Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Seminar für wissenschaftliche Politik Politische Ethik Florian Braune, M.A. Sommersemester 2012 Hausarbeit Johannes Pimpl 24.09.2012

Starke Demokratie bei der Piratenpartei Setzt die Piratenpartei um, was Benjamin Barber sich unter Starker Demokratie vorstellt? Inwieweit liegt beiden Ansätzen zumindest eine ähnliche philosophische Grundausrichtung zugrunde?

vorgelegt von: Johannes Pimpl 1180 Chemin de Saint-Donat 13100 Aix-en-Provence, Frankreich [email protected] Angewandte Politikwissenschaft (2. Semester) Matrikelnummer: 3318438

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Eidesstattliche Erklärung „Hiermit versichere ich, dass ich die Hausarbeit mit dem Titel Starke Demokratie bei der Piratenpartei. Setzt die Piratenpartei um, was Benjmain Barber sich unter Starker Demokratie vorstellt? Inwieweit liegt beiden Ansätzen zumindest ein ähnliche philosophische Grundausrichtung zugrunde? selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe, alle Ausführungen, die anderen Schriften wörtlich oder sinngemäß entnommen wurden, kenntlich gemacht sind und die Arbeit in gleicher oder ähnlicher Fassung noch nicht Bestandteil einer Prüfungsleistung war.“

Aix-en-Provence, 24.09.2012

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Inhalt Einleitung.......................................................................................................................2 I Starke Demokratie. Benjamin Barbers philosophisches Gegenmodell zur gegenwärtigen Demokratie..............................................................................................................3 I.1

Benjamin Barbers Kritik an der repräsentativen Demokratie.....................................3

I.2

Partizipative Demokratie. Kritik an streng republikanischem Demokratiemodell „Einheitsdemokratie“..................................................................................................4

I.3

Benjamin Barbers „Starke Demokratie“.....................................................................5

II Benjamin Barbers Ideen – sind sie bei den Piraten wiederzufinden?..............................6 II.1

LiquidFeedback..........................................................................................................7

II.2

„Die Form prägt den Inhalt“ – prozedurale Legitimation...........................................9

II.3

Die Bedeutung des Internets.....................................................................................10

Fazit.............................................................................................................................. 12

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Einleitung Am 1. Januar 2006 gründete sich die schwedische Piratpartiet, am 10. September desselben Jahres die deutsche Piratenpartei. Was zunächst als Vereinigung von Nerds eher belächelt wurde, entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer Partei, die heute in verschiedenen Stadträten und Landesparlamenten sitzt. Die rasante Entwicklung der Partei überraschte sämtliche Beobachter und die Meinungen über ihre Zukunft, sowie ihren Nutzen oder ihre Gefahr für die Demokratie, sind bis heute gespalten. Anfangs hatte sich die Piratenpartei tatsächlich nahezu ausschließlich mit netzpolitischen Themen beschäftigt. Nach Katz und Mair konnte man sie gleichzeitig als anti-cartel-party klassifizieren, da sie von Beginn ihres Bestehens an die etablierten Parteien und deren Politikstil kritisierten. Sie bemängeln die fehlende Transparenz politischer Prozesse, sowie insbesondere die zu geringe Bürgerbeteiligung. Gerade diese Kritik brachte ihnen viele Sympathien in der Bevölkerung ein, was dazu führte, dass sich die Partei mit mehr politischen Themen als der Netzpolitik beschäftigen musste und beschäftigte. In den folgenden innerparteilichen Diskussionen wurde deutlich, dass die Parteimitglieder sehr unterschiedliche Ansichten über verschiedene Themen haben. Einig ist man sich in der Kritik am bestehenden politischen System. Letztendlich steht die Partei für eine Reform des demokratischen Systems unter Zuhilfenahme der vielfältigen Möglichkeiten des Internets. Mit der Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung kann man eine gewisse Nähe zu republikanischen Theorien feststellen. Insbesondere zu Benjamin Barbers Theorie der Starken Demokratie gibt es viele Parallelen. Dieses Demokratiemodell entwickelte er 1984 in seinem gleichnamigen Werk.1 Seine Arbeit gehört zwar nicht zum politikwissenschaftlichen Mainstream, fand jedoch gerade in der republikanischen Demokratietheorie Beachtung. In dieser Arbeit soll untersucht werden, inwieweit man die Piratenpartei als eine praktische Anwendung beziehungsweise als Umsetzer [sic] von Barbers theoretischem Modell sehen kann. Hierzu erfolgt im ersten Teil eine kurze Einführung in Benjamin Barbers Kritik an der repräsen1

Das englische Original aus dem Jahr 1984 trägt den Titel „Strong Democracy“. Die deutsche Ausgabe „Starke Demokratie“ wurde 1994 von Martin Bauer und Otto Kallscheuer herausgegeben und erschien bei Rotbuch Rationen. Vgl. BARBER, BENJAMIN (1984), Strong Democracy. Participatory Politics for A New Age, Berkley. sowie: BARBER, BENJAMIN (1994), Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg.

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tativen Demokratie und in seinen Gegenvorschlag, die Starke Demokratie; um im zweiten Teil die Kohärenz von Piratenpartei und Starker Demokratie zu überprüfen. Hierzu sollen verschiedene zentrale Elemente und Themen der Piratenpartei daraufhin untersucht werden, ob sie sich erstens mit konkreten Vorschlägen Benjamin Barbers decken und ob sie zweitens Barbers philosophischer Denkschule zuzuordnen sind. Gegenstand der Untersuchung ist ausdrücklich der Vergleich der beiden demokratietheoretischen Ansätze; nicht eine inhaltliche Kritik derselben.

I Starke Demokratie. Benjamin Barbers philosophisches Gegenmodell zur gegenwärtigen Demokratie 1984 veröffentlicht Benjamin R. Barber sein Hauptwerk „Strong Democracy“, zu deutsch „Starke Demokratie“. Darin kritisiert er im ersten Teil die in der demokratischen Welt vorherrschende Demokratieform, die liberale Demokratie, und entwirft im zweiten Teil sein eigenes Demokratiemodell – die Starke Demokratie. Diese soll positive Elemente der liberalen und der republikanischen Demokratie verbinden.

I.1 Benjamin Barbers Kritik an der repräsentativen Demokratie Benjamin Barber bezeichnet das in der demokratischen Welt vorherrschende Modell der repräsentativen Demokratie zumeist als „liberale Demokratie“ Die liberale Demokratie gehe laut Barber von einem liberalen aber nicht an sich demokratischen Menschen aus. Sie garantiere dem Bürger zwar viele Freiheiten, könne ihm jedoch kaum politische Mitbestimmungsrechte zubilligen. Um sich den Begriffen der Freiheitstheorie zu bedienen: Der Bürger habe zwar große negative Freiheiten, jedoch keine positiven; insbesondere eben keine politischen. Barber führt daher auch den Ausdruck „Magere Demokratie“ als kritische Bezeichnung für liberale Demokratie ein. Diese magere Demokratie sei zwar stabil gegenüber egoistischen Individualinteressen, da sie – unter anderem durch das Repräsentationsprinzip – großen Einfluss der Bürger verhindere; in 3

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den mangelnden Partizipationsmöglichkeiten liege aber zugleich die große Schwäche und Gefahr für die Demokratie: Bürger, die vor ihren Mitmenschen und dem Staat nur geschützt werden wollten, die nur auf ihre persönlichen Rechte pochten, entfernten sich letztendlich immer weiter von dem Staat und somit auch von der Demokratie. So verliere die Demokratie immer weiter an Unterstützung in der Bevölkerung und gefährde sich – durch ihr minimalistisches Konzept – letztendlich selbst.2

I.2 Partizipative Demokratie. Kritik an streng republikanischem Demokratiemodell „Einheitsdemokratie“ Als Gegenentwurf zur mageren Demokratie sieht Benjamin Barber die republikanische Demokratie. Ein streng republikanisches Demokratiemodell bezeichnet Barber als „Einheitsdemokratie“; diese lehnt er ebenso ab, wie die magere Demokratie. Zentrales Merkmal der Einheitsdemokratie sei die zwanghafte Konsenspolitik. Wobei „zwanghaft“ einerseits im Sinne von „unbedingt“ und andererseits als „durch Zwang“ zu verstehen ist. Der Bürger gehe zwar im Kollektiv auf, damit einher gehe aber auch seine Selbstaufgabe. Diese Selbstaufgabe werde in kleinen Gruppen durch gesellschaftlichen Druck, den Wunsch nach Konformität und andere gruppenpsychologische Phänomene forciert, die zwar durchaus kritikwürdig, jedoch nicht totalitaristisch seien. In großen Gruppen hingegen führe der konformistische Konsensgedanke als Ausdruck einer kollektivistisch-homogenen Gesellschaft zu totalitären Gesellschaftsformen die sowohl die Freiheit des Bürgers als auch seine Selbstverwirklichung zerstörten.3 Die Einheitsdemokratie habe gegenüber der liberalen Demokratie zwar den Vorteil, ohne Repräsentation auszukommen, sie sei jedoch auch keine echte partizipative Demokratie. Denn anstelle der Repräsentation setze sie eine hypothetische Einheit, die der Diversität einer Gesellschaft von freien Bürgern nicht gerecht werden könne. Da die Einheitsdemokratie außerdem die Gefahr der totalitären Entartung berge, sei die liberale Demokratie ihr so lange vorzuziehen, bis eine echte partizipative Demokratieform gefunden sei. Diese Notwendigkeit einer echten partizi-

2

Vgl. BARBER (1994): 60ff., 138ff..

3

Vgl. ibidem: 142ff..

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pativen Demokratie war die Grundlage für Barbers Überlegungen zu einem neuen Demokratiemodell.4 Diese neue Demokratie nennt er „Starke Demokratie“; in seiner Theorie, die er 1984 veröffentlicht, versucht er, positive Aspekte der liberalen und der republikanischen Demokratie zu verbinden.

I.3 Benjamin Barbers „Starke Demokratie“ Die Starke Demokratie zeichne sich aus durch eine Verbindung von Selbstregierung – in allen wichtigen Angelegenheiten – und den richtigen Institutionen, die diese Selbstregierung ermöglichten und vereinfachten.5 Ausgangspunkt der Starken Demokratie seien Individuen mit verschiedenen Meinungen. Anders als die liberale Demokratie, welche die daraus entstehende Uneinigkeit je nach Spielart auflöse, ignoriere oder toleriere, transformiere Starke Demokratie diese Uneinigkeit. Sie stelle den eigentlichen Antrieb für das Kernelement der Starken Demokratie dar: den partizipatorischen Prozess. Dieser umfasse sowohl die Selbstgesetzgebung, als auch die Schaffung einer politischen Gemeinschaft.6 Im Zentrum von Starker Demokratie stehe daher das politische Sprechen. 7 Wobei sich starkdemokratisches Sprechen entscheidend vom liberal-demokratischem Sprechen darin unterscheide, dass man nicht nur möglichst laut, lang und überzeugend die eigenen Ansichten vortrage, um die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern auch zuhöre, was die Ansichten und Interessen des Gegenübers sind. Nur so sei eine echte Partizipation aller Bürger und ein für alle zufriedenstellendes Ergebnis in der Selbstregierung zu verwirklichen. Barber weist dem Sprechen – eben dem zentralen Element Starker Demokratie – denn auch neun verschiedene Aufgaben zu. Es sind dies: 1. Die Artikulation von Interessen; Verhandlungen und Tausch 2. Überredung 3. Festlegen der politischen Tagesordnung 4

Vgl. BARBER (1994): 146.

5

Vgl. ibidem.

6

Vgl. ibidem: 147.

7

Im englischen Original verwendet Barber das Wort „talk“. Vgl. BARBER, BENJAMIN (1984): 173ff..

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4. Ausloten von Wechselseitigkeiten 5. Ausdruck von Zugehörigkeit und Gefühl 6. Wahrung der Autonomie 7. Bekenntnis und Ausdruck des Selbst 8. Reformulierung und Rekonzeptualisierung 9. Gemeinschaftsbildung als Schaffung öffentlicher Interessen, gemeinsamer Güter und aktiver Bürger8 Es soll hier nicht auf die Aufgaben im Einzelnen eingegangen werden. Allerdings stellt diese Auflistung eine gute Ergänzung dar zu dem Überblick, der über die Starke Demokratie gegeben werden soll.

II Benjamin Barbers Ideen – sind sie bei den Piraten wiederzufinden? In seinem Werk Starke Demokratie stellt Benjamin Barber im letzten Kapitel, Die reale Gegenwart: Starke Demokratie in der modernen Gegenwart institutionalisieren, ganz konkrete Vorschläge auf, wie sich starke Demokratie verwirklichen lasse. Dabei ist für ihn unerlässlich, dass die von ihm vorgeschlagenen Reformen parallel und als Gesamtheit in Angriff genommen und umgesetzt werden. Ansonsten verlören sie an Effizienz und seien anfälliger für Missbrauch. 9 Insofern unterscheidet sich das Phänomen Piratenpartei natürlich grundsätzlich von Barbers Idee, schließlich kann diese ein solches Reformprogramm aufgrund ihrer fehlenden politischen Macht gar nicht umsetzen. Trotzdem soll in diesem Kapitel untersucht werden, inwieweit Ideen der Piratenpartei als Anwendung von Barbers Theorie gesehen werden können. Auf eine E-Mail-Anfrage an die Mitglieder des Bundesvorstands der Piratenpartei gab keines der Mitglieder an, dass ihm Benjamin Barbers Theorie der Starken Demokratie bekannt sei, geschweige denn die Politik der Piraten beeinflussen würden.10 Trotzdem scheint eine gewisse ideologische Nähe vorhanden zu sein. 8

BARBER (1994): 176.

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Vgl. ibidem: 235f..

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Um diesen Eindruck zu untersuchen, sollen im Folgenden verschiedene Elemente und Ideen der Piratenpartei mit der Theorie Benjamin Barbers verglichen werden. Keinesfalls ist es sinnvoll, sich hierbei auf die von Barber vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen zu beschränken, da es eben auch um eine Untersuchung der ideologischen Nähe geht und nicht nur um einen Vergleich der angedachten Maßnahmen zur Reformierung der Demokratie. Auch andere Werke Barbers, insbesondere eine Rede im Rahmen der Karlsruher Gespräche 2004 mit dem Thema „Schwächt oder stärkt E-Technologie die Demokratie?“ bietet sich beim Vergleich mit der Piratenpartei an.11 Bei der Untersuchung werden folgende drei Themen behandelt: 1. LiquidFeedback 2. „Die Form prägt den Inhalt“ – prozedurale Legitimation 3. Die Bedeutung des Internets

II.1 LiquidFeedback Bei LiquidFeedback handelt es sich um eine frei nutzbare Software zur Umsetzung von Liquid Democracy. Als Liquid Democracy bezeichnet man ein Konzept, dass direkt- und repräsentativ-demokratische Elemente verbindet. Konkret bedeutet das, dass jeder Beteiligte entweder selbst abstimmen kann oder seine Stimme auf einen anderen Wahlberechtigten übertragen kann. Daher kommt auch der präzisere, in Deutschland jedoch weniger geläufige Name „Delegated Voting“. Diese Stimmübertragung kann er dabei für einen beliebigen Umfang von Abstimmungen vornehmen und jederzeit rückgängig machen. Gründe für eine Stimmübertragung können die (vermutete) höhere Sachkompetenz des Übertragungsbegünstigten sein, oder auch der Wunsch, sich nicht ausführlich mit dem Thema beschäftigen zu müssen und trotzdem seine Stimme nicht zu vergeuden.12

10 Siehe Anlage 1: „E-Mail-Anfrage und Antworten des Piratenparteibundesvorstands“. Es antworteten allerdings nur vier von neun Vorstandmitgliedern. 11 Die Rede wurde 2007 in folgendes Sammelwerk aufgenommen: VON ROBERTSON-TROTHA, CAROLINE (Hg.) (2007), Kultur und Gerechtigkeit, Baden-Baden, S. 33-41. 12 Vgl. LIQUIDFEEDBACK.ORG (2012), Homepage, http://liquidfeedback.org, zuletzt überprüft am: 23.09.2012.

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Eine Abstimmung bei Liquid Feedback durchläuft dabei folgende Phasen: 1. Neu 2. In Diskussion 3. Eingefroren 4. Abstimmung 5. Abgeschlossen bzw. Abgebrochen Die Piratenpartei nutzt LiquidFeedback sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene, zur Befragung ihrer Mitglieder und Entscheidungsfindung. Damit will sie sich von den etablierten Parteien absetzen, bei denen einige wenige Mitglieder der Parteiführung die Position der Partei festlegen würden.13 Ist Liquid Democracy und das Programm LiquidFeedback im Sinne Benjamin Barbers? Inwieweit entspricht, inwieweit widerspricht es seinem Konzept der Starken Demokratie? Die Antwort hierauf fällt uneindeutig aus: In Teilen entspricht es Starker Demokratie, in Teilen ist dies jedoch fragwürdig. Eindeutig im Sinne Benjamin Barbers ist erstens, dass grundsätzlich alle abstimmen können und zweitens, dass vorher eine breite Diskussion stattfindet, an der grundsätzlich jeder teilnehmen kann. Dies entspricht seiner Vorstellung von Partizipation und Bürgertum. Zwei Aspekte an LiquidFeedback sind aus stark-demokratischer Sicht jedoch fragwürdig. Erstens: Entspricht die Diskussion im Rahmen von LiquidFeedback wirklich den Ansprüchen, die Benjamin Barber an politisches Sprechen hat? Zweitens: Die Möglichkeit, die eigene Stimme auf einen anderen Stimmberechtigten zu übertragen ist eigentlich Teil desjenigen repräsentativen Systems, das Barber ablehnt. Andererseits unterscheidet es sich natürlich stark von diesem reinrepräsentativen System, in dem alle paar Jahre ein Repräsentant für alle Entscheidungen gewählt wird. In seiner Rede „Schwächt oder stärkt E-Technologie die Demokratie?“ macht Benjamin Barber auf die Gefahr aufmerksam, die von der Geschwindigkeit des Internets ausgeht, eben eine mangelnde Qualität der Diskussion. Diese Gefahr müsse durch „speed bombs“ begrenzt werden. 13 Die Nutzung von LiquidFeedback ist auch innerhalb der Piratenpartei nicht unumstritten. Einige Landesverbän de nutzen es sehr intensiv, andere haben gar kein eigenes „LandesLiquid“. Vgl. ROSENFELD, DAGMAR (2012), Wenn alle mit allen über alles reden. Immer, in: DIE ZEIT 18, 26. April 2012, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2012/18/Piratenpartei-Liquid-Feedback/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. Zur Problematik der Anonymität in LiquidFeedback siehe auch Kapitel II.3 „Bedeutung des Internets“.

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Die feste Einteilung bei LiquidFeedback in die fünf genannten Phasen – wobei die Phase „Eingefroren“ hier im Besonderen hervorzuheben ist – kann man als solche „speed bombs“ verstehen. Auch die Piratenpartei ist sich also der Bedeutung von Zeit für eine qualitative Debatte bewusst. Die grundlegende Idee von LiquidFeedback, die breite Partizipation, ist eindeutig der stark-demokratischen Denkweise zuzuordnen.

II.2 „Die Form prägt den Inhalt“ – prozedurale Legitimation Dieses Zitat stammt aus einem Gastbeitrag von Julia Schramm in der Zeitung DIE ZEIT vom 06.06.2012; Julia Schramm ist seit April 2012 Beisitzerin im Bundesvorstand der Piratenpartei.14 In diesem Artikel formuliert Frau Schramm die These, dass politische Inhalte und Entscheidungen ihre Legitimation nicht mehr aus sich selbst oder einem philosophischen bzw. ideologischen Konzept heraus erhielten (substantielle Legitimation), sondern es nunmehr nur noch auf den Prozess der Entscheidungsfindung ankomme (prozedurale Legitimation). Wenn dieser Prozess akzeptiert werde, sei dies die Legitimation für die daraus entstehenden Inhalte.15 Man kann diesen Ansatz aus verschiedenen Gründen kritisieren, Ziel dieser Untersuchung ist jedoch nicht eine Gegenüberstellung von prozeduraler und substantieller Legitimation, sondern ein Vergleich der Piratenpartei mit Barber. Tatsächlich lässt sich auch bei Benjamin Barber eine Tendenz zur Argumentation mit prozeduraler Legitimation erkennen. Zwar geht er von bestimmten Ergebnissen dieser Prozesse aus, Der Kern seiner Demokratietheorie ist jedoch der Prozess selbst. Letztendlich müsste er also jedes Ergebnis, das durch richtige Anwendung des starkdemokratischen Verfahrens zu Stande kommt, akzeptieren.

14 Vgl. SCHRAMM, JULIA (2012), Dabei sein ist alles, in: DIE ZEIT 24, 6. Mai 2012, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2012/24/P-Demokratie/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012.. 15 Zum Konzept von substantieller und prozeduraler Legitimation, siehe: VÖNEKY, SILJA (2010): Recht, Moral und Ethik. Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien. Tübingen: 141. Außerdem: TSCHENTSCHER, AXEL (2000): Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit. Baden-Baden: 199, 132ff., 346. Und auch: SCHMIDT, MANFRED G. (2000): Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen: 175ff..

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II.3 Die Bedeutung des Internets Als originäre Internetpartei weist die Piratenpartei in ihrem Grundsatzprogramm dem Internet eine elementare Bedeutung für eine gerechte, demokratische Gesellschaft zu. Auch Benjamin Barber interessiert sich schon in seinem Buch von 1984 für die modernen Telekommunikationsmöglichkeiten. In genannter Rede aus dem Jahr 2004 beschäftigt er sich eingehender mit dem Internet. Für die Piratenpartei ist der freie Zugang zum Internet für jeden Bürger ein Grundrecht und eine unbedingte Notwendigkeit, um am politischen, demokratischen Leben teilzuhaben. Hierzu soll der Bürger auch im Umgang mit dem Internet geschult werden. Das Bild, das die Piratenpartei in ihrem Grundsatzprogramm vom Internet zeichnet, fällt einseitig positiv aus. Die freie Kommunikation über digitale Netzwerke ermöglicht unserer Gesellschaft die klassischen Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu stärken. Sie schafft informierte Bürger und stärkt den demokratischen Diskurs [...].16

Benjamin Barber hingegen fällt ein ausgewogenes Urteil über das Internet. Er sieht sowohl Chancen als auch Risiken des neuen Mediums. Die Euphorie der Piraten teilt er nicht. Ein Ausschnitt seiner Rede liest sich fast wie eine Antwort auf deren Internet-Lobhymnen: [Es] wurde häufig gesagt, dass die neuen wunderbaren technischen Errungenschaften auch wunderbare neue politische Möglichkeiten bergen würden, und wir als Pioniere vor einer Welt neuer Demokratie stünden. Es wurde vorhergesehen, dass die Medientechnologie unsere Politik wandeln und der technologische Fortschritt automatisch einen politischen Fortschritt bedeuten werde. 17

Anhand von sieben seiner zentralen Eigenschaften bewertet Barber das Internet; einige davon seien hier aufgegriffen. Die hohe Geschwindigkeit des Internets sei für ernsthafte demokratische Debatten eher ein Nachteil; die Möglichkeiten der Interaktivität – und zwar nicht nur in traditionell politischen top-down-Hierarchien, sondern zwischen den einzelnen Bürgern – hingegen ein großer Vorteil.

16 PIRATENPARTEI (2011), Grundsatzprogramm der Piratenpartei Deutschlands. Parteiprogramm der Piraten, Offenbach, online verfügbar unter: http://wiki.piratenpartei.de/wiki/images/0/04/Grundsatzprogramm-Piratenpartei.pdf, zuletzt überprüft am: 23.09.2012: 10. 17

VON

ROBERTSON-TROTHA (2007): 33.

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Wie auch die Piratenpartei sieht Benjamin Barber in der Unmittelbarkeit des Internets, also der Tatsache, dass Wissen und Meinung direkt zwischen den Individuen, ohne „Mittelsmann“ wie Redakteure oder Lehrer ausgetauscht werden kann, eine große Chance für einen mündigen Bürger. Allerdings sieht er auch die Gefahr, die von dieser großen Aufgabe für die Bürger ausgeht; er befürchtet eine schwache Bürokratie und die „Tyrannei der Masse“. 18 Zwar kommen solche Befürchtungen bei der Piratenpartei in dieser Form nicht vor, auch sie fordern jedoch eine Schulung aller Bürger im Umgang mit dem Internet. Ein interessanter Punkt ist auch die Anonymität des Netzes. Innerhalb der Piratenpartei gibt es eine rege Debatte, ob zum Beispiel in LiquidFeedback nur mit Klarnamen abgestimmt werden sollte, oder Pseudonyme – wie sie im Internet, der Heimat der Piraten, üblich sind – vorzuziehen seien. Das Hauptargument für Pseudonyme ist das Recht auf geheime Abstimmung, das für echte freie demokratische Wahlen unabdingbar sei. Gegen den Gebrauch von Pseudonymen spricht die Unsicherheit des anonymen Systems. Schließlich kann dann auch nicht wirklich verhindert werden, dass eine Person unter verschiedenen Pseudonymen mehrmals abstimmt.19 Auch Barber ist sich der Vorteile anonymer Abstimmungen bewusst, mit Verweis auf John Stuart Mill stellt er jedoch fest, dass Anonymität Hass und Vorurteile begünstige und außerdem für eine Starke Demokratie, wo sich die Bürger kennen müssen, um in einen ernsthaften Dialog zu treten, schädlich sei.20 Zuletzt sei noch die Monopolbildung im Netz erwähnt, vor der sowohl Benjamin Barber als auch die Piratenpartei ausdrücklich warnen. Zwar sehe die Theorie ein freies Netz vor, in der Praxis werde es jedoch durch die Anbieter von Plattformen, Servern und Software kontrolliert; zumindest hätten diese die Möglichkeit dazu. Es sei Aufgabe des Staates, solche Monopolbildung zu verhindern.

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ROBERTSON-TROTHA (2007): 39.

19 Auch die Entwickler von LiquidFeedback distanzieren sich ausdrücklich von der Verwendung von Pseudonymen durch die Piratenpartei. Auf diese Weise seien Abstimmungen mit der Software nicht überprüfbar und potenziell gefälschte Wahlen erhielten auch noch den Anschein, besonderes basisdemokratisch zu sein. Vgl. LIQUIDFEEDBACK.ORG (2012), LiquidFeedback-Entwickler distanzieren sich vom Einsatz ihrer Software in der Piratenpartei, http://liquidfeedback.org/2012/09/17/liquidfeedback-entwickler-distanzieren-sich-vom-einsatz-ihrer-software-in-der-piratenpartei/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. 20 Vgl. VON ROBERTSON-TROTHA (2007): 40.

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Dass die Piratenpartei das Internet weniger kritisch sieht, als Benjamin Barber, überrascht nicht. In der Vorstellung, dass das Internet durchaus einen großen Nutzen für eine bessere Demokratie – für Barber eben die Starke Demokratie – haben kann, stimmen Barber und die Piratenpartei überein.

Fazit Ausgangspunkt der Arbeit war die Frage, inwieweit es Übereinstimmungen zwischen Positionen der Piratenpartei und der Theorie der Starken Demokratie von Benjamin Barber gibt. Von besonderem Interesse war, ob man die Piraten einer stark-demokratischen Denkschule zuordnen kann. Die Analyse hat gezeigt, dass durchaus Unterschiede zwischen Piratenpartei und Benjamin Barber existieren. Vor allem was die Bewertung des Internets und den Gebrauch der Software LiquidFeedback betrifft, unterscheiden sich die Positionen deutlich. Benjamin Barber hat einen wesentlich ausgeglicheneren Blick auf die technischen Möglichkeiten des Internets. Dies ist vermutlich der „Herkunft“ der Piratenpartei aus dem Internet geschuldet. Insofern könnte man die Piratenpartei also als eine „Internetfraktion“ der Starken Demokratie bezeichnen, wobei sich hier eine grundsätzliche Bemerkung anschließt: Viele der eher im Detail liegenden Abweichungen lassen sich durch den Unterschied zwischen Theorie und Praxis erklären. Die Piratenpartei ist eben keine gesamtgesellschaftliche Reformbewegung, wie sie sich Benjamin Barber vorgestellt hat, sondern eine Reformbewegung, aus einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe heraus, nämlich die der computeraffinen jungen Unzufriedenen. Benjamin Barber hat die Möglichkeit einer solchen kleineren Reformbewegung ja durchaus in seinem Werk aufgegriffen; sie sei allerdings zum Scheitern verurteilt und gefährde die Demokratie. Was bedeutet diese Annahme für die Zukunft der Piratenpartei? Wird sie in einigen Jahren wieder in der Bedeutungslosigkeit versunken sein und außer eine Menge Hoffnungen zu wecken, nicht viel erreicht haben? Oder wird sie Benjamin Barber des Irrtums überführen und als Initiatoren einer breiteren Demokratie-Reformbewegung in die deutsche Geschichte eingehen? Das Spannende an dieser Forschungsfrage ist letztendlich nicht nur ihr Bezug zur Gegenwart, sondern ihr Bezug zur Zukunft.

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Quellenverzeichnis BARBER, BENJAMIN (1984), Strong Democracy. Participatory Politics for A New Age, Berkley. BARBER, BENJAMIN (1994), Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg. BARBER, BENJAMIN (2007), Schwächt oder stärkt E-Technologie die Demokratie?, in:

VON

ROBERTSON-TROTHA, CAROLINE Y. (Hg.), Kultur und Gerechtigkeit, Baden-Baden. LIQUIDFEEDBACK.ORG (2012), Homepage, http://liquidfeedback.org, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. LIQUIDFEEDBACK.ORG (2012), LiquidFeedback-Entwickler distanzieren sich vom Einsatz ihrer Software in der Piratenpartei, http://liquidfeedback.org/2012/09/17/liquidfeedback-entwickler-distanzieren-sich-vom-einsatz-ihrer-software-in-der-piratenpartei/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. PIRATENPARTEI (2011), Grundsatzprogramm der Piratenpartei Deutschlands. Parteiprogramm der Piraten,

Offenbach,

online

verfügbar

unter:

http://wiki.piratenpartei.de/wiki/images/0/04/Grundsatzprogramm-Piratenpartei.pdf, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. VON ROBERTSON-TROTHA, CAROLINE Y. (Hg.) (2007), Kultur und Gerechtigkeit, Baden-Baden. ROSENFELD, DAGMAR (2012), Wenn alle mit allen über alles reden. Immer, in: DIE ZEIT 18, 26. April

2012,

online

verfügbar

unter:

http://www.zeit.de/2012/18/Piratenpar-

tei-Liquid-Feedback/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012. SCHMIDT, MANFRED G. (2000): Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen. SCHRAMM, JULIA (2012), Dabei sein ist alles, in: DIE ZEIT 24, 6. Mai 2012, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2012/24/P-Demokratie/, zuletzt überprüft am: 23.09.2012.

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TSCHENTSCHER, AXEL (2000): Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit. Baden-Baden. VÖNEKY, SILJA (2010): Recht, Moral und Ethik. Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien. Tübingen.

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Anlage 1: E-Mail-Anfrage und Antworten des Piratenparteibundesvorstands

Anlage 1: E-Mail-Anfrage und Antworten des Piratenparteibundesvorstands Der Autor dieser Arbeit schrieb im Rahmen seiner Forschung am 14.07.2012 E-Mail-Anfragen an die neun Mitglieder des Bundesvorstands der Piratenpartei. Die Anfrage sowie die vier erhaltenen Antworten liegen hier vor. Die Anfrage wurde an Geschlecht und Namen des Empfängers angepasst.

Anfrage Sehr geehrte(r) Herr / Frau …, als Student der Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg arbeite ich zur Zeit an einer Seminararbeit, die sich mit der Piratenpartei beschäftigt. Ich untersuche, inwieweit sich Elemente der „Starken Demokra tie“ von Benjamin R. Barber in Ideen, Forderungen und auch (digitalen) Methoden der Piratenpartei wiederfinden. (Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg) Nun habe ich auch an Sie als Vorsitzende(n) des Bundesvorstands zwei Fragen, über deren Beantwortung ich mich sehr freuen würde: Spielen Benjamin Barbers Theorien in Ihrer Partei tatsächlich eine Rolle? In dem Sinne, dass (in Programmdebatten oder ähnlichem) bewusst auf ihn verwiesen wird oder Ähnlichkeiten zwischen Ihrer Programmatik und dem Konzept Starke Demokratie zumindest anerkannt sind? Haben Sie selbst sich (im Rahmen Ihres Engagements für die Partei) schon einmal mit den Ideen Benjamin Barbers beschäftigt? Für Ihre (gerne auch nur kurze) Stellungnahme wäre ich Ihnen sehr verbunden. Mit freundlichen Grüßen

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Anlage 1: E-Mail-Anfrage und Antworten des Piratenparteibundesvorstands

Antworten Klaus Peukert Hallo, Persönlich höre ich davon das erste Mal, mir ist auch nicht bekannt, dass diese Thesen in Debatten breiten Raum finden oder überhaupt bekannt sind. -kp

Mathias Schrade Zu 1.: nicht dass ich wüsste Zu 2.: nein (ich hoffe Sie nehmen mir die kurze bündige Antwort nicht übel :-)) Schöne Grüße Matthias Schrade

Mit mobilem Endgerät gesendet

Sven Schomacker Hallo, Benjamin Barber sagt mir nichts. Ich arbeite aber auch in der Verwaltungsecke und nicht im programmatischen Bereich MfG Sven Schomacker

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Anlage 1: E-Mail-Anfrage und Antworten des Piratenparteibundesvorstands Svanhild Götze Sehr geehrter Herr Pimpl, ich sehe in Ihrer Anfrage absolut keine Relevanz zu meinem Amt.

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