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SWR2 Feature am Sonntag Kein Mord mehr und kein Luxus Das Ende der Nachtzüge Von Nora Bauer Sendung: Sonntag, 19. Februar 2017, 14.05 Uhr Redaktion: Walter Filz Regie: Nora Bauer Produktion: SWR 2017

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Atmo 1 [Köln Hbf / Ansage: CNL 447 nach Warschau über Düsseldorf Hauptbahnhof auf Gleis 2 ] Musik 1 [Zitat Murder on the Orient Express-Walzer] O-Ton 1 [Martin Kopetschke] Naja, beispielsweise, wenn man von der Ukraine nach Polen fährt, gibt’s einen Nachtzug von Warschau nach Kiew, und wenn der aus Kiew kommt, kann‘s halt mal passieren, dass man kurz vor der polnischen Grenze vom Schaffner mal kurz aus dem Abteil gebeten wird und dann Leute darein gehen und alle Wandpanele abschrauben und dahinter Säcke mit Zigarette verstecken…. Teilweise wird man dann auch, gibt’s dann auch … noch ein Dankeschön danach, also dass man da –, als Westeuropäer, wenn man einen westeuropäischen Pass vorzeigt, guckt der Zoll nicht so genau, und wenn die das dann rausholen hinter der Grenze, dann kriegt man ne Flasche Wodka ab, oder so was. Erzählerin Martin Kopetschke betreibt eine Fahrkartenagentur in Berlin. Und er reist auch selbst. Mit dem Nachtzug. O-Ton 2 [Martin Koetschke] Wenn man dann aus dem Fenster guckt, die Sonne geht unter über einer Landschaft, die vorbei zieht, morgens geht die Sonne auf und man steht dann vielleicht auf dem Gang mit einem Kaffee und abends beim Sonnenuntergang trinkt man ein Glas Sekt, den Begrüßungsdrink, das ist dann eben auch … ein spezielles Licht in den Abteilen, … wenn‘s dann dunkel wird … es ist kein kaltes Licht, man kann sich das relativ gemütlich machen, … es ist halt schon ein gewisses Gefühl, dieses in den Schlaf gewogen zu werden, durch die – gut Schienenstöße gibt’s nicht mehr so viel, aber man merkt halt schon die Bewegung und das macht’s halt etwas speziell. Und es hat natürlich auch so ein bisschen so einen romantischen Charakter. Erzählerin Damit ist es nun vorbei. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2016 hat die Deutsche Bahn ihre Zugverbindungen mit Schlafwagen eingestellt. Also stieg ich in einen der letzten Nachtzüge. Um zu wissen, auf was ich in der Zukunft würde verzichten müssen Nicht dass ich bis dahin das Nachtzugangebot häufig in Anspruch genommen hätte, aber viele Dinge werden ja erst richtig interessant, wenn sie einem nicht mehr zur Verfügung stehen. O-Ton 3[8_31a – Georg Schlüter] Gerade nach Warschau ist das so ‘ne schöne Sache, weil er eben recht spät ankommt und man kann ausschlafen im Schlafwagen, das ist das Schöne dabei. Erzählerin Georg Schlüter ist der Fahrkartenverkäufer, bei dem ich mein Ticket erwerbe. Atmo 2 [12.1_Köln Hbf / Ansage Einfahrt des EN Jan Kiepura nach Warschau] 2

Sprecher: Meine Damen und Herren auf Gleis steht abfahrbereit EN 447 nach Warschau. Mit Kurswagen nach Prag. Abfahrt 23:13h. Musik 1 [Zitat Murder on the Orient Express-Walzer ] Sprecher Kein Mord mehr und kein Luxus. Das Ende der Nachtzüge ein Feature von Nora Bauer O-Ton 4a [Georg Schlüter] Diese luxuriösen Züge da aus dem Orient-Express und sowas – das war ja keine Sonderzüge damals – waren ja der reguläre Bahnverkehr. Erzählerin Georg Schlüter betreibt eine Fahrkarten-Agentur im Bahnhof des sauerländischen Arnsberg. Er verkauft nur Zugtickets, mit Vorliebe für richtig lange Strecken, die Nachtzugverbindungen notwendig machen. Wie zu jenen Zeiten, als es noch keine Flugzeuge gab. O-Ton 4b [Georg Schlüter] Also die Züge waren damals … komfortabler, weil die Bahn, die Eisenbahn insgesamt einen viel, viel höheren Stellenwert in der Gesellschaft hatte als heute. Heute reist ja nur noch ein geringer Prozentsatz überhaupt täglich oder überhaupt mit der Bahn, als damals, da war das halt noch viel bedeutsamer eben mit dem Zug zu fahren, von A nach B und gerade auf längeren Strecken auch, als heute. Zitator Tickets von Köln nach Warszawa schon ab 29 Euro. Und das mit einem Zug, den man ohne weiteres als Orient-Express des 21. Jahrhunderts bezeichnen kann, dem „Jan Kiepura”! Tickets zu attraktiven Preisen – sehen Sie sich das Angebot an! Köln, Dortmund, Berlin, Poznań, Warszawa! Wenn ein Zug den Namen des Orient Express des 21. Jahrhunderts verdient, dann mit Sicherheit dieser, der nach dem berühmten Operetten-Sänger aus Krynica-Zdroj benannt wurde. Es lohnt sich, wenigstens ein Mal mit dem Zug Jan Kiepura zu reisen. Dank der zahlreichen Sonderangebote wird diese Reise für Sie viel günstiger sein als Sie vermuten! Erzählerin So steht es im Prospekt. Der Sparpreis gilt dann aber nur für den Sitzwagen, für einen Platz im Liege- oder Schlafwagen kann der Preis, abhängig von Klasse und Wochentag, schnell auf das zehnfache anwachsen.- Was soll ich buchen? O-Ton 5 [Georg Schlüter] Schlafwagen gibt’s maximal für drei Personen, die Betten sind dann übereinander. Man kann das sowohl als single, als double, oder als Drei-Bett eben buchen, und da gibt’s dann noch mal die Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Klasse, wobei die erste Klasse dann eben noch zusätzlich einen Waschraum und Dusche mit drin hat. 3

Erzählerin Also Schlafwagen Economy Single, in der zweiten Klasse. Allein, aber ohne eigene Dusche.. Musik 1 [Zitat Murder on the Orient Express-Walzer ] Atmo 4 [ Ansage: Meine Damen und Herren an Gleis zwo. Bitte steigen Sie ein. Vorsicht an den Türen und bei der Abfahrt des Zuges] Erzählerin Dienstag. 23.13 Uhr am Gleis 2 des Kölner Hauptbahnhofs: hinter einer roten Lok der Deutschen Bahn reihen sich sieben oder acht dunkelblaue Wagons der Polnischen Staatsbahn: Schlafwagen der ersten und zweiten Klasse und ein Kurswagen nach Prag. Dann folgen noch zwei Wagons mit erleuchteten Fenstern, auch wieder von der DB. Die Sitzwagen. Auf dem Bahnsteig haben sich vielleicht 50 Reisende mit größeren Gepäckstücken versammelt. Die meisten steigen in die Sitzwagen ein. Ich werde persönlich empfangen. Ein dicker schnaufender Schaffner in einer dunkelblauen, speckig glänzenden Uniform mit Hochwasserhosen und dem Abzeichen der ‚Polskie Koleje Państwowe‘, der polnischen Staatsbahnen, nimmt mir mein Ticket ab, stempelt es und verwahrt es in einer dicken Mappe. Dann greift er mit Schwung meinen Handkoffer und schiebt sich den schmalen Gang entlang zu meinem Abteil Ich folge ihm erwartungsfroh. Er schließt das Abteil auf, stellt meinen Koffer hinein, drückt mir den kleinen Schlüssel für die Tür in die Hand und wünscht mir mit polnischem Akzent eine gute Nacht. Musik 1 reißt ab Atmo 5 [im Abteil] Erzählerin Die holzgetäfelten Wagen des Orient-Express aus der berühmten Agatha Christie Verfilmung, die ich im Hinterkopf habe, dulden keinen Vergleich mit der Ausstattung des Schlafwagenabteils, das ich nun betrete. Statt Mahagoni und Kristallgläser für den Nachttrunk – graugrünes Metall und ein Plastikbecher zum Zähneputzen. Ein süßlicher Geruch entströmt dem am Waschbecken festgeschraubten Seifenspender. Georg Schlüter hatte mich gewarnt. O-Ton 6 [Georg Schlüter] Es wird eigentlich immer spartanischer … wie ich ja eingangs schon erwähnte, dass die Sitze immer spartanischer werden, keine Platzleuchten mehr, so ist es auch in den Nachtzügen. Es wird immer mehr abgeschafft, weil man sich immer mehr dem preiswertesten Verkehrsmittel anpasst. Man muss immer günstiger werden, der Preisdruck ist halt da, gegenüber dem Flug und gegenüber dem Auto, und das kriegt man eben nur, indem man eben diverse Annehmlichkeiten, die jetzt nicht so im Mittelpunkt für den Reisenden vielleicht stehen könnten, eben weglässt. 4

Atmo 6 [im Abteil, Auspackgeräusche + Summen Melodie Orient Express, Fahrgeräusche des Zuges] Erzählerin Ich setze mich auf das aufgeklappte Bett und versuche mich mit der völlig abgespeckten Version meiner Erwartungen anzufreunden: ein Schlafwagenabteil, das selbst für die Bezeichnung ‚economy‘ wirklich mager ausgestattet ist. Auf der einen Seite das Bett, circa 60 cm breit über die Länge des Abteils, auf der anderen Seite ein schmaler Wandschrank, in dem zwei Holzbügel klappern, das kleine Waschbecken und daneben ein Ecktischchen. Dazwischen ist gerade so viel Platz, dass ich mich um mich selber drehen kann. Irgendwann siegt die Vernunft: meine Reise nach Warschau dauert nur eine Nacht. Ich drehe die Heizung auf, die auch wirklich funktioniert. Tatsächlich ist alles im Abteil sehr sauber. Das Bett ist mit frisch gebügelter Wäsche bezogen und durchaus einladend. Ich schaue durch das Fenster. Der Zug hat inzwischen den Kölner Bahnhof verlassen. Im Gang ist alles ruhig. Der Schaffner hat sich in sein Dienst-Abteil zurückgezogen. Ich bin der einzige Passagier in seinem Wagon um den er sich kümmern muss und er weiß mich gut verstaut. Dann ziehe ich den steifen Woll-Vorhang zu. Filmausschnitt 1 [Murder on the Orientexpress / 11:40] Lokomotive pfeifft; Ansage: Orientexpress, will depart from platform one at nine pm for destinations Sofia, Belgrad, Zagreb, Triest, Venice, Lausanne, Paris and Calais with connection for London. Erzählerin Ich klappe meinen Laptop auf dem Ecktischchen auf und lege die DVD ‚Mord im Orient-Express“ ein. Etwas neidisch sehe ich, wie Lieferanten halbe Ferkel, Körbe mit fangfrischen Austern, Obst und Gemüse, und Kisten mit Wein und Champagner in die Küche des Filmzuges hieven. O-Ton 7 [Georg Schlüter] Es gab einen sehr guten polnischen Speisewagen, … da konnte man sehr gut drin frühstücken, und sehr gut drin Abendessen, es wurde im Gegensatz zur Bahn nicht aus der Mikrowelle, sondern eben alles noch frisch gekocht, frisch zubereitet und zu einem vor allen sehr zivilen Preis. Den gab es mal auf dem Jan Kiepura, das war allerdings schon ein paar Jahre her, da hatte der Zug auch noch Kurswagen nach Minsk und nach Moskau, … aber das ist seit einigen Jahren eben alles weggestrichen. Musik 2 [Zitat: der Zug verlässt den Bahnhof] Erzählerin Rotbetresste Gepäckträger mit weißen Handschuhen wuchten opulente Schrankkoffer an Bord des Orient Express‘. Vermutlich sind damals nur vertrocknete russische Prinzessinnen, feurige ungarische Prinzen und vulgäre amerikanische Milliardäre gereist. Heute kann sich die Reise im Schlafwagen sogar eine deutsche Journalistin leisten. Nicht nur die Ausstattung der Wagons, auch die Reisenden 5

haben offenbar einen Qualitätsverlust erlitten. Draußen fliegt im Dunkeln die Landschaft vorbei. Irgendwann nicke ich ein. Atmo 7 [Verlangsamung der Fahrt] Erzählerin Ich werde plötzlich wach. Die Zugbremsen quietschen. Ich blinzele aus dem Fenster: Dortmund Hautbahnhof. Null Uhr 35. Der Bahnsteig liegt im Schummerlicht. Niemand steigt ein. Ich bin offenbar die letzte Reisende, die noch mit einem Schlafwagen fährt. Das lohnt sich nicht. Ich lohne nicht. Das hatte man mir auch schon bei der Deutschen Bahn gesagt. O-Ton 8 [Silke Kaulfuß] Also ein Angebot ändert sich natürlich je nachdem sich die Nachfrage auch verändert, das heißt also, was ist das Bedürfnis der Reisenden, was ist das Bedürfnis der Kunden, das schauen wir uns natürlich sehr genau an. Es gibt immer noch eine sehr starke Nachtzug Klientel, wir haben ca. 1,3 Millionen Reisende – in Summe ist das aber nur ein Prozent unserer gesamten Kundschaft im Fernverkehr, vor zwanzig Jahren waren es noch fünf Prozent. Erzählerin Und wo ist sie hin, die Kundschaft? O-Ton 9 [Pressesprecherin DB] Ich bitte Sie um Verständnis, dass wir uns als Bahn nicht im Spekulativen hier bewegen können. Da möchten wir keine Aussage zu machen, das ist etwas, was wir jetzt mit Bedauern feststellen müssen, natürlich wär uns lieber einen erfolgreichen Verkehr zu führen, na klar, warum sollten wir ein erfolgreiches Produkt einstellen? Ja? Aber es war nicht mehr erfolgreich. O-Ton 10 [Georg Schlüter] Es sind ein Prozent, weil es eben auch nur noch ein Prozent an Nachtzügen nachts gibt, also es ist ja kaum noch ein vernünftiges Netz vorhanden, … dann kann ja gar nicht mehr als … ein … Prozent zustande kommen, wenn nur noch kaum Nachtzüge angeboten werden. Filmausschnitt 2 [Murder on the Orientexpress] Erzählerin Der Meisterdetektiv Hercule Poirot trifft unterdessen im Speisewagen des Orient Express auf das zukünftige Mordopfer, einen amerikanischen Multimillionär. R: Mein Name ist Rachet. Habe ich das Vergnügen mit Monsieur Hercule Poirot? In meinem Land ist man immer sehr direkt und kommt auf schnellstem Weg zur Sache. Ich wünsche, dass Sie für mich einen Job übernehmen. Für viel Geld. Für sehr viel Geld. 6

P: Was ist das für ein Fall, oder wie Sie es ausdrücken: Job, den ich übernehmen soll? R: Ich bin ein reicher Mann und ich habe Feinde. P: Was ist Ihr Beruf?: R: Ich habe mich zurückgezogen. P: Wovon? R: Von Geschäften. P: Welche Art von Geschäften? R: Babynahrung. Was spielt das für eine Rolle? Es geht doch nur um meine Sicherheit!! P: Sind Sie in Gefahr? R: Mein Leben ist bedroht worden!! Monsieur Poirot: 5.000 Dollar! Nein? 10.000 Dollar! 15.000 Dollar?? P: Mister Rachet, ich habe genug Geld verdient, um mir ein angenehmes und abwechslungsreiches Leben leisten zu können. Ich übernehme nur Fälle, die mich interessieren. Und mein Interesse an Ihrem Fall ist gleich null! Erzählerin Diese Begegnung kann natürlich nur im Speisewagen stattfinden. Aber warum interessiert sich Poirot nicht für den lebenden Millionär und dafür umso mehr später für seine Leiche? Vielleicht bargen für Agatha Christie Statusverlust – immerhin braucht es zwölf Leute um den Mann zur Strecke zu bringen – und Scheitern mehr Komplexität als Siegen und Aufstieg. Ich schlafe wieder ein. O-Ton 11 [Georg Schlüter] Ich hatte schon mal einen Todesfall im Zug, das war auch ein Zug von Weißrussland nach Berlin, da ist mal jemand verstorben im Zug, und den hat man – der ist auf weißrussischer Seit verstorben und um das Problem irgendwie nicht auf weißrussischer Seite zu haben, … weil natürlich erst mal Untersuchungen stattfinden müssen, hat man das Abteil verriegelt und verschlossen, … ich meine, für den Toten war es natürlich letzten Endes auch egal, er ist eines natürlichen Todes gestorben, wie sich dann herausstellte – aber man hat das Problem dann halt über die Grenze, über die EU-Außen-Grenze nach Polen verschoben, das fand ich ganz originell irgendwie, dass man das überhaupt machen könnte, so, dass das an der Grenze 7

eben nicht auffiel von den Grenzzöllnern. Die haben eben alle mitgespielt und sagten, wir machen das Abteil zu und wollen das gar nicht wissen, was da ist … dass es dann in Polen von dem polnischen Grenzpersonal dann entdeckt wurde, dass da einer verstorben war. … Die haben das öffnen lassen und dann festgestellt, dass da ein Herzinfarkt, was da war, ist schon ein paar Jahre her, kann ich jetzt nicht mehr genau sagen, aber das war eben ganz interessant, dass man das überhaupt machen kann, dass man so einen Verstorbenen so ohne, dass das auffällt über die Grenze schiebt. (lacht) O-Ton 12 [Silke Kaulfuß] Nachtzüge generell gibt es schon sehr sehr lange, auch ursprünglich nicht in Deutschland sondern in den USA. Der erste Nachtzug fuhr 1830, war das, … wurde dann von Goerge Pullman sehr luxuriös ausgestattet. … Mit viel Plüsch und Seide, so richtig bequeme, so wie man sich das vorstellt, vielleicht auch aus dem Orientexpress, der kam ein paar Jahre später und verband dann Paris mit Istanbul und war im Grunde genommen das, was man sich unter einem Nachtzug vorstellte. Da gab‘s dann Sitze mit Seidenrips und Samt, Mahagonifußböden und Eichenbeplankte Tische, also sehr, sehr luxuriös. O-Ton 13 [Georg Schlüter] Ich kann mich da besonders erinnern an den Nachtzug von Hagen nach Kopenhagen fuhr der, der hatte dann immer eine Dom-Runde, der fuhr einmal um den ganzen Köln Dom drum herum, mit dem Speisewagen, so dass ich Hagen eingestiegen bin, das Bett hatte ich dann zwar schon ab Hagen aber ich bin dann erst mal in den Speisewagen, bin dann einmal mit dem Speisewagen komplett um den Kölner Dom gefahren und dann hat man sein Abendessen gehabt und was getrunken, und dann eben der Dom einmal umrundet wurde, war dann Zeit um Schlafen zu gehen. … Dadurch hatte man sich das Kopfmachen im Hauptbahnhof gespart, und ist dann einmal über die Südbrücke gefahren und dann wieder über die Hohenzollernbrücke zurück Richtung Deutz, und hat dabei praktisch einmal komplett den Kölner Dom umrundet. Das war dann die Dom-Runde. … Und das war dann so der Punkt, wenn man das geschafft hatte, dass man dann zu Bett gehen konnte. … Der hatte damals ja noch Kurswagen nach Binz, nach Kopenhagen, nach Prag, nach Warschau. Man konnte also fast ganz Nord- und Ost-Europa mit einem Zug erreichen. O-Ton 14 [Silke Kaulfuß] Wir als Deutsche Bahn, also bzw. auch die Vorgänger haben dann verschiedene Komfortkategorien auch schon recht frühzeitig eingeführt, wo man eben einmal die Liegewagen hatte und dann eben die … viel komfortableren Schlafwagen, die dann auch in der weiteren Entwicklung eine Toilette mit an Bord haben und eben auch eine Dusche. Erzählerin Als an meine Abteiltür geklopft wird, wache ich auf.

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Atmo 9 [Rattern, gleichmäßiges Fahrgeräusch des Zuges] [Klopfen, Öffnen der Abteiltür, dankeschön …] Erzählerin Es ist halb acht. Wir sind in Polen – Vor der Abteiltür steht der Schaffner und bringt den ersten Kaffee. O-Ton 15 [Georg Schlüter] Das ist das schöne dabei, wenn man eben im Schlafwagen auch ausschlafen kann und eben was Ordentliches von der Nachtfahrt hat. … Die Leute sind entwöhnt, … dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, wie bequem es ist im Schlafwagen. Die setzen sich in den Sitzwagen und sagen, eine Nacht geht das, eine Nacht geht das auch, aber es ist eben kein Komfort. [8_17 – Georg Schlüter] Wer sich stundenlang oder auch eine ganze Nacht lang in engen Flugzeugsitzen quetscht, warum soll der noch bei der Bahn viel Geld für einen Schlafwagen ausgeben … wenn er doch so völlig entwöhnt ist und auch sich in Flugzeugsitzen quetscht, der fährt doch auch nachts mit dem ICE durch die Gegend. … Also es ist nicht die Bahn alleine, die daran schuld ist, dass die Nachtzüge eingestellt werden, sondern auch viele Reisende, die gar nicht mehr wissen, wie komfortabel man eine Nacht überbrücken kann. Erzählerin Der Schaffner reicht mir einen Stoß frischer Handtücher und schließt mir ein unbenutztes 1. Klasse Single Deluxe auf, wo ich die Dusche benutzen kann. Außer dass es über einen Waschraum verfügt, unterscheidet es sich in der Einrichtung nicht von meinem 2. Klasse-Economy-Abteil. Zu meinem Erstaunen funktioniert die Dusche einwandfrei. Zurück in meinem Abteil, bringt mir der Schaffner den zweiten Kaffee. Genau nach Fahrplan 12:12 Uhr erreichen wir den Hauptbahnhof von Warschau. Die Fahrt von Köln hat etwas mehr als 13 Stunden gedauert. Der ICE schafft die Strecke in der Hälfte. Die Pünktlichkeit ist irgendwie beängstigend. Atmo 10 [Hbf Warschau, Ansagen etc.] O-Ton 16 [eine Reisende ] Wir haben einen Schlafwagen gehabt. … Also, man kann die Beine ein bisschen ausruhen, man muss nicht sitzen, das ist nämlich auch anstrengend. … Es war gut, ich werde mal wieder mit … dem Schlafwagen fahren. Ich bin nicht so für Fliegen, das ist auch umweltunfreundlich, sagen wir mal. Kurzstrecken zu fliegen. Erzählerin Ich war offenbar doch nicht die einzige in den vielen Schlafwagenabteilen. Weiter oben auf dem Bahnsteig ist schon ein Herr mit Aktenkoffer ausgestiegen und schlüpft in seinen Mantel.

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O-Ton 17 [ein Reisender] Ich bin ebenfalls Nachtzug Liegewagen gefahren … und habe das auch früher von Hamburg schon mal gemacht, auch Liegewagen und auch mal Schlafwagen, und finde das ‘ne tolle Art zu reisen. Ich war auf dem Hinweg zu viert in dem Abteil … es ist ein bisschen wie Ski-Hütte, das ist jetzt mal für eine Nacht ganz in Ordnung, hab ich jetzt kein Problem damit. … Ich steck mir da Oropax in die Ohren und versuche trotzdem zu schlafen, also die Mitreisenden haben mich nicht gestört, was natürlich ein bisschen ungewohnt ist, ist das Wackeln und Ruckeln und Rangieren und Stoppen und die Geräusche des Zugs an sich. Weil man einigermaßen ausgeschlafen ankommt, einen ganzen Tag hat in der Stadt, wo man halt hinwill und … eben die Nacht, einfach die Zeit spart. Statt mindestens einen halben Reisetag oder fast einen ganzen Reisetag dranzuhängen, ob das jetzt Fern-Bus ist oder auch tagsüber Zugfahren, selbst mit dem Flieger, mit Flughafentransfer ist man ja auch lange unterwegs, kommt man über den Nachtzug, abends eingestiegen, morgens an seinem Ziel an, hat quasi nix verloren und kann den Tag gleich nutzen. Erzählerin Ich fühle mich wundervoll ausgeruht. Ich verabschiede mich von meinem dicken polnischen Schaffner, nachdem er schnaufend meinen Trolley auf dem Bahnsteig abgestellt hat. Fünfundzwanzig Jahre lang hat er als Schlafwagenschaffner Reisende auf dieser Strecke betreut, nun wird er wohl arbeitslos werden. Während ich den Bahnsteig hinaufgehe zur großen Empfangshalle des Bahnhofs, überhole ich müde Gestalten mit grauen Gesichtern, die aus dem Sitzwagen stolpern. Ein junges Pärchen stellt gerade das Gepäck auf dem Bahnsteig ab. O-Ton 18a [Mitreisender] Original aus der Türkei, jetzt aus Berlin. … Wir haben den ICE verpasst, billig, und der war halt billiger. Erzählerin Die beiden wollen sich einen Tag lang Warschau anschauen und dann weiterreisen in die Türkei. Sie sind im Liegewagen gefahren. O-Ton 18b [Mitreisender] Eigentlich kann ich auf Reisen nicht schlafen, also im Sitzplatz, hier konnte ich jetzt einigermaßen schlafen, war ok, war ein bisschen eng natürlich, aber wir waren vier Personen, war ok, also kann man nix sagen, für den Preis. … 68 Euro für beide. … Ich meine die Züge sollten eigentlich bleiben, weil, die werden gebraucht, denke ich mal, also, es ist immer gut, wenn man abends einsteigt und morgens ankommt, anstatt den ganzen Tag zu verbringen auf der Reise, das ist immer gut. Atmo 11 (polnische Nationalhymne, Blasorchester im Hbf] Erzählerin Ich laufe weiter den Bahnsteig Richtung Ausgang entlang. Ein junger Mann in der Uniform der Deutschen Bahn kommt mir entgegen. Ein Schaffner.

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O-Ton 19a [Schaffner] Soeben bin ich mit dem Euronite … angekommen. Meine Aufgabe war, für die Sicherheit verantwortlich zu sein, für den gesamten Zug, für die betriebliche Sicherheit, dass die Bremsen funktionieren, und dass alle Türen geschlossen sind und dass alle Fahrgäste in Sicherheit sind. Erzählerin Edward Schofield aus London hat in Berlin Ingenieurwesen studiert und sich das Geld für sein Studium als Schlafwagen-Zugführer bei der Deutschen Bahn verdient. O-Ton 19b [Schaffner] Ich fahre nur Nachtzüge, seit fünf Jahren. Mir macht das sehr viel Spaß, ja. Das Besondere an Nachtzügen sind die internationalen Destinationen. Es geht nur ins europäische Ausland für mich und das ist ein Jetset-Leben. … Man ist jede Woche eben in Italien oder in Holland oder in Frankreich und das ist ein schönes Gefühl. Ich habe meine Frau kennengelernt auf einer meiner Fahrten. … Ihre Liege war kaputt und sie hat eine neue gebraucht. Und deswegen musste ich ein Abteil, ein Logistik-Abteil, ausräumen um ihr eine Liege herzurichten. Jede Fahrt ist eine andere und immer wenn man losfährt, fährt man los mit ganz ganz vielen unterschiedlichen Menschen und Schicksalen und man weiß nie, wie es werden wird. … Manchmal passieren Sachen, … die einem wehtun. Ich erinnere mich, … die Flüchtlingskrise kam bei uns viel früher an als in den Nachrichten. Und ich erinnere mich noch gut, wie ganze Familien aus meinem Zug verhaftet wurden, weil sie schlechte Papiere hatten, oder gar keine. … Ich bin … mit einem vollen Wagen abgefahren und mit einem leeren Wagen … angekommen. Erzählerin Wie mein polnischer Schaffner, wird auch Edward Schofield arbeitslos werden, wenn die Deutsche Bahn ihre Beteiligung an den Nachtzügen einstellt. O-Ton 20 [Schaffner] Ich könnte schon auf Tageszügen arbeiten, das wäre kein Problem. Es ist eher eine Sache des Wollens. Beim Nachtzug hat man mehr Zeit um … auf seine Fahrgäste einzugehen, weil man 12, 14 Stunden mit ihnen zusammen ist, das heißt, sie Fahrgäste steigen am Abend ein und sie sind die ganze Nacht an einem Platz und da hat man Zeit, um auf ihre Probleme einzugehen, ihnen besser zu helfen. Es ist ein langsamerer Rhythmus. Während auf Tageszügen steigen sie immer ein und aus und man hat nicht die Zeit um sich mit allen zu beschäftigen. Man muss schnell weiter und es ist eine Art hektischen Arbeitens, die ich für mich nicht wünsche und zu der ich nicht bereit bin. Vielleicht hätte ich auch so aufgehört, einfach um etwas mehr Studium-bezogenes zu machen. Trotzdem finde ich, dass Nachtreiseverkehr eines der schönsten Arten ist sich fortzubewegen. Ich finde auch Europa bräuchte ein … gutorganisiertes Nachtzugnetz. Erzählerin Ich frage ihn, wie er die Entscheidung seines Arbeitgebers einschätzt, sich aus dem Nachtzug-Geschäft zurückzuziehen.

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O-Ton 21 [Schaffner] Die Eisenbahn wird auf eine nationale Nische zurückgedrängt, habe ich den Eindruck. … Die Eisenbahn agiert in einer politischen Großwetterlage, wo es für sie nicht einfach ist. Weil, wie oft gesagt wird: Fernbusse zahlen keine Maut, es gibt eine Kerosin-Steuer, während zumindest in Deutschland auf Fernverkehrstickets die volle Mehrwertsteuer angerechnet wird. Und das, obwohl so viel Verkehr … von der Straße auf die Schiene gebracht werden soll. Aber es passieren keine politischen Weichenstellungen um das zu erreichen. Im Gegenteil. Zu Zeiten des Kalten Krieges haben die Eisenbahnen besser kooperiert als im heutigen offenen Europa. Ich glaube sogar mit dem Ostblock funktionierte die Kooperation sehr gut. Vielleicht hat es zum Teil damit zu tun, dass es damals Behördenbahnen waren, die nicht im Wettbewerb zueinander standen. Jetzt ist es so, dass, auch politisch gewollt, die Eisenbahnen wirtschaftlich arbeiten sollen, sie werden alle zu Aktiengesellschaften umgebaut, und dann werden sie als Konkurrenten zueinander ins Rennen geschickt, wobei der eigentliche Konkurrent der Luftverkehr und das Auto ist. Und währenddessen zerfleischen sich die europäischen Eisenbahnen gegenseitig. Atmo 12 [Hbf Warschau, Ansagen für einfahrende Züge, etc.] Erzählerin Am Abend geht es wieder zurück. Wieder mit dem Jan Kiepura. Vom Bahnsteig 7 im Hauptbahnhof Warschau nach Köln. O-Ton 22 [Sarah] OK, I’m coming back from a visit to Poland, and I don’t like flying, so this is the first time I’ve done a long European train-journey, because I wanted to visit the Auschwitz-Birkenau-Memorial, so that’s what I’ve done. Übersetzerin Also, ich bin auf der Rückreise von einem Besuch in Polen, ich fliege nicht gern, das ist meine erste lange europäische Zug-Reise. Ich wollte die AuschwitzBirkenau Gedenkstätte besuchen und das habe ich getan. Erzählerin Auf einer Bank sitzt eine rothaarige mittelalte Frau und kramt in ihrem Rucksack. Sie heiße Sarah Horton, stellt sie sich vor: O-Ton 23 [Sarah] I live in Liverpool, I’m British, and I work in Liverpool as an independent funeralcelebrant. Übersetzerin Ich lebe in Liverpool, ich bin Britin und arbeite als freischaffende BegräbnisGestalterin. Erzählerin Über mein erstauntes Gesicht muss sie lachen. 12

O-Ton 24a [Sarah] I take funerals, so when people don’t want a religious minister, they want something, and they have me, although celebrants like myself will include religious elements if the family wants it, but increasingly in a secular society people don’t want the church, at the point of death, but they want something, so the ritual funeral is observed, and I’m part of an increasing modern funeral-industry, where we offer families a choice. Übersetzerin Ich veranstalte Beerdigungen, also wenn Leute keinen Pastor wollen, aber dennoch eine Zeremonie wünschen, dann buchen sie mich. Obwohl auch wir religiöse Elemente in die Feier integrieren, wenn die Familie das wünscht. Aber in einer säkularen Gesellschaft wollen die Menschen immer häufiger keine Kirche, wenn sie sterben. Trotzdem möchten sie irgendeine Feier. Auf diese Weise geraten Beerdigungsrituale in den Blick und ich gehöre zu einer wachsenden BeerdigungsBranche, die den Familien eine Wahl anbietet. O-Ton 24b [Sarah] What would happen when you died? … Would you have a religious funeral? Erzählerin Über diese Frage habe ich noch nie nachgedacht. O-Ton 24c [Sarah] I mean, maybe Britain is different … and also require a mixture as well, so I take, I do take catholic funerals, but I take – sorry this isn't about the train – a lot of, you know, Chinese, we do have a big Chinese community. Übersetzerin Aber vielleicht sind Briten auch anders. Sie möchten manchmal auch etwas Gemischtes, also mache ich auch katholische Beerdigungen – tut mir leid, jetzt reden wir gar nicht über den Nachtzug – und auch chinesische, wir haben eine große chinesische Gemeinde. O-Ton 24d [Sarah] So my funerals can range from: we sit in silence to: we sing and grandchildren play Ukuleles and people eulogize, and everything in between, and it’s doing a funeral in a way that’s appropriate and fitting and reflexing values of the person who has died. Übersetzerin Also erstrecken sich meine Feiern von schweigend dasitzen, über wir singen alle und die Kinder spielen auf der Ukulele, bis zu die Leute trauern und halten Lob-Reden auf den Toten, und alles dazwischen. Wir wollen die Totenfeier so gestalten, dass sie angemessen und passend ist und die Werte und den Charakter des Toten widerspiegelt. Erzählerin Sarah wartet wie ich auf den EuroNite 446, den Jan Kiepura von Warschau nach 13

Köln. Dort hat sie Anschluss an einen EuroNite durch den Euro-Tunnel nach London und von dort geht es weiter bis Liverpool. O-Ton 25 [Sarah] So, I spent two days on the train getting to Poland, one day in Auschwitz, one day just hanging out, and then today I’m coming back and I’ll be back home tomorrow afternoon in Liverpool. … I booked it through an agency and they recommended that I booked cabin, so I have a cabin on my own, which is what I had coming out, which was really nice, actually. Übersetzerin Ich bin zwei Tage mit dem Zug gefahren um nach Polen zu kommen, dann ein Tag Auschwitz, dann ein Tag Erholung, und jetzt die Rückreise. Morgen Nachmittag bin ich wieder zuhause in Liverpool. Ich habe über eine Agentur gebucht und sie haben mir den Schlafwagen empfohlen. Deshalb habe ich jetzt ein Abteil für mich allein, das hatte ich schon bei der Hinfahrt, das war wirklich angenehm. Erzählerin Ob sie Freude an der Zugfahrt durch die Nacht hatte. O-Ton 26 [Sarah] You are in your cabin on your own and you don’t have to talk to anyon. I can just do my own thing, make a mess if I want to, have something to eat, … but it is a different experience of travel, it's very insular, you sort of forget, that there is other people, and then you suddenly go out in the station and there is loads of people, it's quite strange, ‘cause you’ve just been in a little bubble! Übersetzerin Man ist in seiner Kabine allein. Das mag ich. Ich muss mit niemandem sprechen und kann tun, was ich will: ein Durcheinander machen oder etwas essen, das ist eine andere Reiseerfahrung. Man ist wie auf einer Insel, man vergisst, dass da noch andere Leute mitreisen, und dann kommt man plötzlich in den Bahnhof und trifft auf einen Haufen Leute und das ist merkwürdig. Weil man vorher in einer kleinen Blase war. Erzählerin Auf dem Bahnsteig sammeln sich Reisende. Die meisten stehen wieder in dem Gleisabschnitt, wo die Sitzwagen des Zuges halten werden. Ich erzähle Sarah, dass die Deutsche Bahn plant, die Nachtzüge einzustellen, weil nur noch sehr wenige Menschen damit reisen. O-Ton 27 [Sarah] I’ve done a trip for one day really, I only wanted to go to Auschwitz, that’s all I wanted to do in Poland, and it's taken me six days of my life. You know, it's been great, but I’m self- employed and I chose to do that, where as lots of us, we want more instant gratification, and flying gives us that! But we’ve got to realize that flying isn't sustainable in the long term, is it? No! We don’t look at the bigger picture as tourists, do we? We should, but we don’t. 14

Übersetzerin Ich habe eigentlich nur eine Tagesreise gemacht, ich wollte nur nach Ausschwitz fahren, das war alles, was ich in Polen wollte und es hat mich sechs Tage meines Lebens gekostet. Es war toll, aber ich bin selbstständig und ich konnte das entscheiden. Viele Menschen wollen alles sofort haben und durch das Fliegen bekommen sie es. Aber wir sollten begreifen, dass Fliegen langfristig nicht umweltverträglich ist. Wir Touristen kümmern uns nicht um die großen Zusammenhänge. Wir sollten uns dafür interessieren, aber wir tun es nicht. Atmo 13 [Hbf Warschau, polnische Ansage] Erzählerin Während unseres Gesprächs ist der Zug langsam auf das Gleis gerollt und wir greifen unser Gepäck. Unsere Kabinen liegen in benachbarten Wagons. Sarah steigt auf der einen Seite in die erste Klasse und ich in den Wagen mit der zweiten Klasse ein. Der Schlafwagenschaffner der ersten Klasse schleppt Sarahs Rucksack in ihr Abteil. Der Schaffner der zweiten Klasse schiebt meinen Handkoffer in das meine. Es ist noch früh, erst sechs Uhr, und die Betten sind noch nicht gemacht. Sarah bestellt beim Schaffner einen Tee und bittet ihn, ihr Bett aufzuklappen. Dann verabschiedet sie sich. Sie sei sehr müde. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen zum Kaffee im Kölner Hauptbahnhof. Mein Abteil gleicht dem von der Hinfahrt aufs Haar. Jetzt ist mir alles vertraut. Ich fixiere die klappernden Bügel in dem kleinen Wandschrank, schließe das Waschbecken und stelle meinen Laptop auf. Musik [Walzer Murder on the Orient Express] unterlegen Erzählerin Noch ist es hell. Ich schaue aus dem Fenster und betrachte die vorbeiziehende Landschaft, als der Zug den Bahnhof verlässt: wie sich städtische Architekturen in Industriebauten und dann in ländliche Flächen verwandeln. Ich lasse mir vom Schaffner einen Pappbecher geben und trinke einen Schluck Rotwein aus meinem Koffer. Die Reisenden im Orient Express fahren durch Schneewehen in die Nacht. Filmausschnitt 3 [Murder on the Orient Express] Stöhnen – Schritte – Klopfen an Abteiltür Rachet: De rien! C‘est une cauchemar! Schaffner: Das tut mir leid, Mr. Rachet! Dann wünsche ich Ihnen jetzt angenehmere Träume! Klingeln – Zug bremst – Stille Erzählerin Der Film-Zug ist in einer Schneewehe steckengeblieben. Filmausschnitt 3 [Murder on the Orient Express ff/ 32:09 – 33:39] 15

Poirot: Das ist die Stille des Todes. Mon dieu, mon dieu, was für eine Nacht. Klingeln Mrs Hubbart: Da hat sich ein Mann in diesem Abteil versteckt, ich habe es gespürt, und ich weiß auch, wer es war, weil ich heute Abend beinahe aus Versehen in sein Abteil gegangen wäre! ‚Madam,‘ sagte dieser Mr Rachet, ‚hätten Sie das vor zwanzig Jahren getan, hätte ich gesagt, treten Sie näher! Vor zwanzig Jahren, ha!! Da wäre ich erst 15 gewesen! Schaffner: Wenn es wieder vorkommen sollte, zögern Sie nicht zu klingeln! Erzählerin Irgendwann schlafe ich wieder ein. O-Ton 28 [Georg Schlüter] Wenn Sie nach dem 11. Dezember fahren würden, wird die Verbindung etwas komplizierter, weil Sie dann das nicht mehr in einem Tag schaffen, (tippt in seinen Computer) ich kann mir die Verbindung mal gerade angucken: also Sie könnten zwar morgens in … London abfahren … da werden Sie wahrscheinlich irgendwo stranden, weil Sie das nicht an einem Tag schaffen. O-Ton 29 [Silke Kaulfuß] Natürlich gibt es diese Bedürfnisse, und was wir jetzt machen im kommenden Jahr um auch diesen Bedürfnissen ein Stück weit gerecht zu werden, dass wir verstärkt bestehendes Roll-Material, also sprich ICEs und ICs einsetzen, die in der Nacht oder sage ich auch, in Tagesrandlagen fahren, auch so ‚der letzte Zug am Abend‘, ‚der erste Zug am Morgen‘. Das ist natürlich Material, was tagsüber auch fährt, d.h., wir können das auch kostengünstiger anbieten, als einen Nachtzug, der tagsüber nur steht. Und bieten trotzdem so die Möglichkeit, beispielsweise für Geschäftsleute den ersten Termin am Morgen zu erwischen, … dann braucht jemand kein Bett um zu schlafen, dann setzt man sich morgens in den ersten Zug und fährt dann mit dem ICE. O-Ton 30 [Georg Schlüter] So, hier haben wir eine Verbindung: also, Sie sehen schon, ja, die Verbindung bietet jetzt einen Bus an von Nürnberg über Prag, … und dann noch drei Uhr nachts, also (lacht) so eine Verbindung überhaupt anzubieten ist ja schon eine Frechheit eigentlich! Also das System bietet jetzt eine Verbindung an, ich versuchs mal für den Dezember, nehmen wir den 18. Dezember, gucken mal wie die Verbindung dann aussieht: Sie würden abfahren in London um 08:58 Uhr, London St Pancras, bis Brüssel, würden dort um 12:08 Uhr ankommen, hätten dann einen ICE über Brüssel, Frankfurt, Nürnberg, … in Nürnberg kämen Sie an um 17:59 Uhr, hätten dann einen Busanschluss von Nürnberg nach Prag, … Abfahrt in Nürnberg um 18:45 Uhr und 16

wären dann 22:20 Uhr in Prag. Dort würden Sie dann tatsächlich – Moment, wo ist die Verbindung, hier ist sie – um 23:09 Uhr einen Nacht-Schnellzug von Prag nach Ostrava erreichen, er hat dann tatsächlich die Frechheit, in Ostrava um 02:58 umzusteigen, müssten dann um 05:56 Uhr weiterfahren, hätten also da 3 Stunden Aufenthalt mitten in der Nacht in Ostrava, ich meine dafür einen Nachtzug anzubieten, für drei Stunden ist eigentlich ein Witz, … aber wären dann um 10:38 Uhr in Warschau am nächsten Morgen. Das war bisher eben bequem von Köln direkt aus möglich, ohne diesen Umweg über Süddeutschland, sprich Nürnberg zu machen. O-Ton 31 [Silke Kaulfuß] Es muss ja dann auch tagsüber quasi in unsere Flotte passen. Wir können ja keine Exoten dann quasi durch die Gegend fahren, die in der Instandhaltung, weil es eben eine kleine Nische ist, viel teurer sind, etc., … es muss ja auch dann tagsüber in unsere Verkehre passen. Also mir ist kein Modell bekannt, … dass quasi den gleichen Komfort tagsüber bietet, wie dann auch nachts. Jedenfalls keins, das kosteneffizient wäre. O-Ton 32 [Georg Schlüter] Das ist von 1984, nennt sich Internationales Schlafwagenkursbuch, so was gab es mal. Heute würde das auf ein DIN A 4 Blatt passen, was es noch an Schlafwagenzügen in Europa gibt. Alleine die Verbindung von Moskau bis Madrid gab es mal oder von Madrid bis Hendaye … das ist an der französischen Grenze. Dann gab es Verbindungen eben auch von Köln bis Sankt Petersburg konnte man durchfahren oder eben auch von Köln bis Stockholm gab es Verbindungen, Oslo, war alles mal direkt erreichbar. Vor allem zu einer Zeit, wo das Reisen insbesondere in Richtung Ost-Europa noch viel schwieriger war, weil es eben noch den Eisernen Vorhang gab. Und das ist eigentlich das Kuriose an den Nachtzügen! Zu einer Zeit, wo das Reisen kaum möglich war vor allem nach Ost-Europa waren die Nachtzugverbindungen deutlich besser als heute. Also, da fragt man sich doch, wer konnte in den achtziger Jahren jetzt problemlos nach Sankt Petersburg oder Moskau reisen mit dem Zug? Das war doch nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung gegenüber heute, wo jeder reisen könnte und es auch jeder macht eigentlich. Das ist eine völlig gegenläufige Entwicklung, was da stattgefunden hat, wo es heute eigentlich viel einfacher ist in diese Länder zu kommen. O-Ton 33 [PR-Sprecherin DB] Wir sprechen ja hier von Millionen, ja! die sowas kostet! Wie gesagt, damit sind ein Prozent unserer Reisenden unterwegs. Und guckt dann an: da wo neunundneunzig Prozent unserer Reisenden sind, müssen wir ja auch investieren. … Wir haben aber nur ein begrenztes Budget. Und dann muss man sich entscheiden und dann – auch wenn die Entscheidung keine leichte ist, ist es aber eine sehr eindeutige. Atmo 14 [Kölner Hbf, Ansage Einfahrt des Zuges: Bitte nicht einsteigen]

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O-Ton 34a [Sarah] It wasn’t a very good night sleep, it was a bit noisy, there was men in the corridor, but I did have some sleep. Erzählerin Am nächsten Morgen um 06:56 Uhr erreichen wir den Kölner Hauptbahnhof und ich treffe Sarah auf dem Bahnsteig wieder. O-Ton 34b [Sarah] The pillow is rubbish, … very hard, not luxurious at all, and my shower didn’t work this time, it was just a trickle water, there was no chance, so – the first night on the way here the shower worked, I had a towel, a full size towel! This time just this tiny little thing, … I had a travel towel with me anyway, but when the shower didn’t work, there was no point anyway and I’ll be at home the end of today. Übersetzerin Ich habe nicht gut geschlafen, es war ziemlich laut, weil Leute auf dem Gang waren, aber ein bisschen habe ich doch geschlafen. Das Kopfkissen ist Mist, sehr hart, überhaupt nicht luxuriös. Und meine Dusche hat nicht funktioniert, nur ein dünner Wasserstrahl, also keine Chance zu duschen. In der ersten Nacht, auf der Hinreise, konnte ich duschen und ich hatte ein großes Handtuch, dieses Mal gab es nur so ein kleines Ding. Ich hatte selbst ein Reisehandtuch dabei, aber da die Dusche sowieso nicht funktioniert hat, war es eigentlich egal und ich bin heute Abend wieder zuhause. Erzählerin Sarah ist die Enttäuschung deutlich anzumerken. O-Ton 35 [Sarah] Well, I’ll definitely start with pillows – pillows, towels, the whole bed-washing-thing. Because that was, when I bought my ticket and I said, oh, it's quite expansive, and they went ‘Oh, but you get your own cabin, it's like a little hotel, you know, your own bathroom!’ and I was like, ‘really? Wow! Oh!’ You know? … so that has to be better, the food has to be better. But like the orient-express?! I mean, that’s just not comparable to what we’ve been on, is it? Übersetzerin Ich fange mit den Kopfkissen an, Kopfkissen, Handtücher, die ganze Schlaf-WaschSituation. Weil das war – als ich das Ticket kaufte, sagte ich, oh, das ist aber doch recht teuer! und sie meinten: „aber Sie reisen im eigenen Abteil, das ist wie ein kleines Hotel, wissen Sie, mit einem eigenen Badezimmer!“ Und ich sagte, „tatsächlich? Wow! Oh!“ – Verstehen Sie? Also, das muss besser sein und das Essen muss besser sein. Aber wie der Orient-Express?! Also, das ist überhaupt nicht vergleichbar, mit dem, womit wir gerade gefahren sind, nicht wahr! O-Ton 36 [Sarah] It was quite expansive, yeah, you might have been able to do the journey cheaper but it would be … more hassle, because it would be stopping and getting off the train and finding a hotel, and, you know, for me also, I have a language barrier, so I don’t 18

speak German … and I don’t, I wouldn’t really call that first class, personally, (lacht). But then I think, first class-travel is perhaps something of the past. Übersetzerin Es war ziemlich teuer. Man hätte billiger reisen können. Aber das hätte mehr Umstände bedeutet, Anhalten und Aussteigen und Hotel suchen, wissen Sie, ich habe eine Sprach-Barriere, ich spreche kein Deutsch. Und ich persönlich würde es nicht als Erste Klasse bezeichnen. Aber vermutlich ist das Reisen in der ersten Klasse etwas aus der Vergangenheit. Musik 1 [Orient Express-Walzer mit Hall] Erzählerin Wir trinken noch einen Kaffee zusammen, dann muss Sarah den Anschlusszug nach Dover erreichen. Ich begleite sie auf das Gleis. Wir verabschieden uns und versprechen gegenseitig: to keep in touch. O-Ton 37 [Georg Schlüter] Die Tendenz wird auch weiter gehen. Ich will das jetzt ein bisschen überspitzt sagen, aber vielleicht gibt’s irgendwann keine Sitzplätze mehr, weil die Bahn ja eigentlich nur eine Beförderung verkauft und keinen Sitzplatz. Sitzplatz hat man ja, wenn man eine Reservierung hat, ansonsten gibt’s vielleicht nur noch Stehplätze in den Zügen, weil die sagen, wozu sollen wir Sitzplätze anbieten, wir bieten ja nur eine Beförderung an. Erzählerin Kosteneffizienz versus Komfort. – Die Nachtzugreisenden sind nur eine Minderheit. Und was für sie Bequemlichkeit bedeutet, ist für die Bahn logistische Komplikation. Und der begegnet die Bahn, indem sich sich vermeintlich ‚demokratisch‘, also im Sinne der Mehrheit ihrer Kunden entscheidet. Eine Strategie der Komplexitätsreduktion. Dabei ist Komplexität ein Qualitätsmerkmal, Minderheiteninteressen zu berücksichtigen ist nicht nur Zeichen von Komfort und Luxus, sondern von gelebter Demokratie. Vereinfachung ist Populismus. Wie in der Politik. Eine Strategie der Komplexitätsreduktion. Bereitwillig verzichten wir auf Komplexität, dieses Stück Lebensqualität, ohne ein Konzept, durch was wir sie ersetzen wollen. Die Vergangenheit hat sich erledigt: Wdh. Aus O-Ton 36 [Sarah] First class-travel is perhaps something of the past. Erzählerin Aber einen Plan für die Zukunft haben wir nicht. Mit den Nachtzügen verabschiedet sich das 20. Jahrhundert. Musik 3 [Zitat Murder on the Orient Express-Abspann] Sprecher Kein Mord mehr und kein Luxus. Das Ende der Nachtzüge. 19

Ein Feature von Nora Bauer Es sprachen: Clauda Mischke, Ulrike Schwab und Tim Korbe Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller Regie: Nora Bauer Redaktion: Walter Filz Atmo 11 [Köln Hbf – die letzte Abfahrt des Jan Kiepura] Filmausschnitt 4 [Musik / Lokomotive pfeift] Erzählerin Alle zwölf Passagiere des Orient Express sind im Speisewagen versammelt. Das Mordopfer, Mr Rachet, der selbst verantwortlich war für den Tod der Familie Armstrong, wie Hercule Poirot ermittelt hat, wurde mit zwölf Dolchstichen zum Tode befördert. Filmausschnitt 5 Poirot: Ich wiederhole: ein verabscheuungswürdiger Mörder ist selbst auf verabscheuungswürdige Weise und vielleicht verdientermaßen ermordet worden. Aber auf welche der beiden Arten, die ich vorgeschlagen habe? Auf die simple Weise von dem Mafioso in Verkleidung als Schlafwagenschaffner oder auf die etwas komplexere Weise, wie ich gerade dargelegt habe? Sie wird viele Fragen aufwerfen. Und natürlich einen beträchtlichen Skandal hervorrufen. Senior Biancchi, es ist Ihre Sache als Direktor der Eisenbahnlinie die Lösung zu wählen, die wir der Polizei in Brodt offerieren wollen, wobei ich gestehen muss, ich bin im Zwiespalt. Also ich glaube, die Polizei in Brodt würde die einfache und plausiblere erste Lösung bevorzugen. Biancchi: wir haben die Uniform, die wir der Polizei zeigen können, wir haben die Uniform, in der ein Mann gesteckt haben muss. Und deshalb wähle ich die erste Lösung. Erzählerin Warum hat Agatha Christie ihre Mordgeschichte in einen Nachtzug verlegt? Vielleicht weil durch das In-Bewegung-Sein der Szene die Erzählung eine weitere Ebene erhält. Sogar für das Funktionieren eines Mordes ist Komplexität die Voraussetzung. An Bord der Züge der Deutschen Bahn ist ein Mord nicht denkbar. Das Reisen mit ihnen ist nicht mehr komplex genug. Und eigentlich ist es auch kein Reisen mehr, sondern Transport. 20

Musik ausblenden Sprecher Produktion Südwestrundfunk 2017

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