SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Wissen Medellin: Leben in der einstigen Drogen-Hochburg Von Margitta Freund Sendung: Dienstag, 3.11.2015, 8.30 Uhr Redaktion: Gábor Paál Regie: Margitta Freund Produktion: SWR 2015

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

MANUSKRIPT

O-Ton (Juan Diego ): Übersetzung: Ich glaube Medellin wird 2030 die Hauptstadt der Welt sein. Es ist eine liebenswertere Stadt geworden, humaner, urbaner. Und man spürt es an jeder Ecke, die Luft ist anders. Ein paar Dinge müssen noch gelöst werden, aber das sind kleinere Sachen. O-Ton (Irma Sanchez): Übersetzung: In Medellin sieht man das Geld, man sieht die Investitionen. Die Politiker stehlen weniger als an anderen Orten. Sie nehmen sich 90 Prozent und die restlichen 10 Prozent investieren sie. Man kann das an den Straße sehen, an den Brücken, an der Metro und der Seilbahn. Woanders nehmen sie sich alles. Ansage: Medellin: Leben in der einstigen Drogen-Hochburg. Eine Sendung von Margitta Freund. Sprecherin: Der Name der Stadt erinnert noch heute an die 90er Jahre, den Drogenkrieg. Pablo Escobar – der Boss des Medellin-Kartells – ließ Bomben an den Straßenecken hochgehen. Für jeden toten Polizisten bezahlte er ein Kopfgeld von 1.000 Dollar. 1990 wurden in der Stadt 7.000 Menschen ermordet, 20 am Tag, zehnmal so viele wie heute. Gab es einem einen Tag keinen Mord, stand das in der Zeitung. Inzwischen ist die Stadt sicherer. Auf der Liste der gefährlichsten Städte der Welt ist Medellin von Platz 1 auf Platz 49 gerutscht. Sie ist nicht einmal mehr die gefährlichste Stadt Kolumbiens. Dazu haben äußere Faktoren beigetragen. Die Drogenkriminalität ist nach Mittelamerika gezogen. Aber vor allem die Bewohner von Medellin haben sehr viel dazu getan, dass sich die Lage verbessert. Es gibt einen Medelliner Sonderweg im kolumbianischen Friedensprozess mit erstaunlichen Projekten, die dazu beitragen, dass die Stadt etwas mehr Frieden findet. Musik: Sistema Solar – Mi Kolombia Sprecherin: Der beste Ort um über Medellin nachzudenken ist im Moment vielleicht die Schutthalde La Escombrera. Nicht deshalb, weil man von dort aus einen atemberaubenden Blick hinunter in den schönen und weitläufigen Medelliner Talkessel hat. Sondern weil die Schutthalde wie kaum etwas anderes für die jüngste Geschichte Medellins steht. Besonders für die Geschichte der Comuna 13, dem berühmt berüchtigten Stadtbezirk Nummer 13, der für Bandenkrieg, hohe Mordraten und billige Auftragsmörder steht:

2

O-Ton (Adriana Arboleda): Übersetzung: „La Escombrera liegt über der Comuna 13 in Medellin und ist das Symbol für ein Verbrechen, das in der Stadt Medellin so oft begangen wurde und das ist das gewaltsame Verschwinden lassen.” Sprecherin: Seit Kurzem ist die Schutthalde gesperrt. Nur die Mütter der Verschwundenen dürfen sich dort aufhalten. Sie überwachen die Staatsanwaltschaft dabei, wie sie nach den Überresten ihrer Söhne und Töchter suchen. Das Recht dazu haben mussten sie sich erkämpfen. Denn die Exhumierung ihrer Kinder könnte unangenehme Wahrheiten über Militär und Polizei zutage fördern: O- Ton (Lucía Gonzalez): Übersetzung: Wir schätzen dass 100 Leichen dort sind. Seit 13 Jahren verlangen wir, dass sie die Leichen exhumieren. In diesen 13 Jahren haben sich 400 Kubikmeter Bauschutt über den Leichen aufgehäuft. Dass ist so hoch wie 25 Stockwerke. Wir denken, dass die Leichen vom dem Überfall stammen, der 2002 vom staatlichen Militär und der Polizei in der Comuna 13 durchgeführt hat, in Komplizenschaft mit den illegalen Gruppen der Paramilitärs. Sprecherin: Lucía Gonzalez ist Direktorin des Casa Museo de la Memoria. Des Museums der Erinnerung. Der Überfall, von dem sie spricht, richtete sich gegen die linke Guerilla, die damals 2002 im Bezirk sehr aktiv war. Bei der so genannten Operación Orión gerieten 100.000 Bewohner ins Kreuzfeuer. Auf allen Seiten gab es Tote. Die Guerilla wurde erfolgreich aus dem Stadtteil vertrieben, aber das Schlimmste stand den Bewohnern noch bevor: Die mit Polizei und Militär paktierenden Paramilitärs blieben in der Comuna 13. Paramilitärs sind illegale rechte Gruppen, die ursprünglich zum Selbstschutz der reichen Großgrundbesitzer gegen die Guerilla gegründet worden waren, aber bald zu einer eigenen gesetzlosen Macht im Staate mutierten. Sie installierten ein System, das auf Angst, Erpressung und Terror beruht – Vergewaltigung, Mord und das Verschwinden lassen von Menschen waren ihre Einschüchterungsmittel; denn noch schlimmer als einen Menschen durch einen Mord zu verlieren, ist es für die Angehörigen, wenn die Leiche einfach verschwindet und nie auftaucht. Das Verschwinden lassen ist somit eine besonders perfide Form des Terrors. Die Polizei war Teil des Problems, und die Stadtregierung verkaufte den Überfall noch Jahre danach als Befreiungsschlag für die Bewohner der Comuna 13: O-Ton (Lucía Gonzalez): Übersetzung: Aber endlich gibt es eine Regierung, die sich darum kümmert. Das wird nicht nur eine Exhumierung sein. Es wird ein psychosozialer Heilungsprozess für die Angehörigen sein. Wir haben in der Welt keinen ähnlichen Vorgang gefunden, in dem die Opfer so intensiv psychosozial begleitet werden. Wir verstehen das als einen Akt der Wiedergutmachung, nicht nur für die Opfer, sondern für die ganze Stadt.

3

O-Ton (Stimmen): museo casa de la memoria (unter den O-Tönen ein paar Sekunden ein und ausblenden) O-Ton (Museumsführer): Übersetzung: Dieses Museum ist anders als andere Museen dieser Art in anderen Teilen der Welt wie zum Beispiel in Deutschland, in Südafrika, in Chile oder in Argentinien. Dort sind die Museen historische Museen, sie schauen auf eine überwundene Vergangenheit zurück, aber hier ist der Konflikt noch da. Wir sprechen hier deshalb von einer gegenwärtigen Erinnerung, an einen Konflikt, der immer noch weitere Opfer fordert und nach dessen Lösung noch immer gesucht werden muss… Sprecherin: Zu Wort kommen im Museum nur die Opfer und ihre Anliegen. Die nachtdunklen Ausstellungsräume mit den vielstimmigen Installationen lassen an das Holocaustmuseum in Berlin denken. Digitale Bildschirmen zeigen, wie sich die Mordraten entwickeln, wo es Massaker gab, Verschwundene. Atmo Eine ältere Besucherin setzt sich erschöpft auf ein Bänkchen auf dem vielbesuchten Museumsplatz. Sie geht an Krücken und in ihrem Mund sind nur noch wenige Zähne. Sie wirkt aufgewühlt: O-Ton (Frau im Museum): Übersetzung: Ich habe am eigenen Leib die Konsequenzen dieses Krieges erfahren. Ich wurde zwei Mal vertrieben. Es ist so furchtbar, wenn man gehen und sein Haus verlassen muss, seine Heimat, alles was man mit Schmerz, Opfer und Arbeit erworben hat, mit ehrlicher Arbeit und man muss es im Stich lassen, verkaufen für ein paar lumpige Münzen, was auch immer es gekostet hat. Sprecherin: Die weitere Geschichte möchte sie nicht ins Mikrofon erzählen. Sie will nicht, dass man sie weinen hört. Die Geschichte geht so: Ihr damaliges Haus stand auf der Grenze zwischen den Territorien zweier Drogenbanden. Eines Tages kamen die Männer einer der Banden und verlangten nach Kaffee. Dann ließen sie ihre Wäsche von den Töchtern waschen. Am Ende stellten sie Waffen bei ihnen unter, mit der Bemerkung, sie dürfen die Waffen gerne benutzen, wenn die gegnerische Bande sie bedrohen sollte. Eines Tages kamen tatsächlich die Männer der gegnerischen Bande und ihre drei Kinder schossen sie in die Flucht. Damit sei eine Barriere gefallen, eine der Töchter hat sich später als Auftragsmörderin rekrutieren lassen. Der größte Schmerz ihres Lebens, erzählt die Frau sei, dass sie nicht geschafft habe, die Kinder zu behüten. O-Ton (Frau im Museum): Übersetzung: Die Gewalt bleibt konstant, auch wenn man sie nicht sieht, manchmal gibt sie sich sehr leise. Aber an Toten fehlt es nicht. Wer ihn umgebracht hat? Hm, wer weiß? 4

Sprecherin: Das Casa Museo de la Memoria ist der Think-Tank des kolumbianischen Friedensprozesses. Heute Abend sind die südafrikanischen Antiapartheitsaktivisten Albie Sachs und Roelf Meyer eingeladen. Sie werden auf einem Podium interviewt. Man will voneinander lernen. O-Ton (Albie Sachs/ Roelf Meyer): Übersetzung: Medellin ist nicht nur optisch eine sehr attraktive Stadt. Sie ist auch emotional attraktiv. Wenn man sieht, wie Medellin in der kurzen Zeit von zwei Jahrzehnten von der schlimmsten, in vielerlei Hinsicht schlimmsten Stadt der Welt zu einer friedlichen Stadt wurde, mit vielen sozialen Entwicklungsmöglichkeiten besonders für die Armen. Der Friedenprozess muss an die Masse der Menschen promotet und verkauft werden. Sprecherin: Dazu sind die Medelliner Aktivisten fest entschlossen. Sie wollen ihren Friedensprozess bestmöglich gestalten und fordern schonungslose Offenlegung und Wiedergutmachung. Wichtig ist ihnen eine Geschichtsneuschreibung, aber eben nicht aus der Sicht der Sieger, wie sonst üblich, sondern aus der Sicht der Opfer. Im Casa Museo de la Memoria wird auch mit Tätern gearbeitet. Denn wer ist Täter, wer Opfer in einer Gesellschaft, in der sich kaum einer aus der Kriminalität raushalten kann; in der Massen von 12, 13, 14 Jährigen für Verbrechen aller Art rekrutiert wurden und immer noch werden. Viele dieser Täter stellen sich und packen aus. Wenn sie alles offenlegen, erwarten sie nur milde Strafen. Es gibt Paramilitärs, die Hunderte von Menschen umgebracht haben und dafür maximal sieben Jahre hinter Gitter kommen. Denn es gibt einen Vertrag zwischen Staat und Paramilitärs, der dies erlaubt: O-Ton (Lucía Gonzalez): Übersetzung: Wenn die Täter also vor der Staatsanwaltschaft ihre Taten gestehen; die Anzahl der Opfer, die Morde, die Massaker, dann sagen sie nicht, was wirklich passiert ist: Was ist in meinem Umfeld passiert; wie bin ich dahin gekommen? Gerade so wie die Opfer ihren Schmerz heilen, indem sie ihn benennen, so heilen die Täter ihre Tragödie, indem sie sie benennen, denn es ist eine Tragödie. Musik: Intro Hay amores Sprecherin: Das Integrationsprojekt in Medellín schlechthin ist die Metro mit ihrem angeschlossenen Bussystem, der schönen, neuen Straßenbahn und den Seilbahnen. Keine andere Stadt Kolumbiens hat ein derartiges vernetztes Verkehrssystem, auch nicht die Hauptstadt Bogota. Es wurde zu einer internationalen Sehenswürdigkeit für Stadtplaner und Soziologen. Bürgermeister aus Lateinamerika, Asien und Afrika studieren das Medelliner Modell und die Medelliner sind stolz auf ihre Metro. Schließlich sehen sie hier ihre Steuergelder in ein sinnvolles Projekt investiert und nicht in den Taschen von Politikern verschwinden. Nicht erst in den Gondeln der Seilbahn befällt den Besucher das Gefühl, sich plötzlich in der 5

Schweiz zu befinden. Mit dem Hüftstoß, der das Drehkreuz zur Metro einrasten lässt, betritt der Medelliner eine andere Welt. Die Welt der Cultura Metro. O-Ton (Metrospruch): Übersetzung: In der Metro respektieren wir die Frauen. Wir behandeln Frauen höflich und mit Feingefühl. Wir werden niemals übergriffig. Auch das ist Cultura Metro. O-Ton (Juan Diego): Übersetzung: Die Metro hat ein System von Botschaften: Lächeln gehört zur Cultura Metro, übertrete nicht die Gelbe Linie, iss nicht im Zug. Wenn du Musik hörst, benutze Kopfhörer. Das sind ganz einfache, elementare Dinge, an denen es aber in dieser Gesellschaft mangelt. Sprecherin: Meint zumindest der Kulturbeauftragte der Medelliner Metro Juan Diego. Die Medelliner Metro fährt überirdisch am Fluss entlang. Manchmal parallel zur Autobahn oder auf Brücken quer durch die chaotisch quirlige Innenstadt. Auf dem Bahnsteig der Metro glänzen die Steinfliesen. Sie werden von jungen in weiß gekleideten Frauen ununterbrochen sauber gehalten. Junge Security Mitarbeiter in olivgrüner Uniform sorgen für einen geregelten Ablauf und geleiten Rollstuhlfahrer zu den Treppenliften. 18:00 Uhr. Hora Pico, Stoßzeit in der Medelliner Metro. Atmo Metro (Einsteigen) Es ist voll. Sehr voll in der Metro Richtung Norden. Obwohl es schon zum Ersticken eng ist, quetschen sich immer weitere Fahrgäste in die Metro. Für die Medelliner ein Grund zur allabendlichen Belustigung: O-Ton (Juan Diego): Übersetzung: Schau mal wie die Gesellschaft sich durch ganz einfache Sachen verändert. Wenn jemand mit einem Stock einsteigt, eine Schwangere, oder einfach nur jemand, dessen Körpergewicht ihn belastet, was passiert dann? Man bietet ihnen sofort einen Platz an. Und das sind sehr schöne Sachen, die eine Stadt erst lebenswert machen, und die Zugehörigkeit erzeugen. Sprecherin: Abends um sechs fahren die Massen von Menschen aus den ärmeren Stadtvierteln nach Hause. Sie wohnen im Norden und arbeiten im Süden als Bauarbeiter, als Hausmädchen, Verkäufer oder in einer der Textilfabriken in der südlich angrenzenden Stadt Itagüi. Von der Metro aus sieht man die in der Gegenrichtung verstopfte Autobahn. Die Reicheren fahren von ihren Verwaltungsjobs im Zentrum nach Hause, Richtung Süden in ihre gut bewachten Wohnquartiere und stehen im Stau. Kommt man an die Metrostation San Javier kann man in eine der Seilbahnen umsteigen. Es fühlt sich zwar so an, aber die Seilbahn ist nicht zum Vergnügen von Touristen gebaut worden. 6

O-Ton (Juan Diego): Übersetzung: Die Seilbahn wurde in einen Stadtteil gebaut, der extrem von Gewalt gebeutelt war. Dieser Stadtteil wurde praktisch von den Drogenbanden regiert. Das ist der Stadtteil, wo die Auftragsmörder wohnen, sagten die Leute. Die Bewohner wurden marginalisiert. Die Jungen dort bekamen schon deshalb keine Jobs, weil sie aus diesem Stadtteil kamen. Heute ist dieser Stadtteil total verwandelt. Sprecherin: Es geht lautlos und steil nach oben. Mit der Höhe verändert sich der Blick: Unten sind die Häuser mehrstöckig, verputzt und bunt angestrichen, dann kommen unverputzte rote Backsteinhäuser, weiter oben dann Holzhäuser mit Blechdach, am höchsten Punkt ist keine Haltestelle, die Seilbahn fährt direkt wieder steil hinunter. Die Gondeln schweben jetzt wenige Meter über notdürftig zusammengezimmerten Hütten. Sie sind mit Holzlatten abgestützt, damit sie am Steilhang nicht gleich wegrutschen. Dazwischen Bananenpflanzen, Kaffee, Bohnen, Blumen. Ein paar Dutzend, der etwa sechs Millionen vertriebenen Bauern Kolumbiens versuchen hier einen Rest von bäuerlicher Autonomie zu bewahren. Bevor die Seilbahn kam, hat sich niemals ein Bewohner der Medelliner Südhälfte hierher verirrt, geschweige denn Touristen. O-Ton (Juan Diego): Übersetzung: Wichtig beim Wandel in diesen städtischen Gebieten, ist die Transformation von Gewohnheiten und Denkweisen. Fast alle Personen, die die Seilbahn benutzen, kommen aus den schwierigen Stadtteilen. Und dann steigen sie von der Seilbahn in die Metro um. In der Metro mischen sich die Leute. Alle, die in Medellin leben, sehen sich, berühren sich, kommen miteinander ins Gespräch. Es wird nicht mehr diskriminiert, von wegen, ach du steigst hier ein, dann bleib mir fern. Es fallen Barrieren, Legenden, Vorurteile. Alles hat sich in Medellin verändert und zu einem großen Teil auch dank der Metro. Der Metromitarbeiter Juan Diego kann seinen Überschwang kaum bremsen. Aber er ist kein Einzelfall. Aus den Gesichtern vieler Medelliner spricht das Glück des nachlassenden Schmerzes. Atmo: Stimmen Metrocable O-Ton (Mann): Übersetzung: Früher habe ich von Santo Domingo bis hierher 8.000 Pesos für vier Busse bezahlt, jetzt sind es nur noch 2.500. Sprecherin: Bei 11 Euro Verdienst als Tagelöhner beim Bau würde er fast die Hälfte seines Verdienstes für Transport ausgeben. Mit Metro und Seilbahn sind es nur 1 Euro 20. O-Ton (Frau): Übersetzung: 7

Ohne Seilbahn und Metro müsste ich zwei, drei oder vier Busse nehmen. Die Metro bringt mich in Minuten zum Ziel. Aber manchmal geht die Seilbahn nicht. Immer im Juli vor der Touristensaison wird sie gewartet. Für die Touristen. Sprecherin: Ein bisschen PR ist in Medellin immer dabei. Medellin arbeitet an seinem Image und eine Seilbahn, die nicht funktioniert, passt da nicht ins Bild. Aber tatsächlich erschließt das Metrocable den Bewohnern der Armenviertel den Weg zu Arbeit und Studium. Es rückt plötzlich in greifbare Nähe, auf legale Weise sein Geld zu verdienen. Legale Arbeit wird attraktiver, als sich einfach von der Drogenbande des Viertels rekrutieren zu lassen. Zwar verdient man dort viel Geld, hat Macht, Waffen, kann der Mama ein Häuschen und den Freundinnen Silikonbrüste kaufen, aber viele Bandenmitglieder erreichen nicht ihr 25. Lebensjahr. O-Ton Junge: Übersetzung: Seit der Seilbahn haben wir hier Frieden. Wir müssen nicht mehr so viel Angst haben und unsere Eltern lassen uns rausgehen. Sharira pur dann Metrobar O-Ton (Albie Sachs): Übersetzung: Noch Herzerwärmender als die Metro finde ich die städtische Transformation durch die Rolltreppen. Dies war eine Hochburg des Verbrechens, sogar die Polizei hatte Angst dort hineinzugehen. Und jetzt laufe ich, als Tourist hier herum, es gibt Musik, die Leute gehen entspannt auf der Straße, Medellin war die Verbrechenshauptstadt der ganzen Welt und jetzt wird es zu einem Symbol des Friedens. Sprecherin: Der Südafrikaner Albie Sachs ist beim Anblick der Rolltreppen im Stadtviertel San Javier begeistert. Die Rolltreppe ist eine kleine Verrücktheit, wie einer der Bewohner findet. Sie ist 400 Meter lang, mit Glas überdacht. Sie rollt nicht in einem Einkaufszentrum, sondern mitten durch ein steil ansteigendes Wohnviertel. Um genau zu sein, durch jene Comuna 13 den vor drei, vier Jahren noch gefährlichsten Ort Medellins. O-Ton (Juan Diego): Übersetzung: Die Stadtverwaltung hat gesehen, dass die Comuna 13 schwer zugänglich war. Sie liegt an einen extrem steilen Hang und zum Beispiel für alte Leute und Behinderte war schwierig, sich hier fortzubewegen. Deshalb hat die Stadt Medellin ein weltweit einzigartiges System von Rolltreppen gebaut, von dem die Leute sagen, wie gut, dass sie uns das da hingestellt haben Sprecherin: Diese Rolltreppen gaben wohl den Ausschlag dazu, dass Medellin von City Bank und Wall Street Journal zur „Innovativsten Stadt 2013“ gewählt wurde. Atmo Musik 8

Von der Rolltreppe aus kann man den Bewohnern bequem auf die Veranda oder auch ins Schlafzimmer schauen. Bunt sind die Häuser, pink, himmelblau, grün, die Stadt hat den Hausbesitzern Farben und Pinsel geschenkt. Junge Leute aus dem Viertel haben hier Arbeit gefunden und tragen stolz die rot leuchtenden Jacken der Stadt, die sie als Helfer und Ansprechpartner ausweisen. Sie passen auf die Rolltreppe auf oder verarzten die Wunden, wenn jemand fällt: Wie denn die Rolltreppe den Bewohnern helfe? O-Ton (Angestellte Rolltreppen): Übersetzung: In touristischer Hinsicht, weil das hier etwas weltweit Einzigartiges ist. Es kommen Leute aus Japan, China, aus Arabien, Europa … Sprecherin: Aus der ganzen Welt kommen sie nach San Javier, dem verrufensten Stadtteil Medellins, Kolumbiens. Benutzt wird die Rolltreppe jetzt am frühen Nachmittag fast gar nicht. Abends und morgens füllt sie sich. Sie hat das Leben für alle Alten und Behinderten und die, die im Viertel Waren ausliefern, enorm erleichtert. Am oberen Ende der Rolltreppe befindet sich ein kleiner Laden. Er liegt an einer kleinen ruhigen Straße. Von dort aus hat man einen weiten Blick über die Stadt und hinunter in das farbenfrohe Stadtviertel. Von hier aus sieht man auch, dass viele der Blechdächer mit riesigen bunten Schmetterlingen bemalt sind. Eigentlich ein perfekter Platz, um draußen auf der Straße Kaffee zu trinken: O-Ton (Ladenbesitzer): Übersetzung: Wenn ich hier Bänke hinstelle, werden die Drogensüchtigen sich freuen. Die ist sofort voll mit Pennern und Junkies. Um Probleme zu vermeiden stelle ich lieber keine Sitze hin, Noch nicht mal eine Bank zum Ausruhen. Sprecherin: Meint der Ladenbesitzer. Und noch etwas erzählt er auf die Frage nach den Vacunas, den Impfungen, wie auf Kolumbianisch das Schutzgeld genannt wird. O-Ton (Ladenbesitzer): Übersetzung: Eher geht die Welt unter, als dass die Sache mit den Schutzgeldern aufhört. Überall gibt es die Schutzgelder. Na ja, hier nicht mehr. Sie haben kleine Firmen für Arepas und Eier aufgebaut. Und was machen sie damit? Man muss bei ihnen kaufen, man hat keine Wahl, sonst muss man wieder Schutzgeld bezahlen. O-Ton (Lucía Gonzales): Übersetzung: Es ist schon merkwürdig, wie unsere Stadt derart prosperiert. Es ist irgendwie schizophren, wie wir uns daran gewöhnt haben, dass wir bewaffnete Gruppen haben, die die Territorien in Medellin kontrollieren. Sie kassieren Schutzgelder für alles, für Sicherheit, für die Justiz, für den Transport, für die Eier, für die Maisfladen. Keiner sagt was. Und fragst du die Leute, wie geht’s euch? sagen sie „gut“. „Und das 9

Stadtteil, wie läufts?“ „Gut, wir haben gerade Frieden.“ „ Und wer passt auf euch auf?“ „Die Jungs“. Sprecherin: Mit den Jungs sind bewaffnete junge Männer gemeint, die für ihre Banden das Territorium bewachen. Sie wissen alles über jeden und betrachten die Leute in ihren Territorien als ihren Besitz. Wer ihnen nicht passt, kann gehen. Das sind dann die so genannten innerstädtisch Vertriebenen. Der Friede in Medellin beruht zum Teil auch auf einem Frieden zwischen den Banden. Das konnte man recht deutlich im Jahr 2009 sehen, als ein mächtiger Medelliner Drogenbaron in die USA ausgeliefert wurde. Es gab ein Machtvakuum und sofort verdoppelten sich die Mordraten. Man blieb plötzlich wieder lieber zu Hause. In den Holzhütten sprangen die Leute nachts in Erdlöcher, die sie ins Schlafzimmer gegraben hatten, weil die Kugeln der Kalaschnikows Wände und Möbel durchschlugen. Und noch bis Juli dieses Jahres war es Motorrädern in Medellin verboten, mit Beifahrer zu fahren. Denn der klassische Sicario, der Auftragsmörder, kommt als Beifahrer auf dem Motorrad und erschießt die Opfer auf der Straße oder beim Mittagessen in einem der vielen kleinen Straßenlokale. Jetzt hat sich die Stadt wieder sortiert. Die Mordraten haben ein historisches Tief von etwa 600 Toten im Jahr erreicht. Die Leute nutzen Parks und öffentliche Plätze wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Musik: La 33: Patacon con Queso Sprecherin: Bildung und Erziehung sind ein anderer Baustein der Medelliner Transformation. In jedem Bezirk, sei er noch so arm und abgelegen sieht man moderne, avantgardistische Häuser, die wie vom Himmel gefallen scheinen. In Santo Domingo sind es drei riesige schwarze Würfel, in San Cristobal ein immenser querliegender Kubus mit einer imposanten schwebenden Treppe im Inneren. Es sind die städtischen Bibliotheken. Sie würden auch in New York oder Barcelona eine gute Figur machen. O-Ton (Myriam Alvarez): Übersetzung: Die Medelliner glauben an die zivilisatorische Kraft der Bücher. In den Bibliotheken wird nicht nur gelesen, es wird auch gerappt und Musik gemacht. Sie verbringen dort viel Zeit. Die Bibliotheken sind Schutzräume für die Jungen. Sie müssen nicht auf der Straße sein, dort nicht auf die Banden treffen oder in Schießereien geraten. Die Bibliotheken haben schon in vielen Fällen Leben gerettet. Sprecherin: Weniger imposant aber noch beeindruckender sind die kleinen, von Ehrenamtlichen selbst initiierten Bibliotheken, wie die von Doña Emilia einer älteren Dame. Sie hat vor 13 Jahren eine eigene Bibliothek gegründet, trotz ihrer Armut. Neun Kinder hat sie alleine großgezogen, sie hat für reiche Leute geputzt und gekocht. Das Viertel, indem sie lebte, befand sich im Kreuzfeuer zweier verfeindeter Banden. Die Bibliothek hat Doña Emilia aus Dankbarkeit gegründet, dass keines ihrer schon erwachsenen Kinder tot oder auf die schiefe Bahn geraten ist. Eine Tochter schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit in Literatur. Die Bibliothek besteht aus einem einzigen 10

gemieteten Raum. In den Regalen stehen nur geschenkte Bücher. Am Anfang gab es keinen Putz an den Wänden und der Boden war aus gestampfter Erde. O-Ton (Doña Emilia): Übersetzung: Diese Fliesen hat meine Tochter Alejandra aufgetrieben. Das war Schmugglerware oder so was ähnliches. Meine Tochter stellte einen Antrag bei der Polizei und wir bekamen die Fliesen geschenkt. Sprecherin: Es ist jetzt schon seit drei, vier Jahren viel ruhiger geworden im Viertel. O-Ton (Besucherin der Bibliothek): Übersetzung: Hier oben haben wir jetzt 250 oder 300 Polizisten. Wir Mütter gehen jetzt raus, bringen die Kinder in die Schule, wir können ganz ruhig von einem Ort zum andern gehen. Sprecherin: Trotzdem ist die Bibliothek ist ein wichtiger kultureller Treffpunkt geblieben. Sie hat einer ganzen Generation von Kindern des Viertels eine zweite Heimat gewährt. Wie diesem jungen Mann, der ein Heidegger-Buch in der Hand hält. O-Ton (Junger Mann): Der Einfluss von bewaffneten Gruppen umgibt uns immer. Obwohl unsichtbar, sind sie doch präsent. In diesen Räumen hier können wir uns abschotten von all dem und in ein anderes Ambiente eintauchen. Besonders auch die Kinder. Sprecherin: Die Bewohner Medellins sind es, die die Transformation von unten her vorantreiben. Ohne sie und die hoffungsvolle Stimmung von der sie getragen werden, würden auch die Bemühungen der Stadtoberen auf weniger fruchtbaren Boden fallen. AKA Rap Sprecherin: Basta Ya, sagt die jungen Generation Kolumbiens, genug jetzt, Schluss damit. Sie wollen nicht auf Lügen, Verschweigen und Ignoranz ihre Zukunft aufbauen. Sie wollen Wahrheit und ein Grab für jeden einzelnen in den Massengräbern Verschwundenen. O-Ton (Lucía Gonzalez): Übersetzung: Wir sind nicht hinter der Wahrheit her, wir hoffen auf viele Wahrheiten,... es ist das erste Mal in der Geschichte, dass auch die Gruppen zu Wort kommen, die abseits der großen Politik und des Staates stehen. Heute haben die Ausgegrenzten eine Stimme. ***

11