Tim Geelhaar, Christianitas

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367254 — ISBN E-Book: 9783647367255

Tim Geelhaar, Christianitas

Historische Semantik

Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 24

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Tim Geelhaar, Christianitas

Tim Geelhaar

Christianitas Eine Wortgeschichte von der Spätantike bis zum Mittelalter

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-2953 ISBN 978-3-525-36725-4 ISBN 978-3-647-36725-5 (E-Book) ISBN 978-3-666-36725-0 (V& R eLibary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Auszug aus der Capitulatio de partibus Saxoniae mit xpristianitatis in der zweiten Zeile. Pergament (H 27,3 cm, B 17,8 cm, D 3,2 cm) Vatikanstadt, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. Lat. 289, fol. 60r. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Tim Geelhaar, Christianitas

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte . 1. Christenheitsidee christianitas . . . . . . . . . 2. Ideengeschichte herausfordern . . . . . . . . . 3. Wortgeschichte umsetzen . . . . . . . . . . . .

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13 13 18 26

I.

Reden mit christianitas in der Spätantike . 1. Ein später Neologismus . . . . . . . . . . 2. Bedingungen des Sprachgebrauchs . . . 3. Verteilung des Wortgebrauchs . . . . . . 4. Verwendungen und Verwendungsmuster

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37 37 42 51 57

II.

Wahre und falsche Christen . . . . . . . . . . . . . 1. Verwandte Worte: christianismus – christianitas 2. Was es heißt, Christ zu sein . . . . . . . . . . . 3. Der christliche Name . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dynamisierung eines Wortgebrauchs . . . . . .

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65 66 75 87 93

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103 104 109 122 129

Kaiserliche Edikte und kanonisches Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kaiser haben das Wort: der Codex Theodosianus . . . . . . 2. Fortführung der Begründungslogik: die Collectio Dionysiana . .

135 136 147

III. Das Schweigen des Augustinus . . . . . 1. Was Augustinus sagte . . . . . . . . . 2. »Was habt Ihr mit den Königen …?« 3. Der Kampf um die Worte . . . . . . . 4. Ein Schweigen ohne Konsequenzen? . IV.

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Tim Geelhaar, Christianitas 6

Inhalt

Die Kreativität des Übersetzens . . . . . . . . . . . . 1. Kaiserliche Christlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Vielfalt: Die Historia ecclesiastica tripartita . 3. Erzählen mit christianitas nach Epiphanius . . . .

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155 156 161 178

VI. Eine Eigenschaft als Mittel politischer Kommunikation . 1. Zwischen Eigenschaft und Anrede . . . . . . . . . . . 2. Stabilisierung und Politisierung . . . . . . . . . . . . 3. Der politische Gebrauch der Anrede . . . . . . . . . .

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187 188 197 210

VII. Ein Wort in vielen Christenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im westgotischen Spanien: Weiterleben eines Wortgebrauchs . 2. Unter Angelsachsen: Adaption und Rückkehr zur Konvention 3. christianitas – ein Wort der Spätantike . . . . . . . . . . . . .

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219 221 229 236

VIII. Reden mit christianitas in der karolingischen Welt . . . . 1. Ein altes Wort in einer neuen Welt . . . . . . . . . . . . 2. Das Latein der Karolinger . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verteilung des Wortgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprachliche Merkmale in Spätantike und Karolingerzeit

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243 243 247 252 256

IX.

Eine Anrede wird aufgegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das fränkisch-päpstliche Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was Hadrian anders machte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 261 268

X.

Eine Missionsvokabel? . . . . . . . . . . . 1. Bonifatius und die Briefe des Zacharias 2. Die Viten des 8. Jahrhunderts . . . . . 3. Die Bekehrung der Sachsen . . . . . .

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275 276 286 292

XI.

Eine karolingische christianitas? . . . . . . . . . . . . 1. christianitatis imperium – ein halber Versuch . . . 2. populus christianus und das apokalyptische nomen christianitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. christianitas als politische Tugend . . . . . . . . . . 4. Divergierende Semantisierungen . . . . . . . . . . .

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305 306

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313 323 330

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

V.

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Tim Geelhaar, Christianitas 7

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bibliographische Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355 355 357

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359 359 374

Quellensynopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zur Sammlung von Verwendungsnachweisen Phase 1: Spätantike (360 – 490) . . . . . . . . . . . . . . . . Phase 2: Spätantike (491 – 605) . . . . . . . . . . . . . . . . Phase 3: Spätantike (606 – 740) . . . . . . . . . . . . . . . . Phase 4: Karolingerzeit (741 – 814) . . . . . . . . . . . . . .

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413 413 414 439 468 487

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

547

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555

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Tim Geelhaar, Christianitas

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Tim Geelhaar, Christianitas

Vorwort

Wenn nun, 76 Jahre nach Jean Rupps »L’id¦e de chr¦tient¦ dans la pens¦e pontificale des origines — Innocent III« (Paris 1939) eine zweite Monographie zu christianitas erscheint, so ist dies erst einmal eine Verneigung vor der Leistung dieses Mannes. Sowohl seine Leseleistung als auch seine Thesenbildung beeindrucken immer noch. Erst die nunmehr digitalisierten, mittelalterlichen Quellenbestände haben die Voraussetzung dafür geschaffen, in einem neuen methodischen Zugriff in der Quellenanalyse über das von Jean Rupp Erreichte hinauszugehen. Insbesondere fasziniert jedoch, wie lange seine These vom Ursprung des Konzepts »Christenheit« aus der Feder verschiedener bedeutender Päpste Bestand hatte. Bis heute hat es keinen umfassenden Versuch gegeben, die These kritisch zu prüfen, obwohl ihre Schwachstellen dazu Anlass bieten und eine Revision schon aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts der letzten Jahrzehnte geboten wäre. Der Erfolg der These ist jedoch nicht allein auf die Qualität der Ruppschen Argumentation zurückzuführen, sondern auch auf ein Bedürfnis nach einem christlichen, papstzentrierten Weltbild in zumeist konservativen und katholischen Kreisen der europäischen Gesellschaften. Diese Selbstvergewisserung wird zudem meist in einer Art der Geschichtsschreibung gesucht, von der längst bekannt ist, dass sie immer noch in ihrem Innersten von christlichen Deutungsmustern geprägt wird. Vor welchen gesellschaftlichen Herausforderungen solche Weltbilder stehen, wurde in der Debatte um den Gottesbezug in der avisierten, aber nicht zustande gekommenen Verfassung für die Europäische Union sichtbar. Der große gesellschaftliche Rahmen, sowohl in den Einzelstaaten als auch auf der Ebene der EU selbst, ist in den letzten Jahrzehnten vielgestaltiger geworden. Wir stehen heute vor sozialen, demographischen und kulturellen Veränderungen, deren Auswirkungen wir längst noch nicht erfasst und auf die wir uns noch lange nicht eingestellt haben. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass wir uns gegenwärtig in einer entscheidenden Phase für die Zukunft Europas befinden – eine Zukunft, für die überhaupt noch nicht abzusehen ist, welche Rolle die christliche Kultur in ihrem Facettenreichtum spielen wird. Um aber dieses Erbe für die Gestaltung der Zukunft

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Tim Geelhaar, Christianitas 10

Vorwort

einsetzen zu können, sind wir dazu verpflichtet, dieses Erbe wie auch unseren Umgang mit ihm kritisch, ernsthaft und gewissenhaft zu prüfen. Dies gilt insbesondere für die Genese und Funktion solcher Konzeptionen wie »Christenheit« als einer theologisch-politischen Figur des großen Ganzen. Nora Berend und Mary Anne Perkins haben, jede für sich und für ihre jeweiligen Epochen, solche Forschung bereits begonnen. Hier reiht sich nun auch diese Studie zum Wortgebrauch von christianitas ein. Sie kann Rupps These nicht in Gänze herausfordern und will dies auch nicht leisten; vielmehr erbringt sie erforderliche Vorarbeiten für spätere Untersuchungen zur Reevaluation der mittelalterlichen Idee der Christenheit und deren Wirkungsmöglichkeiten. Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2013 vom Fachbereich 08 der Goethe Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen und am 5. Februar 2014 verteidigt worden. Für die Drucklegung wurde die Arbeit redaktionell überarbeitet und gekürzt. Zwei Abschnitte der Quellensynopse sind aus Kostengründen nicht in die Druckfassung übernommen worden; sie sind stattdessen über das Onlineangebot des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht zugänglich. Der Hinweis auf die Internetadresse findet sich im Anhang. Mit dem Erscheinen dieser Arbeit geht ein Kapitel in meinem Leben zu Ende, das ohne das Vertrauen, die Hilfe und die Unterstützung vieler verschiedener Menschen keinen so glücklichen Ausgang gefunden hätte. An erster Stelle möchte ich Bernhard Jussen danken. Er erkannte das Potenzial dieses Themas und gewährte mir ein Stipendium im Rahmen des aus den Mitteln des LeibnizPreises der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts »Politische Sprache im Mittelalter« – woraus auch die Drucklegung dankenswerterweise finanziert wurde; damit schenkte er mir nicht nur sein Vertrauen, sondern ließ mir alle Freiheiten, die man sich für ein selbstbestimmtes Forschen nur wünschen kann. In solchen Situationen kann es vorkommen, dass man jede Distanz zu seinem Thema und jeden Kontakt zur Außenwelt verliert. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mir eher das Gegenteil widerfahren ist. Diese Frankfurter Jahre waren in jeder Hinsicht bereichernd. Bernhard Jussen hat uns Stipendiatinnen und Stipendiaten dazu angehalten, immer wieder den akademischen Tunnelblick abzulegen, uns mit Themen und Problemen verwandter Disziplinen zu beschäftigen und dabei auch die Medialität von und in der Geschichte nicht zu ignorieren. Dass die eigene Arbeit dabei nicht in den Hintergrund getreten ist, verdanke ich wiederum meinen Mitstipendiatinnen im Projekt, Silke Schwandt, Meike Pfefferkorn, Kornelia Berns, Anastasia Brakhman und Ulla Kypta, sowie den beiden Projektleitern, Jan Rüdiger und Gregor Rohmann. Ihnen wie auch allen anderen Kollegen an der Frankfurter Universität danke ich zum einen für die vielen wertvollen Diskussionen, Anregungen und Ermahnungen, die mir auf meinem Weg weitergeholfen haben, und zum an-

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Tim Geelhaar, Christianitas 11

Vorwort

deren dafür, dass sie mich Neuankömmling in Frankfurt so herzlich aufgenommen haben. Mein Zweitbetreuer Jan Rüdiger hat mich bereits in Berlin gefördert und immer zur rechten Zeit gefordert. Sein Verständnis wie auch seine Kritik haben mich überhaupt erst dahin gebracht, die Arbeit zu vollenden. Wir beide wissen, wie lang und verschlungen der Weg aus einem kleinen Büro auf der Zwischenetage des ehemaligen Prinz-Heinrich-Palais bis in den Disputationssaal im IGFarbenhaus gewesen ist. Für seine Freundschaft in all diesen Jahren mein tiefempfundener Dank. Hartmut Leppin danke ich für seine Gesprächsbereitschaft, für seine umsichtigen, hilfreichen Kommentare und für seine Bereitschaft, das Drittgutachten zu übernehmen, für das angesichts der Thematik wohl kaum jemand qualifizierter hätte sein können. Umso dankbarer bin ich für seine gewissenhafte, genaue Lektüre, wodurch ich Vieles berichtigen und bereinigen konnte. Es versteht sich von selbst, dass all diese Menschen die Arbeit nur besser gemacht haben und dass ich allein für alle Missverständnisse oder gar Fehler im Text verantwortlich bin. Die Teilnahme am CollÀge doctoral der Universitäten Paris I Panth¦on-Sorbonne und Frankfurt am Main hat meine Arbeit vorangebracht, da mir erst in Paris der eigentliche Zuschnitt des Themas bewusst wurde. Ich danke FranÅois Menant, R¦gine Le Jan und insbesondere Dominique Iogna-Prat für ihre Hilfe, die Möglichkeit, die reichen Buchbestände der ENS und der BNF zu konsultieren, Kapitel der Arbeit vorzustellen und über die Arbeit zu diskutieren. Klaus Herbers, Erlangen, Maria Pia Alberzoni und Gian Luca Potest—, Mailand, sowie allen Teilnehmenden der Villa–Vigoni-Gespräche im April 2012 danke ich, da sie mich darin bestärkt haben, am Ziel meiner Arbeit angelangt zu sein. Niina Stein und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich für die Flexibilität bei der Fertigstellung des Manuskripts. Monika Hahn gilt mein Dank für ihr professionelles Lektorat, das mit allen den Fehlern zu kämpfen hatte, die unter Zeitdruck entstehen und die Lektüre sehr erschweren. Mein letzter Dank gilt den wichtigsten Menschen in meinem Leben: meiner Frau und meiner Familie, die mich mit all ihrer Liebe, Geduld und Nachsicht in dieser langen Zeit unermüdlich unterstützt haben. Ich widme daher dieses Buch ihnen allen: Doris, Rainer, Anne i mojej Sylwii oczywiscie. Frankfurt am Main, im November 2014 Tim Geelhaar

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Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte

1.

Christenheitsidee christianitas »Daher wollen wir auf dem Seeweg in die Francia aufbrechen und uns an den ruhmreichen König Karlmann wenden und auch über dessen erwünschten Schutz nachsinnen, natürlich um das Wohl wie auch um die Verteidigung des Landes des heiligen Petrus und der ganzen christianitas (pro salute scilicet ac defensione terre˛ sancti Petri et totius christianitatis) demütig bitten, damit wir, wie es angemessen ist, durch den Trost des allmächtigen Gottes und mit königlicher Kraft gestärkt, das mit dem kostbaren Blut des Herrn erworbene Territorium und das Volk in zuträglicher und günstiger Weise fortan leiten und bewahren können, […].«1

Der Mut der Verzweiflung führte Papst Johannes VIII. (sed. 872 – 882) die Feder, als er sich im Februar 878 mit diesen Worten an Markgraf Lambert von Spoleto wandte. Seine päpstliche Herrschaft über Rom und das Patrimonium Petri war schon seit Längerem andauernden Angriffen ausgesetzt. Nicht Sarazenen, sondern Christen attackierten und verwüsteten das Land um Rom; auch die Ewige Stadt bedrohten sie. Nun war der Papst selbst in Gefahr. Als einzige Ausflucht blieb ihm der Weg über das Meer, um von den Franken Hilfe erbitten zu können. Johannes warnte Lambert, der schon einmal die Stadt in seine Hände gebracht hatte, während seiner Abwesenheit nichts gegen Rom zu unternehmen. Er erinnerte den Grafen nicht nur an die hohe Aufgabe des Papstes, sondern auch an dessen eigene Verpflichtung als Vertreter Karlmanns, die königliche Herrschaft in Italien in dessen Sinne zu verwalten.2 Diese Textpassage hat Jean Rupp vor mehr als siebzig Jahren in der einzigen bisher publizierten Monographie zu christianitas dahingehend ausgelegt, dass Johannes VIII. von der christianitas im universellen Sinne gesprochen habe. Nicht allein das christliche Volk Roms, sondern das christliche Volk im Allge1 Johannes VIII., Registrum, ep. 78 (MGH Epp. 7), S. 74 (381.701; zur Nummerierung siehe Anm. 69). 2 Zum konfliktreichen Verhältnis zwischen Johannes VIII. und Lambert siehe Arnold, Johannes VIII., S. 109 – 115.

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Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte

meinen sei bedroht gewesen.3 Für Rupp stand nach der Analyse der Briefe Johannes’ VIII. fest: Es habe zu diesem Zeitpunkt ein Bewusstsein für die Existenz einer christianitas genannten sozialen Realität gegeben. Diese habe weder der Kirche noch dem Reich entsprochen, sondern das christliche Universum bezeichnet: Land, Menschen und Sachen unter dem Einfluss Christi.4 Da es diese christianitas zu verteidigen gegolten habe, habe sie die Form einer in der Welt verankerten sozialen Größe angenommen und sei durch Bezug zu einem geographisch fassbaren Raum eine politische Größe geworden. Im weiteren Sinne habe sie die Gemeinschaft aller Christen in Christus repräsentiert, also der Denkfigur des corpus mysticum Christi entsprochen, und damit eine eschatologische, über das Irdische hinausweisende Dimension erhalten. Im engeren Sinne aber sei sie die weltliche Gemeinschaft der Christen gewesen, die zur späteren Idee einer Gemeinschaft christlicher Nationen unter Leitung des Papstes geführt habe.5 Jean Rupp schloss in seine Untersuchung Gregor VII., Urban II., Alexander III. und Innozenz III. ein, um seine Vorstellung einer päpstlichen christianitas-Idee und einer sozialen Realität namens christianitas im Mittelalter in der Wissenschaft zu verankern. Der Erfolg seiner Interpretation lässt sich allein schon daran messen, dass alle späteren Forschungen hierauf aufbauten.6 Das Wort christianitas fand als Chiffre für ein mittelalterliches Konzept Einzug in die Geschichtserzählungen zu Christentum, Papst- und Kaisertum, Kreuzzügen und Europa.7 Da sie als eine 3 Vgl. Rupp, L’id¦e, S. 39. 4 Vgl. ebd., S. 47: »[…] dÀs l’¦poque de Jean VIII, on a conscience de l’existence d’une r¦alit¦ sociale d¦nomm¦e ›christianitas‹ qui n’est ni l’Eglise, ni l’Empire, mais ce que l’on pourrait appeler : l’Univers chr¦tien, terre, hommes et choses soumis — l’influence du Christ.« Hierauf baut Bredero, Christenheit, S. 22 f., Rupp folgend, seine Erzählung von der Christenheit auf. 5 Vgl. Rupp, L’id¦e, S. 126 f. 6 Einen Überblick über die ältere Forschung bietet van Laarhoven, Chr¦tient¦. Hervorzuheben ist Kempf, Papsttum, der christianitas in Bezug auf das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser genutzt hat, kritisch hierzu: Köhler, (Art.) Corpus christianum, S. 212. 7 Z. B. Paravicini Bagliani, Vormachtstellung, S. 615 – 617; Prosdocimi, Cristianit—; Mastnak, Crusading Peace, S. 91 – 93; Hay, Europe, S. 1. Die gängige Interpretationskette »Von der christianitas zu Europa als christlichem Abendland« bei Bartlett, Geburt, S. 303 – 307; Hiestand, Christianitas und Islam, S. 17: »Der Erste Kreuzzug war [ein] den Raum eines einzelnen Reiches übersteigendes Unternehmen der abendländischen Christianitas. Dies konnte das Papsttum auslösen.« Wenn Matheus, »Alle Wege«, S. 243, einleitet: »Als spirituelles und administratives Zentrum der lateinischen christianitas war die mittelalterliche römische Kurie über Jahrhunderte hinweg ein Kristallisationspunkt und ein Zentrum kommunikativen Austauschs […]«, setzt er christianitas mit einer politischen Realität gleich. Weiterhin Roscher, Papst Innocenz III.; Appelt, Christianitas; Becker, Politique. Ein Beispiel für die verknappte Darstellung mittels christianitas Meier, (Art.) Christentum, Sp. 239 f.: »Im Westen entstand das ›christliche Abendland‹, dessen Rückgrat die Allianz der Päpste mit den fränkischen Herrschern wurde, manifestiert in der Kaiserkrönung Karls des Großen (800). Auch mit Gewalt […] hatte Karl die Verschmelzung von Reich und Kirche zu jener ›christianitas‹ betrieben, welche sich in den folgenden Jahrhunderten mehr und mehr als ›societas perfecta‹

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Tim Geelhaar, Christianitas Christenheitsidee christianitas

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mittelalterliche Selbstbeschreibungsvokabel galt, schien es legitim, sie auch in das Beschreibungsvokabular der Forschung zu übernehmen.8 Mit ihr konnten Historikerinnen und Historiker die Vorstellung einer spirituellen, kulturellen, politisch-sozialen und geographischen Einheit aller dem römischen Ritus folgenden Christen auf Erden oder gar eine gesamtgesellschaftliche Verfasstheit Europas im Mittelalter evozieren. Für Raoul Manselli ist dieses Konzept sogar bereits in der Zeit des 7. bis 9. Jahrhunderts unter dem Eindruck der muslimischen Angriffe auf die christlichen Herrschaften Westeuropas aufgekommen, als die christlichen Reiche »eben deshalb, da sie christlich waren, eine Einheit in ihrer Vielfalt anstrebten«.9 Johannes VIII. habe mit seinen Appellen zur Einheit gegen die nicht-christlichen Feinde wesentlich zur Herausbildung und Etablierung des Konzepts beigetragen, das seitdem in christianitas seinen zeichenhaften Ausdruck gefunden habe. Mansellis These klang so nachvollziehbar, dass das Fehlen von Belegen kaum ins Gewicht fiel. Für das 9. Jahrhundert sah Dominique Iogna-Prat dann auch in dem von den Päpsten geführten Kampf gegen die sarazenischen Piraten den Träger einer lexikalischen Entwicklung allerersten Ranges.10 Im Hochmittelalter habe sich ein Bewusstsein für eine übergeordnete Einheit aller christlichen Herrschaften unter der Führung der Päpste entwickelt, die diese Rolle bis ins Spätmittelalter erfolgreich hätten behaupten können. Unter päpstlicher Leitung sei der uniforme Aufbau kirchlicher Strukturen vorangeschritten, während die christianitas nach außen zu erweitern und zu verteidigen gewesen sei (dilatatio und defensio).11 Folglich habe christianitas keine nennenswerte theologische, wohl aber eine bedeutende politische Rolle gespielt.12

8 9 10

11 12

verstand und die Idee des Reiches Gottes in problematischer Weise auf sich bezog.« Er erläutert nicht, was unter christianitas zu verstehen sei, distanziert sich hingegen vom Begriff, wie er es auch gegenüber dem christlichen Abendland, dieser problematischen Bezeichnung des 19. und 20. Jahrhunderts tut. Vgl. auch Köhler, (Art.) Abendland, S. 17 – 42; Conze, Abendland; Hildmann, Vom christlichen Abendland. Siehe auch Fried, Formierung Europas, S. 58; Struve, Kaisertum, S. 7; Mierau, Kaiser, S. 255. Berend, Concept, S. 51, nimmt diesen Umstand zum Anlass, die Geschichte des Konzepts für das Spätmittelalter und den Umgang der Forschung mit dem Begriff »(Lateinische) Christenheit« zu untersuchen. Vgl. auch dies., Frontiers, S. 27 – 40. Manselli, (Art.) Christianitas, Sp. 1915 f. Iogna-Prat, Maison Dieu, S. 196: »une porteuse d’une ¦volution lexicale de toute premiÀre importance, avec l’¦mergence de l’acception g¦ographique du terme ›Christianitas‹ (Chr¦tient¦, avec une majuscule)«, ohne es weiter argumentativ zu belegen. Dies sei auch der historische Wendepunkt gewesen, um Rom und den Papst zum Gravitationszentrum der »Latinitas« zu machen. Siehe auch ders, Ordonner, S. 11 f., worauf Nagy, Notion, verweist. Bartlett, Geburt, S. 303 – 307, bes. S. 306. Berend, Frontiers, S. 27, zufolge beanspruchten Könige den Titel des Verteidigers der Kirche, weil »defending the frontiers of Christendom became an argument in medieval royal ideology in order to gain privileges from the papay.« Vgl. Manselli, »respublica christiana«; Seckler, (Art.) Christentum, Sp. 1107; Berend, Gate, S. 42 f.; dies., Concept, S. 54 – 56; Nagy, Peripheries, S. 12 f.

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Tim Geelhaar, Christianitas 16

Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte

Zuletzt hat J¦rúme Baschet für das Dictionnaire des faits religieux einen Artikel über den Begriff der Christenheit verfasst, in dem auch er sich weitgehend auf Rupp stützt. Jedoch hat er unter Rückgriff auf Anregungen Jan van Laarhovens die ursprüngliche These entscheidend variiert. So sei der erste Bedeutungswandel des Begriffs christianitas immer noch im 9. Jahrhundert anzusetzen, allerdings im Umfeld der karolingischen Herrschaft.13 Die Christenheit als soziale Größe – hier bedient sich Baschet der von Rupp eingeführten Kategorie des »sens social« – sei bereits in den Schriften Alkuins (gest. 804) und mehr noch Hinkmars von Reims (sed. 835/42 – 882) zu erkennen. Dennoch dürfe trotz der nachweisbaren Nähe zum karolingischen imperium nicht angenommen werden, dass die beiden Größen als deckungsgleich gedacht wurden. Vielmehr müsse der Begriff der Christenheit in die Nähe der Universalkirche gerückt werden.14 Baschet gibt der Ruppschen Interpretation eine neue Richtung, da in seiner Darstellung nicht mehr die Päpste den Bedeutungswandel bewirkt haben. Allerdings grenzt Baschet seine Gedanken weder klar gegen Rupps Thesen ab, noch basieren seine Ausführungen auf eigener Quellenarbeit. Dies ist dem Genre des Dictionnaire raisonn¦ geschuldet, das Raum zur Hypothesenbildung bietet. So fehlen zu Baschets Annahme eines ersten Bedeutungswandels der christianitas im Umfeld der Karolinger Studien, die diese These belegen oder bestätigen könnten.15 Baschets Ausführungen ermutigen dazu, die Geschichte der christianitas erneut anzugehen, sich ihr aus einer anderen Perspektive zu nähern. Bei der Suche nach dem Konzept sind nämlich Wortgebrauch, Verständnis und Grenzen der Verständlichkeit bei den Zeitgenossen zu kurz gekommen.16 Ähnlich wie in der älteren Begriffsgeschichte wurden in der Ideengeschichte zu christianitas/ Christenheit nur einzelne Autoren heranzogen; Forschungen ließen sich von der späteren Vorstellung eines darin zum Ausdruck kommenden großen Ganzen leiten; das Konzept wurde von seinem Ende her gedacht.17 Wie aber verändert 13 Vgl. Baschet, (Art.) Chr¦tient¦, S. 132; van Laarhoven, Christianitas. Allerdings hat auch van Laarhoven keine weitere Begründung geliefert. Siehe auch Krey, (Art.) Christianity, S. 172. 14 Kuchenbuch, (Art.) Sozialstruktur, Sp. 771 – 773, hätte Baschet vielleicht zugestimmt, da er selbst »ecclesia, domus dei und christianitas als wichtige patriarchalisch-ekklesiologische Deutungsfiguren« des frühen Mittelalters nennt. Er bleibt aber die Begründung schuldig. 15 Dies gilt in gleicher Weise für die von Baschet vorsichtiger formulierten Beziehungen zu anderen Leitvokabeln der Karolingerzeit wie imperium und ecclesia. Die einzige Arbeit aus jüngerer Zeit, die sich der frühmittelalterlichen christianitas angenommen hat, ist Nagy, Notion, die an der Predigt Abbos von Saint-Germain zeigen wollte, dass christianitas die Ordnungskategorie imperium abgelöst habe. 16 Eine Sprachstudie forderte bereits Kempf, Papsttum, S. 304. John Van Engen, Christian Middle Ages, S. 539, konstatierte, dass die Frage, was unter christianitas verstanden wurde, zu wenig Aufmerksamkeit erhalten habe. 17 Vgl. Rupp, L’id¦e; van Laarhoven, Christianitas, S. 2 f.; Ladner, Concepts; Rendtorff, Christentum, S. 773, weist darauf hin, dass das »allmähliche Aufkommen einer eigenen

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sich unser Wissen von christianitas im Mittelalter, wenn man von diesen Prämissen ablässt, wenn man den Blickwinkel ändert, dem Wortgebrauch einen eigenen Stellenwert einräumt, wenn an die Stelle einer Ideen- eine Wortgeschichte tritt? Um Vokabel und Konzept zu entkoppeln, ausgetretene Pfade von Abfolgelogiken zu verlassen, rückt im Folgenden nicht die Idee der Christenheit, sondern das Wort, die Zeichenfolge christianitas in den Mittelpunkt. Die Leitfragen lauten daher nicht: Wie entstand das Konzept der Christenheit? Wie wurde christianitas zu Christenheit?, sondern: Wovon sprachen Menschen in Spätantike und Karolingerzeit, wenn sie das Wort christianitas gebrauchten? Zu welchen Gelegenheiten, in welchen Kontexten nutzten sie es, welche Bedeutung verliehen sie ihm zu den jeweiligen Zeiten? Damit soll erst einmal der Blick frei werden für jene sprachlichen und gesellschaftlichen Prozesse, die sich über den Wortgebrauch von christianitas erfassen lassen. Hieran anschließend lässt sich gezielter fragen, um die Wortgeschichte mit der Ideengeschichte in den Dialog zu bringen. Dabei sind Themen der neueren historischen Politikforschung aufzugreifen: Lässt sich eine Politisierung der Vokabel erkennen und worin bestünde sie? Inwieweit brachten die Zeitgenossen mit ihrem Wortgebrauch von christianitas Ansichten und Geltungsansprüche bezüglich ihrer gesellschaftlichen Ordnung zum Ausdruck? Diese Wortgeschichte positioniert sich zwischen Kirchen- und Politikgeschichte, zwischen Sprach- und Ideen-/Begriffsgeschichte. Sie operiert mit Methoden der Historischen Semantik, sie untersucht nicht so sehr die Geschichte des Wortes, sondern vielmehr das Wort in der Geschichte. Sie soll mehr als nur eine reine Etymologie bieten, sie will vielmehr der Ideengeschichte eine soziale Verankerung geben.18 Sie sucht nicht nach den Ursprüngen für die SeTerminologie für ›Christentum‹ im Mittelalter […] der Notwendigkeit [folgte], die territoriale, soziale und politische Einheit der christlichen Welt semantisch zum Ausdruck zu bringen, nachdem sich für die tendenziell universale und ökumenische Mission der christlichen Kirche deutliche Grenzen herausgebildet hatten.« 18 Anregungen boten u. a. Robling, Probleme, S. 13; Reichardt, Einleitung; ders., Historische Semantik, S. 24, hat für einen Mittelweg zwischen Begriffsgeschichte und Lexikometrie plädiert. Die historisch-semantische Analyse ziele »über einzelne Aussagen und Texte hinaus […] auf spezifische und regelhafte Sprech- und Denkweisen konkreter Sprachgemeinschaften, auf die Sinnproduktion durch Sprache«. »Wortgefüge und versprachlichte Argumentationsmuster, welche die Einzeltexte übergreifen, sind ebenso zu berücksichtigen, wie der kommunikative Charakter und die kommunikative Funktion der Quellentexte.« Busse, Sprachwissenschaft, S. 39 f., hat sich aus linguistischer Perspektive für eine stärker sozialwissenschaftlich ausgerichtete Sprachwissenschaft unter Einbeziehung von Kommunikations- und Diskursgeschichte starkgemacht. Siehe auch Busse/Teubert, Diskurs, S. 13 u. Busse, Semantik, S. 126 sowie Busse/Niehr/Wengeler, Brisante Semantik. Aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive schlug Peter Burke eine »social history of language« vor, siehe Burke, Social History. Otto-Gerhard Oexle, Begriffsgeschichte, befürwortet die Verflechtung von Wort- und Problemgeschichte, damit die Problemgeschichte nicht mehr als »Geschichte abstrakter und unabhängiger Denkrelationen« verstanden werde. Der Gegen-

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Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte

mantisierung einer bestimmten Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit in einer bestimmten Vokabel.19 Sie interessiert sich dafür, wie ein Sprachgebrauch nach den Bedürfnissen der Zeit ausgerichtet, aktualisiert und umgeschrieben wurde und damit letztlich auf die beschriebene Welt zurückwirkte.20 Es geht nicht darum, die Christenheitsidee in der Zeit zurückzuverfolgen, sondern Dynamik und Diversität in der sprachlichen Verwendung des Wortes christianitas nachzuvollziehen. Diese semasiologische Ausrichtung erfordert ein bestimmtes Vorgehen, das seinerseits die Quellenauswahl bestimmt. Da sich beides aus den weitergehenden Zielen der Arbeit ergibt, sollen diese zunächst vorgestellt werden. So lässt sich zeigen, wo sich die Arbeit gegenüber der Forschung situiert und welchen Beitrag sie leisten will.

2.

Ideengeschichte herausfordern

Zunächst zielt die Studie darauf ab, Rupps Studie um den nichtpäpstlichen Sprachgebrauch zu erweitern. Jean Rupp hielt seine Ergebnisse für verallgemeinerbar ; die Register der Päpste waren für ihn ein Ort sedimentierten Sprachgebrauchs, eine Widerspiegelung der Sprache und des Denkens von Zeitgenossen, was jeden Zweifel an einer Vereinzelung seiner Quellen aufhebe.21 Diese Annahme beruhte auf Rupps Hochachtung vor dem Stuhle Petri, blendete stand der Begriffsgeschichte bestehe nicht darin, den bloßen begrifflichen Bedeutungswandel, sondern geradezu die Kongruenz zwischen Begriff und Geschichte durch das Aufspüren von Identitäten und Differenzen in der Wortgeschichte zu rekonstruieren. Pozzo/ Sgarbi, Typologie, bieten einen Überblick zu Begriffs- und Problemgeschichte aus philosophischer Sicht, wobei trotz der History of Ideas kein Brückenschlag zur Historischen Semantik anderer Disziplinen unternommen wird. Sgarbi, Umriß, S. 193, hält die Distanz zwischen den Disziplinen, insbesondere zur Linguistik aufrecht, wenn er behauptet »Problemgeschichte bleibt das Gegenteil der Begriffsgeschichte.« 19 Zum Repräsentationsverständnis siehe Baberowski, Selbstbilder, S. 9 – 13. 20 Es geht um das Wechselspiel der Sprache sowohl als wirklichkeitsinterpretierend als auch wirklichkeitskonstituierend, das dazu führt, dass »Sprachwandel in den Geschichten und Wandel in den Sprachen sich niemals im Verhältnis 1:1 aufeinander abbilden lassen.« Koselleck, Wiederholungsstrukturen, S. 111: Es sei die »Doppelseitigkeit der Sprache« zu beachten: »Einerseits zielt sie auf Sachverhalte außerhalb ihrer selbst, andererseits unterliegt sie ihren eigenen, eben linguistischen Regelhaftigkeiten oder Neuerungen. Beide Aspekte verweisen aufeinander, bedingen streckenweise einander, konvergieren aber niemals zur Gänze. Der welterschließende Verweisungscharakter der Sprache einerseits und die ihr eigene, ihr innewohnende Formungskraft andererseits mögen sich gegenseitig stimulieren: immer aber ist in den außersprachlichen Weltgeschichten entweder mehr oder weniger enthalten, als sprachlich darüber gesagt werden kann – so wie umgekehrt in jeder Rede vor, während oder nach einer Geschichte entweder mehr oder weniger gesagt wird, als tatsächlich der Fall ist oder war.« Zur Relation Sprache – Wirklichkeit auch Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 91 u. Eßer, Historische Semantik, S. 281. Dagegen hat sich Paravicini, Wahrheit, gestellt. 21 Vgl. Rupp, L’id¦e, S. 125.

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aber aus, dass die Kommunikation mit dem Papst durch dessen Amt und Würde bestimmt wurde und keinesfalls auf alle möglichen Kommunikationssituationen übertragen werden kann. Bei der Lektüre von Rupp erfährt man nicht, wie der päpstliche Sprachgebrauch rezipiert worden ist, ob er selbst auf Rezeption beruhte und wie der außerpäpstliche Sprachgebrauch ausgesehen hat, ob z. B. die von Manselli erwähnten christlichen Reiche mithilfe von oder gar über christianitas kommunizierten. Jean Rupp konnte gar keine Aussagen darüber bieten, welche Relevanz die Rede von christianitas für die Verbreitung einer Christenheitsidee in den verschiedenen christlichen Gesellschaften entfalten konnte. Rupps Ergebnisse an einer breiteren Quellengrundlage zu prüfen, ist auch deswegen notwendig, weil seine Interpretation von einem romantischen Mediävalismus geprägt war,22 der in der angenommenen Existenz des Konzepts weiterlebt. Die neuere Mediävistik hat Vorstellungen von der einen Christenheit im Mittelalter als Vorläufer Europas zwar bereits dekonstruiert;23 doch nun gilt es, das Konzept selbst zu entromantisieren. Jean Rupp hatte zu Feder und Papier gegriffen, weil ihm die Arbeit Bernard Landrys zur Idee der Christenheit bei den Scholastikern des 13. Jahrhunderts zu wenig über die Christenheit selbst bot.24 Der spätere Erzbischof in partibus wollte diese Idee historisch erklären, um zu einer vornehmlich innerhalb der katholischen Publizistik geführten Diskussion beizutragen, die bereits seit der Jahrhundertwende den Begriff politisierte. Jean Rupp ließ sich von jener romantischen Überhöhung des Mittelalters leiten, die Novalis so poetisch, so verführerisch in Worte zu kleiden verstanden hatte.25 Was der Dichter bezeichnenderweise zur Zeit der Napoleonischen Kriege in einer bewusst verklärenden Sicht auf ein positiv gewertetes Mittelalter entworfen hatte,26 fand nach dem grausamen Schlachten des Ersten Weltkrieges seinen Widerhall in der Suche nach einem Gegenmodell zur fragmentierten, versehrten und als ziellos empfundenen Gesellschaft der Moderne.27 Die Idee von einer 22 Zum romantischen Mediävalismus siehe Russo, Lectures, S. 376 – 380. Raoul Manselli hatte den Romantismus im Konzept christianitas ausgemacht, sich aber nicht vollständig davon lösen können, wie später John Van Engen kritisierte. Vgl. Manselli, Il Medioevo; ders., ›Christianitas‹ mediovale; dazu: Van Engen, Christian Middle Ages, S. 528, 533, 536, demzufolge Jacques Le Goff und andere bereits an der Dekonstruktion des Mittelalters als der goldenen Zeit des katholischen Christentums gearbeitet hätten und ohnehin nur noch wenige Historiker von einer Idee sprechen würden, die die gesamte mittelalterliche Christenheit geteilt hätte. 23 Vgl. Borgolte, Europa; ders., Nationalgeschichten; ders./Schiel/Seitz/Schneidmüller, Mittelalter im Labor ; diess. Hybride Kulturen. 24 Vgl. Landry, L’id¦e de chr¦tient¦, und Rupp, L’id¦e, S. 3. 25 Novalis, Christenheit, S. 21: »Es waren schöne, glänzende Zeiten, als Europa ein christlich Land war, Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte […].« 26 Das Weiterwirken dieses Fragments lässt sich beobachten bei Rau, Christenheit, Hildmann, Christenheit, oder Schefer, Novalis, S. 217 – 222. 27 Russo, Lectures, S. 376 – 380, verweist auf die Enzyklika Pacem Dei munus von 1920, in der

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verlorenen, wiederherzustellenden Einheit der Christen war ihrerseits nicht neu,28 bekam aber im 19. und 20. Jahrhundert in dem Maße Aufschub, wie diese Christenheit als Vorläuferin eines vereinten Europa gedacht wurde.29 Jean Rupp trug den Mediaevalismus in seine Forschung hinein, indem er mit der christianitas-Idee das Papsttum als supranationale, moralische Ordnungsinstanz historisch-theologisch für die Aufgabe der Einigung Europas legitimieren wollte. Jean Rupps Arbeit bewirkte, dass sich die Auseinandersetzung mit christianitas auf die Papstgeschichte einerseits und die politische Ideengeschichte andererseits konzentrierte. Angesichts der konfessionellen Prägung des Themas wundert es nicht, dass insbesondere Friedrich Kempf SJ während des Zweiten Weltkriegs den Dualismus von Papst- und Kaisertum erforschte und das Wirkungsfeld beider Kräfte als christianitas bezeichnete.30 Der enge Konnex von Papsttum und christianitas ist auch an den in der Hochphase der eigentlichen, auf christianitas selbst bezogenen Forschung zu erkennen. Diese Studien aus den 1950er- und 1960er-Jahren konzentrierten sich indes auf die christianitas des Hochmittelalters.31 Diese Ausrichtung auf die Papstgeschichte ist allerdings fragwürdig geworden, da Jan van Laarhoven bereits ernüchternd feststellen musste, wie wenig Papst Gregor VII. (sed. 1073 – 1085) von christianitas Gebrauch machte und damit zur Konzeptionalisierung beigetragen haben kann – ein Befund, den Nora Berend zuletzt nochmals bestätigte.32 Selbst für Papst Innozenz III. (sed. 1198 – 1216), der sich laut Paravicini Bagliani als caput et

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Papst Benedikt XV. (sed. 1914 – 1922) die Aufgabe der Kirche darin sah, die Nationen zur verlorenen Einheit zurückzuführen. Jean Rupp ließ sich bei seiner Studie von der Idee der »soci¦t¦ parfaite« leiten, die auch als »chr¦tient¦ de l’avenir« bezeichnet wurde, aber eben als Begriff sehr schwammig blieb, was auch Rupps Arbeit nicht grundsätzlich zu ändern vermochte. Im Übrigen hat Papst Benedikt XVI. (sed. 2005 – 2013) diesen Namen in Erinnerung an Benedikt von Nursia und Benedikt XV. gewählt, der aufgrund seiner (vergeblichen) Bemühungen im Ersten Weltkrieg als »Friedenspapst« bezeichnet wurde. Hier lässt sich ableiten, dass an eine auf Versöhnung und Einigung ausgerichtete Politik als päpstliche Pflicht angeknüpft werden sollte. Zur Wirkungsgeschichte des Konzepts gehört bereits, dass die unter Kaiser Karl V. (reg. 1520 – 1555) häufig verwendete Formel christianitas afflicta (die zerrüttete Christenheit) als politischer Verlustbegriff genutzt worden ist, mit dem unter Rückgriff auf die Vorstellung einer im Mittelalter geeinten, wehrhaften Christenheit der konfessionellen Spaltung eben jener Christenheit entgegengewirkt werden sollte. Vgl. Lutz, Christianitas afflicta; Moeller, Geschichte, S. 200; Schilling, Zeit, S. 516. Vgl. Perkins, Christendom. Vgl. Kempf, Papsttum, S. 280 – 325, bes. S. 304 – 310. Vgl. Ladner, Concepts. »In many instances when Gregory could have employed the concept of Christendom, he chose not to do so«, so Berend, Concept, S. 57. Vgl. van Laarhoven, Christianitas, S. 94 f.; Cantor, Crisis, S. 64, unterstellt Kirchenreformern des 11. Jahrhunderts die Absicht, »to establish a unified christian world system – Christianitas, Gregory VII called it.«

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fundamentum totius christianitatis bezeichnet hat,33 ist angesichts eines gegenteiligen Wortgebrauchs in den Konstitutionen des IV. Laterankonzils und dem dazugehörigen Einladungsschreiben die Wortverwendung des Papstes noch zu problematisieren.34 Große Verdienste hat sich Nora Berend erworben, die in den letzten zehn Jahren die Erforschung der christianitas-Idee vorangebracht hat.35 Sie hat in ihren Arbeiten vieles, was als selbstverständlich galt, aus kulturgeschichtlicheuropäischer Perspektive in Frage gestellt und konnte so für das 13. und 14. Jahrhundert zeigen, dass die Könige Ungarns, Polens und Kastiliens in ihrer Kommunikation mit dem Papst christianitas für ihre eigenen politischen Ziele einsetzten.36 Diese Erkenntnis ließ sie davon abrücken, in christianitas ein allgemeingültiges Konzept christlicher Selbstwahrnehmung zu sehen. Stattdessen sei das Konzept der Christenheit als rhetorisches Instrument der Integration und Desintegration zu betrachten; christianitas habe eben keine definierten Grenzen gekannt, sich nicht gegen die Muslime konstituiert, sei kein Zeichen einer vereinheitlichten christlichen Kultur gewesen, sondern als »top down notion, rather than some sort of proto-nationalist Christian sentiment« an Partikularinteressen Herrschender gebunden gewesen.37 Eine solche Neuinterpretation für das Spätmittelalter wirft die Frage auf, ob christianitas für das Frühmittelalter nicht auch neu bewertet werden muss.38 Das zweite Ziel besteht daher darin, den frühmittelalterlichen Wortgebrauch zu studieren, um den auf dem christianitas-Konzept ruhenden Forschungen ein 33 Vgl. Paravicini Bagliani, Vormachtstellung, S. 616, zitierend aus dem Regestum super negotio Romani Imperii, Nr. 44, hg. v. Kempf, S. 125. Siehe auch Paravicini Bagliani, Il trono di Pietro, S. 225. Allerdings heißt es an dieser Stelle nur fundamentum totius christianitatis ohne caput. Selbst das fundamentum bezog Innozenz III. nur indirekt auf den Papst, weil er eigentlich von Jesus Christus als dem Fundament sprach, auf dem alles ruhe. 34 Die einzige Verwendung des Wortes christianitas findet sich im Einladungsschreiben zum Konzil, in dem Innozenz III. die Aufrechterhaltung von Gottesdiensten während der Abwesenheit der Bischöfe anmahnt: quod in vestra provincia unus vel duo de suffraganeis valeant episcopi remanere pro Christianitatis ministeriis exercendis. Reg. 16:30, in: PL 216, 823D – 827A, hier 824C – 827A. Zum IV. Laterankonzil siehe Wohlmuth, Dekrete, Bd. 2, S. 230 – 271. 35 Studien zu Teilaspekten haben immerhin vorgelegt: Van Engen, Christening, zum Wortgebrauch im 4./5. Jahrhundert, Nagy, Notion, und Richard, Sens, der sich auf die Bedeutung des Wortes im Codex Theodosianus konzentriert. 36 Vgl. Berend, D¦fense, S. 1027, auf dies., Gate, S. 42 f. aufbauend, zudem noch in dies. Frontiers, S. 34, Albanien berücksichtigend. 37 Vgl. dies., Frontiers, S. 40; dies., Concept, S. 60, hier das Zitat. 38 Angesichts der Schwierigkeiten für die auf das Hoch- und Spätmittelalter konzentrierte Ideengeschichte, christianitas als feststehendes Konzept auszumachen, verwundert es nicht, dass es keine prominente ikonologische Repräsentation von christianitas gibt. Eine Allegorisierung durch eine Frauengestalt wie bei Ecclesia und Synagoga am Bamberger Dom oder auch am Straßburger Münster lässt sich in der europäischen Objektgeschichte nicht ausmachen. Siehe auch Skubiszewski, Ecclesia.

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breiteres Fundament zu bieten und bestimmte Phänomene besser einordnen zu helfen. Dies betrifft sowohl die Papsttumsgeschichte als auch die Geschichte der Kreuzzüge. Maria Lodovica Arduini konnte bei Guibert de Nogent in dessen Gesta Dei per Francos keine christianitas im Sinne einer institutionalisierten, vereinheitlichten und dem Papst unterstellten Christenheit finden. Auch die von Paul Rousset erstmals vorgebrachte These vom Entstehen des Konzepts christianitas durch die Kreuzzugschronisten scheint am Wortgebrauch und -verständnis vorbeizugehen.39 Darüber hinaus hat Gerd Tellenbach schon vor langer Zeit die These widerlegt, dass es sich bei christianitas im Hochmittelalter um die Laiengemeinschaft im Gegensatz zur institutionalisierten Klerikerkirche gehandelt habe.40 Zudem wurde das christianitas-Konzept auch von Alberto Melloni herausgefordert, der feststellte, dass Thomas von Aquin die Vokabel nur im Sinn von Christlichkeit und Christentum verwendet hat.41 Zweifel an der ideengeschichtlichen Vorstellung eines handlungsleitenden Konzeptes christianitas hat Maurice H¦lin ohnehin schon 1959 vorgebracht, als er auf der Polysemie des Wortes insistierte und den Forschern vorhielt, nur das lesen zu wollen, was sie gerne hätten. »Le mot semble trop facile — comprendre pour qu’on s’y arrÞte s¦rieusement. On lit avec son contexte – ce qui n’est pas tout-—-fait la mÞme chose que de le lire dans son contexte – et cela a entra„n¦, mÞme dans les colonnes du DuCange, de regrettables confusions.«42 Obwohl man vielen Historikern zugutehalten muss, dass sie die Mehrdeutigkeit des Wortes sehr wohl zur Kenntnis genommen haben, gilt H¦lins Kritik weiterhin. Denn sie bezieht sich auch auf die doppelte Theoriebindung des Historikers, vor der später Johannes Fried warnte; und sie nimmt Alain Guerreaus Monitum vorweg, Historikerinnen und Historiker würden ihre Quellen aufgrund vermeintlicher Vertrautheit nur oberflächlich lesen, was zu Fehleinschätzungen und – schlimmer noch – zu vorgefertigten Urteilen führen würde.43 Das dritte Ziel baut auf dieser Warnung auf und beruht zudem auf der Be39 Vgl. Arduini, Problema, S. 408, ergänzt, dass auch Adam von Bremens Kirchengeschichte einen ähnlichen Negativbefund für das Konzept erbracht hat. Arduini hatte schon in früheren theologisch und historisch ausgerichteten Arbeiten christianitas im Hochmittelalter untersucht, siehe dies., Interpretazione, und dies., Rupert. Dennoch hat Rousset, Notion, S. 191 – 203 mit seiner These sehr viel Erfolg gehabt, wie man an Morris, Papal Monarchy, S. 263 f. und Borgolte, Christen, S. 451 erkennen kann. Siehe auch Whalen, Dominion, S. 42 f., der sich auf Mastnak, Crusading Peace, S. 91 bezieht, der wiederum auf Hay, Europe, S. 1, Ladner, Concepts; Katzir, The Second Crusade, S. 4, Bartlett, Geburt, und natürlich auf Rupp, L’id¦e, rekurriert. 40 Vgl. Tellenbach, Westliche Kirche, S. F270–F272. 41 Vgl. Melloni, Christianitas, S. 45 – 49. 42 H¦lin, Christianitas, S. 230 f. 43 Vgl. Fried, Gens und regnum; ders., Reich; ders., Normannenherrscher. Guerreau, L’avenir, S. 191 f. u. S. 204 f. Feil, Religio, S. 52 hat in ähnlicher Weise gegen Vorannahmen in Bezug auf »religio« argumentiert.

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obachtung, dass christianitas nicht nur in der älteren, sondern auch in der aktuellen Forschung immer noch als Abrufbegriff für ein mittelalterliches Phänomen genutzt wird. Teils wird das Wort mit gewisser Vorsicht und Distanz in Form von Anführungszeichen verwendet, um ein etabliertes Ordnungsschema für die eigene Geschichtsdarstellung zu nutzen;44 teils fallen Historikerinnen und Historiker in alte Erzählstrukturen zurück und sprechen von der christianitas als einer realen Größe; teils wird mit christianitas operiert, um Geschichtsnarrative zu entwickeln.45 Letzteres geschah insbesondere in der europäisch ausgerichteten Mittelalterforschung.46 Martin Malia unterstellte, dass die Christenheit der Karolinger die christianitas gewesen sei.47 Und es ist zu befürchten, dass christianitas als narratives Element auch in der Globalgeschichte Anwendung findet, weil es dazu verleitet, Ordnungen und Ordnungs44 Vgl. Fried, Formierung Europas, S. 58, der von der »Ausbreitung der ›christianitas‹« in Zusammenhang mit einer Präsentation der politischen Geographie des 10. Jahrhunderts spricht. 45 Hiervor u. a. schon Van Engen, Future, S. 495. Es ist natürlich immer zu berücksichtigen, dass man stets auf Leistungen anderer aufbaut und manches voraussetzen muss, so wie auch diese Arbeit in vielen Bereichen, wie z. B. Religion, Christentum sowie allgemein theologischen Themen, von der Forschung abhängig ist. Dass christianitas immer wieder in Geschichtsdarstellungen »hineinrutscht«, zeigt sich hingegen z. B. bei: Möller, Geschichte, S. 84; Scharff, Kämpfe, S. 43, 131, 184. Bei Struve, Kaisertum, S. 5 überwölbt die »Idee einer die abendländische Christenheit umfassenden christianitas« das Kaisertum; Maleczek, Mittelpunkt; Fraesdorff, Power, ders., Norden, der dem Norden die christianitas als geographische Einheit gegenüberstellt. Das Problem der verknappten Geschichtsdarstellung haben natürlich in erster Linie Überblicksartikel, so Erdmann, (Art.) Europa, S. 1059 – 1064: »Mit dem Zerfall des Karolingerreiches erlosch der karolingische E.-Gedanke, der die Einheit betonte und zugleich gegen Byzanz und Rom gerichtet war, aber nicht programmatische Forderungen enthielt oder auf die Zukunft projiziert war. Christianitas, nicht E., war im MA eine einheitsstiftende Idee, die sich auch polit. gebrauchen ließ.« Mierau, Kaiser, S. 255, hat jüngst für den Einstieg ins Mittelalter nochmals die Denkfigur der gesamten Christenheit genutzt, deren alleinige Leitungsgewalt weder Kaiser noch Papst beanspruchen konnten, weil sie als »wesentliche Regulatoren in einem die christianitas umgreifenden, auf das Seelenheil zielenden Rückversicherungssystem« agierten. 46 Schmieder, Peripherie, S. 359 – 369, hat die These aufgestellt, dass Europa aus dem Scheitern der christianitas geboren wurde. Siehe auch dies., Jenseits der Peripherien, dies., Von der »Christianitas«. Borgolte, Europa, S. 89 und ders., Christen, S. 451, greift auf Roussets These zurück, wonach das Wort erst durch die Kreuzzugschroniken zur Selbstbeschreibungsvokabel der Christen geworden sei, als sich jene in der Konfrontation mit den Muslimen als eine eigene Großgruppe wahrzunehmen begonnen hätten. Moeglin, Mittelalter, fand auf die ihm gestellte Frage nur eine sehr zurückhaltende, mit Unbehagen vorgetragene Antwort, indem er die Vermutung aufstellte, dass christianitas und latinitas europäische Erinnerungsorte sein könnten. Mitterauer, Warum Europa?, S. 152 – 155, hat hingegen auf christianitas verzichtet, obschon er sehr wohl die Papstkirche als ein zentrales Phänomen für die Herstellung eines homogenen Sozial- und Kulturraums im Hochmittelalter ausmacht, dann aber die Frage ausgeklammert, ob die Christen die Homogenität selbst erkannt hätten und zur Grundlage ihrer Selbstbeschreibung machten. 47 Malia, A New Europe?, S. 2 – 4.

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Einleitung: Von einer Ideen- zu einer Wortgeschichte

vorstellungen in einem Begriff kondensiert in eine Erzählung auf höherer Ebene einfließen lassen zu können.48 Da sich solche Erzählstrategien ab einem bestimmten Abstraktionsgrad nicht vermeiden lassen, sondern vielmehr notwendig werden, ist es umso wichtiger, sich über die Validität des gewählten Begriffs im Klaren zu sein. Umso mehr scheint es geboten, die bisherigen Bezüge zwischen christianitas und anderen Themen wie Papsttum und Europa zu überprüfen, bevor moderne Denkschemata in neue Zusammenhänge übertragen werden und sich Missverständnisse weiterschleppen.49 Das vierte Ziel dieser Arbeit besteht darin, einen Beitrag zur Erforschung der politischen Sprache im Übergang zum Mittelalter zu erbringen.50 Dies ergibt sich aus der bisher als selbstverständlich angenommenen, auf Jean Rupp zurückgehenden, politischen Dimension der christianitas. Jedoch ist die Frage nicht ausreichend beantwortet, ob und wie das Wort politisiert wurde und was es zur politischen Kommunikation beitrug, wie es politisches Handeln vorformen und beeinflussen konnte. Wenn man erst einmal die Prämisse fallen lässt, dass christianitas ein politisches Konzept gewesen sei, kann die Analyse des sprachlichen Handelns mit christianitas dazu beitragen, politische Modi des Sprachgebrauchs zu erkunden. Hierfür werden die vom SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum der Geschichte« erarbeiteten Kriterien für Politisierung zugrunde gelegt.51 Auf diese Weise trägt die Arbeit zu Ansätzen in der 48 Eine solche mit zweifelhaften Oberbegriffen jonglierende Argumentation hat Hobson, Eastern Origins, S. 112 f. vorgelegt. Ein zweites Beispiel bietet Headley, Universalizing Principle, S. 301: »The Renaissance sees a progressive displacement of what had been understood and included in the concept Christianitas, replaced by the notion of Europe as a distinct civilizational construct whose base belongs to the same sub-continent.« 49 Dass es auch ohne christianitas in der Papsttumsgeschichte geht, zeigt Klaus Herbers, der das päpstliche Aktionsfeld bzw. den Referenzrahmen für die Formulierung des päpstlichen Primats als orbis christianus bezeichnet. Vgl. Herbers, Geschichte des Papsttums, ders., Papsttum, ders., Papst Leo IV. Für die europäische Mittelalterforschung hat Nora Berend, Introduction, S. 37 f. das Verhältnis von Europa und Christenheit auf den Punkt gebracht: »Christianitas and Europa, however, projected a notional, rhetorical unit and unity, linked to papal and royal agends and ideology, rather than reality, masking the variety of practices and institutions that evolved locally. If there is a similarity between medieval Latin Christendom and the modern European Union, it is in the discrepancy between the ideology of unity and local diversity.« 50 Mit Sprache und Sprachgebrauch, insbesondere mit politischen Sprachen, beschäftigt sich die Forschung seit längerem, wobei meist das Spätmittelalter im Vordergrund steht und selten historisch-semantisch gearbeitet wird. Siehe Pagden, Political Languages, darin u. a. Pocock, Concept; Black, Political Languages; Briguglia, Langages, ist mit Black der Meinung, dass es wichtig sei, die verschiedenen Typen von Sprachen mit ihren jeweiligen Konzeptionen, Stilen, argumentativen Methoden und Urteilskriterien, Texttypen und Autoritäten zu untersuchen. Er macht eine vierstufige »historisch-politische Semantogenese« auf: 1. präpolitische Bedeutungsdimension, 2. Fermentierungsphase, 3. Politisierung, 4. Ideologisierung und Polarisierung. 51 Da »politisch« selbst eine konzeptuelle Größe darstellt, in der die Geschichte des politischen

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Tim Geelhaar, Christianitas Ideengeschichte herausfordern

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Mediävistik bei, einerseits die Überbetonung von politischen und theologischen Konzepten als existierende Entitäten zu revidieren,52 und andererseits Wege zu finden, die politische Geschichte der Karolingerzeit aus der Sackgasse der Staatlichkeitsdebatte der Karolingerherrschaft herauszuführen.53 Durch die besondere Berücksichtigung von Kommunikation als Konstituent und Wirkungsfeld von Bedeutung greift die Arbeit Entwicklungen im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende in der Mediävistik und Frühen Neuzeit auf. Die »Neue Politikgeschichte« konzentriert sich darauf, Logiken und Modi politischen Handelns kommunikations- und mediengeschichtlich zu erfassen.54 Diese Entwicklung lässt sich gut in der Karolingerforschung nachvollziehen. Ildar Garipzanov hat eine erhellende semiotische Studie zu nicht-schriftlichen Objekten und Prozeduren als kommunikatives System vorgelegt, das er in einem semiotischen Sinne als symbolische Sprache bezeichnet.55 Garipzanov hat methodisch innovativ die historische Politikforschung zur Karolingerzeit bereichert, indem er dem Übergewicht der Personen-, Institutionen- und Ritualforschung56

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Handelns und Reflexionen darüber zusammenfließen, ist eine Definition für den analytischen Gebrauch von »politisch« vorzulegen. Folgende Kriterien werden für »politisch« und damit politische Sprache zugrunde gelegt: »politisch« ist eine Rede dann, wenn sie a) Regeln des Zusammenlebens, Machtverhältnisse oder Grenzen des jeweils Sag- und Machbaren thematisiert, b) Verbindlichkeit, c) Breitenwirksamkeit, d) Nachhaltigkeit sowie e) einen Bezug auf überindividuelle Einheiten aufweist, impliziert oder beansprucht. Das Politische wird von den Grenzen, nicht vom Gegenstand, nicht von Personen, sondern von Funktionsmechanismen her gedeutet. Vgl. Steinmetz, Neue Wege, S. 15, bes. Anm. 20. Siehe den SFB-Abschlussbericht vom 21. 4. 2013 https://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/ sfb584/Abschlussbericht.pdf, (eingesehen am 4. 12. 2014). In der Folge von Kantorowicz, The King’s Two Bodies, wurden in der politischen Geschichte politische oder theologische Konzepte als existierende Entitäten in »medieval political thought« gedacht, womit sie große Erzählungen bedienten und somit »tended to reify big ideas and simplify early medieval political whereas »the Carolingian concept and practice of empire meant strikingly different things to different people«, so Sullivan, Carolingian Age, S. 288 f. Zur Neuwertung der Möglichkeiten, die sich aus Kantorowicz’ methodischem Vorgehen ergeben, siehe Jussen, The King’s Two Bodies Today. Fried, Herrschaftsverband; ders., Gens und regnum; ders. Reich der Franken; ders., Normannenherrscher ; Goetz, Regnum; ders. Wahrnehmung. Überblicke bieten: Pohl, Staat; Deutinger, Königsherrschaft, S. 19 – 23; Schieffer, Forschung; Geelhaar/Thomas, Stiftung und Staat, S. 7 – 11; Patzold, »Einheit«. Das in Anm. 51 zitierte Verständnis des Politischen spiegelt die neuere Politikforschung wider, siehe Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte; Frevert, Kommunikation, dies., Politikgeschichte; Schorn-Schütte, Politikforschung. Garipzanov, Symbolic Language, S. 2 u. S. 15, untersucht die Mittel und Medien, die an der Kommunikation beteiligt waren. Er will anhand von ikonographischen, diplomatischen, liturgischen und numismatischen Quellen nicht den »written discourse, but a material discourse« untersuchen: »they all ›speak‹ the language of symbolic signs and images and fixed written formulas«. Philippe Buc, Danger, S. 248, hat Althoffs Ritualforschung mit dem Argument zurückgewiesen, dass es unmöglich sei, das frühmittelalterliche Ritual als solches zu verstehen, weil

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367254 — ISBN E-Book: 9783647367255