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SWR2 Wissen Denken in Bewegung Wie unser Gehirn die Welt versteht Von Franziska Hochwald Sendung: Samstag, 24. Oktober 2015, 08.30 Uhr Redaktion: Christoph König Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2015

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MANUSKRIPT Musikakzent Gedicht 1: Trapp-trapp, trapp-trapp: nackte Füße auf dem Gras, ich laufe laufe laufe, durch die Luft und wie der Wind zwischen den Bäumen hindurch, über die Wiese hinweg, ganz leicht, Sprecherin:: Denken in Bewegung. Wie unser Gehirn die Welt versteht. Eine Sendung von Franziska Hochwald. Gedicht: Bodenkontakt,: trapp-trapp, trapp-trapp im weichen, feuchten Gras, trapp-trapp, trapp-trapp ich weiß, ich könnte fliegen fliegen fliegen aber ich lasse meine Füße trapp-trapp, trapp-trapp die Erde berühren evtl. darunter hoch: Musik oder O-Ton Kinder beim Sport OT 01 Adler Man weiß, dass Kinder mit günstig ausgeprägten motorischen Kompetenzen ein höheres kognitivesEntwicklungsniveau haben. Eine Wirkung hat Bewegung und auch die Motorik von Kindern auf die Sprachentwicklung und auch auf deren kommunikative Fähigkeiten, wenn man an die soziale Kompetenzen denkt, scheint Bewegung, Aktivität, Sport dazu beizutragen, dass Kinder sich kommunikativ günstiger entwickeln und damit auch höhere soziale Kompetenzen in diesem Bereich aufweisen. Sprecherin: Dr. Katrin Adler vom Forschungszentrum für den Schulsport und den Sport von Kindern und Jugendlichen in Karlsruhe. OT 02 Adler: Je mehr Bewegung, umso mehr Chancen für die kognitive Entwicklung haben die Kinder. Was man auch weiß, ist, dass die Bewegungsmöglichkeiten möglichst vielfältig sein sollten, dass alle Sinne angesprochen werden sollten, das bringt also Vorteile für die kognitive Entwicklung. Sprecherin: Kindergartenkinder lernen heute Englisch in der Krabbelgruppe, sie machen wissenschaftliche Versuche im Rahmen der sogenannten Einstein-Projekte und sollen wenn möglich schon vor Schulbeginn lesen und schreiben können. Kognitive 2

Trainingsprogramme werden derzeit ganz groß geschrieben in den Förderkonzepten der unter 6jährigen. Doch das wichtigste Instrument für unsere Intelligenz scheint schlicht und einfach unser Körper zu sein, das belegen neuere Studien wie z. B. die Arbeit von Prof. Alexander Woll vom Karlsruher Institut für Sport und Sportwissenschaft: OT 03 Woll: Am besten untersucht ist der Zusammenhang von Gleichgewichtsfähigkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit, insofern ist sicherlich das Thema Gleichgewicht ein gutes Thema, sicherlich ganz zentral in dem Bereich. Wir haben eine Kindergartenstudie gemacht die sog. CoMiK Studie Kognition und Motorik im Kindergarten, da haben wir die Gleichgewichtsfähigkeit mit Balancieren auf einem Balken gemessen und haben entsprechende kognitive Tests gemacht, also Aufmerksamkeitstests für die Kinder mit Fragebögen,... und da konnten wir eigentlich von den verschiedenen motorischen Aspekten, die wir überprüft haben, auch zeigen, dass die Gleichgewichtsfähigkeit die engste Verbindung mit diesen kognitiven Leistungsparametern aufweist. Das deckt sich mit den Befunden einer ganzen Reihe von Studien. Sprecherin: Bewegung macht klug – immer mehr Sportwissenschaftler aber auch Neuropsychologen propagieren Körpertraining, um das Gehirn fit zu machen. Professor Hans-Christoph Nürk von der Universität Tübingen untersucht diesen Zusammenhang anhand eines Ansatzes in der Psychologie, der kognitive Vorgänge nicht als losgelöste geistige Angelegenheit betrachtet, sondern als untrennbar mit dem Körper verbunden. OT 04 Nürk: Also die Embodied Cognition heißt auch Grounded Cognition, die Idee ist, dass was wir dann selber als abstrakte Gedanken und Vorstellungen wahrnehmen, dass die gelernt werden durch körperliche Erfahrung, also auf der Erfahrung unseres Körpers im Raum. Wir haben ja auch viele körperliche Metaphern auch in der Sprache, wenn ich jetzt sage es läuft, oder wie gehts, oder die Zeit läuft uns davon, da übertragen wir körperliche Bewegungen auf die Sprache. Wir denken inzwischen umgekehrt, wenn wir unsere Umwelt wahrnehmen, simulieren wir sie motorisch, und wenn wir Begriffe lernen, läuft das oft, vielleicht immer über die Wahrnehmung vom eigenen Körper im Raum. Sprecherin: So der Neuropsychologe Hans-Christoph Nürk. Wir lernen über unsere Körper, die sich im Raum bewegen. Wir erobern als Kleinkinder robbend und krabbelnd die Welt, und möglicherweise behalten wir diese Form des Lernens über den Körper und über die Räume, die dieser Körper durchmisst, das ganze Leben bei. Wie sich dieser Zusammenhang in der Informationsverarbeitung des Gehirns zeigt, kann man mit den neuen bildgebenden Verfahren gut veranschaulichen: OT 05 Nürk Es gibt natürlich ganz verschiedene Hirnregionen, aber die die am besten untersucht sind, sind vor allem das visuelle Areal und das sensorisch motorische Areal. Und wir können jetzt zeigen, dass bestimmte motorische Areale aktiv sind, obwohl wir die 3

Motorik gar nicht bewegen, die sind aktiv, wenn wir Wörter verarbeiten mit Bewegung, und daran können wir sehen, dass wir motorische Aktivierung haben bei scheinbar abstrakter Verarbeitung von Objekten, von Wörtern und auch von Zahlen. Sprecherin: In Zusammenarbeit mit der Exzellenz-Graduiertenschule LEAD im Wissenschaftscampus Tübingen sowie mit Kollegen aus den Fachrichtungen Erziehungswissenschaft und Linguistik und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg hat Nürk eine Reihe von Forschungsprojekten durchgeführt, die diesen Zusammenhang untersuchen. Es geht ihnen darum, wie körperliche Konzepte unser abstraktes Denken strukturieren, und zwar vornehmlich im Bereich des mathematischen Lernens. Ein Streitpunkt unter Pädagogen ist die Frage, ob das Abzählen von Rechenaufgaben mit den Fingern ein Zeichen von mathematischer Schwäche darstellt, oder ob es als Lernmöglichkeit akzeptabel ist. OT 06 Nürk: Die Position der Didaktik ist, dass Fingerzählen hinderlich ist oder bestenfalls eine Phase ist, die überwunden werden sollte, und deswegen verbieten auch viele Lehrer das Fingerzählen oder versuchen, die Kinder möglichst schnell davon abzubringen. Der Beleg dafür ist, was die Leute dann immer anführen, dass es Kinder gibt, ältere Kinder, die dann 47 und 25 noch mit den Fingern rechnen, was natürlich nicht zielführend ist. Und wenn die das dann noch mit den Fingern rechnen, dann ist das was Schlechtes, dann muss man ihnen das verbieten. Sprecherin: Ist es so, dass wir – auch als Erwachsene – Zahlen tatsächlich rein abstrakt verstehen? Oder ist unser eigener Körper das Medium, mit dem wir Zahlen und Mengen überhaupt erst begreifen können – mit fünf Fingern an jeder Hand, mit Beinen und Füßen, die einen, zwei viele Schritte machen können? Diese Frage ist wichtig für Lernmethoden und didaktische Modelle. Doch sie geht auch weit darüber hinaus. Ein scheinbar ganz simpler Alltagsvorgang wie das Rechnen von kleinen Zahlen könnte ein Modell dafür sein, wie unser abstraktes Denken auf räumlichen und verkörperlichten Vorstellungen fußt. OT 07 Nürk: Es gibt starke Überzeugungen und wenig Daten. Wir haben eine groß angelegte Interventionsstudie gemacht, weil wir eigentlich überzeugt sind auf der Basis der neurokognitiven Daten, weil wir eben glauben, das ist eine wichtige Basis für alle einstelligen Ziffern, und wenn man diese körperliche Basis hat, dann lernt man besser und nicht schlechter. Und tatsächlich ist es so, dass die ersten Daten darauf hinweisen, dass die Kinder besser sind oder gleich gut in verschiedenen Transferaufgaben, so dass dieses Verbieten gerade verkehrt scheint. Sprecherin: Ein weiteres Projekt in dieser Studienreihe erarbeitet mit Kindern das Verständnis von zweistelligen Zahlen anhand einer Tanzmatte, wie sie auch für verschiedene Spielkonsolen eingesetzt wird. Die Tanzmatte hat 9 Felder, die in einer 3 mal 3 Matrix angeordnet sind. Durch Bewegung auf ein anderes Feld kann man eine Antwort auslösen, zum Beispiel eine Markierung auf dem Zahlenstrahl um 1 oder um 10 verschieben. Professor Nürk und Kollegen haben diese Tanzmatte auf eine 4

Treppenstufe gelegt. Die Verschiebung um 10 war mit größerem körperlichem Aufwand verbunden, weil man dafür eine Treppenstufe hochgehen musste, während man bei der Verschiebung um 1 auf der gleichen Stufe blieb. OT 08 Nürk: Und auch da gibt es dann wieder diese Embodiment-Effekte, dass es offenbar besser wirkt, wenn man größere körperliche Anstrengung mit einem größeren Wert verknüpft, und das lernt man dann besser, als wenn man nur Tasten drückt und keine Verkörperlichung oder Verräumlichung von dieser Größe haben. Es ist schon die ganz systematische Verknüpfung von Bewegung und Raum, von räumlicher Distanz und Bewegungsdistanz mit numerischer Distanz, und diese Vorstellung scheint Kindern zu helfen, dann auch die größeren Zahlen zu repräsentieren. Sprecherin: Vielleicht ist unser Gehirn ja im Lauf der Evolution entstanden, als sich das Leben in Bewegung setzte. Nur ein bewegliches, mobiles Wesen braucht überhaupt ein Gehirn, so der Neurophysiologe Rodolfo Llinás in seinem 2002 erschienen Buch „I of the Vortex: From Neurons to Self“. Dort nutzt er das Beispiel eines winzigen quallenähnlichen Tieres, der sogenannten Seescheide: Die Larve kommt mit einem einfachen Rückenmark und einem aus 300 Neuronen bestehenden „Gehirn“ zur Welt. In den ersten 12 Stunden ihres Lebens muss sie eine Koralle finden, auf der sie sich niederlassen kann. Sobald sie diese Reise erfolgreich beendet hat, isst sie ihr Gehirn einfach auf, denn sie braucht es nicht mehr. Llinás zieht daraus die Schlussfolgerung: „Was wir Denken nennen, ist die evolutionäre Internalisierung von Bewegung.“ Musikakzent, darüber: O-Ton Kind Gedicht 2: Wir laufen immer barfuß, Max und ich, weil es uns gefällt, wie sich der Boden unter den Füßen anfühlt, grobe Erde, weiche Blätter, knackende Zweige, glatte Kiesel. Selbst wenn es kalt ist, laufen wir auf dem harten, gefrorenen Weg, unsere nackten Sohlen klatschen auf. Sprecherin: Doch nicht nur die neuronalen Verschaltungen im Gehirn selbst kommen durch Bewegung in Gang. Was passiert eigentlich im gesamten Körper, wenn wir Sport treiben? Der Karlsruher Sportwissenschaftler Prof. Woll erklärt: OT 09 Woll: 5

Da sind zumindest mal drei große Mechanismen, die man in den Blick nehmen muss. Zum einen die bessere Durchblutung und damit die bessere Voraussetzung für Leistungsfähigkeit des Gehirns. Zum anderen, das nennt man so den psychosozialen Weg, dass ich durch Bewegung günstig auf das Selbstkonzept von Kindern Einfluss nehmen kann, es hat auch günstige Auswirkungen auf die Neurogenese, die Entwicklung von Nervenzellen wird günstig durch Bewegung beeinflusst. Sprecherin: Bewegung macht klug – wenn man sieht, wie vielfältig die Wirkungen von täglicher Bewegung auf unser Gehirn sind, müssten unsere Kindergärten und Grundschulen eigentlich intensive Bewegungsorte sein. In einem Modellversuch an einer Grundschule wurde von 1993 bis 1997 die tägliche Sportstunde eingeführt, dafür wurden andere Fächer gekürzt. Prof. Klaus Bös, ebenfalls Sportwissenschaftler in Karlsruhe, und seine Kollegen konnten erstaunliche Ergebnisse dokumentieren: Die Kinder zeigten deutlich bessere Werte nicht nur im Sozialverhalten, sondern auch in ihrer Leistungsfähigkeit. Überdies kam es zu keinem Leistungsabfall in den gekürzten Fächern. Man sollte meinen, dass diese Ergebnisse einen Boom der Bewegung auslösten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Prof. Woll untersuchte Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und konstatiert: Das Leben der Kinder war noch nie so bewegungsarm wie heute. OT 11 Woll: Wir stellen fest, wir haben ein Bewegungsparadoxon in der Welt von Kindern und Jugendlichen. Es sind unheimlich viele Kinder im Sportverein fast 80 Prozent, und trotzdem stellen wir einen riesigen Bewegungsmangel im Alltag fest. Und das liegt nicht am Sport, sondern an der Tatsache, dass Bewegung aus dem Alltag verschwindet, beispielsweise die Wege zur Schule, dass ich die mit dem Fahrrad oder zu Fuß mache. Sie sehen immer noch jeden Morgen den großen Verkehrsstau vor der Grundschule oder vor dem Kindergarten, weil die Kinder eben hingebracht oder abgeholt werden. Sprecherin: Der Psychiater und Autor John Ratey berichtet in seinem Buch „Superfaktor Bewegung“ von einer Schule in Naperville, einem Vorort von Chicago, die ein revolutionär neues Unterrichtskonzept entwickelt hat. Auf freiwilliger Basis können die Kinder dort in der Nullten Stunde, also vor Schulbeginn, ein Fitnesstraining besuchen. Ausgestattet mit einer Pulsuhr trainieren sie dort in ihrem persönlichen Hochleistungsbereich. Gleich anschließend können sie das Schulfach besuchen, in dem sie die meisten Schwierigkeiten haben. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Die Kinder sind nicht nur fitter und weniger übergewichtig, sie bringen auch großartige schulische Leistungen: Während andere US-amerikanische Schulen im internationalen Vergleich weit hinter asiatischen Schulen lagen, schaffte es Naperville ganz nach vorne: Im Test der „Trends in International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) kamen sie in der Sektion Naturwissenschaften auf Platz 1 vor Singapur, und auch in Mathematik lagen sie international auf Platz 6 und waren damit immer noch die beste teilnehmende Us-amerikanische Schule. Gleichzeitig erleben wir, dass immer mehr Kinder Aufmerksamkeitsstörungen haben und mit ADS oder ADHS diagnostiziert werden – die Zahl der medikamentierten Kinder steigt von Jahr zu Jahr immens. Da drängt sich die Frage auf, ob diese als angeboren 6

geltenden Störungen wirklich so rasant zunehmen, oder ob hier nicht viele andere Faktoren wirken, die Konzentration und Aufmerksamkeit erschweren. OT 12 Woll: Es gibt doch dieses schöne Bild vom Zappelphilipp, das war so der erste ADHSler, den man in der Geschichte der Kinder kennt. Ich würd sagen, wenn man Philipp öfters zappeln lassen würde, dann wär es gar kein Zappelphilipp. Es ist eher diese Frage des Aberziehens von Bewegung, dieses nicht sich bewegen Dürfens, aber auch natürlich die mediale Überflutung von Kindern mit den Handys mit dem Computer, die die Aufmerksamkeitsregulation insgesamt erschwert. Das kommt noch dazu, es ist nicht nur der Bewegungsmangel, sondern auch der erhöhte Medienkonsum, der es den Kindern schwer macht, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Bei Computerspielen oder Handyspielen, da hat man ja sofort die Belohnung und man geht ein Level höher, das ist relativ stressfrei, und das ist ein Phänomen das wir heute oft beobachten, dass die Frustrationstoleranz bei Kindern nicht sonderlich gut ausgeprägt ist, weil sie die Erfahrung selten machen. Deswegen ist Sport ein wichtiges Lernfeld, dass Kinder eine gesunde Leistungsmotivation aufbauen. Sprecherin: Viele Eltern suchen Hilfe, um gegen die Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen ihrer Kinder zu anzugehen. Vielfach erreichen sie aber weder mit Medikamenten noch mit Verhaltenstherapie eine Besserung. Der US-amerikanische Autor John Ratey resümiert: Sport heilt viele dieser Störungen. Anstatt einen oder mehrere Neurotransmitter durch Medikamente zu manipulieren, sagt er: Leute, geht laufen, Jogging zeigt vergleichbare Wirkungen, wie ein paar Neuroleptika und ein etwas Ritalin zu einzunehmen, nur nachhaltiger und völlig nebenwirkungsfrei. Auch viele alternative Therapieansätze sehen den Schlüssel zur Heilung in Bewegung. Einer davon ist ENWAKO, ein Trainingsprogramm, das der Augenoptiker und Funktionaloptometrist Niels Ewald entwickelt hat: OT 13 Ewald: Seit über 12 Jahren bin ich selbständig im Bereich Wahrnehmungstraining, also im Bereich visuelle Wahrnehmungsverarbeitung, auditive oder Hörverarbeitung, aber auch im Bereich Gleichgewichtstraining und vor allem auch im Spezialbereich der frühkindlichen Reflexe, die immer noch sehr unbekannt sind im deutschsprachigen Raum. OT 14 Ewald: Die Kinder werden dazu animiert von den Eltern zu Hause, dass sie an 5 bis 6 Tagen die Woche ca. 10 Minuten trainieren, das sind 2-4 Übungen, immer ein Bereich visueller Bereich, immer einen Bereich aus der Motorik, immer einen Bereich aus frühkindlichen Reflexen und immer einen Bereich aus dem Lernen oder Merkfähigkeit, aus der Vorstellungswelt. Einen Tag muss Pause gemacht werden, damit das Gehirn in den sogenannten Ruhemodus kommt oder wie es die Wissenschaft in der Zwischenzeit sagt Default Mode, das heißt einen sogenannten Traum-oder Schlafmodus, nämlich den, den wir in den letzten Jahren eigentlich abtrainiert haben, noch schneller, noch besser, noch sauberer, noch höher strukturiert, und man weiß in der Zwischenzeit, man muss träumen, man muss einen 7

leeren Blick haben um einfach Dinge, Verbindungen zu festigen im Gehirn, um Synapsen zu verstärken, damit die Wege dicker werden, von im Gehirn. Sprecherin: Enwako, das heißt, Entwicklung, Wahrnehmung, Koordination, denn, so Ewald, viele Lernprobleme kommen von Störungen in Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit und können auch genau dort angegangen werden: OT 15 Ewald: Ich nutze klassische Bewegungsmuster, Kreuzmuster, die bekannt sind, das heißt über die Körpermitte kreuzen, oder die visuellen Bewegungsmuster, dass etwas fixiert wird, dass jemand etwas genaues angucken muss oder dass er lernen muss, wie man seine Augenlinse einstellen muss, aber auch Hoch- und Tieftöne, oder herauszufinden, wenn der Lehrer was spricht und die Klasse sehr unruhig ist, dass ich überhaupt rausfiltern kann, was der Lehrer sagt. Das sind alles so Grundfunktionen, die man wieder lernen kann, und diese Grundfunktionen bringe ich den Kindern bei. Sprecherin: Ein Ansatz, nach dem Niels Ewald arbeitet, befasst sich mit den frühkindlichen Reflexen. Als Neugeborene haben wir Reflexe, die unser Überleben sichern, so z. B. der symmetrische und der asymmetrische tonische Nackenreflex oder der MoroReflex, der uns beim ersten Atemzug hilft. Diese Reflexe sollten eigentlich in den ersten Lebensmonaten und -jahren gehemmt werden, doch das, so dieser Ansatz, passiert nicht bei allen Kindern: OT 16 Ewald: Wenn ständig der Moro aktiv ist, habe ich gewisse Ängste, wenn ich Angst habe, dann wird in der Nähe das Lesen schwieriger, weil meine Akkommodation nicht mehr richtig sich dick und kugelig macht, die Linse arbeitet nicht mehr richtig, dass sie schön dick wird, sondern, sie geht ins Flachgezogene, das heißt ich sehe nicht mehr ganz scharf in der Nähe, gleichzeitig sehe ich auch in der Ferne nicht mehr ganz scharf, ich kriege ein großes Feld, das heißt, ich muss mehr mitkriegen, was außen um mich herum passiert, das stresst wieder diese Kinder mehr und das verstärkt noch mehr meine Angst. Auch meine Lautstärke-Überempfindlichkeit nimmt zu, auch in Klassen gerade, wo sehr viel Geräuschkulissen sind, das ist das Beispiel MoroReflex. Sprecherin: Möglicherweise ist es unter anderem der Bewegungsmangel im Kleinkindalter, der dazu beiträgt, dass immer mehr Kinder unter Dauerstress stehen und deshalb Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität zeigen. Die Bewegungen, die im Kleinkindalter ausgelassen werden, so zum Beispiel robben und krabbeln, können aber nachgeholt werden – so die These, nach der Ewald seine Trainingsprogramme konzipiert. Bewegung ist also auch hier der Schlüssel zur Lösung. OT 17 Ewald: Einen Moro-Reflex auszuhemmen läuft über ein Übungsprogramm, das heißt, dass man über verschiedene Bereiche arbeitet und durch die Kombination von zwei bis vier verschiedenen Übungen geht man über verschiedene Reflexe und hemmt die 8

nach und nach aus sagt man dazu. Das heißt, man geht in bestimmte Muster rein und reizt die ganz leicht und gleichzeitig tut man ihn wieder beruhigen und geht dann über dieses ganze Jahr Übungsprogramm. Dann sollte natürlich der Moro trotzdem noch aktiv sein, spätestens dann wenn der LKW vor einem steht und nicht bremst, sollte ich zum Beispiel mit wegrennen können, ansonsten wär es schwierig. Sprecherin: Ewald arbeitet nun schon seit über acht Jahren mit diesem Ansatz, doch wann solche praxisorientierten Methoden eine universitäre Überprüfung oder gar Anerkennung erhalten können, ist derzeit noch nicht abzusehen, wie Professor Woll anmerkt: OT 18 Woll Man muss aufpassen, im Moment erlebt das Ganze einen Boom, ohne dass wir genau wissen, wie die Wirkung von den Programmen ist, also es wird vieles empfohlen, ohne dass es tatsächlich die Evidenz hat. Eigentlich wäre da noch mehr Forschung nötig, wenn ich das tue passiert dieses. OT 19 Ewald: Neurophysiologisch gesehen bin ich kein Wissenschaftler, leider, ich würde immer wieder gerne mit verschiedenen Programmen mir das Gehirn anschauen, was sich wirklich verändert, mit den bildgebenden Verfahren. Und rein von der Vermutung her würde ich sagen, dass Bewegung ein Schlüsselprogramm ist, ganz viel im Verhalten des Menschen zu verändern. Musik Gedicht 4 OT Kind ich zeichne gern: das ist so, als würde man im Kopf laufen und dann erscheint auf einem leeren Blatt Papier ein Bild direkt aus den Gedanken, ein Phantomschatz Sprecherin: Bewegung wirkt auf vielen unterschiedlichen Ebenen: Neurophysiologisch gesehen sind die Gehirnareale der Sprachverarbeitung und des mathematischen Denkens eng verbunden: Wenn wir Sprache und Zahlen denken, sind unsere motorischen Gehirnzonen aktiv. Und auch umgekehrt gilt der Zusammenhang: Wenn wir uns bewegen, verstehen wir Sprache und Mathematik besser. Bewegung ist darüber hinaus wesentlich für die Bildung der Hormone. Wenn wir Sport treiben, kommen sie ins Gleichgewicht und sorgen für gute Lernbedingungen. Auch das Körpergewicht wird günstig beeinflusst, denn Übergewicht ist bekanntlich nicht nur eine Folge von zu viel und zu ungesundem Essen. Wir müssen uns bewegen, nicht nur um Kohlehydrate zu verbrennen, sondern auch um die hormonelle Situation günstig zu beeinflussen, die die Verdauung und den Aufbau von Muskeln oder Fett steuert. 9

Gemeinsam Sport treiben ist eine Chance, soziale Fähigkeiten zu erwerben. OT 20 Woll Eine Stunde Sport am Tag ist wichtig aus einer medizinisch-gesundheitlichen Sichtweise, aber auch aus einer entwicklungspsychologischen Sichtweise, und aus einer lerntheoretischen Sichtweise, um die Voraussetzungen für Lernprozesse zu verbessern, das ist so ein Bereich, den wir so empirisch belegen können, früher hat man das immer gefordert, ja das wäre sinnvoll, jetzt können wir tatsächlich zeigen, dass auch die Lernleistung profitiert, wenn ich eine Bewegungsstunde habe pro Tag. Und das ist ein neues Argument in dieser Diskussion, und ganz allmählich kommt es auch in den Köpfen der Verantwortlichen an. OT 21 Adler Interessant wäre die Kombination von Bewegung und Wissensvermittlung vor allen Dingen im Kindergarten. Da gibt es in Niedersachsen ein Institut für frühkindliche Bildung, die jetzt in den letzten Jahren angefangen haben, Programme zu entwickeln und diese auch in den Kindergarten zu implementieren, z. B. zur Sprachentwicklung, und die zeigen, dass man sehr erfolgreich damit ist. das heißt, wenn man gute Programme entwickeln könnte, für unterschiedliche kognitive und auch sozialemotionale Entwicklungsbereiche, die mit Bewegung verbunden sind und man zeigen könnte, dass diese effektiv sind, das ist ein Aspekt, der dringlich in den nächsten Jahren angegangen werden sollte. Sprecherin: So Dr. Katrin Adler vom Forschungszentrum für den Schulsport und den Sport von Kindern und Jugendlichen in Karlsruhe. Die Leiterin des FOSS, Frau Prof. Swantje Scharenberg denkt diesen Ansatz weiter für die Anwendung in der Schule: OT 22 Scharenberg Meine Idee wäre dann, diese Programme auch umzusetzen, indem die Multiplikatoren geschult werden. Wir haben es in der Grundschule mit 80 Prozent fachfremd unterrichtenden Lehrern zu tun. Das heißt, im Grunde sind alle Grundschullehrer eben keine Sportlehrkräfte. Das heißt in der Zeit, wenn sich die Kinder sowohl kognitiv gut entwickeln als auch bewegungstechnisch gut entwickeln, die Zeit verschenken wir in der Schule. OT 23 Nürk Wir wissen noch sehr wenig, wir sind ganz am Anfang noch, und das ist eigentlich erstaunlich, weil Studien der OECD zeigen, dass Rechnen genauso wichtig ist für die individuelle Entwicklung in einer Informationsgesellschaft wie das Lesen. Viele Kinder haben in Mathematik besondere Schwierigkeiten und ganz besondere Ängste. Es ist untersucht aus einem pädagogisch-psychologischen Bereich, aber noch sehr wenig im neuropsychologisch-kognitiven Bereich.Wünschenswert ist, dass es mehr Förderung gibt, wenn Unternehmen oder das Land oder der Bund ist merkt, wie Mathematik für unsere Gesellschaft und unsere berufliche Ausbildung ist, dass da auch mehr Geld in die Hand genommen wird, weil das ist eine Fähigkeit, die wir brauchen.

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Literaturangaben:

Klaus Bös, Frank Obst: Tägliche Sportstunde. Bericht eines Modellversuchs. In Laging, R./Schilllack, G. (Hrsg.): Die Schule in Bewegung. Hohengehren 2000, S. 117-125. Sharon Creech: Herznah. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel. Fischer Taschenbuch Verlag 2009. Niels Ewald: Einfach nur ungewöhnlich oder schon auffällig? Wie unsere Kinder wieder lernen, ihr eigenes Potential auszuschöpfen. Verlag Iris Förster 2014. Sabine Kubesch (Hg.): Exekutive Funktionen und Selbstregulation. Neurowissenschaftliche Grundlagen und Transfer in die pädagogische Praxis. Bern 2014. Filip Mess, Maren Ossig und Alexander Woll: Bewegte Pausengestaltung: Übungs/ Spielesammlung für Lehrer und Schüler. Schorndorf: Hofmann 2014. John J. Ratey, Eric Haberman: Superfaktor Bewegung. Das Beste für Ihr Gehirn. VAK Verlags GmbH 2013 (2008).

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