 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 129 f. 16 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 122 17 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge. S. 129 18 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 121 15

selbstverletzendem Verhalten, das sich durch das Schlagen gegen Brust und Wange oder Kneifen an den Unterarmen äußert.19

3.1.1 Motorische Tics:

Unter motorischen Tics versteht man unwillkürlich eintretende plötzliche Bewegungen (Muskelzuckungen). Am häufigsten treten sie im Gesicht und am Kopf auf. Die Tics äußern sich dann als Blinzeln, Grimassen schneiden und Augenverdrehen. Das Auftreten von motorischen Tics an Schultern und Armen ist häufig: Da wären beispielsweise das Hochziehen der Schultern, das Schleudern des Armes oder das Verkrampfen der Finger. Selten, aber nicht ungewöhnlich, sind motorische Tics an Rumpf und Beinen. Zu unterscheiden sind zwei verschiedene Arten von motorischen Tics: -

einfache motorische Tics: Sie sind häufig so gering ausgeprägt, dass sie als „Eigenart“ oder „Nervosität“ missverstanden werden. Beispiele für einfache motorische Tics sind Blinzeln oder Naserümpfen.

-

komplexe motorische Tics: Sie sind beispielsweise durch Hüpfen, Springen20, Kleidung zurechtzupfen21 und selbstverletzendes Verhalten22 charakterisiert. Weiters sind Echopraxie, Kopropraxie und Touching als Merkmale zu nennen. Echopraxie bezeichnet die Nachahmung von Bewegungen, Gesten und Handlungen anderer Menschen. Kopropraxie ist durch obszöne Bewegungen, beispielsweise das Zeigen des Mittelfingers oder das Berühren des eigenen Genitalbereiches, charakterisiert. Touching nennt man das unwillkürliche Berühren, häufig bloß kurzes Antippen, von Gegenständen und Personen. In einigen Fällen berührt der Tourette-Kranke sein Gegenüber in dessen Brust-, Gesäß- oder Genitalbereich.23

19

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 129 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 127 f. 21 vgl. Folder der Österreichischen Tourettegesellschaft 22 vgl. www.psychosoziale-gesundheit.net (5.1.2007) 23 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 221 ff. 20

3.1.2 Vokale Tics:

Vokale Tics treten bei jedem Tourette-Kranken auf, sind jedoch häufig weniger stark ausgeprägt. Darunter versteht man das unwillkürliche Hervorbringen von Lauten und Geräuschen, einfache vokale Tics, und Wörtern oder Sätzen, komplexe vokale Tics.24 -

einfache vokale Tics: Sie äußern sich meist durch Räuspern, Husten, sowie durch das Nachahmen von Tiergeräuschen, beispielsweise Bellen, Quieken oder Grunzen. 25

-

komplexe vokale Tics: Sie sind charakterisiert durch Echolalie, Palilalie und Koprolalie. Echolalie bezeichnet das Nachsprechen und Wiederholen von Wörtern oder Sätzen anderer wie ein Echo. Palilalie ist durch das Wiederholen von selbstgesprochenen Wörtern, Silben oder Satzteilen charakterisiert. Ausgeprägte Formen der Palilalie erinnern an Stottern und gelegentlich besteht eine Art Sprechblockade. Koprolalie nennt man das heftige und unwillkürliche „Herausschleudern“ von sozial wenig akzeptablen Wörtern mit obszönem Inhalt. Dies führt häufig zu sozialen Schwierigkeiten.26

3.2 Andere Verhaltensprobleme

3.2.1 Zwanghafte Verhaltensweise

Ungefähr 40 – 60% der Tourette-Betroffenen leiden an Zwängen, einer typischen Verhaltensauffälligkeit. Häufig treten Zwangshandlungen mit Ordnungsliebe, Kontrollieren, ritualisierten Handlungen und Zählen auf. Wenn bestimmte Ideen wieder und wieder gedacht werden müssen und die Konzentration nicht auf andere Inhalte gelenkt werden können, nennt man das Zwangsgedanken. Auch haben Betroffene von ungewöhnlichen Zwängen berichtet, wie etwa einem Hang zu verbotenen und 24

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 128 vgl. Folder der österreichischen Tourettegesellschaft 26 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge. S. 220 f. 25

gefährlichen Handlungen, beispielsweise der Drang, Alarmknöpfe zu drücken, verbotene Wege zu betreten, schnell Auto zu fahren, mit Messer und Feuer zu spielen oder etwas zerbrechen zu müssen. Mehrfach weisen Betroffene ein Körpergefühl auf, nachdem etwas immer wieder getan werden muss, bis es „genau richtig“ ist. Erst wenn dieses „Genau richtig“Gefühl erreicht worden ist, kann die Wiederholung der Zwangshandlungen oder –gedanken beendet werden. Es muss zum Beispiel eine Tür „genau richtig“ geschlossen, ein Ding „genau richtig“ berührt, eine gestellte Frage „genau richtig“ beantwortet oder eine Geste oder ein Satz „genau richtig“ imitiert werden. Auf diese Art ist es möglich, dass minutenlang dauernde Prozeduren entstehen. Für Betroffene stellt es sich als schwer heraus, dieses „Genau richtig“-Gefühl zu beschreiben, da es nicht so ist, als ob objektiv ein Fehler vorliegen würde. Es wird eher ein Gefühl der inneren Befriedigung angestrebt. Durch solche Zwangshandlungen kann das Erledigen von Hausaufgaben in der Schule oder zu Hause bedeutend gestört werden, denn Buchstaben und Zahlen müssen so lange geschrieben werden, bis sie „genau richtig“ sind. Bei einem Tic kann dies auch das Berühren von Dingen bedeuten, die beispielsweise mit der einen Hand und dann mit der anderen berührt werden müssen, um „die Dinge gleich zu machen“, „Symmetrie herzustellen“ oder „eine innere Melodie zu finden“. Ebenfalls ist es möglich, dass Betroffene wiederholt prüfen müssen, ob ihr Herd ausgeschaltet oder die Tür richtig geschlossen ist. Hin und wieder bitten Kinder ihre Eltern einen Satz mehrmalig zu wiederholen, bis er „genau richtig“ klingt. Der Perfektionismus geht dann so weit, dass der Betroffene seinen Drang in Bewegung umsetzen muss, bis ein bestimmtes Maß an Bewegung, an Perfektion da ist, das diesen inneren Drang zufrieden stellt. Für ungewisse Zeit ist dann Ruhe. Wenn die Perfektion nicht gefunden wird, ist die betroffene Person irritiert und wird innerlich unruhig. Andere ritualistische Verhaltensweisen können erneut die Folge sein.27

27

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 131 f.

Diese Zwangssymptome im Rahmen des Tourette-Syndroms weisen jedoch gewisse Unterschiede zu einer reinen Zwangserkrankung auf: 28

Zwänge bei Tourette-Syndrom

Zwänge bei reiner Zwangsstörung

Zwangsgedanken aggressive Zwangsgedanken sind

Zwangsgedanken mit dem Thema

charakteristisch

Verunreinigung treten vielfach auf

Symmetriedenken

Gegenstände oder andere Personen zu berühren  durch Impulse

nicht das Richtige zu sagen bereitet vielen Angst zwanghafte Sorgen und Handlungen über die richtige Beschaffenheit des eigenen Körpers

Zwangshandlungen sie entstehen aus dem Nichts, kommen ohne vorausgehende Zwangsgedanken aus

es gehen Zwangsgedanken voraus und sie stehen bezüglich des Themas in Zusammenhang mit den Zwangshandlungen

Tabelle 1

3.2.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Von allen Tourette-Kranken leiden ca. 50 bis 60 % an ADHS. Die Zeichen von Hyperaktivität können bei Kindern oft früher gesehen werden, als die vom TouretteSyndrom. Anzeiger für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung können sein: allgemeine motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme angefangene Dinge zu Ende zu bringen, das Zuhören fällt schwer, man ist leicht ablenkbar, Handeln ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben, schneller Wechsel von einer Aktivität zur anderen (noch bevor die erste beendet ist) und Rededrang. Die von ADHS betroffenen Kinder benötigen viel Aufsicht und Steuerungshilfen von außen.29

28 29

vgl. Ciupka, Burkhard: Zwänge – Hilfe für ein oft verheimlichtes Leiden, S. 79 f. vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 132

3.2.3 Lernschwierigkeiten Sie sind größtenteils verbunden mit einer ADHS30 und äußern sich durch Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben, Rechnen und unvollständige Sätze31. Lernschwierigkeiten finden sich bei ungefähr 20 % aller Tourette-Kranken32.

3.2.4 Störungen der Impulskontrolle

Als häufige Verhaltenshäufigkeit trifft man die mangelnde emotionale Impulskontrolle an. Oft äußert sie sich durch verbalen Jähzorn. Dieser ist vereinzelt verbunden mit Zerstören von Gegenständen. Bei Familie und Freunden ist Streit durch diese Impulskontrollenstörung oft vorprogrammiert.33 Die Betroffenen können nur schwer warten, sie unterbrechen und stören andere, drängen sich in Gespräche oder Spiele und durch ihr unvorhersehbares Verhalten erhöht sich die Unfall- und Verletzungsgefahr.34

3.2.5 Schlafstörungen, Ängstlichkeit und Depressivität

Diese Störungen sind bei etwa 25 % aller Tourette-Fälle zu finden. Die betroffenen Personen sind durch Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit, Rückzugsverhalten, Einschlafschwierigkeiten, mehrmaliges nächtliches Erwachen oder aber auch Schlafwandeln oder Sprechen im Schlaf, möglicherweise auch Bettnässen beeinträchtigt. Ebenfalls kann Ängstlichkeit bei vorübergehender Trennung (z.B. Schule) von engen Bezugspersonen (in den meisten Fällen die Mutter) auftreten.

30

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 133 vgl. www.psychosoziale-gesundheit.net (5.1.2007) 32 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 133 33 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 133 34 vgl. www.psychosoziale-gesundheit.net (5.1.2007) 31

3.2.6. Andere Verhaltensauffälligkeiten

Hier können unter anderem das Stottern, das etwa 8 % der Tourette-Kranken betrifft, und sonstige Formen des nichtflüssigen Sprechens genannt werden. Das TouretteSyndrom kann ebenfalls von autistischen Verhaltensweisen begleitet werden. Dies betrifft 5 % der Erkrankten. Autistische Verhaltensweisen äußern sich durch mangelndes soziales Einfühlungsvermögen, wodurch die Kommunikationsfähigkeit gestört wird und seltsame und auch sehr einseitige Interessen.35

3.3 Beginn des Tourette-Syndroms

Der Beginn des Tourette-Syndroms liegt meist zwischen dem sechsten und dem siebten Lebensjahr, also im Kindesalter36 und die Krankheit betrifft drei mal häufiger Männer als Frauen.37 Die ersten Symptome sind häufig Augenblinzeln, Augenrollen, Mundwinkelverziehen und Mundaufsperren. Komplexere Bewegungen folgen erst später. Unwillkürliche Lautäußerungen wie Räuspern oder Muskelzuckungen zählen ebenfalls zu den ersten Zeichen. Es gibt auch Fälle, bei denen die Krankheit schlagartig mit mehreren Symptomen anfängt. Das heißt, dass Muskelzuckungen und Lautäußerungen gleichzeitig auftreten. Generell beginnen vokale Tics erst nach den motorischen. Dies erfolgt etwa ab dem elften Lebensjahr. Zwanghafte Verhaltensweisen trifft man erstmals zwischen dem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr an. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) gehen dem Tourette-Syndrom oft voraus und begleiten es dann weiter. Je früher das Syndrom beginnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass andere Familienmitglieder auch von einer Tic-Störung betroffen sind.

35

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 133 f. vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 126 37 vgl. www.erzwiss.uni-hamburg.de/sonstiges/Neuropsychologie/Syndrome/Tourette.htm (10.1.2007) 36

3.4 Verlauf des Tourette-Syndroms

Nach Beginn um das siebte Lebensjahr, nimmt das Tourette-Syndrom einen wechselnden Verlauf: Meistens verstärken sich die Tics bis zum zwölften bzw. dreizehnten Lebensjahr und lassen zwischen dem sechzehnten und dreißigsten Lebensjahr meistens nach (dies trifft bei etwa 75 % zu). Das Nachlassen der Tics steht im Zusammenhang mit dem Älterwerden, da nämlich die Dopaminüberproduktion in den Basalganglien von selbst abnimmt (siehe Ursache). Bei manchen Tourette-Betroffenen verschwinden die Tics gänzlich, andere jedoch müssen ihr ganzes Leben mit ihnen bewerkstelligen.38 Die Lebenserwartung der Tourette-Kranken ist ganz normal, denn sogar die erste Patientin, die Gilles de la Tourette beschrieben hatte, wurde 86 Jahre alt.39 Nicht immer sind mit Rückgang der Tics auch alle anderen Verhaltensmerkmale vorbei. Vor allem Zwangsmerkmale können bestehen bleiben oder sogar in den Vordergrund treten. Wenn dies der Fall ist, muss eine ganz andere Behandlung und Krankheitsbewältigung gewählt werden. Im Erwachsenenalter kann es vorkommen, dass bei manchen Patienten die Tics doch wieder aufleben. Dies kann durch unkontrollierbare Stresssituationen, wie beispielsweise Ehezerrüttung, Scheidung oder Verlust von geliebten Menschen aber auch anderen Erlebnissen wie Prüfungen oder Schulwechsel, hervorgerufen werden. Zu einer Symptomreduktion können Entspannung und Ruhe (Ferien) sowie ein stabiles soziales Umfeld verhelfen. Für den einzelnen lässt sich der weitere Verlauf nicht voraussagen. Etwa 85 % der Betroffenen, die überwiegende Mehrheit, haben eine leichte bis mittlere Ausprägung des Tourette-Syndroms. Sie finden sich in Alltag, Beruf und Familie gut zurecht. Diejenigen mit schwerer Ausprägung sind oft von sozialen Nachteilen betroffen, beispielsweise wenig Freunde, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und Wohnungsprobleme.40

38

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 123 vgl. www.psychosoziale-gesundheit.net (5.1.2007) 40 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 123 f. 39

4. Ursache Wissenschaftler vermuten den Ursprung der Krankheit in den Basalganglien, dem Kernstück des Gehirns. Sie sind die Schaltstationen der Nervensysteme. Dopamin wird bei Tourette-Kranken unkontrolliert ausgeschüttet und ist somit in bestimmten Bereichen erhöht. Dies verursacht die unwillkürlichen Bewegungen. Dopamin ist ein sogenannter Neurotransmitter und ein lebenswichtiger Botenstoff. Es ist auch ein Überträgerstoff in unserem Gehirn, der für die Informationsweiterleitung wichtig ist. Bei gesunden Menschen ist das Dopamin gleichmäßig verteilt. Wie und warum der Stoff bei Tourette-Patienten in einigen Bereichen erhöht ist, ist noch ungeklärt.41

Abb. 1

Zudem ist eine Veränderung der Balkenstruktur, über die der Informationsaustausch zwischen den beiden Gehirnhälften abläuft, festzustellen. Die normalerweise gut ausgeprägte Asymmetrie der Basalganglien ist bei Betroffenen abgeschwächt. Es wurden viele Gehirne von verstorbenen Tourette-Patienten untersucht und man hat auch eine verminderte Blutflussrate im Bereich der Basalganglien und im

41 vgl. ProSieben: Welt der Wunder, „Unkontrolliert ins Abseits - Was sich beim Tourette-Syndrom im Gehirn abspielt“, 4.03.2003

Thalamus gefunden. Außerdem konnte mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation eine verminderte „Bremskraft“ der für die Bewegung zuständigen Hirnrinde festgestellt werden.42 Die transkranielle Magnetstimulation ist eine nicht-invasive (invasiv = in das umgebende Bindegewebe wuchernd hineinwachsend) Technologie, mit deren Hilfe Bereiche des Gehirns durch starke Magnetfelder stimuliert werden. Sie wird in der neurologischen Diagnostik eingesetzt und wird für die Behandlung des Tinnitus, der Epilepsie oder der Parkinson-Krankheit vorgeschlagen.43 Ebenfalls wird angenommen, dass auch andere Neurotransmitter, zum Beispiel Serotonin, betroffen sind und dass somit ein Ungleichgewicht zwischen den Botenstoffen vorliegt. Es handelt sich dabei um eine Dopaminüberproduktion und eine Serotoninunterproduktion. Durch medikamentöse Behandlung lässt sich dem entgegen wirken.44 Natürlich spielt auch die Vererbung eine große Rolle. Der genaue Mechanismus ist allerdings noch ungeklärt. Die Chromosomenmehrheit bei Tourette-Patienten ist unauffällig und bis jetzt hat sich noch kein besonderes Gen oder eine Gengruppe finden lassen, die als genetische Grundlage des Tourette-Syndroms benannt werden konnte. Es wird angenommen, dass eine Person mit einer gewissen erblichen Empfindlichkeit im Hinblick auf eine sogenannte Spektrumsstörung anfällig ist. Eine Spektrumsstörung beinhaltet die Neigung zum Tourette-Syndrom, zu Zwangsstörungen und unter bestimmten Umständen auch ADHS. Man nimmt auch an, dass andere Faktoren darüber entscheiden, wann, wie, wo und in welchem Ausmaß die Bewegungsstörung bzw. Verhaltensauffälligkeit zum Vorschein kommt. Dabei können unter Umständen Risikofaktoren bei der Schwangerschaft, vor, während oder nach der Geburt wie auch Infektionen und Autoimmunreaktionen eine Rolle spielen. Wichtig zu erwähnen ist, dass nur etwa 10 % der Kinder, die eine erbliche Anfälligkeit vorweisen, ein schwer ausgeprägtes Tourette-Syndrom zu erwarten haben. Besonders durch raschere und bessere Diagnostik und zielgerichtetere Behandlungen in der Zukunft steht einer Familienplanung für Tourette-Kranke nichts im Wege.45

42

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 137 f. vgl. www.wikipedia.org (02.04.2007) 44 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 141 45 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 141 f. 43

5. Diagnose Das Tourette-Syndrom wird rein durch die beobachteten Symptome und den bisherigen Krankheitsverlauf diagnostiziert. Leider kann die Diagnose nur so erfolgen, da keine neurologischen oder psychologischen Verfahren existieren. Durch Fragebögen, Schätzskalen zur Beurteilung des Tic-Schweregrads und medizinische Untersuchungen wie beispielsweise einem Elektroenzephalogramm wird versucht, eine Abgrenzung des Syndroms von anderen Erkrankungen vorzunehmen. Es muss auch auszuschließen sein, dass die motorischen und vokalen Auffälligkeiten eine körperliche Reaktion auf eingenommene Substanzen darstellen oder einen anderen medizinischen Krankheitsfaktor haben.46

6. Behandlung Bisher gibt es noch keine Therapie, die zur vollkommenen Heilung des TouretteSyndroms führt. Es stehen jedoch zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten, mit denen man hofft, das Syndrom lindern zu können, zur Verfügung. Oft kann schon die Diagnose und ein ausführliches Beratungsgespräch mit dem Arzt eine deutliche Entlastung erzielen. Die Familien machen sich selbst keine Vorwürfe mehr, das soziale Umfeld kann informiert werden (sehr wichtig!) und die Betroffenen können selbstbewusster mit ihrer Krankheit umgehen.47 Eine frühe Behandlung des Tourette-Syndroms ist sehr wichtig bei den Fällen, bei denen die Symptomatik sehr ausgeprägt ist. Ansonsten müssen die Betroffenen mit psychischen Folgen rechnen, die eine günstige Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung des Kindes behindern können.48 Viele Personen mit dem Tourette-Syndrom sind durch ihre Tics nicht sehr beeinträchtigt und brauchen nach einer eingehenden Beratung keine weitere Behandlung mehr. Sie finden sich mit ihrem eigenen Syndrom nach und nach immer besser zurecht und finden eine passende Umgangsweise. Sollten die motorischen und verbalen Tics psychosoziale Beeinträchtigungen mit sich bringen, stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung. Mit diesen 46

vgl. www.wikipedia.org (10.1.2007) vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 144 48 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 149 47

Medikamenten kann die Dopaminüberproduktion reduziert und somit die Symptome kontrolliert werden. Etwa 60 % der Tourette-Kranken nehmen diese Hilfe zumindest eine gewisse Zeit in Anspruch. Einige Medikamente sind beispielsweise Tiaprid, Pimozid, Risperidon und Haloperidol. Die notwendige Dosis ist von Patient zu Patient verschieden. Sie muss mit dem jeweiligen Patient und seiner Familie gut auf seine individuellen Bedürfnisse abgestimmt werden. Es ist dabei für den behandelnden Arzt sehr wichtig, von Lehrern, Eltern und Betroffenen rechtzeitig über denkbare Nebenwirkungen informiert zu werden. Die Medikamente werden generell in niedrigen Dosen verabreicht, um sie dann allmählich zu erhöhen und so den Punkt zu erreichen, an dem die beste Wirkung mit den geringsten Nebenwirkungen vorliegt.49 Positive Ergebnisse bei der Reduzierung von Tics hat ebenfalls die Musiktherapie gebracht. Nervöse Impulse lassen sich teilweise durch das Spielen von Instrumenten ableiten. Besonders geeignet sind hierbei schnelle Instrumente, bei denen der Spielende Hände und Füße benutzt, beispielsweise das Drumset oder die Orgel. Weiters gibt es Entspannungsverfahren und diverse verhaltenstherapeutische Ansätze, die den Betroffenen den Umgang mit Stresssituationen, durch die die Tics verstärkt werden, lehren. Durch Selbstkontrolltrainings können Tourette-Kranke vereinzelt sozial unangenehme Tics durch einen sozial eher akzeptierten Tic ersetzen. Durchgeführte Experimente haben erwiesen, dass Tetrahydrocannabinol (THC), einer der Hauptwirkstoffe von Cannabis, ebenfalls ticreduzierend wirken kann. 50

49 50

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 144 f. vgl. www.wikipedia.org (10.1.2007)

7. Soziales Tourette-Syndrom und geistige Leistungsfähigkeit

Mehr als 90 % der Tourette-Kranken verfügen über eine normale geistige Leistungsfähigkeit. Besonders die höheren zentralnervösen Steuerungsfunktionen, die so genannten exekutiven Funktionen wie Planen und flexibles Denken, sind bei solchen Patienten, die neben den Tics keinerlei andere Auffälligkeiten aufweisen, gut ausgebildet. Diese Funktionen können aber auch von Tourette-Betroffenen mit anderen Problemen erfolgreich mobilisiert werden. Bei einzelnen Kindern treten häufig Lern- und Leistungsschwächen auf, die sich beispielsweise durch einen ineffektiven, also nutzlosen Lernstil, Abstraktionsschwäche, motorische Ungeschicklichkeit, Sprechstörungen und Leseschwächen äußern.51 Lernschwierigkeiten hängen meist mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder mit Zwängen zusammen. Die Kinder müssen zudem mit ihren Tics kämpfen. Deshalb muss für jedes einzelne Kind eine passende Lösung gefunden werden: Das wären beispielsweise die Benutzung von Schreibmaschinen oder Computern wegen motorischer Lese- oder Schreibprobleme, Prüfungen in speziellen Räumen, wenn vokale Tics ein zu großes Problem darstellen oder die Erlaubnis, den Klassenraum zu verlassen, wenn die Tics sich unüberwindbar angestaut haben.52

Tourette-Syndrom und Beruf

In der Regel kann jedes Kind wie seine Altersgenossen seine Zukunftswünsche entwickeln und umsetzen. Ein Tourette-Patient braucht nicht zurückzustecken. Alle Berufe stehen ihm offen. Dies zeigen viele Beispiele von Lehrern, Handwerkern, Ärzten, Schriftstellern, Musikern und Piloten und wird auch von Aussagen von Tourette-Betroffenen bestätigt: „Ich habe zwar das Tourette-Syndrom, aber das Tourette-Syndrom hat nicht mich!“.

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vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 135 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 159 f.

In schwerwiegenden Fällen gibt es jedoch berufliche Beeinträchtigungen. Oft neigen Betroffene zu selbstverletzendem Verhalten oder Zwangsverhalten. Bei Berufen vor Publikum können besonders vokale Tics manchmal Einschränkungen der Berufsausübung mit sich bringen.53

Tourette-Syndrom und ihre Umgebung

Viele Menschen fragen sich, ob Tourette-Kranke gefährlich für ihre Umgebung sind. Diese Frage muss man strikt mit NEIN beantworten, denn meistens gefährden sie sich eher selbst. Etwa zwanzig bis dreißig Prozent der erwachsenen TouretteBetroffenen weisen ein leichtes selbstverletzendes Verhalten auf. Sie beinhalten das Schlagen gegen den eigenen Körper oder das Schlagen des Kopfes gegen die Wand. Es kommt kaum zu schweren Verletzungen. Schwierigkeiten mit der Umgebung gibt es meist durch das Unverständnis gegenüber der Tic-Symptomatik.54

Tourette-Syndrom und Aggressionen

Tourette-Betroffene sind nicht überdurchschnittlich aggressiv oder gewalttätig. Aggressionen stehen meist in Verbindung mit Zwangsimpulsen, die bestimmte Handlungen fordern. Das dann auftretende Verhalten oder die Tics wirken oft provokativ. Die Aggressionen sind jedoch meist nicht gegen andere Menschen gerichtet. Sollte trotzdem fremdaggressives Verhalten auftreten, ist es meist gegen Bezugspersonen, wie beispielsweise die Ehefrau oder die Mutter, gerichtet und führt nur ausnahmsweise zu bedrohlichen Situationen.55

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vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 136 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 142 55 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 142 f. 54

Tourette-Syndrom und (Schul-)Sport

Es gibt keinerlei Einschränkungen für Tourette-Kranke hinsichtlich der Ausübung von Sport. Oft stellt der Sport sogar eine Möglichkeit zur Abreagierung dar. Betroffene können sich beim Sport „austicen“ und er bietet die Gelegenheit, Kindern Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Auch bei starken motorischen Tics ist die Sportausübung nicht beschränkt.56 Zwei gute Beispiele dafür finden sich im englischen Fußball und im amerikanischen Basketball: Tim Howard ist Torwart des Fußballclubs Everton FC und leidet am Tourette-Syndrom. Er gilt als sehr reaktionsschnell. Die Tics treten zwar während des Spiels auf, doch er betont, dass er den Ball nie fallen lasse. Ebenfalls ist hier der Basketballspieler Mahmoud AbdulRauf, der in den 90er Jahren sehr bekannt war, zu nennen. Er litt stärker als Howard unter seinen Zwangshandlungen, bekam seine Tics jedoch erst, wenn der Ball im Aus war.57

Tourette-Syndrom und Straßenverkehr

Gegen das Rad-, Motorrad- und Autofahren bestehen grundsätzlich keine Einwände. Seit Jahren nehmen viele Tourette-Kranke am Straßenverkehr teil. Jedoch ist es zu empfehlen, dass die Betroffenen sich vor dem Ablegen der jeweiligen Fahrprüfung ein ärztliches Zeugnis von dem behandelnden Arzt einholen. So können Schwierigkeiten schon im Vorfeld beseitigt werden.58

Tourette-Syndrom und Bundesheer

In den Vereinigten Staaten gibt es bereits eine Regelung des Verteidigungsministeriums, dass Tourette-Kranke keinen Wehrdienst leisten müssen. In Deutschland und Österreich gibt es noch keine solche Regelung, wobei sich die hiesigen Tourette-Experten jedoch einig sind, dass hier auch kein TouretteBetroffener ins Militär geschickt werden sollte. Schließlich gibt es im Bundesheer 56

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge: S. 169 vgl. Klappenbach, Mathias: Unter Kontrolle, Tagesspiegel, 7/2003, S. 11 58 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 172 57

immer wieder Stresssituationen, die Tics hervorrufen und durch Unkenntnis der anderen können Schikanen und dadurch eine Symptomverschlechterung auftreten. Zur Musterungsuntersuchung sollten Betroffene immer ein ärztliches Gutachten mitbringen, auf das sich der Heerespsychiater dann stützen kann.59

Tourette-Syndrom – eine „Behinderung“?

Der Begriff „Behinderung“ klingt für viele unschön, trotzdem gilt das TouretteSyndrom rechtlich als „Schwerbehinderung“. Für betroffene Erwachsene und auch schon Kinder ist es möglich, einen Antrag beim zuständigen Versorgungsamt zu stellen. Generell werden, natürlich von der Symptomausprägung abhängig, zwischen 50 und 80 % als Grad der Behinderung anerkannt. Ob so ein Antrag in der jeweiligen Ausbildungs- oder Berufssituation vor- oder nachteilig ist, muss man immer im Einzelfall prüfen.60

Vorteile durch das Tourette-Syndrom

Zahlreiche vom Tourette-Syndrom betroffene Menschen besitzen eine sehr gute Reaktionsfähigkeit. Durch weniger zentralnervöse Hemmungsmechanismen lassen sich Bewegungen besser und leichter auslösen und die psychomotorische Genauigkeit ist ebenfalls bei vielen Patienten erhöht. Nach Kirsten Müller-Vahl, eine deutsche Ärztin, verfügen viele Betroffene über ein sehr rasches Auffassungsvermögen und eine besondere Schlagfertigkeit. Ebenso sind ein gutes mathematisches Verständnis und ein ausgeprägtes Langzeit-, Personen und Zahlengedächtnis zu nennen. Ferner sollen nahezu alle Patienten sehr pünktlich sein.61

59

vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 172 vgl. Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge, S. 172 f. 61 vgl. www.wikipedia.org (10.01.2007) 60

Quellenverzeichnis Literatur:

Castelnuovo, Rossella: Schluckauf im Gehirn, Echo, 2/2007

Ciupka, Burkhard: Zwänge: Hilfe für ein oft verheimlichtes Leiden. Patmos Verlag GmbH & Co.KG Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich 2001

Folder der Österreichischen Tourettegesellschaft, Hrsg.: Stamenkovic M., Schindler S., Riederer F.

Gastpar, M.T.: Psychatrie (Lehrbuch mit Repetitorium). 1996, Walter De Gruyter, Berlin – New York

Klappenbach, Mathias: Unter Kontrolle, Tagesspiegel, 7/2003, S. 11

Mann, A: Die auf uns gekommenen Schriften des Kappadocier Aretaeus. Martin Sändig, Halle 1969

ProSieben: Welt der Wunder, „Unkontrolliert ins Abseits - Was sich beim TouretteSyndrom im Gehirn abspielt“, 4.03.2003

Scholz, Angela: Mein Kind hat Tics und Zwänge. Erkennen, verstehen und helfen beim Tourette-Syndrom. 2001 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Internetquellen:

www.tourette.at

www.behindertenecke.de (10.01.2007)

www.erzwiss.uni-hamburg.de/sonstiges/Neuropsychologie/Syndrome/Tourette.htm (10.01.2007)

www.kinderaerzte-im-netz.de (10.01.2007)

www.meine-gesundheit.de/781.0.html (19.01.2007)

www.psychosoziale-gesundheit.net (5.1.2007)

www.tourette.ch (5.1.2007)

www.tourette.de (16.01.2007)

www.tourette.de/forschung/gesch.shtml (19.01.2007)

www.wikipedia.org (10.1.2007)

Abbildung Titelblatt:

www.tourette.at (10.1.2007)

Abb. 1:

http://www.charite.de/ch/neuro/klinik/patienten/ag_bewegungsstoerungen/index/info/ Parkinson/Parkinson.htm (21.02.2007)