1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken

Berlin 22.-24. September 1994

Arbeitsgemeinschaft Sozialarbeit in der Dialyse - ASD 1994

Impressum Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft „Sozialarbeit in der Dialyse“ (ASD) C/o Kurt Hoeke, Mehringplatz 33, 10969 Berlin Verantwortlich: Manfred Möckelmann, Berlin Layout: Dr. Roland Scharf, Berlin Auflagenstärke: 100 Stück Für persönlich gekennzeichnete Beiträge übernimmt der Herausgeber keine Verantwortung.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis...............................................................................................................3 Vorwort ..................................................................................................................................8 Begrüßung der Teilnehmer ..............................................................................................9 Die Arbeitsgemeinschaft Sozialarbeit in der Dialyse................................................................11

Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich?...13 Einführung...........................................................................................................................13 Machtzuwachs ....................................................................................................................14 Ohnmacht gegenüber institutionellen Handlungszwängen? ......................................................15 Innovationschancen und Innovationshindernisse......................................................................16 Konkurrenz um die neuen Aufgaben ......................................................................................17 Professionalisierung: Chancen und Grenzen...........................................................................18 Literaturverzeichnis ..............................................................................................................21

Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? ........................................................................................................24 Die drei GSG-Stufen ............................................................................................................25 Der Auftrag..........................................................................................................................26 Zwiebel, Pfirsich und Torte....................................................................................................26 Wettbewerb makes the world go around.................................................................................28 Literatur ..............................................................................................................................28

Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten.....................................................................................................30 Einleitung............................................................................................................................30 Zielvorstellungen ..................................................................................................................30

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Inhaltsverzeichnis Defizite des Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten........................................................32 Welche Möglichkeiten bestehen für den Betroffenen, von einer medizinischen Rehabilitation zu profitieren? ..........................................................................................................................34 Sozialmedizinische Konsequenzen .......................................................................................37 Nierentransplantation ...........................................................................................................38 Zusammenfassung der Ergebnisse der von Dr. Kertzendorff geleiteten Arbeitsgruppe zur medizinischen Rehabilitation.................................................................................................39 Gesamteindruck ..................................................................................................................40

Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten.......................................................42 Themengliederung................................................................................................................42 Die Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit.................................................................43 Kompetenz im Alter .............................................................................................................46 Kompetenzmodelle ..............................................................................................................46 Kompetenz bei chronischer Krankheit....................................................................................47 Bewältigungsformen chronischer Krankheit ............................................................................48

Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche .....................................................................50 Übergreifende Ziele der psychosozialen Betreuung..................................................................51 Multidisziplinäre paramedizinische Therapie beim CNI-Kind .....................................................52 Folgende Gesetze sind in den meisten Fällen wichtig: ............................................................53 Literatur ..............................................................................................................................54

Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG...................................56 Sozialgesetzbuch (SGB)......................................................................................................56 SGB Abschnitt V ..........................................................................................................56 § 44 Krankengeld..........................................................................................................56 § 18 Krankenversicherung im Ausland.............................................................................57 § 60 Fahrtkosten...........................................................................................................58 § 61 Vollständige Befreiung............................................................................................59 § 62 Teilweise Befreiung ................................................................................................59 Bundessozialhilfegesetz(BSHG)............................................................................................60

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Inhaltsverzeichnis §§ 68,69 Hilfe zur Pflege bei Pflegebedürftigkeit ...............................................................60 Anrechnung des Pflegegeldes ........................................................................................61 § 23 Mehrbedarf............................................................................................................61 § 40.1. Abs.8 Hilfe zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft .........................................62 Schwerbehindertengesetz(SchwG) ........................................................................................62 Merkzeichen.................................................................................................................62 Merkzeichen RF.....................................................................................................62 Merkzeichen B.......................................................................................................62 Merkzeichen G.......................................................................................................62 Merkzeichen aG.....................................................................................................63 Merkzeichen H.......................................................................................................63 Merkzeichen BI......................................................................................................63 Einkommen und Lohnsteuer ....................................................................................63 Weitere Nachteilsausgleiche ...................................................................................64 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwergehindertenrecht .........................................................................................65 Vergabe von GdB-Prozenten....................................................................................65 Pflegebedürftigkeit ..................................................................................................65

Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) ......................................................68 Der versicherte Personenkreis...............................................................................................68 Beitragsbelastung .........................................................................................................69 Die Leistungsberechtigten..............................................................................................69 Die Leistungen..............................................................................................................70 Anpassung der Leistungen.............................................................................................71 Soziale Sicherung der häuslichen Pflegeperson ...............................................................71 Investitionsfinanzierung..................................................................................................72 Anschubfinanzierung für die neuen Länder.......................................................................72 Versorgungsverträge mit Pflegediensten und Pflegeheimen ...............................................72 Die Vergütung der Pflegeleistungen ................................................................................73 Die Belastungen der Wirtschaft werden ausgeglichen.......................................................73 Allgemeine Grundsätze der sozialen Pflegeversicherung...................................................74 Vorrang der häuslichen Pflege........................................................................................75 Wahlrechte des Pflegebedürftigen...................................................................................75 Wünsche des Pflegebedürftigen .....................................................................................76 Gemeinsame Verantwortung für die Pflegebedürftigen.......................................................76 Ergänzende private Vorsorge für den Pflegefall.................................................................76 Übergangsregelungen....................................................................................................76 Leistungen für die häusliche Pflege ab 1995 ....................................................................77

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Inhaltsverzeichnis Literaturangaben zum Punkt 9 ..............................................................................................77

Materielle, medizinische und persönliche Hilfen ......................................................79 Erstberatung: Wann sollte sie stattfinden, und welche Bereiche gehören dazu?.........................79 Welche Ziele sollen in unserer Erstberatung erreicht werden? ...........................................80 Wann soll von unserer Seite aus mit der Erstberatung begonnen werden?..........................80 Wie bzw. auf welchen Wegen können wir die Ziele erreichen?...........................................81 Wie soll die weitere sozialarbeiterische Betreuung aussehen? ..........................................81

Ambulante, stationäre und teilstationäre Versorgungsmöglichkeiten für Dialysepatienten und Nierenkranke.............................................................................82 Ambulante Hilfen .................................................................................................................82 Stationäre Versorgung..........................................................................................................83 Teilstationäre Versorgung .....................................................................................................83

Tabuthemen: "Trauer und Sterben"............................................................................84 Persönliche Vorstellung der Seminarleiterin............................................................................84 Vorstellungsrunde der Teilnehmerinnen..................................................................................84 Symbolik in der Sprache ......................................................................................................84 Gelungene Sterbebegleitung .................................................................................................84 Wahrnehmungsübung (Zweiergruppen)...................................................................................84 Gespräch über besondere Erfahrungen während der Übung......................................................85 Thesen der Seminarleiterin zu besonderen Problemen.............................................................85

Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens .......................................86 Gliederung ..........................................................................................................................86 Ziele des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) erreicht?...................................................86 Schlüsselrolle des Hausarztes stärken ...........................................................................88 Feinsteuernde Maßnahmen statt undifferenzierter Einsparungen .......................................89 Neue vernetzte Versorgungsformen notwendig .................................................................89 Solidarische Wettbewerbsordnung als Basis ...................................................................89 Neue Wettbewerbsfelder................................................................................................90 Leitvorstellungen für eine Reform der Krankenversicherung.......................................................91 Die weitgehende Bewahrung des Status quo ...................................................................91

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Inhaltsverzeichnis Moderate Fortentwicklung in Richtung Marktwirtschaft......................................................92 Die Einführung eines generellen Wettbewerbsmodells ......................................................92 Gesundheitspolitische Vorstellungen der Parteien...................................................................93 AOK-Thesen zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens ..................................................94 These 1: Soziale Krankenversicherung innovativ entwickeln...............................................95 These 2: Anwalt der Versicherten ...................................................................................96 These 3: Vernetzte Strukturen........................................................................................97 These 4: Offen für alle....................................................................................................97 These 5: Solidarität stärken ...........................................................................................98 These 6: Vollwertige Gesundheitsleistungen....................................................................99 These 7: Wirtschaftlichkeit und Qualität ..........................................................................99 These 8: Wettbewerb der Leistungserbringer ................................................................. 100 These 9: Neue Versorgungsformen ............................................................................... 101 These 10: Mehr Selbstbestimmung der Versicherten...................................................... 101

Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte .................................................................................................... 103 Anlagen............................................................................................................................. 111 Anlage 1 zu zum Beitrag „Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten“ - Strukturierungshilfen für ein Gespräch über die Handlungskompetenz eines alten Menschen in seiner sozialen Umwelt111 Anlage 2 zum Beitrag „Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten“ - Literaturangaben........ 114

Referentenliste................................................................................................................ 117 Notizen.............................................................................................................................. 119

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Vorwort

Vorwort Die 1.Fachtagung "Sozialarbeit mit Nierenkranken" vom 22.09. - 24.09.1994 in Zusammenarbeit mit der Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe ist erfolgreich beendet worden. Eine vollständige Dokumentation aller Referate und Beiträge konnte nicht realisiert werden. Wir erheben auch nicht diesen Anspruch und müssen uns dem vorliegenden Material zufriedengeben. Insgesamt ist die Textsammlung doch recht umfangreich und aussagekräftig, um denjenigen Teilnehmer/innen einen Überblick darüber zu schaffen, wo er/sie nicht Hineinhören konnte. Danksagungen sollen an die Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe erfolgen, die durch die kostenlose Bereitstellung der Räume eine große Erleichterung der Gesamtplanung vor 1994 ermöglicht haben. Mit der finanziellen Unterstützung des Unternehmens Fresenius ist der eigentliche Start erst möglich gewesen, um die hohen Porto-, Druck- und anderen Kosten zu decken. Nicht vergessen möchte ich die Bereitschaft der geworbenen Referenten, die sich für die Fachtagung zur Verfügung gestellt haben. Ihnen allen sei hier ein herzliches Dankeschön ausgesprochen. Gerade weil die positiven Rückmeldungen für eine zweite Fachtagung vom 27. 09. bis zum 29.09.1995 mit einen geänderten Konzept motivierend sind, so sind auch wir von einer aktiven Mitarbeit der sozialpädagogischen Mitstreiter/innen abhängig, weil nur eine intensive, kooperative und bundesweite Auseinandersetzung zum Thema "Sozialarbeit mit Nierenkranken" von vielen getragen werden muß und damit hoffentlich öffentlichkeitswirksam umgesetzt werden kann. Somit sind alle Interessierten aus diesem Fachbereich in der neuen Bekanntgabe der 2. Fachtagung zur engagierten Mitarbeit aufgefordert worden, um Referatsbeiträge aus ihrem beruflichen Erfahrungsbereich einzelnd oder als Gruppe einzubringen.

Manfred Möckelmann

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Begrüßung der Teilnehmer

Begrüßung der Teilnehmer Liebe Anwesenden, wir, d.h. die ASD freuen uns, Sie hier nach mehr als einem Jahr Vorbereitungszeit endlich zu unserer Fachtagung begrüßen zu können. Am Anfang dieses Projektes "Fachtagung" stand die Überlegung, die Sozialarbeit mit Nierenkranken näher an den Mittelpunkt des Interesses der Gesellschaft, den einschlägig mit Nierenkranken beschäftigten Institutionen und damit auch den Finanziers von Sozialarbeit zu rücken. Täglich in unserer Arbeit, besonders aber, wenn wir als ASD uns zu unseren Treffen versammeln, stellen wir Sozialarbeiter fest, daß der Stellenwert, der unserer Arbeit zugemessen wird, nicht dem entspricht, was unserer Meinung nach notwendig ist. Im Gegenteil, wir müssen uns häufig mit dem Prädikat "Luxus", den ein "Dialyseanbieter" sich leistet, auseinandersetzen. Wir registrieren, daß zwar die apparative Entwicklung und die Intensität der medizinischen Betreuung bei der Behandlung chronischer Nierenleiden weiter fortgeschritten ist, die Qualität der psychosozialen Versorgung aber weitestgehend nicht nur nicht mitgewachsen ist, sondern auch auf der Strecke bleibt. Insbesondere im Zusammenhang mit den Folgen der Vereinigung erleben wir seit 1990, wie vieles von dem, was an vernünftigen Betreuungsstrukturen in der ehemaligen DDR vorhanden war, aus Kosten- oder anderen Gründen abgewickelt wurde. Und nicht zuletzt sind gerade wir ja am Puls der Zeit, wenn es um Einsparungen in sozialen Bereichen geht. Vor Kurzem erhielten wir Kenntnis von dem begrüßenswerten Projekt der Qualitätssicherung in der Nierenersatztherapie. Dieses Projekt befaßt sich unter anderem mit der Ermittlung der derzeitigen Versorgungsstrukturen und dabei natürlich auch der personellen Ausstattung von Dialyseinrichtungen. Dort spiegelt sich sehr deutlich die Realität wieder. In dem Fragebogen wird nach der Zahl der Ärzte, dem Pflegepersonal etc. gefragt. Wir Sozialarbeiter tauchen auch auf. Und zwar unter den beispielhaft aufgeführten Berufsgruppen der Rubrik ”Verwaltungsangestellte”. Im Gegensatz dazu machen häufig Dialyseeinrichtungen in den USA bei ihren Veröffentlichungen Werbung mit dem ”Socialworker”, der ausdrücklich zusammen mit dem Arzt und der leitenden Pflegekraft namentlich benannt wird. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte sich das Bedürfnis nach Öffentlichkeitsarbeit, nach Verbesserung unserer Arbeit. Dieses konkretisierte sich dann in der Idee einer Fachtagung. Das Ziel dieser Fachtagung ist deshalb nicht nur, Inhalte sozialarbeiterischen Handelns zu vermitteln und gemeinsam zu diskutieren sondern auch, den Stellenwert der Sozialarbeit für chronisch Nieren-

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Begrüßung der Teilnehmer kranke als zwingend notwendiger und eben nicht luxuriöser Teil der Versorgungsstruktur zu dokumentieren. Es folgte dann ein Jahr, gespickt mit der Erwartungshaltung, wie wird die Tagung angenommen, werden sich trotz des signalisierten Interesses nach der Vorankündigung genügend Teilnehmer anmelden, gespickt mit den inhaltlichen Vorbereitungen, dem Suchen nach Referenten und den ganzen Kleinigkeiten der organisatorischen Vorbereitungen.

Kurt Hoeke

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Begrüßung der Teilnehmer Die Arbeitsgemeinschaft Sozialarbeit in der Dialyse Ich möchte jetzt einige Worte zur ASD sagen ( ASD = Arbeitsgemeinschaft Sozialarbeit in der Dialyse ). Seit 1980 treffen sich in Berlin alle Sozialarbeiter/-innen, die im Dialysebereich sowohl im Krankenhaussozialdienst, wie auch in anderen Dialyseeinrichtungen und Beratungsstellen tätig sind, ein mal monatlich zum Erfahrungsaustausch. Ziel des Informationsaustausches war und ist es, die Bearbeitung spezieller sozialrechtlicher und psychosozialer Fragen des immer größer werdenden Personenkreises von Hämodialysepatienten, Transplantierten und CAPD - Patienten. Im Laufe der Jahre stießen wir auf Probleme, die insbesondere Versorgungslücken bestimmter Dialysepatienten betraf. Ganz besonders möchten wir hier die alten Pflegebedürftigen und chronisch kranken Dialysepatienten erwähnen. Es gab lange Zeit im Berliner Raum keine Möglichkeit, diese Personengruppen in entsprechende Einrichtungen (Krankenhäuser für chronisch Kranke) unterzubringen. Die Kostenträger weigerten sich, sowohl die entstehenden Fahrtkosten von und zur Dialyse, wie auch die ambulante Dialysebehandlung und die Pflegekosten für die Abteilung chronisch Kranker zu zahlen. Unsere jahrelange Korrespondenz mit der Senats- und Gesundheitsbehörde, wo wir Sozialarbeiter aus den unterschiedlichen Dialysezentren einzeln unterschrieben und auf die Mißstände aufmerksam machten, blieb in der Regel unbeantwortet und ohne Resonanz. Deshalb überlegten wir uns andere Strategien, um uns Gehör zu verschaffen. Dazu gehörte der Versuch, unserer Gruppe den Namen ASD zu geben und mit einem selbst entworfenen Briefkopf und zwei konkreten Kontaktadressen an die Öffentlichkeit zu gehen. Fortan wurde die für die Behörden anscheinend angemessene Form der Korrespondenz erwidert. Wir konnten erste Teilerfolge erzielen und wurden als "ASD" gezielt von leitenden Senatsmitarbeitern zu Problemthemen eingeladen. Weiterhin entwickelten wir eine von uns laufend aktualisierte Informationsbroschüre für Praedialysepatienten, in der wir auf die Inanspruchnahme der sozialrechtlichen Leistungen hinweisen. Für die Durchsetzung dieser Ansprüche und für psychosoziale Betreuung bieten wir darin gezielt unsere Hilfe an. Nach der Wende entstand ein reger Austausch mit unseren Kolleginnen aus dem Ostteil der Stadt. Auch sie nehmen nun regelmäßig an unseren Treffen teil. Mittlerweile sind wir zu einer recht großen Einheit verschmolzen, die nicht ohne Sorge den drohenden Abbau im sozialen Bereich und in diesem Berufsfeld beobachtet.

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Begrüßung der Teilnehmer Jährlich nehmen einige Kollegen/-innen unserer Arbeitsgemeinschaft an den Arbeitstagungen der psychosomatischen Nephrologie teil. Maßgeblich waren wir 1992 auf der Arbeitstagung in Nürnberg an der Resolution zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung von chronisch Nierenkranken beteiligt. Daraus entwickelte sich die Forderung mit dem Appell an die entsprechenden Institutionen, psychosoziale Fachkräfte (also Psychologen und Sozialarbeiter) in Zentren mit 80 bis 100 Patienten je eine volle Stelle einzurichten. In der Begründung sind wir davon ausgegangen, daß sich in der Umsetzung dieses Konzeptes die Lebensqualität der betroffenen Patienten und ihrer Familien erheblich verbessert und das sich die Maßnahmen günstig auf die Güte der medizinischen Versorgung auswirken. Der regelmäßige Austausch im ASD und die Teilnahme an den Fachtagungen schärft den Blick unserer beruflichen Position und fördert das Selbstverständnis unserer Berufsgruppe. Weiterhin wird dadurch eine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit neuen Inhalten und deren Umsetzung in die Praxis angeregt.

Katharina Heitmeier

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich?

Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? von Vjenka Garms-Homolová

Einführung "Überall werden Stellen gestrichen, eingespart. Krankenhaussozialarbeit wird drastisch reduziert. Sie verkommt zum Bettenbagger. Professionelle Sozialarbeit im Gesundheitsbereich wird bald nicht mehr möglich sein!" Mit diesen und ähnlichen Äußerungen drücken die Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, die in der praktischen gesundheitsbezogenen Arbeit stehen, ihre Besorgnis aus, daß sich ihre Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen infolge der Ressourcenverknappung und des finanziellen Drucks im Gesundheitsbereich drastisch verschlechtern könnten. Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter befürchten einerseits, daß sich die externe Kontrolle ihrer Tätigkeit verstärken wird, andererseits sehen sie auch die Gefahr, daß die Reichweite der gesundheitsbezogenen sozialen Arbeit erheblich beschnitten werden könnte. Auf die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen reagiert der Staat beziehungsweise die Schlüsselinstanzen der sozialen Sicherung mit dem Versuch, eine große Neuverteilung der Ressourcen in Gang zu setzen. Diese Ressourcenneuverteilung ist zugleich von progressiven und regressiven Strukturveränderungen, von der Schaffung neuer Kontrollmechanismen und von Machtverlagerungen begleitet (Deppe 1991, Söderfeldt 1991). In meinem Beitrag möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, wie sich angesichts dieser Umwälzungen die gesundheitsbezogene soziale Arbeit entwickeln wird? Mir geht es darum, darüber nachzudenken, ob nicht gerade durch die Schwierigkeiten und Engpässe der Innovationsdruck entsteht, den die Soziale Arbeit im Gesundheitsbereich braucht, um sich zu profilieren, vielleicht auch zu professionalisieren. Welche Chancen können aus den neuen Konstellationen erwachsen, welche neuen Aufgaben und Praxisfelder werden eröffnet? Und vor allem: Wie kann die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit den neuen Anforderungen gerecht werden? Für den Titel wählte ich den mehrdeutigen Begriff "professionelles Arbeiten". Ich möchte diesen Begriff sowohl in seiner umgangssprachlichen Form verwenden, als auch auf seine (professions)soziologische Bedeutung eingehen. Im Alltagsleben und in der Umgangssprache benutzt man diese Ausdrücke für die Fachlichkeit und das Expertentum. Wenn jemand "professionell" arbeitet, so tut er /sie das "gekonnt", weil er/sie für die spezifische Aufgabe in einer besonderen Weise qualifiziert ist. Jedoch kann die gleiche Tätigkeit auch von jemanden anderen, der die entsprechende Qualifikation nicht besitzt, ausgeübt werden. Er/sie tut es eben unprofessionell. Für die professionelle Leistung wird der Berufsträger entlohnt. Allein dafür, daß man einen Beruf inne hat, gibt es aber keine besondere Gratifikation. In der Berufssoziologie hat der Begriff "Profession" eine umfassendere Bedeutung (vgl. z. B. bei Freidson 1986). Es kommt nicht allein darauf an, daß der "Professionelle" ein Fachmann oder eine Fachfrau ist. Viel wichtiger ist es, ob er/ sie der Berufsgruppe - beinahe einer "Zunft" - angehört, 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? die in einem bestimmten Praxisfeld so gut wie eine Monopolstellung hält, ein großes Ansehen und einen hohen Status besitzt. Bereits die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bringt den Professionellen häufig Vorteile immaterieller und materieller Natur. Charakteristisch sind noch weitere Merkmale, etwa die Tatsache, daß die Angehörigen der jeweiligen Profession untereinander organisiert sind und ein hohes Maß an Autonomie besitzen. Damit ist speziell gemeint, daß sie über Standesorganisationen verfügen, die die Regeln und Normen (z. B. für die Ausbildung und Berufsausübung) eigenständig bestimmen und kontrollieren können. Die professionssoziologische Thematisierung der Sozialarbeit stellte in den vergangenen Jahren und stellt bis heute einen wichtigen Strang der Diskussion um die Entwicklungsmöglichkeiten der sozialen Arbeit dar (vgl. z. B. bei Dewe et al. 1986, Garms-Homolová & Schaeffer 1990, Gildemeister 1992, Reichertz 1993, Olk 1986). Die erstgenannte Bedeutung der "Professionalität" als einer spezifischen Fachlichkeit wird derzeit gerade mit im Kontext des gesundheitsbezogenen Arbeitens zunehmend relevant, da sich neue Aufgabenfelder eröffnen, die nach einem veränderten und höheren Expertentum von Sozialarbeitern verlangen. Zugleich erhebt eine Reihe bisher nicht involvierter Gruppen den Anspruch auf das Praxisfeld "gesundheitsbezogene Soziale Arbeit". Ich werde in meinen Ausführungen auf sowohl auf diese Problematik als auch auf die Professionalisierungsbestrebungen der Sozialarbeit eingehen.

Machtzuwachs Zu Beginn verwies ich auf den wirtschaftlichen Druck, mit dem Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter konfrontiert sind - vielleicht stärker als andere Berufsgruppen im Gesundheitsbereich. Wenn Krankenhausbetten gestrichen werden und die Verweildauer verkürzt werden muß, so sind Sozialdienste im Krankenhaus für das reibungslose Bettenfreimachen zuständig. In Sozialstationen beantragen sie Kosten und übermitteln die Kostendeckungsablehungen an die Klienten und deren Angehörige. Da Sozialarbeiterinnen im Gesundheitsbereich in der Regel eine eher untere hierarchische Position innehaben, besteht die Tendenz, die Ausführung der unpopulären Maßnahmen und die Umsetzung der restriktiven Bestimmungen auf sie abzuschieben (Schaeffer et al. 1992). Und sie geben diese Restriktionen weiter: an ihre Klientinnen und Klienten. Das ist ein Bestandteil ihrer Funktion als "gate -keepers" - als Torhüter. Diese "gate-keeper" Funktion repräsentiert die Peripherie der organisierten gesellschaftlichen Reaktion auf die Phänomene Krankheit und Gesundheitsbeeinträchtigung (Arnold 1993). Konkret besteht diese Funktion darin, die zur Verfügung stehenden Ressourcen für Krankheitsvermeidung, Krankheitsbewältigung und Sicherung der individuellen Lebensqualität mit Krankheit und Behinderung den Klienten zuzuweisen. In unserem System gehören Sozialarbeiterinnen neben Ärzten zu den wichtigsten "Torhütern". Nichts daran ändert die Tatsache, daß sie auch als Anwälte ihrer Klienten wirken, da sie diesen helfen, den Zugang zu Leistungen und zu versorgenden Diensten zu finden und den Anspruch auf soziale Sicherung durchzusetzen. Aber zwischen dieser Advokatur und den Allokationsaufgaben besteht nur scheinbar ein unüberbrückbarer Widerspruch. In Wirklichkeit handelt es sich um zwei unterschiedliche Ausprägungen derselben Funktion: Als Anwälte "weisen" Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter ihren Klienten zwar keine Leistungen, dafür aber ein bestimmtes Maß an Un-

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? terstützung zu, damit die Klienten die ihnen zustehenden, gesundheitssichernden Ressourcen aktiv abfordern können (Inanspruchnahme versus Versorgung). Hier, ebenso wie bei der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung, wird die "gate-keeper" Funktion nicht vollständig außer Kraft gesetzt, sofern Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter (oder andere dort in gleicher Weise tätigen Fachkräfte) die Zugangsmöglichkeiten zu gesundheitsrelevanten Informationen steuern. Es wird deutlich: Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, deren Beruf im Bereich der Gesundheitsversorgung kein großes Ansehen genießt und als eine "schwache", wenig "professionalisierte Profession" gehandelt wird, sind als (Tor)Hüter des Zugangs zu begehrten Leistungen und Diensten mit einer erstaunlich großen Portion "Macht" gegenüber ihren Klienten ausgestattet. Die "Macht" der Ressourcenverteilung und -kontrolle ist paradoxerweise dort am größten, wo Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter ihre Handlungsspielräume durch bürokratische Zwänge am meisten eingeschränkt sehen (z. B. in Amtsstuben, in Sozialstationen - vgl. Wohlleber et al 1991) und dort, wo sie angesichts der stärkeren Professionen (etwa der Ärzte) die eigene Unterlegenheit am schmerzhaftesten empfinden (z. B. im Krankenhaus). In Einrichtungen, in denen der "eigentliche" Auftrag (Meinhold 1991) der Sozialen Arbeit ungehindert realisiert werden kann (z. B. in der Beratungsstelle einer Selbsthilfeorganisation), ist die "Macht" gegenüber den Klienten vergleichsweise gering. In solchen Praxisfeldern sind jedoch auch die Effekte der Sozialen Arbeit häufig limitiert, schlecht kontrollierbar und daher auch schwer nachweisbar. Beides verunsichert die Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter und unterminiert nicht selten ihr Image bei den Klienten. Die Machtposition gegenüber den Klienten wird in der Regel stärker, wenn Ressourcen knapper werden und wenn mehr Personen die begrenzt verfügbaren Leistungen beanspruchen. Damit geht die Gefahr einher, daß sich die Stellung der Sozialarbeit zwischen Hilfe und Kontrolle (beziehungsweise Macht), die als Hemmnis der Professionalisierung angesehen wird, zu Gunsten der Machtausübung verschiebt. Mit geeigneten Konzepten kann jedoch gegengesteuert werden. Der erste Schritt ist Transparenz und das methodische Arbeiten. Nichts verunsichert den Klienten/die Klientin mehr, als wenn sie im Zweifel gelassen werden, ob ihm/ihr aus Nächstenliebe oder aus professioneller Verpflichtung geholfen wird (Garms-Homolová 1991). Es gibt viele Studien, deren Resultate beweisen, daß die berufsmäßige Fremdhilfe von den Klienten weit weniger als invasiv empfunden wird, als eine affektiv motivierte Unterstützung. Zahlreiche Untersuchungen belegen darüber hinaus, daß sich Hilfesuchende an professionelle soziale Dienste nicht zuletzt deshalb wenden, um der autonomiebeeinträchtigenden Umklammerung der informellen Hilfebeziehungen zu entfliehen und eine eindeutige, weniger verpflichtende Beziehung zu berufsmäßigen Helfern zu konstituieren.

Ohnmacht gegenüber institutionellen Handlungszwängen? Im Verhältnis zu den Gesundheitseinrichtungen und deren Trägern fühlen sich viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Umbruchszeiten und unter dem wirtschaftlichen Druck zunehmend machtlos und überfordert. Arbeitsstellen von Sozialarbeitern - etwa in Sozialdiensten der Krankenhäuser - bleiben unbesetzt, die Effizienzansprüche und die Kontrolle wachsen, der mögliche Arbeitsplatzverlust ist eine allgegenwärtige Bedrohung, da Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen vermu-

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? ten, daß sie als ein überflüssiger Kostenfaktor eingestuft und wegrationalisiert werden (GarmsHomolová & Schaeffer 1990). Im Zuge der gleichen Umstrukturierungen, durch die sich Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen in Gesundheitseinrichtungen gefährdet fühlen, werden freilich neue Aufgabe entstehen, für deren Bewältigung just diese Berufsgruppe in Frage kommt. Für die chronisch kranken und beeinträchtigten Menschen (die größte Klientengruppe der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit und der Gesundheitseinrichtungen insgesamt - vgl. ebenda sowie Garms-Homolová & Schaeffer 1991) wird die Anzahl der Übergänge und Überleitungen ansteigen. Die positive individuelle Bewältigung dieser Übergänge, aber auch die für die beteiligten Institutionen reibungslose Abwicklung dieser Überleitungen, ist ohne die Mitwirkung von adäquat qualifizierten Angehörigen sozialer Berufe undenkbar. Zunehmend häufiger werden deshalb Arbeitsplätze geschaffen, die mit "Überleitungsfunktionen" betraut sind. Ich frage mich angesichts solcher Modellversuche mit dem Schnittstellenmanagement, warum dieser Aufgabenbereich nicht den an diesen Schnittstellen bereits existierenden Diensten übertragen werden kann? Das würde bedeuten, diese Dienste angemessen auszustatten: mit Qualifikationen, Stellen und Spielräumen. Dieses Anliegen wird nach meinem Eindruck von den Berufsorganisationen der Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter mit keiner besonderen Vehemenz vertreten. Das mag daran liegen, daß ein Teil der neu entstehende Aufgabenfelder ohnehin den Sozialarbeitern/Sozialarbeiterinnen zufällt. Doch bleibt die Entwicklung berufspolitisch ungenutzt und die Beziehung zu anderen Gesundheitsberufen ungeklärt (vgl. Falck 1990). Dabei spielt möglicherweise die Tatsache eine Rolle, daß die Aufgaben des "Versorgungs-managements" - Tätigkeiten wie Vermittlung, Koordinierung, Weiterleitung, Begleitung, Strukturierung und Verknüpfung -, um die es hier schwerpunktmäßig geht, im Vergleich zu vorwiegend sozialpädagogischen Tätigkeiten (Beratung) als minderwertig galten, beziehungsweise von den Theoretikern der Sozialarbeit als solche diffamiert wurden. Auf diese Weise sind auch die Qualifikationsdefizite zu erklären, die dafür verantwortlich sind, daß Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen in den angestammten Diensten ohne eine Qualifizierungsoffensive gar nicht in der Lage wären, die Anforderungen zu bewältigen.

Innovationschancen und Innovationshindernisse Wir sehen an dieser Entwicklung, daß die Umstrukturierung und Ressourcenverknappung nicht nur negative Folgen haben muß, sondern auch eine Reihe vom positiven Impulsen beinhaltet. C. W. Müller und andere Autoren zeigen mit Beispielen aus der Geschichte der Sozialen Arbeit, daß deren Professionalisierung und Verberuflichung gerade in Umbruchszeiten und angesichts der kumulierenden sozialen Probleme vorangetrieben wurde (Müller 1988, Opl 1983). Vielleicht ist die Tatsache, daß sich heute neben den traditionellen, neue Praxisfelder gesundheitsbezogener sozialer Arbeit etablieren, ein Ausdruck ähnlicher Tendenzen. Jedenfalls ist ein Aufgabenzuwachs zu verzeichnen. Andererseits verlagern sich die Schwerpunkte der bisherigen Tätigkeit. Neue Praxisfelder entstehen im Zuge der Verberuflichung jener Aufgaben, die bislang Domäne der informellen Helfernetze waren. Auch die Koordinierung und Vernetzung verschiedener Institutionen der Gesundheitsversorgung, die lange Zeit selbstregulierenden Prozessen vorbehalten waren, werden zunehmend "verberuflicht" (Beispiele: MAGS 1992, Psychiatrie, ambulante Rehabilitation alter Menschen etc.), weil sich die Hoffnung auf spontane Lösungen fast nirgends erfüllt hat. Es soll un1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? terstrichen werden, daß erst jetzt unter dem finanziellen Druck die Konzepte umgesetzt werden, die schon vor vielen Jahren unter Beteiligung der Sozialarbeiterinnen/ Sozialarbeiter entwickelt wurden, und deren Implementierung vergeblich gefordert wurde. Neue Berufsmöglichkeiten für Sozialarbeiterinnen finden sich im zunehmen wachsenden Feld der Gesundheitserziehung, Gesundheitsaufklärung und Gesundheitsförderung (Feser 1990, BrieskornZinke 1990, Franzkowiak & Wenzel 1989). Nicht alle sind wirklich neu. Vielfach handelt es sich um traditionelle Tätigkeitsfelder, die gar nicht verändert, sondern einfach "umetikettiert" wurden (Reinike 1990). Der größte Teil der neuen Aufgaben entsteht freilich in den angestammten Feldern der Arbeit mit Kranken, Behinderten und Abhängigen im Zuge der Rationalisierung und Suche nach neuen, effektiveren und effizienteren Arbeitsformen. Doch wie schon angedeutet, scheitern viele Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen gerade an den neuen Formen (Beispiele: AIDS-Versorgung bei Schaeffer et al. 1992, Arbeit in Sozialstationen und Zusammenarbeit mit informellen Helfernetzen bei Meinhold 1991 und Wohlleber et al. 1991). Sie werden nicht mit den neuen Anforderungen fertig, ziehen sich auf rein administrative Verrichtungen zurück und überlassen das "Experimentierfeld" den Angehörigen anderer Berufsgruppen (Schaeffer et al. 1992). Die Ursachen für diese Veränderungsresistenz sind multifaktorieller Natur. Sowohl mangelndes professionelles Selbstverständnis (Schaeffer et al. 1992, Meinhold 1991, Rabe-Kleeberg 1992) als auch konzeptionelle Defizite der neuen Strategien (Schaeffer et al. 1992) - etwa in der Sozialen Arbeit mit informellen Helfernetzen (Meinhold 1991) - wurden als Innovationshindernisse identifiziert. Nach unseren eigenen Untersuchungen sind schlichtweg auch Qualifikationsmängel (vor allem die insulare Arbeitsweise, defizitäre Methodenkenntnisse, das Festklammern an überholten Strukturen, die einseitig therapeutische Orientierung der Ausbildung, veraltete Kenntnisse und beklagenswerter Zustand mancher Fachhochschulen), die es verhindern, daß Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen die neuen Ansätze in des gesundheitsbezogenen Arbeitens für sich reklamieren und erfolgreich umsetzen (Garms-Homolová & Schaeffer 1992, 1991, 1990).

Konkurrenz um die neuen Aufgaben Um die neuen Aufgaben konkurrieren Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter mit Angehörigen anderer Berufsgruppen. Denn für die sogenannten "offenen Praxisfelder" (Opl 1983) kommen nicht nur sie, sondern auch Psychologen, Lehrer und Erwachsenenpädagogen, Sozialwissenschaftler, zunehmend auch Mediziner in Frage - allesamt Angehörige von Berufsgruppen, die entweder schon seit Längerem oder erst in der jüngeren Zeit von Arbeitslosigkeit bedroht sind und teilweise sehr aktiv die Verberuflichung neuer Gesundheitsbereiche betreiben. Neuerdings wird sogar von Konkurrenz durch Mitglieder ideologischer Zusammenschlüsse mit Schmalspurausbildungen beklagt (Krause & Heis 1994), deren gesundheitsfördernde (oft aber esoterische) Aktivitäten von Krankenkassen als zuschußberechtigt anerkannt werden. Auch hier zeigt sich die "Schwäche" der Profession Sozialarbeit, die es nicht schafft, jene Berufsfelder, für die sie aufgrund ihrer theoretischen Basis, ihres methodischen Instrumentariums und nicht zuletzt der Berufstradition, besonders geeignet werden könnte, für sich zu reklamieren.

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? Der Einstieg von unterschiedlich qualifizierten Personen in die gesundheitsbezogene Arbeit wird durch differente postgraduale Aufbaustudiengänge, in der jüngsten Zeit speziell die Errichtung des gesundheitswissenschaftlichen Studiums (Public Health) forciert (Waller 1993, Kolip 1994). Die Konkurrenz um die neuen Aufgaben könnte sich noch verstärken, weil auch die Angehörigen der Pflegeberufe ihren Anspruch auf die Gesundheitsarbeit (als Gegensatz zur Krankenpflege) artikulieren. Auch unter Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern ist die Nachfrage nach neuen Qualifikationen groß. Auf der einen Seite floriert der Weiterbildungsmarkt. Auf der anderen Seite studieren viele Sozialarbeiter in den Aufbaukursen und weiterführenden Studiengängen. Diese werden zunehmend häufiger auch von den Fachhochschulen für Sozialarbeit/Sozialpädagogik angeboten (vgl. z. B. Salustowicz 1992). Nicht überall entstehen diese Angebote ausschließlich aus dem Bestreben, den Sozialarbeitern den Zugang zu adäquaterer Qualifikation zu ermöglichen. Manche Fachhochschule engagiert sich nur, um das eigene Überleben zu sichern, ohne jedoch ein tragfähiges Qualifizierungskonzept vorweisen, noch den Nachweis führen zu können, daß ihr Angebot die Handlungsgrundlage oder zumindest die beruflichen Chancen der Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter verbessern könnte.

Professionalisierung: Chancen und Grenzen Wie steht es angesichts dieser Trends um die Professionalisierungschancen der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit? Als Antwort auf diese Frage kann ich einiges von dem bereits gesagten rekapitulieren: 1) An der Verberuflichung neuer Bereiche der Gesundheitsarbeit haben Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitereinen starken Anteil, sind dabei jedoch einer nicht unbeträchtlichen Konkurrenz ausgesetzt. Haben sie in dieser Konkurrenz gute Karten? Das heißt auch: Kann es ihnen gelingen, den Nachweis zu erbringen, daß sie im Vergleich zu anderen Berufsgruppen tragfähigere Handlungskonzepte und adäquatere Qualifikation besitzen? 2) Gegenüber anderen Berufsgruppen /Professionen im Gesundheitswesen sind Sozialarbeiter /Sozialarbeiterinnen benachteiligt. Sie besitzen einen geringeren Status und haben ein schlechteres Ansehen als Ärzte. Ich möchte jedoch darauf verweisen, daß die Sozialarbeit manche dieser Nachteile selbst produziert. Nehmen wir beispielsweise das Faktum, daß sich die Sozialarbeit beständig der Evaluation ihrer Wirkungsweise und Praxis, entzieht. Diese Evaluationsresistenz der sozialen Berufe ist sprichwörtlich. Bei der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit, die in einer Kooperations-, und vor allem jedoch in einer Konkurenzbeziehung zu Berufsgruppen steht, die die Effekte der eigenen Intervention, doch besonders die Problemlagen ihrer Klienten zu "meßbaren Größen" deklarieren, ist das ein ernstzunehmender Mangel. Nicht nur deshalb, weil sich die Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen der Möglichkeit berauben, sowohl die eigene Berechtigung zu legitimieren, als auch die Qualität der eigenen Arbeitsleistung zu dokumentieren. Sie verschenken auch ein wichtiges Arbeitsinstrument und beschneiden die eigene Kooperationsfähigkeit. Denn bei komplexen Problemlagen, die nicht von einer einzigen Berufsgruppe, son-

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? dern nur im Zusammenspiel und mit geteilten Kräften verschiedener Fachdisziplinen bearbeitet werden können, muß für eine Transparenz des fachspezifischen Handelns sowie für die Mitteilbarkeit von Informationen gesorgt werden. Vor dem Hintergrund der beständigen Behauptung, die Problemlagen der Klienten/Klientinnen und auch die Interventionsstrategien sind so einzigartig, daß sie nicht mit operationalisierbaren Kategorien erfaßt werden können, erwecken die Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen den Eindruck, daß ihre Tätigkeit völlig ungeplant und situativ verläuft und daß ihr professionelles Handeln den Zufälligkeitscharakter hat. Damit aber wird die Notwendigkeit der speziellen Fachqualifikation und professionsspezifischen Erfahrungsbestände der Sozialarbeit in Frage gestellt. 3) In der Mehrheit der Praxisfelder wirkt die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit gegenüber ihren Klienten als eine ausführende Kontrollinstanz, die aber einer starken Außenkontrolle unterliegt. Die professionsspezifische Autonomie ist also begrenzt. Trotzdem besitzen Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter große Spielräume in fast allen Praxisfeldern. Sie müssen allerdings lernen, diese Spielräume offensiv und besser als bisher auszuschöpfen. 4) Vielleicht werden Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen mehr Selbstbewußtsein entwickeln, wenn sie (und auch ihre Theoretiker) begreifen, daß sich gerade gegenwärtig die Bedeutung der professionellen Autonomie stark verändert. Das erscheint als natürlich in einer Zeit, in der gesundheitsbezogene Probleme und Aufgaben nur durch intensive, interprofessionelle Zusammenarbeit bewältigt werden können. Die professionelle Autonomie der klassischen Professionen - etwa der ärztlichen Profession - unterliegt erheblichen Erosionserscheinungen. Diese Erosion ist nicht zuletzt auf jene Einflüsse zurückzuführen, die den nichtärztlichen Berufen in der Gesundheitsarbeit (der Pflege und der Sozialarbeit) bessere Professionalisierungschancen eröffnen. 5) Die Identitätsprobleme der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen spielen jedoch nach wie vor eine große Rolle und sind der Professionalisierung hinderlich. Sie resultieren aus einer marginalen Stellung in der Hierarchie der Professionen und Berufsgruppen, in denen gesamtgesellschaftliche Mechanismen ihren Ausdruck finden. Einen großen Anteil an der Entstehung der Identitätsprobleme hat jedoch auch der Widerstreit der Ideologien, die den Konzepten der Sozialen Arbeit immanent sind. Es zeigt sich, daß die pädagogisierende Komponente, der therapeutisierende Anspruch, der Altruismus und schließlich die "rationale" Bewältigungskomponente (Management) unvereinbar sind. Man war - bezogen auf verschiedene Spezialisierungen der Sozialarbeit - durchaus bemüht, diese Inkompatibilitäten durch einen forcierten theoretischen Diskurs auszugleichen. Diese Möglichkeit blieb jedoch der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit verschlossen (Falck 1990). Die gesundheitsbezogene Sozialarbeit wurde nämlich von den Theoretikern der Sozialarbeit bisher eher stiefmütterlich behandelt. Sie galt lange als ein zu wenig entwicklungsfähiges, bürokratisiertes Praxisfeld und wurde als der Bereich betrachtet, dessen theoretische Untermauerung sich nicht lohnt, weil in diesem Bereich die traditionellen Fürsorgearbeit noch nicht in die sozialpädagogisch wirkende Sozialarbeit transformiert werden konnte (Olk & Otto 1985; Bollinger & Hohl 1981). 6) Dieser Umstand ist der Professionalität und Professionalisierung abträglich. Denn beide sowohl das Expertentum als auch der Status einer Profession - basieren darauf, daß sich die "Professionellen" in ihrem beruflichen Handeln auf eine konsistente Theorie stützen können und diese auch in professionsspezifische Qualifikationsvorgaben und professionsspezifische

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? Selbstkontrollmechanismen transferieren. Die Chancen für eine bessere theoretische Untermauerung der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit scheinen mir aber derzeit günstig, dieses aufgrund der progressiven Verwissenschaftlichung des nichtmedizinischen Gesundheitsbereich (Stichwort Public Health), von der auch die gesundheitsbezogene Sozialarbeit mit Sicherheit profitieren wird. Angesichts der heterogenen theoretischen Grundlagen der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit auf der einen und der hohen, jedoch ebenfalls heterogenen Anforderungen an die Fachlichkeit wird neuerdings eine Arbeitsteilung und Spezialisierung der Qualifikationen innerhalb der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit gefordert. Dabei werden folgende Schwerpunkte diskutiert: 1. Schwerpunkt: der die pädagogische Komponente betont mit der Fokussierung auf die Gesundheitsförderung/Gesundheitserziehung, z.B. in der Gemeinde. 2. Schwerpunkt: Beratung mit therapeutischen Komponenten, mit einem Aufgabengebiet, das dadurch charakterisiert ist, daß nur kurzfristige Kontakte zu Klienten benötigt werden, wobei die Unterstützung anderer Berufsgruppen eine wichtige Aufgabe wäre. Diese Aufgabe müßte nicht notwendigerweise an eine einzige Institution gebunden sein, sondern auch in einer losen Beziehung zu mehreren Einrichtungen stehen. Denkbar ist dieses Modell beispielsweise als ein Sozialdient, der mehreren Arztpraxen zur Verfügung steht (Stichwort: Sozialarbeiterin in der Arztpraxis). Auch niedergelassene Sozialarbeiter als Einzelunternehmer oder als unternehmerische Gemeinschaften könnten wahrscheinlich diese Aufgaben übernehmen. 3. Schwerpunkt: Fallorientiertes Versorgungsmanagement zur längerfristigen Unterstützung von Individuen oder Gruppen, deren Autonomie durch Krankheiten, Behinderungen oder andere Gesundheitsprobleme entweder gefährdet oder bereits eingeschränkt ist. Im Mittelpunkt stünden z. B. chronisch kranke Personen, Familien mit Behinderten etc. Dieses Aufgabenfeld ist umfassender angelegt als das bloße Case Management (Vgl. Beispiel bei Henkel et al. 1993). Auf keinen Fall geht es nur darum, einzelne Betroffene durch marode Strukturen durchzuboxen (notfalls gegen ihren Willen, wie es etwa unter der "Case-Manamement-Zauberformel" mitunter geschieht), sondern primär auch um eine strukturelle Arbeit, die häufig als Vernetzung bezeichnet wird. 4. Schwerpunkt wäre der Organisation, Planung und sozialpolitisch orientierten Aufgaben vorbehalten (Management entsprechend dem herkömmlichen Verständnis für diesen Begriff). Kritiker der Arbeitsteilung in der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit machen geltend, daß hier eine Abkehr von den holistischen Ansätzen in der Sozialarbeit vorgeschlagen wird die gar einen Rückschritt für die Professionalisierungsbestrebungen bedeuten könnte. Wegen der zunehmenden Komplexität der Aufgaben, die gesundheitsbezogene Sozialarbeit zu bewältigen hat, verdienen jedoch entsprechende Konzepte, daß sie intensiver diskutiert werden.

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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit - Ist professionelles Arbeiten möglich? Henkel, B.; Jaeger, W.; Spolgen, H. & I. Wagner (1993): Care Management. Unterstützen statt bevormunden. Forum Sozialstation, 17, 63, 30-32 Kolip, P. & Schott, T. (1994): Gesundheitswissenschaften in Deutschland: Universitäre Ausbildungsangebote. Zeitschrift für Gesundheiswissenschaften, 2, 1, 81-90 Krause, D. & T. Heis (1994): Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagogen/innen in der Gesundheitspädagogik im Krankenkassenabseits!? - oder wer vertritt die Belange des Berufsstandes? DBSH, 1, 35-36 Meinhold, M. (1991): Qualitätsanforderungen an die Sozialarbeit in Sozialstationen. In: Bosch, E.M. & M. Beck (Hg.). Die Qualitätsfrage in der ambulanten Versorgung. Berlin: Senatsverwaltung für Soziales, 64-73 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden Württemberg (Hg.) (1992): Neuordnung der ambulanten Hilfen. Ausbau, Weiterentwicklung, Finanzierung. Stuttgart: MAGS, 156 S. Müller, C.W. (1988): Wie Helfen zum Beruf wurde, Bd. 1. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883-1945, Weinheim - Basel: Beltz Olk, T. (1986): Abschied von Experten. Sozialarbeit auf dem Weg zu einer alternativen Professionalität. Weinheim/München: Juventa Olk, T. & H.-U. Otto (Hg.) (1985): Wohlfahrtspolitik in der Wende. Sozialarbeit zwischen Fürsorge und autonomer Lebenspraxis. Weinheim/München: Juventa Oppl, H. (1983): Zum Heil - bzw. Hilfeverständnis in Medizin und Sozialarbeit. In: WeberFalkensammer, H. & H. Oppl (Hg.): Einführung in Sozialarbeit/Sozialpädagogik im Gesundheitswesen. Erlangen: Perimed, 187-254 Rabe-Kleberg, V. (1992): Von der Hochschule in den Beruf - Kritische Übergänge für Frauen in sozialen Berufen. In: Ev. FH Berlin, Hg.: Geschlechterbemühungen: Geschlechterkampf. Frauen und Männer in der Sozialen Arbeit. Obertshausen: Context-Verlag Reichertz, J. (1993): Das Dilemma des "klinischen" Sozialwissenschaftlers und Sozialpädagogen. Kritische Randnotitzen zur Nutzung der Oevermann'schen Professionalisierungstheorie im sozialpädagogischen Diskurs. In Pfaffenberger, H. & R. Schultz (Hg.). Sozialarbeit zwischen Berufung und Beruf. Münster: LIT Verlag, 205-223 Reinicke, P. (1990): Gesundheitsförderung - Eine neue oder eine wiederentdeckte Aufgabe der Sozialarbeit. Soziale Arbeit 39, 1, 16-24 Salustowicz, P. (1992): Ausbildung an Fachhochschulen für die Freie Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit 41, 10-11, 364-371 Schaeffer, D. & H. Moers (1992): Professionelle Versorgung von HIV- und AIDS-Patienten. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, 92 - 208, Berlin: WZB, Manuskript, 238 S.

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform?

Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? Von Thomas Elkeles

"Anspruchsdenken", "Trittbrettfahrerei", "moral hazard", "Freibiermentalität" - diese Schlagworte schallen uns ständig entgegen, wenn von der Krise des Sozialstaats die Rede ist. Es ist den Vertretern der neoliberalen Lehre gelungen, die Themen der Diskussion zu besetzen und Akzeptanz für die These zu finden, daß "mehr Wettbewerb" das Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme sei. Deregulierung, Ausweitung des Subsidiaritätsprinzips, Privatisierung, Senkung der Staatsausgaben, Lohnkostensenkung etc. gelte es anzuwenden, denn die Hypertrophie der sozialen Sicherungssysteme und deren Mißbrauch beeinträchtige die Kraft des Wettbewerbs. Das liberale Dogma und die Rede von der Überflußgesellschaft verkennen, daß erst die Zügelung des Kapitalismus die Voraussetzung für seine Legitimation waren und sind. So gingen auch die Väter der "Sozialen Marktwirtschaft" davon aus, daß es eine ausreichende soziale Absicherung des einzelnen durch den Staat geben müsse, um das Wettbewerbssystem als Gesellschaftssystem überhaupt akzeptabel zu machen. Czayka (1994) vertritt daher die Ansicht, daß "gewisse ökonomische Effizienz-Verluste und auch ein gewisser Mißbrauch der sozialen Sicherung als notwendige Kosten für die Stabilität unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu betrachten (sind)". Der leichtfertige Gebrauch des Wohlstandsbegriffs durch die Neoliberalen verkennt auch, daß die erreichte materielle Absicherung für die meisten Menschen nicht langfristig gesichert ist, sondern ständig von ihnen neu erkämpft und verteidigt werden muß. Es scheint, daß die Wirklichkeit der ökonomischen Modelle eine andere ist als die Wirklichkeit der Lebensbedingungen der meisten Menschen. Das Menschenbild, das viele Gesundheitsökonomen vom Versicherten und Patienten als einem souveränen, rational Vor- und Nachteile von medizinischen Produkten, Dienstleistungen und Versicherungsprämien abwägenden Konsumenten haben, deckt sich nicht mit der Wirklichkeit von kranken Menschen, wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wissen, die mit chronisch kranken Dialysepatienten arbeiten. Nach einer Reihe sämtlich fehlgeschlagener Kostendämpfungsgesetze im Gesundheitswesen versuchte Minister Blüm mit dem anspruchsvoll "Gesundheitsreform-Gesetz" genannten Gesetz, eine grundlegende Reform im Gesundheitswesen zu etablieren. Es zeigte sich jedoch, daß der Widerstand von Interessengruppen auf der Anbieterseite so geschickt und erfolgreich war, daß die Effekte binnen kürzester Zeit verpufften und der Anstieg der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung so nicht zu bremsen war. Verbliebener Effekt war eine Umverteilung von Kosten zu Lasten der Versicherten durch sog. Eigenbeteiligungen, die bis heute Gültigkeit haben. Ein Einschnitt in der Geschichte bundesdeutscher Gesundheitspolitik wurde dann jedoch das Gesundheitsstruktur-Gesetz (GSG). Es war Ergebnis einer Zusammenarbeit der Regierungsparteien (CDU/CSU/FDP) mit der Opposition (SPD) sowie den Landesregierungen. Ohne diese Kooperation wäre das Gesetz nicht zustande gekommen, da sich sonst die unterschiedlichsten Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und im Bundesrat gegenseitig blockiert hätten. Auch wurde damit eine Blockade des politischen Systems durch pressure groups aufgebrochen, wie sie bei bereits mehr-

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? fachen Versuchen einer Gesundheitsreform sichtbar geworden war. Mit dem GSG wurde eine Weiche zu weiteren Reformschritten gestellt, ohne daß bisher entschieden wäre, in welche Richtung die nächste Reform gehen wird. Direkt nach Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) orderte Minister Seehofer beim Sachverständigenrat (SVR) für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ein Sondergutachten über die Fortführung der Reform. Der Tenor der hier in Auftrag gegebenen Fragen ist allerdings deutlich genug, um erkennen zu können, wohin die Reise gehen soll: bei der Weiterentwicklung der Krankenversicherung über das Jahr 2000 hinaus sollen die Zeche die Versicherten und Patienten zahlen. Dies findet sich als Darlegung von Optionen im mittlerweile vorliegenden Zwischenbericht des Sachverständigenrats. Der Zeitplan sieht vor, daß über diese Optionen eine breite Diskussion stattfindet, bis Ende 1994 der Hauptbericht des Sachverständigenrats vorzulegen ist und erst danach, das heißt nach den Bundestagswahlen, die Politik eigene Entwürfe präsentiert. Man kann vermuten, daß die Regierungsparteien bei diesem Zeitplan bemüht waren, die Pläne nicht zum Wahlkampfthema werden zu lassen. Dazu hätten sie aus meiner Sicht auch allen Grund, denn die erbetenen Optionen zur "Neudefinition des Verhältnisses von Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität" bedeuten nicht mehr und nicht weniger als die Aufkündigung des bisher in Deutschland gültigen Sozialstaatskompromisses.

Die drei GSG-Stufen Und so sieht zunächst der Ablauf aus: in der "ersten Stufe" des GSG erfolgt derzeit eine auf drei Jahre befristete generelle Budgetbegrenzung in allen einzelnen Leistungsbereichen. Ab 1994 erfolgt ein Risikostrukturausgleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): die zwischen den einzelnen Kassenarten unterschiedlich verteilten und ein unterschiedliches Einnahmen-AusgabenVerhältnis hervorrufenden Risiken Geschlecht, Alter, beitragspflichtiges Einkommen und Anzahl mitversicherter Familienangehöriger werden durch Ausgleichszahlungen ausgeglichen. Damit werden sich die Pflichtbeitragssätze angleichen und der Wettbewerb zwischen den Kassen kann beginnen. Ab 1.1.1996 gilt für die Versicherten Wahlfreiheit der Kasse und für die Kassen ein weitgehender Kontrahierungszwang, d.h. es kann sich (mit Ausnahme der Betriebs- und Innungskrankenkassen) keine Kasse wie bisher weigern, sog. schlechte Risiken zu versichern. In dieser "zweiten Stufe" der GSG-Umsetzung, in der Veränderungen in der Honorierung der Kassenärzte (Hausarztprinzip, Leistungskomplexhonorar), eine veränderte Krankenhausfinanzierung (Orientierung auf Fallpauschalen, erste Schritte zu einer monistischen Finanzierung) sowie die Einführung einer Positivliste für Arzneimittel sowie verbindliche Richtgrößen für die Arzneimittelversorgung hinzukommen, soll der Wettbewerb der Kassen für Ausgabenbegrenzung sorgen. Ohne den Ausgang der "zweiten Stufe" abzuwarten, wird angenommen, daß etwa zum Jahr 2000 eine "dritte Stufe" notwendig wird, um die erwünschte Betragssatzstabilität gewährleisten zu können. Deren Vorbereitung dient das in zwei Schritten vorzulegende SVR-Gutachten.

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? Der Auftrag An den Rat waren sechs Fragen gerichtet worden. Die drei wichtigsten, auf die sich auch der Sachstandsbericht konzentriert, heißen im Klartext: - Wodurch lassen sich Einnahmenverbesserungen der Kassen erreichen? - Wie lassen sich Sündensteuern auf gesundheitsgefährdendes Verhalten in die GKV einbauen? - Läßt sich der Pflichtleistungskatalog reduzieren? In Zukunft sollen neben dem Arbeitseinkommen auch andere Einkünfte der Versicherten (Zinserträge etc.) beitragspflichtig werden. Man kann auch herauslesen, daß der Rat u.U. Änderungen bei Pflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen nicht ausschließt. So konfliktträchtig dies im Einzelfall auch umzusetzen ist, die hierdurch erzielbaren höheren Einnahmen wären vermutlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß der Rat dafür plädiert, an der Form der Sozialversicherung im Prinzip festzuhalten. Kombiniert wird dies mit Überlegungen, im Rahmen eines "Abspeckmodells" versicherungsfremde Leistungen auszugrenzen. Eine "Entrümpelung" des Katalogs wurde jedoch bereits durch GRG und GSG weitgehend erledigt und eine Beschränkung auf das "medizinisch Notwendige" ist auch bei der gegenwärtigen Rechtslage vorgeschrieben. Selbst wenn Brillen und Kuren "abgespeckt" werden: die damit einsparbaren Kostenvolumina sind im Gesamtzusammenhang derart belanglos, daß die Beschäftigung mit den Themen des "Optionsmodells I" unter Effizienzgesichtspunkten höchstens Heiterkeit auslösen kann. Die wahre "Abspeckung" findet daher auch nicht in der Peripherie, sondern im Zentrum der Leistungen statt, für die sich der Rat allein drei seiner vier Optionen reserviert hat. Ebenfalls vor allem plakativen und symbolischen Wert dürfte die Frage danach haben, wie "verstärkte Anreize zur ursachenbezogenen Prävention und zu gesundem Lebensstil" eingebaut werden können. Der Rat nennt hier "Sündensteuer" bzw. "Gesundheitspfennig" und plädiert dafür, Bonus/Malus-Regelungen oder Rückerstattungsregelungen innerhalb der GKV den Vorzug zu geben. Voraussetzung sei jedoch "die eindeutige Zuordnung der Verursachung", die "nicht immer ganz einfach", vielmehr sogar "im Einzelfall schwierig" sei. Bedenkt man allein, was mit Alkoholkranken geschehen soll, würde man von dem Doppelcharakter des Alkohols als einem Genuß- wie einem Suchtmittel absehen und den "erhöhten" Konsum von Alkoholika als "bewußt eingegangenes Gesundheitsrisiko" judizieren, dürfte deutlich werden, daß es sich bei den in der Öffentlichkeit gern vorgetragenen Gedankenspielen zu einer "Sündensteuer" kaum um seriöse Reformvorstellungen für die Krankenversicherung 2000 handelt. Das ständige Hochspielen dieser Thematik kann eher geeignet sein, von den Kernfragen abzulenken.

Zwiebel, Pfirsich und Torte Die entscheidenden, vom Rat entwickelten Modelle für "Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" sind dessen Optionen II, III und IV. Sie alle basieren darauf, daß in Zukunft nur 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? noch ein Kernbereich der gegenwärtigen medizinischen Leistungen zum Pflichtkatalog gehören soll. Der ausgegrenzte Teil könnte im Rahmen freiwilliger Versicherungstarife entweder vom Versicherten dazugewählt (Pfirsichmodell) oder abgewählt (Zwiebelmodell) bzw. durch Zu- und Abwahl frei kombiniert werden (Tortenmodell). Durch individuelle Erweiterung bzw. Reduzierung des Versicherungsschutzes soll die "Eigenverantwortung" erhöht werden, das für die Sozialversicherung und letztlich auch den Sozialstaat konstitutive Moment des Solidarprinzips (Absicherung des Krankheitsrisikos unabhängig von der Einkommenshöhe und dem Gesundheitszustand) auf sog. Kernleistungen beschränkt werden. Unverkennbar sollen also Prinzipien der Privaten Krankenversicherung (PKV) eingeführt werden (Leistungen entsprechend der Höhe der eingezahlten Tarife). Bedeutsamer als die Frage, ob dies eine Ausweitung des PKV-Marktes in den Kreis der GKV-Versicherten hinein oder aber eine Erweiterung der Marktmöglichkeiten für die GKV zur Konsequenz hätte, sind die damit verbundenen gesundheits- und sozialpolitischen Fragen. Die Trennung in Grund- und Wahlleistungen steht und fällt nämlich damit, daß es möglich sein müßte, einen Kernleistungsstandard zu definieren, der das medizinisch Notwendige nicht ausschlösse, da ansonsten - wie auch der Rat meint - "soziale Diskriminierung" einträte. Aber genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Um nennenswerte ökonomische Effekte zu erzielen, kann es nicht um den Ausschluß von Kleinigkeiten gehen. Welches aber sollen Leistungen sein, die nach medizinischen Kriterien verzichtbar wären und der 'Eigenverantwortung' der Versicherten überlassen werden können? Schon vor Veröffentlichung des SVR-Berichts sprach ein Kritiker davon, es gebe einen bemerkenswerten Kontrast zwischen der Entschiedenheit, mit der dieses Konzept angepriesen werde und der Beliebigkeit, die herrsche, wenn es darum gehe, diesen Grundsatz zu konkretisieren. Derartige Pläne zu kritisieren ähnele dem verzweifelten Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Mehr als Pudding ist auch im SVR-Bericht nicht enthalten. Wie sollte es auch anders sein schließlich ist eine Reduzierung des Leistungskatalogs nur um den Preis des Ausschlusses medizinisch erforderlicher Leistungen zu haben. "Zusatzerfordernisse" sind nicht definierbar, die "Grunderfordernisse" entsprechen dem Umfang des gegenwärtigen Leistungskatalogs. Zu dem Schluß kamen auch vom niederländischen Gesundheitsministerium eigens eingesetzte Kommissionen. Hatte eine erste eine Vorschlagsliste für "Basisleistungen" vorgelegt, die 85% der Kosten aller Gesundheitsversorgungsmaßnahmen entsprach und die vom Kabinett auf 95% aufgestockt wurde, führte eine erneute Prüfung durch eine weitere Kommission zu dem Ergebnis, ein Ausschluß von Leistungen könne nur auf Kosten der Solidarität vorgenommen werden. Daher könne die Kommission keine konkreteren Angaben über die Gestaltung des "Basispakets" machen. Im Unterschied zur "Sündensteuer" ist bei der Differenzierung in Kern- und Zuwahlleistungen nicht davon auszugehen, daß mangelnde Praktikabilität ihre Einführung bereits ausschlösse. Denn technisch definierbar ist ein Kernleistungsbereich. Dies hätte nur zur Folge, daß der Umfang des Abschlusses von Zusatztarifen von der Höhe verfügbaren Einkommens abhängig würde. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Folge vorauszusehen, daß damit untere Einkommensgruppen von der vollen Absicherung gegen Krankheitsfälle ausgeschlossen würden. Genau dies ist politisch gewollt: so hat der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 1992/93 die gesetzliche Krankenversicherung als "Antwort auf spezifische 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts", d.h. als historisch überholtes Auslaufmodell hingestellt. Der mit dem Namen von Bismarck verbundene "Sündenfall" der Marktwirtschaft, den Preis als Steuerungsinstrument für die Inanspruchnahme medizinischer Hilfe auszuschalten, soll also nun korrigiert werden.

Wettbewerb makes the world go around Nicht nur beim Umfang des Versicherungsschutzes soll der Wettbewerbsgedanke Einzug halten. Im SVR-Gutachten selber noch wenig ausgeführt, jedoch in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden Konzepte zur Einführung des Wettbewerbs zwischen den Kassen, die sich auf die Ausgestaltung des Leistungsangebots beziehen. Neben dem "ob" bzw. dem Umfang des Versicherungsschutzes soll also auch beim "wie" bzw. den Formen differenziert werden. Die bereits vom GSG vorgegebene Leitlinie des Kassenwettbewerbs macht, wenn die Voraussetzungen hierzu durch den Risikostrukturausgleich erst einmal geschaffen sind, nur Sinn, wenn sich die Kassen in den Formen des Leistungsangebots unterscheiden. Denkbar sind eigenständige Möglichkeiten der Kassen, sich die Leistungserbringer auszusuchen, die sie nach Anzahl und Qualität für die Versorgung ihrer Mitglieder benötigen. Dem stehen bisher zwar rechtliche Schranken entgegen, jedoch ist durchaus vorstellbar, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen ihr bisheriges Monopol verlieren werden (ganz im Sinne der Marktwirtschaft). Am weitestgehenden und konkretesten sind Vorstellungen, kassenspezifische Verträge mit Anbietern unterschiedlich akzentuierter Versorgungsangebote zu ermöglichen. Gesundheitspolitisch innovative Projekte, wie Gruppenpraxen mit integrierten sozialen Versorgungsnetzen, könnten hierbei zu günstigeren Tarifen angeboten werden. Sind derartige Versorgungsangebote bzw. -aufträge ersteinmal definiert, die den gleichen Leistungsumfang - bei u.U. verbesserter Qualität - in Leistungsformen zu günstigeren Preisen vorhalten, fragt sich allerdings, welcher Versicherte dann bereit wäre, z.B. für die freie Arztwahl einen höheren Tarif zu zahlen. Ob der Effekt einer sinnvollen Rationalisierung nicht auch ohne "Wettbewerb" erzielbar wäre? Diese Richtung des Zuges der Zeit scheint jedoch größtenteils akzeptiert. Allein es fragt sich: stimmt der Fahrplan?

Literatur Arnold, Michael: Solidarität 2000. Die medizinische Versorgung und ihre Finanzierung nach der Jahrtausendwende. Enke, Stuttgart 1993. Czayka, Lothar: Mehr Wettbewerb ist kein Allheilmittel. Und ausreichende Sicherung ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung. In: Frankfurter Rundschau, 20.9.1994, S. 16. Deutscher Bundestag (Hg.): Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung. Endbericht der Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages "Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung", Band 1 und 2. Bonn 1990. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen - Wohin führt die Gesundheitsreform? Griesewell, Gunnar: Markt oder Staat - Wettbewerb oder Dirigismus? Zur Psychopathologie der ordnungspolitischen Diskussion im Gesundheitswesen. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 28-41. Kiezen en Deelen: Rapport van de Commmissie Keuzen in de Zorg (Commissie-Dunning). o.O. 1991 (zitiert bei: Stegmüller). Knieps, Franz: Die nächste Stufe der Gesundheitsreform. Ausgangslage und Positionen. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 10-18. Kühn, Hagen: Thesen zu Krankenversorgung, wirtschaftlichem Wettbewerb und Solidarität. Manuskript, 1994. Meierjürgen, Rüdiger: Gesundheitsförderung und Krankenkassenwettbewerb. Die Auswirkungen des Gesundheitsstrukturgesetzes. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 58-64. Paquet, Robert: Individualisierung der Gesundheitsbedürfnisse und Wahlfreiheit der Versicherten. Thesen zur Modernisierung und zum Wettbewerb in der GKV. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 49-57. Rebscher, Herbert: Solidarische Wettbewerbsordnung. Zukunftskonzept gegen staatliche Regulierung und Leistungsausgrenzung. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 42-48. Reiners, Hartmut: Die 'Dritte Stufe' der Gesundheitsreform: Wahlleistungen in der GKV. Ein sinnvolles Steuerungsinstrument? In: Jahrbuch für Kritische Medizin 21 (Arzt-KonsumentenVerhältnisse). Argument, Hamburg 1993, S. 159-176. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Sachstandsbericht 1994. Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität bei sich ändernden Rahmenbedingungen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1994. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität bei sich ändernden Rahmenbedingungen. Sachstandsbericht 1994, Kurzfassung. Bonn 1994. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1992/93. BR-Dr 808/92. Schönbach, Karl-Heinz: Perspektiven funktionalen Wettbewerbs in der GKV. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 19-27. Sendler, Hans: Zukunftsaufgaben der deutschen Gesundheitspolitik. In: Arbeit und Sozialpolitik, 1994, Jg. 48, H. 1/2, S. 65-76. Stegmüller, Klaus: "Wählen und Teilen". Skizzen zu den Konstellationen zwischen Versicherten, Krankenkassen und Leistungsanbietern in der Organisationsreform des GSG. In: Jahrbuch für Kritische Medizin 21 (Arzt-Konsumenten-Verhältnisse). Argument, Hamburg 1993, S. 177-191.

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten

Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von DialysePatienten und Nierentransplantierten von Dr. K. Kertzendorff

Einleitung Wenn wir uns mit den Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation bei Betroffenen mit terminaler Niereninsuffizienz und der deshalb notwendig gewordenen Dialyse oder Nierentransplantation beschäftigen wollen, so müssen wir uns zunächst mit den grundsätzlichen Zielvorstellungen der Rehabilitation auseinander setzen. Danach haben wir uns die Frage vorzulegen: Wo liegen beim Dialyse-Patienten und dem Transplantierten die größten Defizite, die es auszugleichen gilt? Anschließend können wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden: Welche Möglichkeiten bestehen für die Betroffenen? Werden sie genutzt? Wo liegen die größten Hindernisse, das gesteckte Rehabilitationsziel zu erreichen? Somit gliedert sich mein Referat in die Themenkomplexe: 1. Zielvorstellungen der medizinischen Rehabilitation - hier: Aus der Sicht des Rentenversicherungsträgers. 2. Die wesentlichsten Funktionsdefizite und deren Auswirkungen auf das Berufs- und Erwerbsleben. 3. Möglichkeiten des Ausgleichs eingeschränkter Funktionen und deren Umsetzung. 4. Sozialmedizinische Konsequenzen.

Zielvorstellungen Gerade in dem weit gefächerten System der Sozialleistungen müssen die Ziele klar definiert sein, die dem einzelnen Sozialleistungsträger zufallen. So stellt der Gesetzgeber gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung, die ich hier vertrete, Rehabilitation vor den Hintergrund des Verbleibens im Beruf oder die Re-Integration in das Erwerbsleben - sieht er den teilweisen oder vollständigen Lohnersatz im Sinne einer Berufs-/ bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente nur als letzte aller Möglichkeiten einer Sozialleistungsgewährung an. Somit stellt sich für die Rentenversicherung nicht nur die Frage, welches Leiden vorliegt, hier also die terminale Niereninsuffizienz, sie möchte auch wissen, welche Auswirkungen dieses chronische Leiden für das Arbeits- und Berufsleben des Betroffenen haben. Gleichzeitig ist der Frage nachzugehen, ob vor dem gesetzlichen Grundsatz "Rehabilitation hat Vorrang vor Rente" nicht doch Chancen bestehen, eine wesentliche Steigerung oder gar Wiederherstellung der geminderten Leistungsfähigkeit zu erhalten.

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Daraus leiten sich drei Unterbegriffe ab, die wir mit Leben erfüllen müssen: Es geht um Klärung der: - Rehabilitationsbedürftigkeit, - Rehabilitationsfähigkeit, - der Erfolgsaussichten, das skizzierte Ziel zu erreichen. Rehabilitationsbedürftig im Sinne der Rentenversicherung ist derjenige, für den die Auswirkungen eines chronischen Leidens ein Handicap für das Erwerbsleben darstellen, der also mit diesem chronischen Leiden in den beruflichen Tätigkeiten nicht mehr zurechtkommt. Die gesetzliche Krankenversicherung würde Rehabilitationsbedürftigkeit anders definieren, z.B. im Sinne der Abwendung von Pflege, nach dem Motto "Rehabilitation vor Pflege". Ziel ist hier die ReIntegration in das häusliche Umfeld, das Wiedererlangen möglichst persönlicher Selbständigkeit in den Alltagsverrichtungen etc. Dies aber, noch einmal sei es betont, ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung: Sie sieht all ihre Maßnahmen vor dem Hintergrund des Berufs- und Erwerbslebens. Damit hat sie sich auch auf den Personenkreis zu konzentrieren, der noch im erwerbsfähigen Alter (= bis 65. Lebensjahr) ist und demgegenüber noch kein unbefristetes Anerkenntnis wegen Berufsoder Erwerbsunfähigkeit ausgesprochen worden ist. Der Begriff der Rehabilitationsfähigkeit ist vielschichtig. Zunächst kommt es darauf an, daß der Betreffende motiviert ist, und über die Motivation eine Mitwirkungs- und Leistungsbereitschaft besteht. Zudem muß der Betreffende in der Lage sein, Gelehrtes zu lernen und Gelerntes umsetzen zu können. Rehabilitation heißt ja "Leben lernen mit einer chronischen Krankheit". Die Betonung liegt hier auf lernen. Dazu gehört natürlich auch, daß der Betreffende keine Schwierigkeiten hat, sich in größere Gemeinschaften einzufügen und ein klar strukturiertes, stundenplanähnliches Rehabilitationskonzept zu tolerieren. Es wird sorgfältig darauf geachtet, daß die Gruppengröße klein gehalten wird, d.h. 1 Therapeut = 8 Patienten. Zudem ist es selbstverständlich, daß auf die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen eingegangen wird. Die, wie der Gesetzgeber es ausdrückt, " die hinreichende Erfolgsaussicht" muß darin bestehen, das gesteckte Ziel der Re-Integration in das Berufs- und Erwerbsleben auch tatsächlich erreichen zu können. Dies darf nicht nach dem Motto geschehen "Wir haben schon Fälle gesehen, in denen ...". Somit darf die Rentenversicherung auch nicht die Rehabilitation mit dem Ziel alleiniger Linderung eines Leidens gewähren. - Die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bleibt hiervon unberührt. Ist die "hinreichende Erfolgsaussicht" nach ärztlichem Ermessen nicht gegeben, so schlägt der Arzt in der Behörde bei gestelltem Antrag auf medizinische Rehabilitation dem Juristen seines Hauses vor, diesen Antrag als fiktiven Rentenantrag zu betrachten. Fiktiv heißt: Niemand wird gegen seinen Willen zum Frührentner gemacht. Schließt sich der Jurist aufgrund seines eigenen Urteils der ärztlichen Argumentationskette an und sieht die durch Rehabilitation nicht wesentlich zu steigernder, aufgehobene Leistungsfähigkeit, dann schickt er dem Betreffenden einen Rentenantrag zu. Erst nach dessen Unterschrift kommt dann das Rentenverfahren in Gang. Dabei, nochmals sei es be-

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten tont, ist zu bedenken, daß Rentengewährung - selbst befristeter Art - nur am Ende aller anderen Möglichkeiten einer Sozialleistungsgewährung stehen kann. Nicht immer aber ist sie der Weisheit letzter Schluß: Der beruflichen Des-Integration folgt nur zu leicht die soziale Isolierung etc. Wenn die medizinische Rehabilitation sich ein derart hehres Ziel gesteckt hat, den Betreffenden zu lehren, sein chronisches Leiden möglichst optimal zu kompensieren, so müssen wir uns jetzt den Ihnen bekannten, wesentlichen Defiziten und deren Auswirkungen aus ärztlicher und sozialmedizinischer Sicht zuwenden:

Defizite des Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Das Ausmaß der Nierenfunktionseinschränkung wird bekanntlich bestimmt von der glomerulären Filtrationsrate. Sie beeinflußt maßgeblich die Höhe von Serum-Kreatinin und -Harnstoff. Ein Teil der Symptome der chronischen Niereninsuffizienz geht auf die verminderte exkretorische Nierenfunktion zurück. Ein anderer Teil der Symptome läßt sich von einer verringerten innersekretorischen Nierenfunktion ableiten. Hierzu gehört besonders der verminderte Hämoglobingehalt des Blutes: Zunehmende Niereninsuffizienz wird nahezu proportional von einer immer ausgeprägteren Anaemie begleitet. Bereits im sog. Stadium der klinischen Latenz (exkretorische Nierenfunktion bis auf 50 % der glomerulärenen Filtration eingeschränkt) finden sich bei sonst fehlenden klinischen Symptomen oft schon hohe Blutdruckwerte. Besonders der sog. diastolische Wert liegt meist bei 100 mmHg, ist damit deutlich pathologisch und zugleich oft der erste Hinweis auf eine chronische Nierenerkrankung. Sehr häufig, und für das weitere Schicksal von nicht unerheblicher Bedeutung, entwickelt sich als Folge dieser sog. renalen Hypertonie eine sog. Myocard-Hypertrophie: Eine erhebliche Verdickung der Muskulatur der linken Herzkammer und der Herzscheidewand. Diese therapeutisch meist schleckt beeinflußbare Myocard-Hypertrophie geht mit einer verminderten Kontraktilität des linken Ventrikels einher, d.h.: Die Vermehrung der Herzmuskelmasse birgt bereits den Keim der Herzinsuffizienz in sich. Sie wird verstärkt durch die Gefahr teils schlecht beeinflußbarer und gravierender Herzrhythmusstörungen. Der Bluthochdruck wirkt sich natürlich auch auf das gesamte arterielle Gefäßsystem aus und führt dort zu Veränderungen der Arterienwände. Diese Arteriosklerose wird enorm potenziert, wenn der Betreffende raucht, ja! um das 200fache gesteigert, wenn gleichzeitig die sog. Anti-Baby-Pille genommen wird. Dann steht sozialmedizinisch häufig nicht die chronische Niereninsuffizienz im Vordergrund, sondern deren Auswirkungen auf das Herz- und Gefäßsystem. Bereits im Stadium der kompensierten Retention, definiert durch einen Rückgang der renalen Filtration von 50 auf 10 ml/min lassen sich durch genauere Untersuchungen deutliche Zeichen von Knochenveränderungen nachweisen (calcipenische Osteopathie). Diese Veränderungen führen

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten in späteren Stadien der Erkrankung zu einer Minderbelastbarkeit des Skelettsystems, die sich klinisch in Knochenschmerzen äußert. Korrelierend zum Fortschreiten der chronischen Niereninsuffizienz treten am Bewegungsapparat zusätzlich zu den Knochenschmerzen auch eine sog. Myopathie und periphere Neuropathie hinzu. Eine strikte Trennung dieser beiden Nachfolgeerkrankungen von einander ist wegen der Abhängigkeit der Muskelfunktion von ihrer neurogenen Innervation und Stimulation kaum möglich. Objektiv finden sich eine Verminderung des Vibrationsempfindens und eine Verzögerung der Nervenleitgeschwindigkeit. Dies betrifft insbesondere die unteren Extremitäten. Die Myopathie wird in ca 70 % der fortgeschrittenen Niereninsuffizienz beobachtet. Es findet sich besonders ein Verlust an Muskelkraft sowie eine Störung der Koordination und der Feinmotorik. Bei der Minderung der Muskelkraft ist wiederum die der Beine stärker betroffen als die der Arme. Neben der peripheren Neuropathie finden sich auch zentralnervöse Störungen. Diese gehen einher mit einer Herabsetzung von Schwung, Antrieb und Konzentrationsvermögen. Wir sehen somit eine Reihe von Veränderungen, die sich wesentlich auf die Leistungsfähigkeit und somit auch auf die Fähigkeit, Leistung in Erwerb umsetzen zu können, auswirkt: Die Leistungsminderung durch die renale Anaemie äußert sich durch vermehrte Erschöpfbarkeit, hohe Pulsfrequenz und Luftnot bereits bei geringer körperlicher Belastung. Die Beeinträchtigung durch die renale Osteopathie ist gegeben durch die verminderte statische Belastbarkeit des Skelettsystems. Besonders bei Transplantierten können weitere Probleme auftreten, da evtl. bestehende, sog. Steroidnekrosen (insbesondere der Hüftgelenke) therapeutisch schlecht beeinflußbar sind. Die Verminderung des zentral-nervösen Leistungsvermögens wirkt sich aus in einer Erniedrigung der sog. Vigilanz und des Konzentrationsvermögens. Das kann sich besonders dann sozialmedizinisch auswirken, wenn eine erhöhte mentale = geistige Belastung gefordert wird. Hinzu kommen Probleme der renalen Hypertonie und deren Folgen, wie sie einleitend beschrieben wurden. Nicht eingegangen bin ich bisher auf das Problem der Wasserretention. Sie steht häufig im Mittelpunkt der Betrachtung des Patienten. Durch stetige Kontrolle des Körpergewichtes überzeugt er sich davon, wieviel Wasser er "eingelagert" hat. Dann wird sehr schnell die ärztlich empfohlene Saluretika-Dosis eigenständig erhöht. So ist mir ein Patient bekannt, der täglich 1.500 mg Furosomid (Lasix) zu sich nimmt. Eine der Folgen ist eine exzessive Erhöhung des Harnsäurespiegels auf 15 mg/gl. Dieser Erscheinung begegnet er mit hohen Dosen Allopurinol. Das wiederum hat quälendes Hautjucken zur Folge, welches er mit einem Anti-Allergikum (Tavegil) zu begegnen sucht. Dieses Präparat macht den erfolgreich Nierentransplantierten, denn um einen solchen handelte es sich hier, extrem müde. Letztendlich wird seine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben durch diese Müdigkeit entscheidend beeinträchtigt, hat er deswegen einen Rentenantrag gestellt.

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten So kann nicht erfolgte Krankheitsbewältigung - hier: Angst vor Überwässerung - fatale Folgen haben.

Welche Möglichkeiten bestehen für den Betroffenen, von einer medizinischen Rehabilitation zu profitieren? Konzentrieren wir uns zunächst auf den Dialysepatienten. Wir müssen bedenken, daß mit der künstlichen Niere nur etwa 7 % der normalen exkretorischen Nierenfunktion ersetzt werden. Innersekretorische Funktionsleistungen werden überhaupt nicht kompensiert. Die inadäquate Erythropoetinproduktion der insuffizienten Niere ist die Hauptursache der renalen Anaemie. Die Haemoglobinkonzentration des Blutes liegt bei Dialyse-Patienten zwischen 8 und 9 g%. Das heißt: die Sauerstoffkapazität ist auf ungefähr 50 % reduziert. Wird aber in 100 ml Blut bei hundertprozentiger Sättigung nur halb so viel Sauerstoff transportiert wie normalerweise, so versucht der Organismus durch Steigerung des Herzminutenvolumens und Verschiebung der Sauerstoffbindungskurve seine vermehrte O2-Diffusion in das arbeitende Gewebe kompensatorisch zu erreichen. Letzteres gelingt nur unzureichend, wie eingehende Untersuchungen von H. LANGE gezeigt haben: Dialyse-Patienten weisen bei ergometrischer Belastung einen dreifach höheren Laktatspiegel unmittelbar nach Belastung auf als Gesunde. Mit Einführung des rekombinanten Human-Erythropoetin in die Therapie können seit etwa 1990 die Haemoglobinkonzentration und damit auch die körperliche Leistungsfähigkeit angehoben werden. Der früher wesentlich linitierende Faktor bei der renalen Anaemie spielt somit heute keine entscheidende Rolle mehr. Hingegen ist die cardiovasculäre Komponente des chronisch Dialysepflichtigen weiterhin das größte Handicap. Zwar konnte durch die segensreiche Human-Erythropoetin-Substitution die Herzarbeit durch die Vermehrung des Sauerstoffangebotes ökonomisiert werden. Wie sieht es aber mit der Linksherzhypertrophie aus? Einleitend wurde erwähnt, daß die Zunahme der Muskelmasse des linken Ventrikels im wesentlichen eine Folge der chronischen Druckbelastung als Auswirkung der renalen Hypertonie ist. Das darüber hinaus weitere, unbekannte Faktoren, die Linksherzhypertrophie begünstigen, konnten u. a. WIZEMAN und KRAMER (1987) in einer Studie belegen: So nahm bei ihren Patienten während der Dialysebehandlung die Linksherzhypertrophie trotz optimaler Therapie weiter zu. Die Autoren sprechen deshalb von einer dialyse-assoziierten Kardiomyopathie. Ist das aber ein Grund, zu resignieren? Bei Leibe nicht! Lassen Sie mich zu Begründung dieser Aussage etwas weiter ausholen: Mit Hilfe der Erythropoetin-Substitution und damit Verbesserung des Sauerstoffangebotes wird die zu schnelle Herzfrequenz wieder gesenkt.

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Eine weitere Verbesserung der Herzarbeit wird über das Training der peripheren Skelettmuskulatur herbeigeführt. Schon 1942 konnte E.A.MÜLLER zeigen, daß die Herzfrequenzabnahme von der trainierten Muskulatur ausgeht. Nach längerem Training mit größeren Muskelgruppen, z.B. beim sogenannten Beintraining, ist eine Senkung der Ruhe-Herzfrequenz auch bei Niereninsuffizienten erreichbar. Das liegt zum einen daran, daß in der trainierten Skelettmuskulatur das Enzym Succinatdehydrogenase signifikant ansteigt. Zugleich ist im Gegensatz zur untrainierten Skelettmuskulatur die Mitochondriendichte wesentlich höher. Das heißt: Es werden aufgrund des Muskeltrainings biochemische und morphologische Anpassungsvorgänge in Gang gesetzt mit dem alleinigen Ziele, die sog. oxydative Energiereserve zu steigern. Darüber hinaus wird bei einem dosierten körperlichen Training über das sog. vegetative Nervensystem eine Senkung der Ruhe-Herzfrequenz herbeigeführt. Jeder weiß, daß ein trainierter Sportler eine verhältnismäßig geringe Ruhe-Herzfrequenz hat. Gleichzeitig ist seine Herzleistung bei dieser Herzfrequenz deutlich höher als bei einem Untrainierten. (In der Sportmedizin wird von der Arbeitsbelastungsfähigkeit = pulse working capacity gesprochen, d.h. es wird diejenige Leistung in Watt/Minute bestimmt, bei der die Herzfrequenz 170 erreicht.) Diese in der Sportmedizin exakt erarbeiteten und von den Meistern der Herzforschung in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts grundlegend erforschten physiologischen Zusammenhänge kommen den Dialyse-Patienten und dem Herztransplantierten ganz wesentlich zugute, wenn er seine passive Schonhaltung aufgibt und statt dessen sich regelmäßig dosiert körperlich belastet. Aufgrund der periphere Myopathie des Dialyse-Patienten und des Transplantierten ist dessen Muskelkraft um etwa 30 % gegenüber einem vergleichbaren Gesunden vermindert. Langzeitbeobachtungen an Transplantierten haben gezeigt, daß bei diesen die Steroidmedikation ein wesentlicher die Myopathie begünstigender Faktor ist. Inzwischen hat die Medizin sehr viele Erfahrungen in der immunsuppressiven Therapie von Organ-Transplantierten sammeln können. Damit konnte die Gabe von Kortisonpräparaten vermindert und somit auch die Auswirkungen der peripheren Myopathie vermindert werden. Wie aber sieht es mit der Beherrschung der renalen Hypertonie aus? Die Hypertonie, und das kann nicht stark genug betont werden, ist Dreh- und Angelpunkt des Fortschreitens von Krankheitssymptomen, ja, auch der Lebenserwartung. Somit ist A und O der ein Leben lang währenden Behandlung noch vor dem dosierten körperlichen Training die sorgfältige Einstellung des Blutdruckes. Und gerade hier treten merkwürdigerweise die größten Schwierigkeiten auf: Erst nach 14 Tagen stationärer Rehabilitation, so sagte mir kürzlich Prof. Knoll aus Bad Wildungen, bekam er bei einem zu rehabilitierenden Nierentransplantierten heraus, daß die blutdrucksenkenden Tabletten nur unregelmäßig und mit Widerwillen genommen wurden. Der Grund war ein ganz einfacher:

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Beta-Rezeptorenblocker, Calcium-Antagonisten und zentral wirkende Anti-Hypertensiva wie Clonidin, so steht es in jedem Waschzettel, können Amenorrhoe, Libido- und Potenzstörungen hervorrufen. Der Betroffene in Bad Wildungen hatte erklärt, seine Ehe sei ohnehin krisenbelastet, er könne sich "das nicht auch noch leisten", ohnehin habe er mit seinem Selbstwertgefühl aufgrund seiner chronischen Erkrankung zu kämpfen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich diese vermeintlich so pikanten Dinge hier offen aussprechen: Fehlende Compliance in der Blutdruckeinstellung führt zum Transplantatverlust, birgt die Gefahr schwerer hypertonie-bedingter Folgeerkrankungen, wie Herz- und/oder Hirninfarkt und verkürzte Lebenserwartung entscheidend. Noch einmal sei es gesagt. Die Überbetonung des Sexuellen vermag ich in diesem Zusammenhang nur als Ausdruck einer generellen Ich- und Lebenskrise zu interpretieren. So darf ich die bisherigen Ausführungen zum Herz-Kreislauf-System mit einem chinesischen Sprichwort beenden: "Der Mensch bringt täglich seine Haare in Ordnung - warum nicht auch sein Herz?" Nirgendwo sonst, als in der stationären medizinischen Rehabilitation kann er hierzu unter den heutigen Gegebenheiten besser angeleitet werden. Hierzu gehört selbstverständlich auch die Stärkung der seelischen Stabilität. Was heißt das? Es muß gelingen, - chronische Angst, - Depressionen, - sozialen Rückzug aufzufangen. Nicht die terminale Niereninsuffizienz mit allen ihren körperlich-organischen Begleiterscheinungen sollte im Vordergrund stehen. Nicht sollte der Satz gelten: "Das kann ich alles nicht mehr", sondern positiv ausgedrückt: "Das kann ich alles noch", und "Das kann ich alles schon wieder!" Hierfür sollten die Möglichkeiten der stationären Rehabilitation mit ihrem vielschichtigen Angebot genutzt werden. Mitmenschlicher Rückhalt, die Geborgenheit in der Gruppe, deren Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, - als Schutzfaktor für die Krankheitsbewältigung - als Ansporn, die eigenen Aktivitäten zu vertiefen und zu entfalten, gehören hierher. Das Schlagwort von der positiven Wirkung der Gruppendynamik erhält so seinen Sinn. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Die offene und vertrauensvolle Atmosphäre der Gruppe gibt oft allein durch die Erfahrung, daß man mit seiner Krankheit nicht allein gelassen ist, sondern daß andere gleichartige Probleme haben, neuen Mut und neue Hoffnung. Der gegenseitige Erfahrungsaustausch liefert nicht nur vielfältige neue Informationen, sondern erlaubt auch nachahmendes Verhalten und fördert den Lernprozeß. Ein weiteres kommt hinzu: Das Hirnleistungstraining. Auch das geht nicht im stillen Kämmerlein. Hierzu bedarf es eines ganzen Teams erfahrener Therapeuten. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, daß - Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen, - Lern- und Gedächtnisvermögen, - Intelligenzleistungen des vorausschauenden Planen und Handelns auf diese Weise deutlich angehoben werden können. Hinzu kommen: - Erlernen von Strategien zur Streßbewältigung - Entwickeln von Möglichkeiten zur Risikofaktorbeherrschung, z.B. dem Rauchen - und das bereits erwähnte dosierte Kreislauftraining.

Sozialmedizinische Konsequenzen Die Erfahrungen haben gezeigt, daß es einerseits fatal ist, z.B. in der Phase unvermeidlicher und unter Umständen längerer Arbeitsunfähigkeit beim Übergang von terminaler Niereninsuffizienz zur Dialysetherapie allein die Tatsache der chronischen und inkurablen Nierenerkrankung zum Anlaß für die Annahme einer geminderten oder aufgehobenen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu nehmen. Das drängt den Betroffenen zwangsläufig in die Frührente. Andererseits werden wir täglich belehrt, daß selbst bei terminaler Niereninsuffizienz oder nach Beginn einer Dialysetherapie die Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit als ein wesentlicher Faktor zur psychischen Bewältigung des Krankheitsschicksals anzusehen ist. Auch wissen wir, daß Dialyse-Patienten erfolgreich und ohne gesundheitliche Nachteile leichte und mittelschwere körperliche Arbeit zu verrichten in der Lage sind. Limitiert wird eine Berufstätigkeit in der Regel durch nicht ortsgebundene Berufstätigkeit oder durch Arbeitszeiten, die sich mit der regelmäßigen Durchführung der Dialysetherapie nicht vereinbaren lassen. Dies ist jedoch bei Wahrnehmung aller sozial-medizinischen Möglichkeiten nur sehr selten der Fall. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben läßt sich also auch im Stadium der Dialyse nur unter der individuellen Beurteilung vorhandener extrarenaler Organschäden und Komplikationen beantworten. Dies gilt übrigens auch für die Frage der Fähigkeit zum Führen eines Kraft1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten fahrzeuges. Diese Fähigkeit ist nicht selten Voraussetzung für die Durchführung einer weiteren beruflichen Tätigkeit, wie wir alle wissen.

Nierentransplantation Nach gelungener Nierentransplantation sollte nach RENNER in der Regel frühestens nach 3 bis 6 Monaten die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit erfolgen. Erst dann, so RENNER, kann die notwendige immunsuppressive Behandlung so weit vermindert werden, daß ungeschützter Personenkontakt ohne besonderes Risiko möglich ist. Gleichartige Beobachtungen haben wir an Herztransplantierten gemacht. Ähnlich wie in den Phasen der terminalen Niereninsuffizienz bzw. der Dialysepflicht läßt sich bei Nierentransplantierten häufig ein depressives Syndrom feststellen. Es wird dann verstärkt werden von der Angst vor der Transplantat-Abstoßung werden. Auch hier ist der Gefahr des sozialen Rückzuges zu begegnen. Aus diesem Grunde halte ich die Einleitung einer medizinisch stationären Rehabilitation für einen wesentlichen Schritt, Negativ-Entwicklungen zu begegnen und dem Betroffenen seine Lebensfreude wieder gewinnen zu lassen. Sie ist unabdingbarer Bestandteil zum Entwickeln der Leistungsbereitschaft. Die Erfahrungen der BfA mit jährlich etwa 150 durchgeführten stationären Rehabilitationen nach gelungener Nierentransplantation bestätigen diese Aussage. Das zeigt sich in den Entlassungsberichten als der sozialmedizinischen Aussage für die Leistungsbeurteilung. Bei der Beurteilung für die Leistungsfähigkeit ist zu bedenken, daß berufliches Tätigsein auf Dauer nur dann ohne Nachteil möglich ist, wenn die als Antwort auf die Belastung anzusehende Beanspruchung den individuellen verbleibenden Handicaps und kompensierten Funktionsstörungen angepaßt ist. Das bedeutet hier konkret: Da die Leistungsminderung des chronisch Nierenkranken von Fall zu Fall sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, kann niemals ein Pauschalurteil gegeben werden. Stets müssen, streng auf den Einzelfall bezogen, alle positiven und negativen Komponenten des Leistungsprofils zusammengetragen sein. Nur so ist es hier unter Umständen für den berufskundlichen Dienst des Rentenversicherungsträgers möglich, eine den individuellen Gegebenheiten angepaßte, d.h. leidensgerechte Situation am Arbeitsplatz herbeizuführen. Als ungünstig haben sich z.B. herausgestellt: - Arbeiten in Wechselschicht, - Arbeiten unter hohem Termindruck, - Arbeiten, in denen mit toxischen Substanzen umgegangen werden muß, - Arbeiten unter Lärm, Hitze. Feuchtigkeit, Zugluft. Die Störung der Feinmotorik und Koordination kann bei Vorliegen einer Myopathie und peripheren Neuropathie (Dialyse-Patient) im Einzelfall dazu führen, daß der Betroffene für hohe motorische Präzisionsanforderungen nicht mehr geeignet ist.

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten Eine einseitige statische Belastung ist wegen der renalen Osteopathie zu vermeiden. Im Hinblick auf die mental/informatorischen Arbeitsplatzanforderungen ist dem verminderten zentral-nervösen Leistungsvermögen Rechnung zu tragen, so daß keine Arbeit unter ausgeprägtem Zeitdruck zu fordern ist, und dem Betroffenen ausreichende Ruhepausen zur Verfügung stehen.

Zusammenfassung der Ergebnisse der von Dr. Kertzendorff geleiteten Arbeitsgruppe zur medizinischen Rehabilitation Als wesentlichstes Hindernis, die im einleitenden Vortrag von Dr. Kertzendorff dargestellten Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation wahrzunehmen, ist die äußerst geringe Initiative des chronisch Nierenkranken von allen Beteiligten herausgestellt worden. Es sei, so wurde betont, geradezu krankheitsspezifisch, daß der Patient bereits im Stadium der kompensierten Retention depressiv sei. Als Folge hiervon sind Initiativlosigkeit und Rückzugtendenzen die wesentlichsten Begleitsymptome des Krankheitsbildes. Ein weiteres käme hinzu: Das äußerst schlechte Informiertsein des niedergelassenen Arztes sowohl über die Pathogenese der chronischen Niereninsuffizienz als auch über die weitgefächerten Möglichkeiten der Sozialleistungsträger. Insbesondere, so wurde betont, herrschten sowohl bei den Hausärzten als auch leider in Dialysezentren allenfalls nebulöse Vorstellungen von dem, was eine Rehabilitationsklinik tatsächlich leisten könne. Die Zielvorstellungen, die Kertzendorff hervorgehoben hatte, sind allein den Sozialarbeitern in den großen Kliniken bekannt. Nierentransplantierte, so wurde von den aus der ganzen Bundesrepublik gekommenen Sozialarbeitern festgestellt, würden von den transplantierenden Zentren äußerst ungern aus den Augen verloren, und sei es nur für kurze Zeit. Zudem herrschten gerade in den großen Kliniken Vorurteile gegenüber den Rehabilitationskliniken. Vielleicht sei dies ein Grund, weshalb die Zahl von nur 150 durchgeführten Rehabilitationen bei Nierentransplantierten pro Jahr von Kertzendorff genannt worden seien. Breiten Raum nahmen in der Diskussion die Möglichkeiten des zeitlich befristeten Rentenanerkenntnisses und der Wiederholungsheilbehandlung ein. Die sozialmedizinische Grundvoraussetzung zur Rente auf Zeit, die begründete Aussicht auf wesentliche Besserung in absehbarer Zeit, wurde von Kertzendorff anhand von Beispielen eingehend dargelegt. Ebenso ging er detailliert auf die Möglichkeiten der Wiederholungsheilbehandlung ein. Dabei betonte er, daß diese von dazu ermächtigten Rehabilitationskliniken gegenüber dem Versicherten und der BfA nur angeregt werden könne, die definitive Entscheidung aber vom Leistungsträger (BfA) getroffen werden müsse. Die leitenden Ärzte der Kliniken seien eingehend über die Möglichkeiten und die Verfahrensweise bei der WHB aufgeklärt: Sie könne niemals pauschal, sondern nur einzelfallbezogen empfohlen werden, und zwar dann, wenn z.B. Gelerntes vertieft werden müsse, wenn erfahrungsgemäß die Gefahr sehr groß sei, daß sich falsche Kompensationsmechanismen einschliffen etc.. Kertzendorff ging bei der Gelegenheit auch auf die Flexibilisierung der medizinischen Rehabilitation ein und betonte,

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten daß eine derartige Maßnahme auch verkürzt, d.h. in einem Zeitraum von 3 Wochen ohne jede Qualitätseinbuße durchgeführt werden könne. Eine vorzeitige Maßnahme, auch im Rahmen der WHB, könne er, Kertzendorff, sich z.B. vorstellen bei gewährter Zeitrente: Dabei könne dem Aspekt "der wesentlichen Besserung in absehbarer Zeit" Nachdruck verliehen werden. Die individuellen sozialmedizinischen Voraussetzungen müßten aber in jedem Fall vor Einleitung einer solchen erneuten Maßnahme gegeben sein. Hierauf wies Kertzendorff nochmals nachdrücklich hin. Mit großer Dankbarkeit wurde aufgenommen, daß aufgrund des "Gesetzes zur Änderung der Förder-Voraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen" den Rentenversicherungsträgern eine erweiterte Zuständigkeit für berufsfördernde Maßnahmen eingeräumt worden sei (10. AFG Novelle). Es sei früher deprimierend gewesen, immer wieder darüber belehrt zu werden, daß der Rentenversicherungsträger erst nach 15 Kalenderjahren Beitragszeit für berufsfördernde Maßnahmen zuständig gewesen sei, wenn es jetzt u.a. genüge, daß - das 20. (früher das 28.) Lebensjahr vollendet und - mindestens 3 Jahre Pflichtbeiträge in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit entrichtet worden seien. Diese unter § 11 SGB VI als Abs. 2a gesetzlich verankerte Erweiterung der Zuständigkeit dürfte, so der allgemeine Tenor auch dem chronisch Nierenkranken eine wesentliche Hilfe sein. Breiten Raum nahm das Problem der Nachsorge ein: Was geschieht zur Sicherung des Rehabilitationserfolges (§ 31 SGB VI) seitens der RV bei einem chronisch Nierenkranken? Ein Diskutant wies auf die desolate Situation in Berlin hin: Wegfall der betreuenden Polikliniken im ehemaligen Ostteil der Stadt, unsichere Zukunft des aus privater Initiative erwachsenen Engagements im früheren Städt. Krankenhaus Moabit mit der Konsequenz, daß der Dialyse-Patient eben nicht in Trainingsgruppen etc. weiter betreut werde. Es wurde der Vergleich mit den Koronar- und Rheumagruppen ins Feld geführt und immer wieder argumentiert, daß die Rehabilitationsklinik mit all ihren Möglichkeiten nicht als elitärer Monolit dastehen könnte. In dem Zusammenhang wurde der bildhaft Vergleich mit der isolierten Pracht des Schlosses Neuschwanenstein und der steilen Abbruchkante vor diesem Schloß gewählt. Hier müsse vielmehr geschehen, es müßten z.B. kompetente Ansprechpartner bei den RV und unter der niedergelassenen Ärzteschaft gewonnen und den Betroffenen bekannt gegeben werden. Wiederum wurde darauf hingewiesen, daß im Gegensatz zu Bechterew-Kranken, bei Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung etc., die Eigeninitiative des Patienten - krankheitsbedingt! - eben nicht vorhanden sein. Dies sei geradezu ein Charakteristikum der chronischen Niereninsuffizienz und allen ihren tragischen Folgen, die letztlich alle an den bisherigen Rehabilitationskonzepten vorbei "in die Frührente abdrifteten".

Gesamteindruck Der Unterzeichner gewann wieder einmal mehr den Eindruck, daß die Sozialarbeiter dank ihres Engagements, ihrer Wachheit für die Probleme der Betroffenen und ihrer Kompetenz die wesent-

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Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation von Dialyse-Patienten und Nierentransplantierten lichsten Bindeglieder zwischen Akut-Kliniken und Rentenversicherern sind. Er war beeindruckt von der Konzentration auf die Aufgaben und dem Einsatz für die Betroffenen.

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten

Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten von Gisela Wieder

1. Begrüßung - Vorstellung des Themas 2. Ernennen eines/einer Protokollschreiber(in). 3. Vorstellung der Teilnehmer - Motivation und Interesse an der Arbeitsgruppe - Welche Erwartungen und Fragestellungen bestehen? - Welche Erfahrungen? 4. Einführung in das Thema.

Themengliederung Definition der Allgemeinmedizin übertragbar auf Dialyseeinrichtung. Belastungsfaktoren bei Dialysepatienten - Prädialytische Phase - Shuntanlage. Beginn der Dialysebehandlung - Einstellung auf einen neuen Lebensrythmus - Einhalten einer Diät - Gewichtsbeschränkungen - Trinkmenge - Kontrolluntersuchungen - Auseinandersetzung mit der Maschine - Umgang mit Dialysepersonal - Fehlende Sozialkontakte. Wovon hängt die Lebensqualität bei chronischer Dialysebehandlung ab? - Individuelle und soziale Faktoren - Sekundärerkrankungen - soziales Umfeld (Familie - andere betreuende Personen). Kompetenz als theoretischer Ansatz für Alterungsprozesse - Defizit- und Disusemodelle - Kompetenzmodell

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten - Was macht Kompetenz aus? - Biographische Erfahrungen, Sozialisation - Erhaltung von Restfunktionen bei chronischer Krankheit - Krankheit als Krise - Kompetenz im Alter - Auf ein autonomes Individuum vertrauen - die alternde Person anregen, nach ihren Kräften zum Gelingen ihres Alters beizutragen - Fähigkeit, ein unabhängiges selbstverantwortliches und zufriedenstellendes Leben. Chronische Erkrankung - Auseinandersetzung mit Grenzsituationen - Grenzsituationen annehmen und neue Perspektiven finden - Subjektives Wohlbefinden = Synonym für erfolgreiches Altern Handlungskompetenz - Strukturhilfen

Die Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit Die deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin geht von folgender Definition ihrer allgemeinmedizinischen Disziplin aus: "Allgemeinmedizin ist die Langzeitbetreuung und Behandlung von gesunden und kranken Menschen mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen, unabhängig von Alter und Geschlecht unter besonderer Berücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit, der Familie und der sozialen Umgebung." Ärztliches Handeln ist somit auf die verschiedenen Ebenen, die medizinische, die psychologische, die soziale und ethische- menschliche Existenz angelegt. Die Patienten kommen nicht nur mit körperlichen Symptomen, sondern auch mit der seelischen Not, existentiellen Fragen sowie starker materieller Not in die Sprechstunde des Arztes. So versteht sich Allgemeinmedizin als eine Art Familienmedizin, der Hausarzt kennt das familiäre System, in das der Patient eingebunden ist und erlebt ein Stück "Familiengeschichte". Die Form der hausärztlichen Betreuung übernimmt mit all ihren Funktionen in der Behandlung von chronisch kranken Dialysepatienten die behandelnde Dialyseeinrichtung. Die Auseinandersetzung mit der chronischen Krankheit, hier mit einer starken Funktionseinbuße durch ein ausgefallenes Organ trifft den ganzen Menschen und wird damit zum zentralen Daseinthema.Belastungsfaktoren des Dialysepatienten. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten Eine Reihe von psychischen Anforderungen und Belastungen sind an den Patienten mit dem Krankheitsbild der terminalen Niereninsuffizienz gestellt. In der prädialytischen Phase wird der Patient durch die Diagnose und weitere Prognosestellung des behandelnden Arztes aus dem Zustand subjektiven Wohlbefindens mit dem späteren Schicksal eines chronisch Kranken konfrontiert. Er sieht den "drohenden Verlust all dessen, was er mit seiner Haltung seinem Körper gegenüber, seinem körperbezogenen Selbstwertgefühl und dem Werkzeugcharakter seines Körpers verbunden ist, mit seinen Plänen, Hoffnungen, Sehnsüchten, mit der Bedrohung seiner privaten und beruflichen Beziehungen und Absichten" (Balck et al. 1985, S. 236 ff). Je nach psychischer Konstitution wird er versuchen, sich gegen dieses Schicksal aufzulehnen, die Gefahr zu leugnen, auf Besserung zu hoffen oder "durch wirksame Hilfe und durch die Mobilisation und Konzentration seiner Aktivität auf heilungsfördernde Maßnahmen"(ebenda, S. 235) den persönlichen Krankheitsverlauf zu beeinflussen. Mit dem Wissen um die Diagnose einer zum möglichen Tode führenden Erkrankung stellt sich für den einzelnen Patienten die schwere Belastung der manifesten Todesangst, "die im Hinblick auf eine das Überleben relativ aussichtsreiche Behandlung in der Regel einer mehr untergründigen Furcht" weicht (Balck et al. 1985, S. 237). Gute soziale Beziehungen können aus dieser zunächst tiefen Depression heraushelfen, denn ein Überlebenswunsch kann sich z.B. auch über die Beziehung zu einem Lebenspartner und die Sorge für noch nicht unabhängig lebende Kinder oder die zu niedrige Rente des zurückbleibenden Partners herausbilden. Zur prädialytischen Phase der terminalen Niereninsuffizienz gehört eine Abnahme der physischen, psychischen und intellektuellen Kräfte, die der Patient oftmals als schwere Belastung erlebt. Es tritt ein vorgezogener Alterungsprozeß ein, der manchmal zwar nur vorübergehender Natur sein kann, aber je nach Erlebnis- und Reaktionsweisen der Umwelt des Patienten angenommen werden kann oder auf Ablehnung stößt und damit zu weiteren Belastungen führen kann. Anders als "interne Prothesen" (z.B. ein Herzschrittmacher) "ist die Künstliche Niere als externe Prothese viel schwieriger zu integrieren" (Balck et al. 1985, S. 242). Dadurch, daß der Patient in regelmäßigen Abständen für längere Zeitdauer mit der Maschine verbunden ist, die mit lauten Alarmanzeigen be i Störungen auf sich aufmerksam macht und das körpereigene Blut sichtbar für den Einzelnen in Schläuchen fließt, werden dem Patienten auch die damit verbundenen Gefahren und Ängste immer wieder deutlich vor Augen geführt; er muß lernen, sie zu bewältigen. Um seine psychische Stabilität zu erhalten, muß er sich die Maschine "einverleiben", d.h. die Maschine wird nicht mehr als Fremdkörper angesehen, sondern als Bestandteil des eigenen Körpers. Diese "Einverleibung" setzt voraus, daß die dabei möglicherweise auftretenden Abwehrmechanismen durch "positive beziehungsartige Erlebnismodelle" wie "der Idealisierung von Maschine und Dialyseteam abgelöst werden können" (ebenda, S. 242). Führte ein Patient bis zum Anlegen einer Gefäßfistel (Gefäßzugang für spätere Dialysen, die meistens in einem fortgeschrittenen Stadium der Nierenerkrankung angelegt wird, ein Leben mit sehr ruhigem Krankheitsverlauf, so wird ihm jetzt deutlich, daß die Dialyse unmittelbar bevorsteht. "Es hängt von der jeweiligen Voraussetzung ab, ob er dies als Belastung oder Erlösung erlebt" (Balck et al. 1985, S. 240). Die Fistel/Shunt wird zum Lebenszentrum des Patienten, die wegen ihrer Doppelnatur "verstümmelte Körperlichkeit und zweiter Nabel - und wegen der damit verbundenen

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten Gefühlsäquivalenz allerhöchste Aufmerksamkeit" (ebenda, S. 240) erhält. So kann die Fürsorge um die Fistel/Shunt eine Reihe von Lebensproblemen und Konfliktfeldern widerspiegeln, die dem Patienten nicht deutlich bewußt sind und die er "unerkannt" mit sich herumträgt. Mit dem Beginn der Hämodialyse tritt eine Art von Belastung in das Leben des Patienten und seiner Angehörigen, die als paradigmatisch für die moderne Medizin gelten kann; nämlich die Abhängigkeitsprobleme im Zusammenhang mit lebenswichtigen Prothesen" (Balck et al. 1985, S. 241). Der Lebensrythmus wird zumeist dreimal wöchentlich für je fünf Stunden bestimmt von apparativen Maßnahmen, zu denen zusätzlich Fragen zur Diät, Einschränkung der Trinkmenge, Kontrolluntersuchungen und eventuell notwendig werdende Trainingsprogramme für Patient und Partner hinzukommen. Die bisherige Kompetenz des Patienten unterliegt nun der Maßnahmenkontrolle, die ambivalente Gefühle hervorbringen kann. Einerseits erkennt der Patient, daß die hilfreiche Behandlung durch die Maschine sein Leben garantiert "wie ein apersonaler Tyrann, der das Objekt feindseliger Regungen wird, und (der Patient) mit diesen Affekten" (Balck et al. 1985, S. 241) nur schwer umgehen kann. "Wie er damit zurechtkommt, hängt letztlich von dem Resultat der Interaktion zwischen seinen erwachsenen Ich-Anteilen und den bewußten inneren Modellen ab, die er für die Bewältigung der Dialysesituation aus seiner Biographie bereitstellt (Balck et al. 1985, S. 241). H. Speidel (in Balck et al. 1985, S. 240 ff) beschreibt bei manchen Patienten die Anpassung an ein Dialysegerät als "Verbundenheit mit der Mutter über die Nabelschnur" (ebenda, S. 241), damit erhält der Patient ein vertrauensvollen Gefühl, Sicherheit und Qualität, die er zum Leben braucht und kann alle Risiken, die mit der Behandlung verbunden sind, verleugnen. Die Autonomiewünsche eines Patienten sind unter der chronischen Dialysebhandlung nur schwer einzuhalten. Die Behandlung nimmt ihm die Möglichkeit, sich aktiv und unabhängig zu entscheiden; viele Patienten reagieren auf diesen Konflikt mit Protest; u. a. durch Nichteinhaltung der diätetischen Maßnahmen und der Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr. Weitere Belastungen sind für den Patienten der Umgang mit dem Dialysepersonal. Die Beziehung, die ein Patient mit dem Dialysepersonal eingeht, ist auf Lebenszeit angelegt, "und das ganze Kaleidoskop möglicher zwischenmenschlicher Konflikte kann zu störenden intervenierenden Variablen in der Zusammenarbeit zwischen dem Patienten und seien Betreuern werden, die ihre Färbung und Schärfe durch die auf Dauer angelegte Zwangsbeziehung erhalten" (ebenda, S. 244). Nicht allein die Dialysebehandlung bestimmt die Lebensqualität und Lebenserwartung des Patienten, ebenso wichtig und von großer Bedeutung ist, wie schon an anderer Stelle erwähnt, das strikte Einhalten von Ernährungsrichtlinien. Die diätetischen Einschränkungungen und die Beschränkung der Flüssigkeitsmenge sind von den meisten Patienten nur schwer zu ertragen; nicht nur die fortwährende Eigenkontrolle von Essen und Trinken wird als zusätzliche Behinderung und Strafe empfunden, auch das Erleben als Außenseiter z.B. bei Geselligkeiten. Die Sozialkontakte, die schon der Beschränkung durch die langen Dialysezeiten unterliegen, werden verstärkt durch diätetische Entbehrungen. "Die Diät schmälert gemeinsame orale Festgenüsse, die verringerte Vitalität der Intensität der Kontakte, das verringerte Selbstwertgefühl und die Unzufriedenheit von Patient und Partner; die gesellige Ausstrahlung, welche Sozialkontakte erfreulich und interessant macht" (ebenda, S. 244). Der chronisch Nierenkranke fürchtet so unter Umständen den sozialen Tod mehr als den physischen!

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten Kompetenz im Alter Geht man davon aus, daß in der Zukunft die chronischen Krankheiten durch den wachsenden Anteil älter werdender Menschen und ebenso durch den Anstieg des höheren Lebensalters an Bedeutung gewinnen, so ist es notwendig, sich mit der veränderten Situation auseinanderzusetzen, daß "Gesundheit eine andere Bedeutung erhält. Sie beschreibt die Fähigkeit der Person, trotz der eingetretenen Einschränkungen ein (einigermaßen) selbständiges Leben zu führen, zu einer neuen Lebensperspektive zu finden, bei der neben den eingetretenen Grenzen auch die Möglichkeiten wahrgenommen werden, und die Situation hin- und anzunehmen, so daß man offen ist für Ereignisse und Bereiche, die Zufriedenheit und Freude vermitteln können" (Kruse 1991, S. 165). Ergebnisse der Bonner Längsschnittstudie zur Auseinandersetzung mit gesundheitlichen Belastungen im Alter machen deutlich, daß viele Menschen fähig sind, mit gesundheitlichen Einschränkungen und Belastungen umzugehen; daß ihnen die Möglichkeit erhalten bleibt, ein sinnerfülltes und selbstverantwortliches Leben zu führen. "Dabei wurde auch deutlich, daß diese Fähigkeit mit den spezifischen Erfahrungen, die ältere Menschen im Laufe ihrer Biographie gemacht haben, sowie den biographisch gewachsenen Erlebens- und Auseinandersetzungs-formen, zusammenhängt" (Kruse 1988, S. 169 MMG).

Kompetenzmodelle Unter den verschiedenen Modellen bzw. theoretischen Ansätzen, die zum Alterungsprozeß in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, hat sich das Kompetenzmodell als hilfreichste Form erwiesen, "all die Möglichkeiten des alternden Menschen zu diskutieren, die es ihm ermöglichen, jene Transaktionen in seiner Umwelt auszuüben, die es ihm erlauben, sich zu erhalten, sich wohl zu fühlen und sich zu entwickeln" (Olbrich 1987, S. 319). Anders als das Defizitmodell, das den schicksalhaften, körperlichen, psychischen und sozialen Abbau im Alterungsprozeß eines Menschen im Vergleich zur jüngeren Generation aufzeigen will, und dem Disusemodell, welches auf eine durch Aktivität und Funktionserhalt ausgerichtete Interaktion versucht, den Alterungsprozeß aufzuhalten und entgegenzuwirken, geht es im Kompetenzmodell "dem Individuum darum, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, es selbst zu gestalten, eine Aufgabe zu haben, die als Herausforderung erlebt wird und Ziele und Werte zu verwirklichen" (Kruse 1987, S. 356). Dabei wird davon ausgegangen, "daß Verhalten im Alter - ebenso wie in jedem anderen Teil der Biographie - aus dem Verhältnis von Anforderungen an die Person und deren Ressourcen zu ihrer Bewältigung verstanden werden muß" (Olbrich 1987, S. 320). Jeder Mensch kann also im Laufe seines Lebens immer wieder neue Kompetenz erwerben. Es ist nicht so, daß mit der Entwicklung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter der Kompetenzerwerb abgeschlossen ist. Soziale Kompetenz im Alter bildet sich aus biographischen Erfahrungen und den Voraussetzungen, die ein Mensch in seiner Sozialisation erworben hat. In verschiedenen Programmen kann Kompetenz in kognitiven und sozialen Bereichen trainiert und gefördert werden, um somit eine Adaption an die Anforderungen der Umwelt zu erreichen.

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den verschiedenen theoretischen Ansätzen und Modellen von Kompetenzerwerb würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Kompetenz bei chronischer Krankheit Leidet der einzelne Mensch an einer chronischen Erkrankung, so hat er einen Teil seiner Kompetenz einbüßen müssen. Da sich der so Erkrankte nicht darauf stützen kann, durch mögliche medizinische Behandlung Heilung oder Linderung seiner zumeist körperlichen Beeinträchtigungen zu erhalten, geht es letztlich darum, Restfunktionen zu erhalten und zu stärken. Durch Einschränkung oder Verlust der eigenen Selbständigkeit und Unabhängigkeit sehen sich viele Menschen in einer ausweglosen Situation, die möglicherweise den einzelnen Patienten resignieren läßt und die Identifikation mit der Krankheit zum Lebensinhalt werden läßt. Verstärkt durch ein sich im Laufe des Lebens herausgebildetes negatives Altersbild, daß ohnehin von einer Leistungsminderung alter Menschen ausgeht, erlebt der Patient sich als inkompetent und hilfsbedürftig. In den vom R. White (1959) und K. Bühler (1963) formulierten anthropologischen Grundmotiven gehen beide davon aus, "daß menschlichem Handeln primär das Bestreben zugrunde liegt, sich als 'kompetent' zu erleben, d. h. 'etwas bewirken zu können', 'Aufgaben zu meistern' und 'effektiv zu sein'." (Kruse 1987, S.356). Hier hat das soziale Umfeld therapeutische Funktion zur Aufrechterhaltung und Wiedergewinnung von Kompetenz. Dabei ist es für den Patienten wichtig, der sich mit seiner Krankheit auch zusätzlich in einer Identitätskrise befinden kann, von seinem Umfeld positive Bewertungen zu erfahren. Er muß lernen, seine Krankheit mit den Einschränkungen und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, Strategien zu entwickeln, die ihm helfen, ein neues, positives Selbstbild aufzubauen und Hilfen zur Bewältigung von Krankheitserleben zu ermöglichen. Der einzelne Patient selbst bewertet seine Kompetenz eher subjektiv. Abhängig von kognitiven Kategorien wie: •

Grad der erlebten Veränderbarkeit der Situation,



Grad der erlebten Kompetenz in der Bewältigung der täglichen Lebensaufgaben,



Grad der erlebten sozialen Integration,



Ausmaß der Gefühle, gebraucht zu werden und Aufgaben zu besitzen,



Ausmaß, in dem die Zukunft als offen erlebt wird und Aufforderungscharakter besitzt,



Ausmaß, in dem die Bemühungen um gesundheitlichen Fortschritt als 'sinnvoll' erlebt werden

ist die bejahende Einstellung zum Leben für den Patienten (vgl. Kruse 1987, S. 358). „In dem Maße, in dem sich der Patient ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zutraut und die Überzeugung gewinnt, daß sein Leben einen Sinn hat, bemüht er sich auch bewußt um eine neue Lebensperspektive“ (ebenda, S. 358). Hingegen machen Belastungsfaktoren, wie z. B. •

Einbußen wie Verlust an Kompetenz, Verlust einer Lebens- und Zukunftsperspektive,

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das Gefühl, Angehörigen und/oder Freunden zur Last zu fallen,



Gefühl von Isolation,



Gefühl von Unveränderbarkeit der Situation,



körperliche Schmerzen und Mißempfindungen und



das Angewiesensein auf Hilfe

dem einzelnen Patienten deutlich, nicht mehr selbst das Leben bestimmen zu können; die eigene Unabhängigkeit ist gefährdet; das Leben gleitet ihm mehr und mehr "aus den eigenen Händen" (vgl. Kruse 1987, S. 359). Wichtig für den Erhalt von sozialer Kompetenz bei chronischer Krankheit ist ebenso das Vermögen, die notwendigen sozialen Kontakte zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Patienten mit langer Krankheitsdauer leben häufig sehr isoliert. Dabei ist es aber oft der einzelne Patient selbst, der die Kontakte zum Teil aus falsch eingeordneten Reaktionen seiner Umwelt, aber auch aus eigener Angst und Unsicherheit, abbricht und somit die Fähigkeit verliert, auf Menschen zuzugehen und die entsprechend notwendigen Kontakte zu sichern und zu pflegen.

Bewältigungsformen chronischer Krankheit Die Bewältigungsformen von chronisch kranken Patienten stellen sich individuell sehr unterschiedlich dar, zu Beginn der Erkrankung sind sie sehr veränderlich und somit nur unzureichend zu charakterisieren: Resignative Reaktionsformen können mit Reaktionsweisen, die aktive Auseinandersetzung und Verbesserung der Situation zum Ziel haben, abwechseln. Im Verlauf der Krankheit entwickelt der Patient eine immer einheitlichere, individuelle Reaktionsform als Ausdruck der abnehmenden Variabilität der Auseinandersetzung mit der Krankheit. A. Kruse unterscheidet vier "Bewältigungsstile", auf die sich in einer Untersuchung die Reaktionsweisen von langjährig Kranken zusammenfassen ließen (Kruse 1987, S. 360 f.). 1. Patienten, die sich schon früher durch aktive Bewältigung mit einer Belastungssituation auseinandersetzten, Verantwortung für ihre Angehörigen übernahmen und in ihrem Leben Aufgaben erkannten, sowie positive Rückkopplung durch ihre Umgebung erfuhren, entwickelten einen "leistungsbezogenen Bewältigungsstil", der die Veränderung des Äußeren zum Ziel hat. Das Wissen des Patienten, sich vor sinnvolle Aufgaben gestellt zu sehen, Verantwortung übernehmen zu können, eben nützlich zu sein, zeigt, daß Kompetenz eng an das soziale Umfeld gekoppelt ist, das positiv verstärkend wirkt. 2. Patienten mit einem "akzeptierenden Bewältigungsstil" waren schon vor ihrer Erkrankung bereit, Einschränkungen zu akzeptieren und ihr Leben neu zu gestalten. Dabei fühlten sie sich trotz dieser Einschränkungen von ihrem sozialen Umfeld getragen und erlebten Unterstützung vor allem durch ihre Angehörigen. In der Rückschau auf ihr bisheriges Leben zeigten sie sich zufrieden.

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Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten Kompetenz erweist sich hier als Fähigkeit, aus der Biographie heraus Grenzen zu erkennen und darüber zu einer neuen Lebensplanung zu finden, wobei das rückblickend Geleistete eine Sicherheit für das folgende weitere Leben ermöglicht. 3. Patienten, die einen "resignativen Bewältigungsstil" aufwiesen, zeigten auch schon früher Tendenzen mit depressiven Reaktionsweisen, Belastungen zu begegnen, sich zu isolieren. Sie erfuhren ihr Leben als sinnentleert und ohne Perspektive und sich selbst als überflüssig und inkompetent. Diese Inkompetenz ist Ausdruck der Passivität des Kranken und seiner Unfähigkeit, auf seine Umwelt Einfluß zu nehmen und sie seinen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Der subjektive Leidensdruck dieser Patienten war dem objektiven Gesundheitszustand gegenüber unangemessen hoch. 4. Einen "von Enttäuschung und Verbitterung bestimmten Bewältigungsstil" entwickelten Patienten, die sich durch ihr soziales Umfeld isoliert fühlten, welches sie als überlegen erleben, während sie sich selber in der Rolle des Unterlegenen sehen, der die Situation als unveränderlich gegeben hinnimmt. Sie reagieren auf Belastung eher mit "aggressiver" Reaktionsweise. Diese Patienten erlebten eine Entfremdung im Verhältnis zu ihrem Umfeld. Indem sie sich als minderwertig empfinden, gehen sie Gefahr, ihre Unabhängigkeit und Selbstverantwortung und damit ihre Kompetenz zu verlieren, und sich so ihren Weg zu einer aktiven Bewältigung ihrer Krankheit zu versperren. Sie entdecken keine Herausforderungen und sind darum nicht an einer Verbesserung ihrer Situation interessiert, sondern schädigen letztlich sich selbst und ihre Angehörigen. Damit der chronisch kranke Patient durch Akzeptieren seiner Funktionseinschränkung und Neugestaltung seiner Lebensplanung zu einer Bewältigung seiner Krankheit kommt, ist es notwendig, daß er Wertschätzung durch sein Umfeld erlebt und sich als nützlich empfindet. Dies zeigt, wie wichtig sein soziales Umfeld zur Aufrechterhaltung seiner Kompetenz ist, wenn es fördernd und unterstützend einwirkt.

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche

Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche von Uta Jurack

Ich versuche seit 6 Jahren in der Kinderdialyse Leipzig einen Beitrag zur psychosozialen Begleitung chronisch niereninsuffizienter Kinder und Jugendlicher zu leisten. Während dieser Tagung sollen die spezifischen sozialpädagogischen Aspekte der Arbeit mit chronisch Nierenkranken thematisiert werden. Wir haben in unserer Einrichtung leider keinen Sozialarbeiter an unserer Seite. Ich will dennoch versuchen, die umfangreichen psychosozialen Besonderheiten und Anforderungen in der Kinderdialyse darzustellen und konkrete Ansätze für Sozialarbeit aufzuzeigen. Lassen Sie mich zunächst mit Hilfe von Zahlen die Gruppe der Betroffenen vorstellen und Ihnen einige Dias zu Dialysesituationen usw. am Beispiel der Kinderdialyse zeigen. Die besondere psychische Situation unserer chronisch kranken Kinder und Jugendlichen ergibt sich aus den vielfältigen psychischen Belastungen durch die chronische Krankheit. Diese lassen sich unterscheiden in Belastungen, - die für chronische Krankheiten charakteristisch sind (hier: renale Anämie, renaler Minderwuchs usw.), - die für die chronisch Erkrankten zutreffen können (soziale Isolation, Ungewißheit, Zukunftsangst) und - Belastungen des chronischen Patienten (anhaltende Kontrolle und Therapiebedürftigkeit, Dauermedikation, Angst ...). Anders als bei der Behandlung akuter Erkrankungen bedarf es hier einer Akzentverlagerung. Chronisches Kranksein erfordert Unterstützung im Sinne von Betreuen und Beraten, fragt nach einer Begleitung im Prozeß der adäquaten Bewältigung der psychosozialen Krankheitsfolgen. Welche sind nun die besonderen Belastungen der Nierenersatztherapie, die in der Literatur auch mit dem Begriff "Dialysestreß" belegt sind? Diese umfassen insbesondere: - die Abhängigkeit vom Therapieprogramm und vom medizinischen Personal, - die Ungewißheit hinsichtlich der Lebenserwartung, - eine strenge Diät und Trinkrestriktion, - der Verlust an Freizeit und die Reduktion sozialer Beziehungen, - Störungen des Körperschemas und Minderung des Selbstwertgefühls, - Funktionsangst und

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche - die ständige Gefahr des Auftretens von Komplikationen auch nach erfolgreicher Transplantation. Daraus lassen sich zunächst allgemeine übergreifende Ziele einer psychosozialen Betreuung ableiten.

Übergreifende Ziele der psychosozialen Betreuung - Schaffung einer möglichst wenig angstauslösenden Atmosphäre - Erreichbarkeit als Ansprechpartner/Vertrauensperson - Hilfe Verarbeitung/Bewältigung der Erkrankung, der Behandlung und der Behandlungsfolgen - Förderung einer altersgerechten Entwicklung und Rehabilitation - Anleitung zur Selbsthilfe; soziale Integration - Prävention und Therapie von Verhaltensauffälligkeiten/Krisen Die Nierenersatztherapie beim Kind stellt durch einige bislang ungelöste medizinische Probleme zudem eine klinisch und wissenschaftlich multidisziplinäre Herausforderung dar (z.B. Kleinwuchs, allgemeine Entwicklungsverzögerungen, Transplantatabstoßung u.a.). Die angeführten Belastungen durch die chronische Nierenerkrankung müssen bei Patient und dem System Patienten Familie eine chronische Überforderung auslösen, wenn die Betreuung nur die medizinischen Belange beinhaltet. Es ist angesichts der zahlreichen Konsequenzen für Patient und Familie zwingend notwenig, daß die multidisziplinäre Herausforderung sich nicht nur auf den medizinischen Bereich beschränken darf. Die adäquate Begleitung des chronisch niereninsuffizienten Kindes und Jugendlichen bedarf gemeinsam abgestimmter Interventionen durch Psychologen, Sozialarbeiter, Diätassistentin, Lehrer und Erzieher untereinander sowie mit den Ärzten und den Schwestern.

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche Multidisziplinäre paramedizinische Therapie beim CNI-Kind

Diät-Assistentin

Psychologe

Kindernephrologe

Sozialarbeiter

Lehrer/Erzieher Die Qualität der psychosozialen Betreuung und Begleitung wirkt sich in vielfältiger Form direkt und indirekt auf eine adäquate Bewältigung und die gesamte Entwicklung des chronisch kranken Kindes aus. Psychosoziale Betreuung muß individuell ansetzen und spezifischen Anforderungen genügen. Es gibt inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen und Studien, die Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiche psychosozialer Dienste zu erfassen suchen. Mittels Experten- und Elternbefragungen wurde die psychosoziale Spezifik bei verschiedenen chronischen Krankheitsgruppen im Kindesalter erhoben. In einem Modellprojekt wurde von 1987 bis 1989 an 5 nephrologischen Kinderzentren Deutschlands das Programm "Psychosoziale Betreuung chronisch niereninsuffizienter Kinder und Jugendlicher" gefördert und in einer wissenschaftlichen Evaluation von KOCH et al (1990) zusammengefaßt. Aus konkreten Aussagen zu den Bedürfnissen von krebskranken, chronisch Niereninsuffizienten und an Mucoviscidose erkrankten Kindern und Jugendlichen wurde das Spektrum psychosozialer Betreuungsangebote abgeleitet. Mit Hilfe von Fragebögen sollte die Relevanz von Aufgaben der psychosozialen Dienste gewertet und Zuständigkeiten des medizinisch-pflegerischen und/oder psychosozialen Dienstes geklärt werden. Die psychosozialen Teams, die bereits in verschieden Kinderdialysezentren integriert und dort nicht mehr wegzudenken sind, bestehen aus Mitarbeitern sehr verschiedener Berufsgruppen. Sie haben neben den berufsspezifischen auch berufsübergreifende Aufgaben im pädiatrisch-nephrologischem Team. Für ein gemeinsames Vorgehen ist eine gute Abstimmung und Informationsvermittlung innerhalb des psychosozialen Teams und zwischen diesem und dem medizinisch-pflegerischem Team sehr wichtig. Die Interventionen und Angebote richten sich sowohl an die betroffenen Kinder und Jugendliche selbst, dürfen aber keinesfalls den Bedarf bei Eltern und Geschwistern sowie beim medizinischen Betreuungspersonal vernachlässigen. Für alle Mitarbeiter des psychosozialen Teams ist es charak1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche teristisch, daß sie auf Patient und Familie zugehen. Eine hohe Wertung durch die Patienten erfährt ihre ständige Verfügbarkeit und Ansprechbarkeit. Welche Schwerpunkte und Anforderungen stellt die beschriebene Situation an den Sozialarbeiter im pädiatrisch-nephrologischem Zentrum? Hier steht die Beratung der Patienten und deren Familie zu sozialrechtlichen Fragen im Vordergrund. IN der Praxis geht es konkret um: - die Klärung von finanziellen Ansprüchen (z.B. Pflegegeld), - Fragen zum Behindertenausweis, - Hilfen bei der Verbesserung ungünstiger familiärer Verhältnisse (Wohnsituation, Telefonanschluß) - konkrete Unterstützung bei der Realisierung von z.B. Kurzmaßnahmen, - Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation, Kontakte zu Arbeitsamt, Lehrstellen, Arbeitgeber sowie - die Zusammenarbeit mit Behörden. Wichtige Instrumente für die konkrete Beratungstätigkeit sind in den meisten Fällen:

Folgende Gesetze sind in den meisten Fällen wichtig: SOZIALGESETZBUCH V (SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung) Hier sind hauptsächlich die Leistungen der Krankenkassen für den versicherten Personenkreis, die Beiträge der Versicherten sowie die Beziehungen der Kassen zu den Leistungserbringern (z.B. Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte) geregelt. SCHWERBEHINDERTENGESETZ (SchwbG) Hier sind hauptsächlich die Rechte Behinderter und chronisch Kranker in Gesellschaft und Arbeitsleben geregelt. BUNDESSOZIALHILFEGESETZ (BSHG) Hier wird die staatliche Verpflichtung verankert, in Not geratenen Menschen Hilfen anzubieten, wenn andere Hilfsmöglichkeiten (z.B. Angehörige oder andere Leistungserbringer) nicht in Frage kommen. Eine Auswahl von Anfragen aus der Tätigkeit des Sozialarbeiters in der Nephrologie habe ich einer sozialrechtlichen Informationsschrift des psychosozialen Teams der Universitäts-Kinderklinik Heidelberg entnommen. Konkrete Fragen an den Sozialarbeiter im nephrologischen Zentrum

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche - Wer zahlt die Fahrt ins Krankenhaus? - Werden Besuchsfahrten der Eltern von der Krankenkasse bezahlt? - Wird die Mitaufnahme der Eltern in die Klinik bezahlt? - Wer versorgt die Geschwisterkinder? - Stehen berufstätigen Eltern nierenkranker Kinder zusätzliche Urlaubstage zu? - Gibt es finanzielle Hilfen bei Heimdialysebehandlung (z.B. bei CAPD/CCPD)? - Müssen die Eltern bei der Vielzahl der Medikamente zuzahlen? - Bezahlt die Krankenkasse ein Blutdruckmeßgerät? - Zahlt die Krankenkasse die notwendigen Fahrten in die Ambulanz? - Gibt es bei hoher finanzieller Eigenbeteiligung Möglichkeiten der Entlastung? - Gibt es Möglichkeiten von Kuren für Patient und Familie? - Soll ein Behindertenausweis beantragt werden? - Welche Vergünstigungen/Nachteilsausgleiche gewährt der Behindertenausweis? - In welcher Form hilft das Sozialamt? - Ab welchem Einkommen lohnt ein Antrag auf Pflegegeld? Die Betreuungsangebote der psychosozialen Dienste an den nephrologischen Kinderzentren erlangten seitens der Eltern, aber auch des medizinisch-pflegerischen Personals eine unbestrittene Akzeptanz und Zustimmung. Leider resultierte daraus nicht die Installierung solcher Teams mit der Schaffung der erforderlichen Stellen an den Zentren. Die finanzielle Absicherung der psychosozialen Betreuung ist trotz einer Empfehlung des Arbeitsministeriums an die Spitzenverbände der Krankenkassen zur Kostenübernahme nicht erreicht. Lediglich in den 5 geförderten Kliniken werden die psychosozialen Mitarbeiter inzwischen von den örtlichen Krankenkassen finanziert. Ziel muß aber die Übernahme psychosozialer Mitarbeiter auch der anderen Kliniken in die Regelversorgung der Krankenkassen sein. Die Verwaltung der jeweiligen Klinik sollte über ausreichende Informationen über das psychosoziale Betreuungskonzept verfügen, um diese in die Pflegesatzverhandlungen mit den örtlichen Krankenkassen einzubringen. Dabei wird von KOCH eine Relation von 1 : 18 für angemessen gehalten.

Literatur Müller-Wiefel, D.E.: Der jugendliche Dialysepatient, Melsungen: Bibliomed. Verlagsgesellsch., 1985 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Materielle, sozialrechtliche und psychosoziale Hilfen für dialysepflichtige und transplantierte Kinder und Jugendliche Härter, M. u. Koch, U.: Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche psychosozialer Dienste bei chronischen Erkrankungen in der Pädriatrie - IN: Zeitschrift für Med. Psychol. 4/92; S.172 ff Orths, J.: Sozialrechtliche Informationen für chronisch nierenkranke Kinder und Jugendliche und deren Familien - Ein Leitfaden. Universitätsklinik Heidelberg, Sektion Pädiatr. Nephrologie, 1993 Rosenkranz, J. : Leitfaden zur Einrichtung eines psychosozialen Dienstes an Kindernephrologischen Zentren, Universitätsklinik Heidelberg, Sektion Pädiatr. Nephrologie, 1992

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG

Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG von Manfred Möckelmann - vorgetragen von Monika Janoske

Sozialgesetzbuch (SGB) Hier sollen auszugsweise die besonderen Bedingungen unter Dialyse und Nierentransplantation besprochen werden. Es soll nur auf einzelne leistungsrechtliche Bedingungen eingegangen werden.

SGB Abschnitt V

§ 44 Krankengeld Nach dem Lohnfortzahlungsgesetz erhalten die Patienten nach 6-wöchiger Krankschreibung ein Krankengeld in Höhe von 80 % des erzielten regelmäßigen Arbeitseinkommens. Versicherte erhalten Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung wegen der derselben Krankheit, jedoch für längstens 78 Wochen innerhalb je 3 Jahre, gerechnet von dem Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an.(4) Hier besteht die sogenannte 3-jahresfrist, die nach Ablauf einer neuen Krankengeldzahlung einsetzt. Die Krankengeldzahlung für Dialysepatienten und Nierentransplantierte haben Nachteile, weil der Patientenkreis öfter krankgeschrieben ist und eine Anrechnung auf die 78 Wochen erfolgt, wenn immer das Grundleiden betroffen ist. Hier ist auf folgendes zu achten: 1) Häufige Krankschreibung bei der vorsorgende Behandlung wird immer angerechnet. Mit der Diagnose "chronischer Niereninsuffienz" ist die Krankenkasse leider bestrebt, den Patienten loszuwerden, d. h. die Krankenkasse stellt meist vor Ablauf der 78 Wochen einen Rehabilitationsantrag. Dieser Antrag, bei der LVA oder der BfA eingereicht, wird häufig abgelehnt. Begründung: Der Anspruch einer Reha-Maßnahme wird nicht gerecht, weil eine Kurmaßnahme nicht den erwünschten Erfolg bringt, d. h. durch die Kurmaßnahme wird der Patient nicht von der Dialyse befreit und somit wieder Arbeitsfähig. Der abgelehnte Rehabilitationsantrag ist dann aber gleichzeitig ein Rentenantrag, der dann meist positiv beschieden wird. Hier ist immer der Wille des Patienten zu berücksichtigen. Wichtig sind immer die beruflichen Umstände. Es besteht eine Einspruchsmöglichkeit und Verzögerung des Verfahrens. Sollte die Rente vom Patienten abgelehnt werden, und der Patient noch keine Anwartschaften auf eine EU- oder Bu-Rente erworben haben, ist nur noch ein Sozialhilfeantrag möglich. 2) Krankschreibungsmodelle mit stundenweiser Beschäftigung 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG Das Modell der Stufenweisen Wiedereingliederung oder das sogenannte Hamburger Modell lt. § 74 SGB V wird auch häufig bei Dialysepatienten angewandt. Der Patient arbeitet nur ca.32 Stunden in der Woche, um dann beispielsweise dreimal in der Woche jeweils 2 Stunden/wöchentlich eher zur Dialyse zu fahren. Die 2 Stunden können ihm von der Krankenkasse als Krankengeld ersetzt werden. Die Krankenkasse muß ihn dann auch die 2 Stunden Krankschreiben. Achtung: Manche Krankenkassen schreiben den Patienten den ganzen Tag krank! Diese 6 Stunden in der Woche oder 24 Stunden Krankschreibung im Monat werden ihm von der Krankenkasse ersetzt. Nachteil dieser Regelung ist, daß grundsätzlich das sogenannte Hamburger Modell für den Dialysepatienten eine Aufrechnung der Krankschreibung und Krankengeld auf die Gesamtdauer des Krankengeldbezuges erfolgt. Die eigentliche Nutzung des Hamburger Modelles ist beispielsweise für Herzpatienten gedacht, die nach einer bestimmten Einarbeitungszeit wieder vollarbeiten und nicht mehr krankgeschrieben sind. Bei der Anwendung der Methode bei einem Dialysepatienten kann es sinnvoll sein, den Restkrankengeldanspruch und die Fehlzeit mit Krankengeld zu errechnen. Sobald die Dreijahresfrist erreicht sein sollte, und das Krankengeldbuget noch nicht ausgeschöpft wurde, kann die Rechnung sinnvoll sein. Vergessen darf aber nicht, daß auch eine weitere nephrologische Krankheit und stationäre Aufnahme noch möglich sein sollte. Die Berechnung ist also ein reines Rechenexempel. Hier muß eine Änderung eintreten, d. h. die Anrechnung auf das Gesamtkrankengeld ist ein Nachteil für den Versicherten. Es gibt ansatzweise neue Modelle, die aber nur in Einzelfällen zur Zeit bekannt sind. So zahlt die Fürsorgestelle den Verdienstverlust des Patientens, so daß eine Anrechnung auf das Gesamt-Krankengeld nicht erfolgt. Die Fürsorgestellen haben erkannt, daß die Dialysepatienten kein Hilfsmittel oder einen besonders behindertgerechten Arbeitsplatz benötigen, sondern vielmehr ein Zeitproblem besteht. Dieser Nachteilsausgleich könnte damit ausgeglichen werden. Grundsätzlich sollte in diesen Fragen die Fürsorgestellen mehr eingeschaltet werden. 3) Anrechnung der Fehlzeiten bei anderen Krankheiten beim Krankengeldbezug Ein weiterer wichtiger Hinweis sollte hier noch erfolgen, daß bei den laufenden Krankschreibungen grundsätzlich die Diagnose differenziert angegeben werden sollte. Wenn bei Krankheit immer chronische Niereninsuffienz steht, obwohl der Patient nur einen Schnupfen hat, dann wird der Schnupfen auf die Gesamt-Krankengeldzeit angerechnet. Hier ist im Sinne für den Patienten auf konkrete Angabe des Krankschreibunggrundes zu achten, weil dann auf einmal die Aussteuerung ins Hause steht.

§ 18 Krankenversicherung im Ausland Aufgrund der vielen Änderung der Bedingen der Auslandsversicherung gibt auch bei Dialysepatient und Nierentransplantierten genaue Bedingungen. Das Gesundheitsstrukturgesetz hat zum Nachteil der Betroffenen die Regelung erlassen, daß Dialysekosten nur 6 Wochen im Kalenderjahr bezahlt werden. Auch bestätigen hier Ausnahme die Re-

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG gel, so daß immer mit der zuständigen Krankenkasse Rücksprache gehalten werden sollte, weil Ausnahmeregelungen möglich sind. Grundsätzlich: Als gesetzlich Krankenversicherter sind sie bei einem Auslandsaufenthalt über die Krankenkasse nur dann geschützt, wenn sie mit dem Auslandsberechtigungsschein in einem Land behandeln lassen, das der Europäischen Union(EU) angehört. Also: Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien(E111). Durch das Inkraftreten des Abkommens über die Europäischen Wirtschaftsraum(EWR) zum 1.1.1994 gelten die EU-Verordnungen auch für Finnland, Island, Norwegen, Österreich und Schweden. Darüber hinaus gibt es entsprechende Sozialversicherungsabkommen mit Rumänien, der Schweiz, der Türkei und Tunesien. Dialysekosten werden normalerweise immer in der Höhe erstattet wie sie auch im Inland gekostet hätte, also ca. DM 400,- . Ein Abschluß einer privaten Auslands-Krankenversicherung ist unbedingt notwendig, insbesondere, wenn der Patient in Länder reist, in denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht, also Kanada, aber auch für Afrika, Australien, Japan und die anderen Staaten Asien. Grundsätzlich sollte ist dran zu denken, daß die Ärzte meist bar honoriert werden wollen. Das bedeutet in EU -Ländern, daß der verauslagte Satz meist nicht voll von der Krankenkasse nach Rückreise erstattet wird, so daß sich der Abschluß einer Auslands-Krankenversicherung grundsätzlich lohnt. Weiterhin wichtig ist das Wissen, daß die privaten Krankenversicherer keine Vorerkrankungen versichern. Das Risiko besteht für alle. Sollten Vorerkrankungen bekannt sein, übernimmt die Auslandskrankenversicherung keinen Kostenersatz. Privatpatienten sind da etwas bessergestellt. Rücktransporte aus dem Ausland werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr übernommen. Allerdings hat das am 1.1.1993 in Kraft getretene Gesundheitsstrukturgesetz(GSG) siehe (SGB V § 18 Abs. 3) für chronisch Kranke und ältere Mitglieder(ab 60 Jahre) der gesetzlichen Kassen eine Verbesserung gebracht: Gelingt es ihnen nämlich nicht, ihr Kostenrisiko über eine private Auslandsreise-Versicherung abzufedern, so zahlen Ersatz-, Orts- und Betriebskrankenkassen den Rechnungsbetrag, der auch in Deutschland fällig geworden wäre(Vorerkrankungen).

§ 60 Fahrtkosten Nach § 60 SGB V übernehmen die Krankenkassen die Fahrtkosten, wenn die Fahrkosten DM 20,- je Fahr überschreiten; bei Leistungen, die stationär erbracht werden oder bei Rettungsfahrten in das Krankenhaus. Die Frage des Fahrkostenerstattungen bewegen die Gemüter immer noch. Insbesondere, da der Gesetzgeber keine klaren Richtlinien erlassen hat.

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG Der Streit der Fahrkostenerstattung richtet sich um die Frage: Ist die Dialysebehandlung eine teilstationäre Behandlung? Bei ambulanten Fahrten zu den Ärzten werden die Fahrtkosten nicht erstattet. Die Handhabung der gesetzlichen Krankenkassen sind jedoch unterschiedlich. So haben die Betriebskrankenkassen(BKK) bundesweit das System der Ersten und letzten Fahrt eingeführt. Der Patient zahlt grundsätzlich DM 40,-(je DM 20,- für die Hin- und Rückfahrt, z. B. nach der erfolgreichen Nierentransplantation) und ist von allen Fahrtkosten befreit. Der Verband der Angestelltenkrankenkassen hat sich zwar dem System angeschlossen, plant jedoch eine Änderung ihrer Entscheidung (Anmerkung: Per 1.7.1995 mußte die BKK auf Anordnung des Gesundheitsministeriums für Gesundheit die patientenfreundliche Fahrtkostenregelung einstellen). Es haben sich zu unterschiedliche Entwicklung in dieser Frage ergeben. Die Fahrten mit dem Krankenwagen werden z. B. bevorzugt, weil die Verrechnung mit der Krankenkasse erfolgt. In Berlin gibt es nur bei der AOK die Möglichkeit der Couponfahrten. Es werden Bezugsscheine ausgestellt, die dem Taxifahrer übergeben werden. Der rechnet wiederum mit der AOK ab.

§ 61 Vollständige Befreiung Die Gesundheitsstrurkturreform hat erlassen, daß sich die Patienten an den Gesundheitskosten beteiligen müsse. So gibt es die vollständige Befreiung. Kommen die in einem Haushalt lebenden Angehörigen für 1994 nicht höher als ein bestimmter Betrag (jährlich angepaßt), dann sind sie von allen Zuzahlungen zu Arznei-, Verband- und Heilmittel und Fahrkosten sowie stationäre Vorsorgeund Rehabilitationsleistung befreit. Die Krankenkassen vergeben dann einen Ausweis, der dann bei jedem Medikamentenkauf vorzuzeigen ist.

§ 62 Teilweise Befreiung Bei der teilweisen Befreiung geht der Gesetzgeber von einer Zuzahlung in Höhe von 2 oder 4 Prozent des Gesamtjahresbruttoeinkommens der im Haushalt lebenden Personen aus. Grundregel: Der Versicherte soll sich höchsten mit 2 oder 4 Prozent an den Kosten beteiligen. Problem bei dieser Regelung ist, daß der Dialysepatient durch seine Fahrtkosten in Höhe von ca. DM 600,- im Monat leicht die Zuzahlungsumme in ersten Monat erreicht, so daß er dann ab dem zweiten Monat von allen Zuzahlungen befreit werden müßte. Die Krankenkassen haben manchmal die Idee, die Abrechnung zum Jahresende durchzuführen, was aber absolut unakzeptabel ist. Auch hier sei noch auf ein spezielles Problem hingewiesen: Der Dialysepatient kommt in der Jahresmitte oder am Jahresende an die Dialyse. Die anfallenden Fahrtkosten zu und von der Dialyse(Taxi) werden nach der teilweisen Befreiung erstattet. Ungerecht ist es aber, daß bei den Krankenkassen von dem Gesamtjahresbrutto ausgegangen wird. Eine Zwölftelung erfolgt nicht. Das hat zur Folge, daß eine Person mit einem Einkommen von ca. DM 1.500,. im Jahr beider 2 prozentigen Zuzahlungsregel auf das Jahr gerechnet DM 30,- x 12 = 360,- DM zahlen muß. Die anfallenden Fahrtkosten betragen vielleicht 13 Fahrten x 40,- DM = 580,- .

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG Bei einer Zwölftelung, also beispielsweise Oktober bis Ende des Jahres = Fahrtkosten Oktober = 580,- ./. Eigenbeteiligung von DM 30,- = DM 550,- Rückzahlung. Bei der anderen Rechnung im Monat Oktober: 580,- ./. 360,- = 220,- Rückzahlung. Bei wesentlichen höheren Fahrtkosten und /oder Gesamteinkommen gibt es erhebliche Zahlungen an die Krankenkassen. Hier sollte auf jeden Fall ein Kulanzantrag bei der zuständigen Krankenkasse gestellt werden.

Bundessozialhilfegesetz(BSHG) Die Sozialhilfe besteht aus zwei Leistungssäulen. einmal die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Hilfe in besonderen Lebenslagen. Es gelten bei der Sozialhilfe folgende Grundsätze: - Es gilt das Prinzip der Nachrangigkeit, d. h. die Sozialhilfe springt er dann ein, wenn keine andere Stelle zuständig ist. - Verwandte ersten Grades sind untereinander unterhaltspflichtig - Beratungspflicht des Sozialamtes - Sozialhilfe wird immer für die Gegenwart gewährt - Es gibt eine Mitwirkungspflicht des Antragsstellers. Die Sozialhilfe bleibt für Patienten meist der letzte Ausweg, wenn beispielsweise die Anwartschaften (5 Jahre Beitragszahlungen oder 60 Beitragsmonate) bei der BfA oder LVA so gering sind, daß hier keine Leistungen, beispielsweise BU- oder EU-Rente, beantragt werden können. Die normale Berechnung der Sozialhilfe setzt sich aus dem Regelsatz (ca DM 500,-) und der Miete zusammen. Es gibt aber noch Zuschläge lt. den gesetzlichen Bestimmungen. Auch bei der Sozialhilfe kann gegen den Bescheid Widerspruch oder dann Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden. Klagen vor dem Verwaltungsgericht sind kostenlos. Formen der Hilfe sind: - Persönliche Hilfen; Beratungen - Geldleistungen als Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe in besonderen Lebenslagen oder einmalige Hilfen - Sachleistungen in Heimen oder Anstalten (Mahlzeiten oder Kleidung).

§§ 68,69 Hilfe zur Pflege bei Pflegebedürftigkeit Hier handelt es sich um einen Folgezustand von Krankheit oder Behinderung, der den Betroffenen so hilflos macht, daß er nicht ohne Wartung und Pflege bleiben kann (§ 68 BSHG).

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG Definition nach BSHG: Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn eine Behandlung keine hinreichende Erfolgsaussicht mehr bietet, der Zustand als gegeben hingenommen werden muß und die Pflege deshalb nur noch um ihrer selbst willen und nicht im Rahmen eine zielstrebigen Heilungsplanes durchgeführt wird. Hier gibt es einen Dauerkonflikt mit der Krankenkasse, ob ein Behandlungsfall oder ein Pflegefall vorliegt. Im Pflegefall müssen vorrangig eigenes Einkommen und Vermögen eingesetzt werden und erst dann springt die Sozialhilfe ein. - Bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen kommt §11 Abs. 3,22 Abs.1 BSHG in betracht-. - Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes § 70 BSHG. Das BSHG unterscheidet bei häuslicher Pflege zwischen erheblicher und außergewöhnlicher Pflegebedürftigkeit sowie Schwerstpflegebedürftigkeit und sieht dafür Pflegegeld in entsprechenden Abstufungen vor (§ 69 BSHG). Der Betroffene erhält das Geld, um sich die Hilfe selber zu organisieren.

Anrechnung des Pflegegeldes Leistungen der Krankenkassen nach §§ 55, 56 SGB V kann auf das Pflegegeld nach § 69 BSHG verrechnet werden. -Bei der Gewährung der häuslichen Pflegehilfe nach § 55 SGB V mit 25 Pflegeinsätze wird die Kürzung des Pflegegeldes nach § 69 BSHG nicht mehr als die Hälfte des Grundpflegegeldes von dem deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge empfohlen. Bei der Gewährung der häuslichen Pflegehilfe als Geldleistung nach § 57 SGB V (DM 400 je Kalendermonat) wird das Pflegegeld nach § 69 BSHG in Höhe dieser Geldleistung der Krankenkasse von DM 200,- gekürzt.

§ 23 Mehrbedarf Für Dialysepatienten und Nierentransplantierte, die Sozialhilfe erhalten, kann ein ernährungsbedingter Mehrbedarf (§ 23.4.2) beantragt werden. Der Patientenkreis leidet unter Kälteempfindungen, so daß auch ein Mehrbedarf an Heizung (Strom, Gas, Kohle) beantragt werden kann. Personen unter 60 Jahren, die erwerbsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sind, erhalten ebenfalls einen Mehrbedarf anerkannt (§ 23.2).

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG § 40.1. Abs.8 Hilfe zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft Zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft können die Mitgliedsbeiträge für Selbsthilfegruppen beantragt werden.

Schwerbehindertengesetz(SchwG) Schwerbehinderte im Sinne des Schwerbehindertengesetzes sind Personen, - mit einem Grad der Behinderung(GdB) von wenigstens 50, - sofern sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertengesetzes rechtmäßig im Geltungsbereich des Gesetzes haben. - Behinderung in diesem Sinne ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Als Nachweis gilt ein vom Versorgungsamt ausgestellter Ausweis. Im Ausweis vermerkt das Versorgungsamt auf Antrag Nachteilsausgleich mit verschieden Merkzeichen. Auf die Merkzeichen des Bundesversorgungsgesetzes/Bundesentschädigungs-gesetzes wird hier nicht eingegangen.

Merkzeichen Merkzeichen RF Radio und Rundfunkgebührenbefreiung - GdB von 80% und ständig behindert an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen Merkzeichen B Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen. - kostenlose Mitnahme einer Begleitperson Merkzeichen G Der Ausweisinhaber ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtig . - Lohn- und Einkommensteuer - Freifahrt mit Wertmarke oder Kraftfahrsteuerermäßigung

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG - Wertmarke für DM 120,.(jährlich) oder DM 60,-(halbjährlich) Merkzeichen aG Der Ausweisinhaber ist außergewöhnlich gehbehindert. - Freifahrt - Kraftfahrsteuerbefreiung - Parkerleichterung Merkzeichen H Der Ausweisinhaber ist hilflos. - Einkommensteuerfreibetrag von DM 7200,- Hundesteuerbefreiung - Kraftfahrsteuerbefreiung Merkzeichen BI Der Ausweisinhaber ist blind. - Einkommen- und Lohnsteuerermäßigung. - Hundesteuerbefreiung - Freifahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln - Postversandvergünstigung - Funk- und Fernsprechwesen - Parken von Kraftfahrzeugen - Umsatzsteuerermäßigung - Kraftfahrzeugsteuerbefreiung Erst mit der Vergabe des Merkzeichen G kann beim Versorgungamt eine Wertmarke im Wert von dem 120 - DM beantragt werden. Auch kann der Inhaber entscheiden, ob er lieber die 50% tige KFZ-Steuerbefreiung erhalten will. Einkommen und Lohnsteuer Die mit einer Behinderung verbundenen außergewöhnlichen Belastungen werden entweder durch steuermindernde Pauschalbeträge (33 b EStG) oder durch den konkreten Nachweis der tatsächlich höheren Aufwendungen abgegolten. Als Pauschalbeträge werden gewährt bei einem Grad der Behinderung: 25 -30%

DM 600

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG 23 -40%

DM 840

45 -50%

DM 1110

55 -60%

DM 1410

65 -70%

DM 1740

75 -80%

DM 2070

85 -90%

DM 2400

95 -100%

DM 2760

Anträge an das Vesorgungsamt mit zwei Unterschrift des Antragsstellers. Einmal als Antragsteller und zweitens zur Aufhebung des Datenschutzes. Jedes Merkzeichen sollte medizinisch begründet werden. Bei Ablehnung kann begründeter Widerspruch einlegt werden. Nach erneuter Ablehnung Möglichkeit der Klage vor dem Sozialgericht. Weitere Nachteilsausgleiche Wohnen Bei der Mittelvergabe im sozialen Wohnungsbau stehen Schwerbehinderten erhöhte Einkommensgrenzen zu. Werden Umbauten wegen der Behinderung notwendig, können günstige Darlehen gewährt werden (ab 80 GdB). Für Behinderte mit besonderem Wohnraumbedarf gib es evt. eine Ermäßigung der Grundsteuer. Wohngeld Bei der Beantragung von Wohngeld gelten für Behinderte mit einem GdB ab 80% und für pflegebedürftige Behinderte Freibeträge von jährlich DM 2.400,- vom Familieneinkommen. Medien Vermerk: Das Merkzeichen RF wird Dialysepatienten normalerweise verweigert. Wer ständig nicht an Veranstaltungen teilnehmen kann, trifft nicht für Dialysepatienten zu. Hinweis: Nierentransplantierte sollten hier besonders berücksichtigt werden, weil aufgrund der Infektionsgefahr eine ständige Teilnahme nicht möglich ist. Beruf Schwerbehinderte erhalten einen Kündigungsschutz und einen Zusatzurlaub von 5 Tagen. Weitere Unterstützung durch die Hauptführsorgestelle.

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwergehindertenrecht Vergabe von GdB-Prozenten Notwendigkeit der Dauerbehandlung mit der Künstlichen Nieren (Dialyse) 100% Nach Nierentransplantation ist eine Heilbewährung abzuwarten (im allgemeinen 2 Jahre); während dieser Zeit ist ein GdB von 100% anzusetzen. Danach ist der GdB entscheidend abhängig von der verbliebenen Funktionsstörung; unter Berücksichtigung der erforderlichen Immunsuppression ist jedoch der GdB nicht niedriger als 50 v.H. zu bewerten. Pflegebedürftigkeit Die Frage der Pflegebedürftigkeit kommt in der nächsten Zeit eine immer wichtigere Bedeutung zu. Die Pflegebedürftigkeit wird u. a. durch den Begriff der Hilflosigkeit angegeben. Hier ist jedoch immer zu unterscheiden: Es gibt das soziale Entschädigungsrecht, also die Kriegsopfer, und so wie ich immer sage, die anderen Behinderten. Die Kriegsopfer haben auf Jahre gesehen durch Rechtsmittel viele Begriffe geschaffen. So auch der Bereich der Hilflosigkeit und der Pflegezulage. In den gutachterlichen Anhaltspunkten wird von Hilflosigkeit gesprochen. Der Begriff der Hilflosigkeit ist mehr oder weniger identisch mit dem des Bundesversorgungsgesetzes(BVG § 35 Abs. 1), dem Einkommensteuergesetz(§ 33), weitgehendst mit dem Bundessozialhilfegesetz(BSHG §§ 68/69) sowie dem Pflegeversicherungsgesetz(PflegeVG). Die Definition: Als hilflos ist derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen - nach dem Einkommensgesetz "nicht nur vorübergehend" für die gewöhnlichen und regelmäßigen wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauern bedarf. Es sind im Grunde die drei Grundfragen: Kann der Patient sich noch alleine An - und Ausziehen, alleine sein Essen zu sich nehmen und alleine zur Toilette gehen? In diesem Zusammenhang muß auch auf muß ein Urteil des Bundessozialgerichtes(BSG) in Kassel hingewiesen werden, das in einem Musterprozeß festgelegt hat, ab wann Alte, Kranke und Behinderte als schwerpflegebedürftig bei den Krankenkassen gelten. Das Gesundheitsreformgesetz(GRG) schreibt nur die Gewährung von Pflegegeld bei Schwerpflegebedürftigkeit durch die Krankenkassen vor. Wann im Einzelfall Schwerpflegebedürftigkeit vorliegt, ergibt sich jedoch nicht eindeutig aus dem Gesetz. Nach der richterlichen Festellung gilt als Grundpflegebedarf fremde Hilfe beim: - Aufstehen und Zubettgehen - Gehen

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG - Stehen - Treppensteigen - Waschen, Duschen und Baden - Mundpflege - Haarpflege - An- und Auskleiden - Nahrungaufnahme(Essen und Trinken) - Nahrungszubereiten - Benutzen der Toilette - Sprechen Sehen sowie - Hören Als zusätzlicher hauswirtschaftlicher Versorgungsbedarf sind nach Auffassung des BSG anzusehen: - Einkaufen von Nahrung und Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens - Reinigen der Wohnung - Reinigen und Pflege der Wäsche sowie - sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten wie Reinigung von Haushaltsgegenständen, Einräumen von Wäsche, Geschirr und so weiter sowie die Versorgung der Heizung. Aufgrund dieser Aufstellung kann die Pflegebedürftigkeit bewertet werden. Bei 14 bis 18 Verrichtungen, die dauernd notwendig sind, kann von Schwerpflegebedürftigkeit ausgegangen werden. Im übrigen Fällen kommt es - bei neun bis 13 der Verrichtungen des tägliches Lebens - für den Anspruch auf das Pflegegeld der Krankenkassen maßgeblich darauf an, ob der Fremde-Hilfe-Bedarf so erheblich ist, daß er im Ergebnis der Hilfe bei 14 - 18 der Verrichtungen gleichkommt. Das Gesundheitsreformgesetz hat vorher eine Lücke in der Definition gelassen, so daß das Urteil des BSG hier bindend ist. In Frage der Hilflosigkeit hat es vor Jahren diverse Grundsatzurteile gegeben, da Dialysepatienten aus Berlin das Bundessozialgericht mehrfach eingeschaltet haben: Als Grundsatz dieser Urteile gilt: Um das begehrte Merkzeichen "H" zu erhalten, muß tatsächlich Hilflosigkeit vorliegen. Dialysepatienten gelten grundsätzlich an der Dialyse nicht hilflos. Anderslautende Urteile wurden dahingehend revidiert, daß nur von Hilflosigkeit ausgegangen werden kann, wenn neben der Dialyse andere schwerwiegende Erkrankungen vorliegen, die eine Hilflosigkeit bedingen könnten(siehe BSG-Urteil). Somit ist es schwer für Dialysepatienten das "H" zu beantragen, weil faktisch auf die drei Grundfragen reduziert die Patienten eben doch noch einiges durchführen können. Grade weil es eben Tages bei den Patienten geben kann, an denen er wirklich hilflos in Sinne des Gesetzte ist, sind die Entscheidungen der Gesetzgeber schwer zu verstehen. Zum anderen verhalten sich die Patienten bei 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Materielle Hilfen nach dem SGB, BSHG, SchwG, PflegeVG dem Besuch des Gutachters sichtlich falsch. Nach dem Motto: Sehen Sie, Herr Doktor, was ich noch alles alleine machen kann! Damit ist die Entscheidung klar! Eine Besonderheit aus den Anhaltspunkten: Hilflosigkeit besteht nicht bei der Heimdialyse(Seite 30) und bei Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr ist grundsätzlich von Hilflosigkeit auszugehen. Die Anhaltspunkte aus dem Jahre 1983 sollen inhaltlich überarbeitet und neu veröffentlicht werden.

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI)

Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) aus: Sozialpolitischer Rundschau, Nr.190 vom 2.5.1994 - vorgetragen von Monika Janoske

Der Bundesrat hat am 29. April 1994 dem Versicherungsgesetz zugestimmt. Im folgenden werden die Eckpunkte des Gesetzes dokumentiert: Die Pflegeversicherung beginnt am 1. Januar des kommenden Jahres. Die Leistungen der häuslichen Pflege werden ab 1. April 1995 als erste Stufe eingeführt. Der stationäre Teil folgt als zweite Stufe am 1. Juli 1996.

Der versicherte Personenkreis Die Versicherungspflicht richtet sich nach dem Grundsatz: „Die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung ."Der versicherte Personenkreis der sozialen Pflegeversicherung umfaßt diejenigen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, und zwar sowohl die Pflichtversicherten als auch die freiwillig Versicherten. Das sind rund 90 Prozent der Bevölkerung. Die freiwillig Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten die Möglichkeit, ihre Versicherungspflicht durch Abschluß eines gleichwertigen privaten Pflege - Versicherungsvertrages zu erfüllen und die soziale Pflegeversicherung zu verlassen Dazu haben sie innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes bei der zuständigen Pflegekasse einen Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung zu stellen. Diejenigen, die gegen das Krankheitsrisiko bei einem privaten Versicherungsunternehmen versichert sind, haben bei diesem Unternehmen einen Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen. Sie können innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Eintritt der Versicherungspflicht ein anderes Pflege - Versicherungsunternehmen wählen. Versicherungspflicht bei einem privaten Versicherungsunternehmen besteht auch für Heilfürsorgeberechtigte sowie für Mitglieder der Postbeamtenkasse und der Krankenversorgung der Bundesbahn. Die private Pflegeversicherung hat zu gewährleisten, daß ihre Leistungen denen der sozialen Pflegeversicherung entsprechen. Außerdem wird die private Versicherung verpflichtet, die heute bereits Pflegebedürftigen, die privat krankenversichert sind, sofort im vollen Umfang in den Schutz der privaten Pflegeversicherung einzubeziehen. Für die Versicherten muß die private Pflegeversicherung angemessene Bedingungen und Prämien anbieten. Beispielsweise darf die Höchstprämie nicht höher sein als der Höchstbetrag in der sozialen Pflegeversicherung. Die private Pflegeversicherung gilt für sieben Millionen Bürger. Beamte werden, soweit sie in der privaten Krankenversicherung versichert sind, ebenfalls zum Abschluß einer privaten Pflegeversicherung (Restkostenversicherung, die Beihilfe ergänzt) verpflichtet. Beamte, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind und somit in die so-

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) ziale Pflegeversicherung kommen, erhalten die Leistungen der Pflegeversicherung nur in Höhe von 50 Prozent und können ergänzend Beihilfeleistungen in Anspruch nehmen.

Beitragsbelastung Ab 1. Januar 1995 wird für die Leistungen der häuslichen Pflege ein bundeseinheitlicher Beitragssatz von einem Prozent erhoben. Ab 1. Juli 1996 erhöht sich der Beitragssatz für die stationären Leistungen auf insgesamt 1,7 Prozent. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem beitragspflichtigen Einkommen des einzelnen Mitglieds. Die Einnahmen werden bis zur Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigt. Die Beiträge werden grundsätzlich von den Versicherten und von den Arbeitgebern je zur Hälfte aufgebracht. Bei Rentnern trägt der Rentenversicherungsträger die Hälfte des Beitrags. Die Beiträge für Arbeitslose trägt die Bundesanstalt für Arbeit. Unterhaltsberechtigte Kinder und Ehegatten, deren monatliches Gesamteinkommen die Geringfügigkeitsgrenze nicht übersteigt, sind im Rahmen der Familienversicherung beitragsfrei mitversichert.

Die Leistungsberechtigten Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder einer Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Die pflegebedürftigen Menschen werden nach der Häufigkeit des Hilfebedarfs in drei Pflegestufen unterteilt: Pflegestufe I: Erheblich pflegebedürftig = Hilfebedarf mindestens einmal täglich für wenigstens zwei Verrichtungen. Pflegestufe II : Schwerpflegebedürftig = Hilfebedarf mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten. Pflegestufe III : Schwerstpflegebedürftig = Hilfebedarf rund um die Uhr. Die Feststellung, ob und in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit vorliegt, erfolgt durch den Medizinischen Dienst. Der Hilfebedarf erstreckt sich auf die Bereiche der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und auf die hauswirtschaftliche Versorgung.

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Die Hilfe der Solidargemeinschaft wird erst bei einem täglichen Hilfebedarf (= erhebliche Pflegebedürftigkeit ) notwendig. Bei geringerem Hilfebedarf ist Eigenfinanzierung der notwendigen Hilfeleistungen zumutbar oder es kann - bei Bedürftigkeit - Sozialhilfe in Anspruch genommen werden.

Die Leistungen Leistungen der Pflegeversicherung richten sich danach, ob häusliche oder stationäre Pflege erforderlich ist. Häusliche Pflege ab 1.4.1995 Die Leistungen in der häuslichen Pflege werden nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit gestaffelt. Als Sachleistung zur Pflege (z.B. Pflegesätze durch ambulante Dienste ) übernimmt die Pflegekasse monatlich - für erheblich Pflegebedürftige bis zu 750,- DM - für Schwerpflegebedürftige bis zu 1 800,- DM - für Schwerstpflegebedürftige bis zu 2 800,- DM, wobei in besonderen Härtefällen die Sachleistungen bis zu 3 750,- DM monatlich betragen können. Das Pflegegeld im Sinne von Geldleistungen beträgt monatlich für - erheblich Pflegebedürftige 400,- DM - Schwerpflegebedürftige 800,- DM - Schwerstpflegebedürftige 1 300,- DM. Pflegegeld und Pflegesachleistungen können auch kombiniert in Anspruch genommen werden. Bei Verhinderung der Pflegeperson übernimmt die Pflegekasse einmal jährlich für vier Wochen die Kosten für eine Ersatzpflegekraft bis zu 2 800,- DM. Als weitere Leistungen sind vorgesehen: - Tages - und Nachtpflege je nach Pflegestufe bis zu 2 100,- DM - Kurzzeitpflege bis zu vier Wochen pro Kalenderjahr im Wert bis zu 2 800,- DM. - Pflegehilfsmittel ( z.B. Pflegebett). - Zuschüsse zu pflegebedingtem Umbau der Wohnung bis zu 5 000,- DM je Maßnahme. - Unentgeltliche Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen. Stationäre Pflege ab 1.7.1996 Bei stationärer Pflege übernimmt die Pflegeversicherung die pflegebedingten Aufwendungen bis zu 2 800,- DM monatlich ( im Durchschnitt aller Pflegebedürftigen monatlich 2 500,- DM).

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Für Schwerstpflegebedürftige stehen zur Vermeidung von Härtefällen ausnahmsweise bis zu 3 300,- DM zu Verfügung. Kosten für Unterkunft und Verpflegung trägt der Pflegebedürftige. Die Finanzierung der Investitionskosten obliegt den Ländern.

Anpassung der Leistungen Die erstmals vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der Pflegeleistungen wird künftig durch Rechtsverordnung der Bundesregierung der Entwicklung angepaßt. Dafür stehen in erster Linie das bei stabilem Beitragssatz vorhandene Einnahme - Volumen der Pflegeversicherung zur Verfügung. Wegen der dynamischen Beitragsbemessungsgrenze steigt dieses Volumen jährlich entsprechend der Lohnentwicklung. Damit können die üblichen Preissteigerungen, die insbesondere aus den Löhnen für das Pflegepersonal herrühren, ausgeglichen werden. Ziel der Pflegeleistungen Ziel der Pflegeleistungen der sozialen Pflegeversicherung ist es, einerseits die Situation der Pflegebedürftigen und andererseits der pflegenden Angehörigen und sonstigen Pflegepersonen zu verbessern. Dabei geht es auch darum, die Pflegebedürftigen und ihre Familien möglichst unabhängig von der Inanspruchnahmen von Sozialhilfeleistungen zu machen. Durch seine Beitragszahlung erwirbt der Versicherte einen Rechtsanspruch auf Hilfe bei Pflegebedürftigkeit. Der Anspruch ist unabhängig von der wirtschaftlichen Lage des Versicherten, eine Bedürftigkeitsprüfung und eine Heranziehung der Angehörigen zu den Kosten findet nicht statt. Wer sein Leben lang gearbeitet, Steuern und Beiträge gezahlt und eine durchschnittliche Rente erworben hat, ist im Regelfall künftig in der Lage, die Kosten bei Pflegebedürftigkeit selbst zu bestreiten und zwar mit den Leistungen der Pflegeversicherung und einem Teil seiner Rente. Die Pflegeversicherung ist allerdings keine Alterseinkommens - Versicherung; sie kann eine fehlende Rente nicht ersetzen und eine kleine Rente nicht anheben. Deshalb wird ein kleinerer Teil der Pflegebedürftigen auch künftig wegen der Kosten, die mit den Pflegeleistungen nicht abgedeckt werden können, Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen

Soziale Sicherung der häuslichen Pflegeperson Für unentgeltlich tätige häusliche Pflegekräfte übernimmt die Pflegeversicherung die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung. Die Höhe der Beiträge ist von der Stufe der Pflegebedürftigkeit und dem Umfang der Pflegetätigkeit abhängig. Bei Pflegestufe III sind dies derzeit in den alten Bundesländern 602 DM bei mindestens 28 Stunden Pflegetätigkeit. Bei Pflegestufe II 401 DM und min-

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) destens 21 Stunden Pflegetätigkeit. Bei Pflegestufe I 200 DM und mindestens 14 Stunden Pflegetätigkeit. Die Unfallversicherung der Pflegekräfte wird sicher gestellt.

Investitionsfinanzierung Die Pflegeversicherung kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie auf ein ausreichendes, möglichst flächendeckendes Versorgungsangebot leistungsfähiger, sparsamer und eigenverantwortlich wirtschaftender Pflegeeinrichtungen (Sozialstationen, Pflegeheime, teilstationärer Einrichtungen) in freigemeinütziger, privater und (subsidiär) öffentlicher Trägerschaft zurückgreifen kann. Die betriebsnotwendigen Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen werden auf rund 3,6 Mrd. DM jährlich geschätzt. Die Länder sind verantwortlich für den Auf - und Ausbau der pflegerischen Infrastruktur. Zur Finanzierung der Investitionskosten sollen sie einen Teil der Einsparungen einsetzen, die in der Sozialhilfe durch Einführung der Pflegeversicherung entstehen. Einzelheiten bedürfen der Ausgestaltung durch den Landesgesetzgeber. Soweit die Investitionskosten nicht durch öffentliche Fördermittel hinreichend gedeckt sind, kann die Pflegeeinrichtung den nicht gedeckten Teil den Pflegebedürftigen gesondert - das heißt: getrennt vom Pflegesatz und von den Entgelten für Unterkunft und Verpflegung - in Rechnung stellen.

Anschubfinanzierung für die neuen Länder Es muß dafür gesorgt werden, daß die zum Teil völlig unzulänglichen Zustände in den Pflegeheimen der ehemaligen DDR so schnell wie möglich beseitigt werden. Deshalb ist vorgesehen, den neuen Ländern für acht Jahre jährlich 800 Mio. DM für Investitionen in Pflegeeinrichtungen zur Verfügung zu stellen, die sich aus den mit den Leistungen der Pflegeversicherung eintretenden Einsparungen in der Kriegsopferversorgung und - fürsorge finanziert werden. Mit diesen 6,4 Mrd. DM zur Anschubfinanzierung ist es möglich, in kurzer Zeit die eklatantesten Mißstände in den Pflegeeinrichtungen der neuen Länder zu beseitigen.

Versorgungsverträge mit Pflegediensten und Pflegeheimen Die Pflegekassen erhalten den Auftrag, durch Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit Pflegeheimen, Sozialstationen und ambulanten Pflegediensten die pflegerische Versorgung der Versicherten zu gewährleisten (Sicherstellung). Durch den Versorgungsvertrag wird die Pflegeeinrichtung zur häuslichen oder stationären Pflege zugelassen und verpflichtet. Nur solche Pflegeeinrichtungen dürfen zugelassen werden, die Gewähr

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung der Pflegebedürftigen bieten. Pflegeeinrichtungen, die diese Voraussetzungen erfüllen, sind zuzulassen. Eine Bedarfsprüfung findet nicht statt. Auch neue Anbieter sollen eine Chance erhalten und nicht vor einem geschlossenen Markt stehen. Hierdurch sollen der Wettbewerb gefördert und günstige Preise erreicht werden. Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen stehen sich als gleichberechtigte Vertragspartner gegenüber. Die Pflegekassen haben die Vielfalt, die Unabhängigkeit und das Selbstverständnis der Träger von Pflegeeinrichtungen zu achten. Das System von vertraglichen Beziehungen zwischen Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen verwirklicht ein wesentliches Ziel der Pflegeversicherung: Eine quantitativ ausreichende und qualitativ hochwertige, dem allgemein anerkannten Stand medizinisch - pflegerischer Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Pflegebedürftigen.

Die Vergütung der Pflegeleistungen Die Pflegeeinrichtungen haben Anspruch auf eine leistungsgerechte Vergütung der von ihnen erbrachten Pflegeleistungen. Diese Vergütung ist zwischen dem Träger der Pflegeeinrichtung und den vor Ort als Kostenträger betroffenen Pflegekassen und sonstigen Sozialleistungsträgern auszuhandeln. Kommt zwischen den Parteien im Verhandlungswege keine Einigung zustande, entscheidet eine unabhängige Schiedsstelle. Gegen deren Entscheidung ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben. In allen Leistungsbereichen ist der Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu beachten. Vereinbarungen über die Höhe der Vergütung, die diesem Grundsatz widersprechen, sind unwirksam.

Die Belastungen der Wirtschaft werden ausgeglichen Unverzichtbar ist im Zusammenhang mit der Einführung einer sozialen Pflegeversicherung eine ausreichende und dauerhafte Kompensation der Beitragsbelastungen der Wirtschaft. Der Wirtschaftsstandort Deutschland verkraftet keine weitere Verteuerung der Arbeitskosten. Eine ausreichende und dauerhafte Kompensation ist deshalb kein Geschenk in die Privatschatulle der Arbeitgeber, sondern ein wichtiges Element zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland. Zukunftsorientierte und krisensichere Arbeitsplätze nützen wiederum vor allem den Arbeitnehmern. Um dies zu gewährleisten, streichen die Länder im Zusammenhang mit der 1. Stufe der Pflegeversicherung (häusliche Pflege ) einen Feiertag, der stets auf einen Werktag fällt, durch entsprechende Entscheidungen der Landtage. Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Inkrafttreten der 2. Stufe ( stationäre Pflege ) zu bestimmen. Voraussetzung ist, daß durch ein

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Gutachten des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" die Frage geklärt wird, ob eine weitere Kompensation durch Abschaffung eines 2. Feiertages notwendig und diese ggf. im erforderlichen Umfang erbracht ist Soweit in einem Land die Kompensation durch Abschaffung eines Feiertags nicht erbracht ist, übernehmen die Arbeitnehmer zunächst den gesamten Beitrag zu Pflegeversicherung. Im Laufe des Jahres 1995 werden Bundestag und Bundesrat prüfen, ob und ggf. welche gesetzgeberischen Konsequenzen aus evtl. unterschiedlichen Regelungen in den 16 Ländern zu ziehen sind. Entsprechendes gilt wenn das Gutachten des Sachverständigenrates ergeben sollte, daß zur weiteren Kompensation in der 2. Stufe die Abschaffung eines weiteren Feiertages nicht geeignet ist. Dies gilt auch für die Frage der Selbstverwaltung bei nicht hälftiger Beitragszahlung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das Entgeltfortzahlungsgesetz wird in dem die Pflegeversicherung betreffenden Teil entsprechend geändert.

Allgemeine Grundsätze der sozialen Pflegeversicherung Vorrang von Präventation und Rehabilitation vor Pflege Der Vorrang von Präventation und Rehabilitation vor der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen wird ausdrücklich geregelt. Sowohl der Versicherte als auch Kranken - und Pflegekassen sowie andere Sozialleistungsträger werden verpflichtet, an den notwendigen und zumutbaren Maßnahmen der Rehabilitation mitzuwirken. Es gilt, der Pflegebedürftigkeit wo und wann immer möglich mit allen geeigneten Mitteln entgegenzuwirken. Um Pflegebedürftigkeit zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhindern, sind die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation, aber auch aktivierende und rehabilitative Elemente der Pflege gezielt einzusetzen. Ergibt die Begutachtung des Medizinischen Dienstes im Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, daß Maßnahmen der ambulanten medizinischen Rehabilitation mit Ausnahmen von Kuren zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit geeignet, notwendig und zumutbar sind, so hat der Versicherte einen Anspruch auf die entsprechenden Leistungen gegenüber den zuständigen Leistungsträgern. Die Pflegekassen haben im Zusammenwirken mit den Trägern der ambulanten und der stationären gesundheitlichen Versorgung koordinierende Funktionen wahrzunehmen. Sie können, falls erforderlich, vorläufige ambulante medizinische Rehabilitationsleistungen erbringen, um Verschlimmerungen des Zustandes der Pflegebedürftigen zu verhindern.

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Vorrang der häuslichen Pflege Das Ziel der Pflegeversicherung, die häusliche Pflege aus humanen und finanziellen Erwägungen in besonderem Maße zu unterstützen und zu fördern, wird durch das frühere Inkrafttreten der Leistungen der häuslichen Pflege besonders herausgestellt und durch die leistungsrechtlichen Vorschriften konkretisiert Der Ausbau der ambulanten bzw. häuslichen Pflege wird erreicht durch - ein hohes Leistungniveau im ambulanten Bereich, das im Regelfall für angemessene Pflege und Betreuung ausreicht, - Einführung von Leistungen bei Tages - bzw. Nacht - und Kurzzeitpflege, - soziale Sicherung der Pflegepersonen in der Renten - und Unfallversicherung, - die Bereitstellung von Pflegehilfsmitteln zur Erleichterung der Pflege. Bereits mit der Einführung von Leistungen der Tages -, Nacht - und Kurzzeitpflege in der ersten Stufe zum 1.4.1995 wird eine Verbesserung der pflegerischen Infrastruktur einhergehen. Die Möglichkeiten der Verzahnung zwischen der häuslichen und der auf Dauer angelegten stationären Pflege können derzeit nicht ausreichend genutzt werden, weil das Angebot entsprechender Pflegeplätze unzureichend ist.

Wahlrechte des Pflegebedürftigen Den Pflegebedürftigen stehen ab 1.4.1995 die Sach - und Geldleistungen für die häusliche Pflege zur Verfügung, wobei die Sachleistung im Vordergrund steht. Um den individuellen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen soweit wie möglich Rechnung zu tragen, ist auch die Möglichkeit der Kombination von Sach - und Geldleistung vorgesehen. Ab 1.7.1996 gilt: - Der Pflegebedürftige hat in Ausübung des personellen Selbstbestimmungsrechts die freie Wahl zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Wählt ein Pflegebedürftiger jedoch stationäre Pflege, obwohl diese nicht erforderlich ist, dann hat er nur Anspruch auf die Sachleistung die ihm bei häuslicher Pflege entsprechend der Stufe der Pflegebedürftigkeit zustünde. Damit ist sichergestellt, daß die Ausübung des Wahlrechts nicht die Solidargemeinschaft belastet. - Im stationären Bereich hat der Pflegebedürftige die freie Wahl unter den zugelassenen Einrichtungen.

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Wünsche des Pflegebedürftigen Die Leistungsgewährung im Rahmen der Pflegeversicherung soll nicht bevormunden, sondern mit dazu beitragen, die wesentlichen Voraussetzungen zur Führung eines menschenwürdigen Lebens bei Pflegebedürftigkeit zu schaffen. Wünschen und religiösen Bedürfnissen des Pflegebedürftigen soll daher nachgekommen werden. Allerdings kann die Solidargemeinschaft nur für angemessene Wünsche im Rahmen des Leistungsrechts einstehen.

Gemeinsame Verantwortung für die Pflegebedürftigen Im Sinne einer neuen Kultur des Helfens - für die mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden - gilt es, - die pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, - das Bewußtsein für die Bedeutung einer humanen, zuwendungsorientierten Pflege und Betreuung für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland zu stärken. Die Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.

Ergänzende private Vorsorge für den Pflegefall Die Absicherung des Pflegerisikos im Rahmen der solidarischen Pflegeversicherung ist offen für eine Ergänzung im Rahmen privater Vorsorge. Die Pflegeversicherung hat nicht zum Ziel eine "Rund - um - Pflege und Betreuung" sicherzustellen. Ergänzende private Vorsorgeanstrengungen sind wünschenswert und sollen durch das Pflege - Versicherungsgesetz gefördert werden. Das Pflege - Versicherungsgesetz sieht dazu vor, daß zur Stärkung der freiwilligen Vorsorge für die Geburtsjahrgänge 1958 und jünger ein zusätzlicher Sonderausgabenabzug in Höhe von 360,- DM pro Person und Jahr für eine freiwillige Pflege - Zusatzversicherung eingeführt wird.

Übergangsregelungen Wahlrechte für freiwillig Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung Die in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig Versicherten haben nach Inkrafttreten des Gesetzes innerhalb einer Frist von sechs Monaten die Möglichkeit, anstelle der Absicherung in der sozialen Pflegeversicherung einen gleichwertigen privaten Versicherungsschutz abzuschließen. Wer erst nach Inkrafttreten des Gesetzes freiwillig Versicherter in der gesetzlichen Krankenversicherung wird, hat diese Wahlmöglichkeit innerhalb von drei Monaten. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) Bezieher "häuslicher Pflegehilfe“ nach dem Krankenversicherungsrecht Schwerpflegebedürftige, die nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bereits 400 DM monatlich als Pflegegeld oder Sachleistungen im Wert bis zu 750 DM monatlich erhalten haben, werden ab 1.4.1995 ohne Antragstellung in die Pflegestufe II eingestuft und erhalten dann 800 DM Pflegegeld oder Sachleistungen im Wert bis zu 1800 DM monatlich. Sie können zudem die Zuordnung in die Pflegestufe III (1300 DM Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu 2800 DM monatlich ) beantragen.

Leistungen für die häusliche Pflege ab 1995 Ab 1995 wird die Pflegeversicherung als fünfte Säule unserer Sozialversicherung vor dem finanziellen Risiko der Pflegebedürftigkeit schützen. In der ersten Stufe werden diejenigen, die zu Hause gepflegt werden, Leistungen erhalten. Ein Jahr später (1996) wird auch die stationäre Pflege einbezogen. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1991 gab es in Deutschland über 1,1 Millionen Menschen, die zu Hause lebten und auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Fast drei Viertel von ihnen waren 65 Jahre oder älter. Knapp 60 Prozent der Pflegebedürftigen benötigen ständig oder täglich Hilfe. Dabei waren es meistens Frauen, die diese schwere Aufgabe übernommen hatten: In jedem zweiten Fall halfen Tochter oder Ehefrau bzw. Partnerin bei der Pflege.

aus: Sozialpolitischer Rundschau, Nr. 190/1994 vom 2.5.1994

Literaturangaben zum Punkt 9 1)

Hauptfürsorge Berlin, Behinderung und Ausweis, 09/1991

2)

Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1983

3)

Artikel aus der Ärztezeitung vom 10.07.1994: Klarheit nach BSG-Urteil: Ab wann gilt jemand als schwerpflegebedürftig?

4)

Sozialgesetzbuch, 1.1.1993, Fachverlag

5)

Versicherung für die Reise, Gesamtverband der Dt. Versicherungswirtschaft e.V., 05/1994

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Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG, SGB XI) 6)

Sozialrechtliche Informationen, Leitfaden von J.Orths, ohne Jahresangabe

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Materielle, medizinische und persönliche Hilfen

Materielle, medizinische und persönliche Hilfen von Gabriele Metten-Haumann

Erstberatung: Wann sollte sie stattfinden, und welche Bereiche gehören dazu? Bei diesem Thema liegen Assoziationen nahe, die sich auf konkrete Hilfsangebote, die unser Sozialstaat Kranken bietet, beziehen. Zunächst aber ein kleiner Exkurs zu den Voraussetzungen, unter denen unsere Erstberatung zur Dialysebehandlung beginnt. Ich sehe die Inhalte der Erstberatung nur im Kontext der gesamten psychosozialen Lage, in der sich der Patient/die Patientin befindet. Die psychosoziale Lage ist so individuell, wie jeder Mensch - jeder von uns - unterschiedlich ist. Das bedeutet in unserer sozialarbeiterischen Tätigkeit, immer den einzelnen Menschen zu sehen, was oft im Widerspruch zur "totalen Institution Krankenhaus" steht, in der Kranke zu Krankheiten und diese wiederum zu Laborwerten standardisiert werden. Das ist leicht verkürzt, aber oft wahr. Andere Berufsgruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, benötigen auch mehr Zeit und Flexibilität, wenn sie über den Patienten wissen, welchen Beruf er hat, wie viele Kinder, welche Ängste ihn am stärksten quälen, in welchen Verhältnissen er lebt usw. Und genau dieses Wissen ist Voraussetzung für unsere Arbeit. In der Universitätsklinik, in der ich arbeite, gibt es alle medizinischen Voraussetzungen, um Nierenkranke zu behandeln, von der Ambulanz (Behandlung ähnlich wie in einer Facharztpraxis) über Intensivstation, ambulante und stationäre Dialysen und nephrologisch/innere Station bis zur Nierentransplantation. Mit dieser Kurzdarstellung der Abteilungen ist sicherlich bereits klar, wie wichtig die Rahmenbedingungen sind, unter denen unsere Beratung stattfindet. Prinzipiell findet bei uns immer eine Erstberatung (für neu Dialysepflichtige) statt (von Ausnahmen abgesehen). Nach dieser Einführung wurden zwei Kleingruppen gebildet, um 1. die Reflexion über unsere bisherige Beratungspraxis zu ermöglichen, 2. die subjektiven Ansprüche der Ratsuchenden zu erkennen und mit unseren objektiven Möglichkeiten der Unterstützung zu vergleichen, 3. Anregungen über effektive Beratungen für unsere tägliche Arbeit zu erhalten.

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Materielle, medizinische und persönliche Hilfen Folgende Fragen wurden in 40 Minuten besprochen und anschließend zusammengetragen: 1. Welche Ziele sollen in unserer Erstberatung erreicht werden? 2. Wann soll von unserer Seite aus mit der Erstberatung begonnen werden? 3. Wie bzw. auf welchen Wegen können wir die Ziele erreichen? 4. Wie soll die weitere sozialarbeiterische Betreuung aussehen?

Welche Ziele sollen in unserer Erstberatung erreicht werden? Gegenseitiges Kennenlernen mit emotionaler Annahme Partnerschaftliche Beziehungsaufnahme, um das Vertrauen zu stärken und Ängste abzubauen Professionelle Verbindung eingehen durch die Darstellung unserer Vermittlungsposition Abgrenzung bei Vereinnahmung (Nähe/Distanz) Informationen geben zu Hilfsangeboten in materiellen/finanziellen Fragen sowie bei familiären/psychischen Problemen Stärkung der Patienteninteressen, Selbständigkeit zu erhalten oder wiederzuerlangen trotz Krankheit und Krankenhausmaschinerie Hilfen bei Pflegebedürftigkeit und Immobilität besprechen/einleiten Rehabilitation einleiten

Wann soll von unserer Seite aus mit der Erstberatung begonnen werden? Wenn wir mit dem Arzt oder Pflegepersonal Kurzinformationen über den Gesundheitszustand ausgetauscht haben: seit wann ist der Patient im Krankenhaus, welche Behandlung/Dialyse wird durchgeführt, wie geht es dem Patienten zur zeit körperlich/geistig (verwirrt, komatös, bettlägerig, sehr mobil, fiebrig ...)? Günstig ist z.B. der Zeitpunkt der Shuntanlage, wenn er wenig Beschwerden hat, aber mit der Operation auch sichtbare Konsequenzen für den Patienten erkennbar sind.

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Materielle, medizinische und persönliche Hilfen Wie bzw. auf welchen Wegen können wir die Ziele erreichen? Nicht wir wollen etwas vom Patienten, sondern er will und kann etwas von uns erhalten (als Dienstleistung) beim Erstgespräch in Form einer Kurzdarstellung des Sozialdienstes sowie schriftlich durch ein Informationspapier. Bei folgenden Gesprächen auf die individuelle psychosoziale Lage eingehen Psychologisch einfühlsame Einzel- oder Partnergespräche sind notwendig und die in Punkt 1 genannten Absicherungen zu erörtern bzw. zu erreichen. Aktivierung für Selbsthilfegruppen

Wie soll die weitere sozialarbeiterische Betreuung aussehen? Mit Einverständnis des Patienten die Fragen und Problemlösungen an Kollegen (nicht an jede Berufsgruppe) im Dialysebehandlungszentrum weitergeben Nach Wunsch und Bedarf des Patienten (sowie eigenen Kapazitäten) dauerhaften Kontakt pflegen; die Probleme langfristig lösen, wenn der Patient im gleichen Haus behandelt wird bzw. alt wird Selbsthilfe stärken Ich wünsche uns weiterhin Spaß und Erfolg bei unserer Arbeit.

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Ambulante, stationäre und teilstationäre Versorgungsmöglichkeiten für Dialysepatienten und Nierenkranke

Ambulante, stationäre und teilstationäre Versorgungsmöglichkeiten für Dialysepatienten und Nierenkranke von Gabi Reinhard-Touré und Beate Schneider

Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe 3 Die AG setzte sich aus elf TeilnehmerInnen zusammen: sieben Sozialarbeiterinnen, eine Krankenschwester, ein Krankenpfleger, eine Studentin, eine Industriekauffrau.

Ambulante Hilfen 1. Pflege und Versorgung im ambulanten häuslichen Bereich a)

Häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V

b)

Häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 - 57 SGB V

c)

Pflegegelder nach den jeweiligen Ländergesetzen

d)

Hilfe zur Pflege nach §§ 68, 69 BSHG; Weiterführung des Haushaltes § 70 BSHG

e)

Haushaltshilfe nach § 38 Abs. 1 SGB V

f)

Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff BSHG

2. Versorgung mit Hilfsmitteln 3. Sonstige ambulante Dienste, z.B. Essen auf Rädern, Mobile Dienste, Telebus ... Es wurden folgende Probleme diskutiert: Hauskrankenpflegeeinsätze können oft nicht den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Nierenkranken angepaßt werden. Einsatz vor der Dialyse sehr früh morgens oder spät abends oft nicht möglich von seiten der Pflegestationen. Bei privat versicherten Patienten wird nur Behandlungspflege von den Krankenkassen übernommen, keine Grundpflege, keine hauswirtschaftlichen Verrichtungen. Zuzahlungen seitens der Patienten werden abgelehnt, durch Unterversorgung zu Hause Wiederaufnahme im Krankenhaus. Das gleiche Problem stellt sich nach Ablehnung der Kosten für häusliche Krankenpflege durch die gesetzlichen Krankenkassen. Viele Menschen haben Angst vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen, obwohl Ansprüche vorhanden sind und verzichten lieber darauf, wohlwissend, daß sich ihre Pflegesituation dadurch verschlechtert. Beschaffung von Hilfsmitteln dauert häufig zu lange.

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Ambulante, stationäre und teilstationäre Versorgungsmöglichkeiten für Dialysepatienten und Nierenkranke Inwieweit die Pflegeversicherung Verbesserungen bzw. Veränderungen im Bereich der häuslichen Pflegefinanzierung bringen kann, wurde diskutiert: Hoffnung und Skepsis kamen auf.

Stationäre Versorgung Die verschiedenen Arten von Einrichtungen für ältere nierenkranke Menschen wurden vorgestellt. In Berlin werden unterschieden: - Seniorenheim mit den Pflegestufen 1 - 3 - Krankenheim - Krankenhaus für chronisch Kranke mit geriatrischer Rehabilitation Krankenhäuser für chronisch Kranke sind Einrichtungen, die es in anderen Bundesländern in dieser Form nicht oder nur vereinzelt gibt. Es sind jedoch Überlegungen im Gange, wie die geriatrische Rehabilitation neu geschaffen bzw. verbessert werden kann. Die Aufnahme von chronisch Nierenkranken, dialysepflichtigen Menschen in Senioren- oder Krankenheimen variiert bezügliche Wartezeiten, Bereitschaft zur Aufnahme; in Trier z.B. sind die Heime sehr an der Aufnahme von Dialysepatienten interessiert und die Wartezeiten sind sehr kurz. In Berlin sind Wartezeiten von sechs Monaten bis zu zwei Jahren üblich. In Baden-Württemberg gibt es einen Trend hin zum "Betreuten Wohnen", weg von der Schaffung neuer Heime, statt dessen Schaffung von Seniorenwohnanlagen mit unterschiedlichen Pflegeangeboten. Allerdings ist auch hier nicht an die Versorgung schwerstkranker Menschen gedacht. Diese müssen wieder anderweitig versorgt werden.

Teilstationäre Versorgung Es wurde überlegt, inwieweit folgende Einrichtungen für nierenkranke Menschen ein erweitertes Angebot zur Versorgung zu Hause oder eine sinnvolle Alternative zum Heimaufenthalt sein könnten: - Tagesstätten, Tagespflegeeinrichtungen - Krankenwohnungen, Übergangspflege-, Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Die Diskussion ergab, daß es kaum Erfahrungen gibt, was die Versorgung von Nierenkranken in teilstationären Einrichtungen betrifft. Die Notwendigkeit der Schaffung solcher Einrichtungen war jedoch unbestritten: Angehörige werden entlastet, Kurzzeitpflegestellen bieten fachgerechte Versorgung, z.B. wenn Angehörige verreisen, nach ambulanten Operationen, Heimaufenthalte können durch tagesstrukturierende Angebote in einer Tagesstätte vermieden werden Mit dem Beginn der Pflegeversicherung und der Zunahme von ambulanten Operationen muß darauf hingewirkt werden, daß teilstationäre Versorgungsangebote erweitert werden und das öffentliche Interesse hierfür stärker geweckt wird. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Tabuthemen: "Trauer und Sterben"

Tabuthemen: "Trauer und Sterben" von Ruth Wiedemann

Protokoll der Arbeitsgruppe 11 Teilnehmerinnen

Das Seminar orientierte sich vor allem an den persönlichen Erfahrungen der Teilnehmerinnen. Es gliederte sich in mehrere Sequenzen:

Persönliche Vorstellung der Seminarleiterin

Vorstellungsrunde der Teilnehmerinnen thematisch: Name, Arbeitsbereich, persönliche Nähe zum Thema, Erwartungen an das Seminar, (wer von einer anderen Teilnehmerin etwas wissen möchte, reicht ihr eine Dahlie)

Symbolik in der Sprache von Sterbenden, Signale und ihre Wahrnehmung, der eigenen Wahrnehmung trauen!

Gelungene Sterbebegleitung -

eigene Erfahrungen

-

die Rolle von Vermächtnissen

-

Lösungswege in den Familien, wie gehen wir damit um?

Wahrnehmungsübung (Zweiergruppen) a) neugierige Begrüßung b) Trauer

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Tabuthemen: "Trauer und Sterben" c) Abschied

Gespräch über besondere Erfahrungen während der Übung

Thesen der Seminarleiterin zu besonderen Problemen a) Schwarze Farbe - Trauerriten b) Tod als Beleidigung, Wut c) Bedürfnisse der Sterbenden und Bedürfnisse der Begleitenden d) Aufträge: Wer aus dem sozialen Netz des Sterbenden beauftragt uns womit? auf Neutralisieren achten! e) Umgang mit innerfamiliären Regeln für Trauern Die einzelnen Sequenzen wurden durch Gedichte von Erich Fried interpunktiert.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens

Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens von Jürgen Heese

Gliederung 1. Ziele des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) erreicht? 2. Leitvorstellungen für eine Reform der Krankenversicherung 3. Gesundheitspolitische Vorstellungen der Parteien 4. AOK-Thesen zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens

Ziele des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) erreicht? Das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung - kurz: Gesundheitsstrukturgesetz - ist mit seiner ersten Stufe seit dem 01.01.1993 wirksam. Wie Sie sich sicherlich erinnern, zählen zu den Schwerpunkten des Gesundheitsstrukturgesetzes •

die Reform der Krankenkassenorganisationen



die Reform der Versorgungsstrukturen und



Kostendämpfungsmaßnahmen.

Unter dem Stichwort "Reform der Krankenkassenorganisation" möchte ich den Risikostrukturausgleich, die allgemeine Kassenwahlfreiheit und die Neuorganisation der Krankenkassenführung nennen. Mit der Erneuerung der Versorgungsstrukturen ist vor allem die KrankenhausFinanzierungsreform, die Strukturveränderungen im ambulanten ärztlichen Bereich und die Strukturveränderung in der Arzneimittelversorgung gemeint. Als Stichworte zu den Kostendämpfungsmaßnahmen sind die Budgetierungen, Vergütungsabsenkungen und Leistungsausgrenzungen zu nennen. Nach Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums sollten diese Maßnahmen eine NettoEntlastung für die gesetzliche Krankenversicherung in Höhe von 10,01 Milliarden DM bringen. Die Bilanz der vorerst letzten Gesundheitsreform ist voller Widersprüche. Gesundheitsminister Horst Seehofer läßt keinen Zweifel an der positiven Wirkung seines Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) und hat unter der Überschrift "Gesetzliche Krankenversicherung ist saniert" die Finanzschätzungen der Gesetzlichen Krankenversicherung für das erste Halbjahr 1994 vorgelegt. Nach diesen vorliegenden Daten ist die Gesetzliche Krankenversicherung heute eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes saniert. Sie ist finanziell stabilisiert, und die Qualität 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens der medizinischen Versorgung ist voll gewährleistet. Die Krankenkassen erwirtschaften weiterhin Überschüsse, die Finanzreserven sind wieder aufgefüllt, und das Beitragssatzniveau sinkt. Dabei ist es gelungen zu sparen, ohne die Qualität der medizinischen Versorgung und den medizinischen Fortschritt zu beeinträchtigen. Folgende Aussagen traf das Bundesgesundheitsministerium: •

von rund einer Milliarde Mark (0,6 Milliarden Mark in den alten und 0,4 Milliarden Mark in den neuen Ländern). Der Überschuß wird im zweiten Halbjahr 1994 bei Berücksichtigung der 13. Monatsgehälter noch deutlich höher ausfallen.



Im ersten Halbjahr 1994 erwirtschafteten die Krankenkassen einen Überschuß.



Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1992 ist der Zuwachs bei den Löhnen und Gehältern der Versicherten in den alten Ländern doppelt so stark wie bei den Ausgaben; in den neuen Ländern blieb der Ausgabenanstieg in diesem Zeitraum unterhalb der Grundlohnentwicklung.



In fast allen Leistungsbereichen hat das Gesundheitsstrukturgesetz zu wirksamen Ausgabenbegrenzungen geführt. Nur in den Bereichen, in denen entsprechende Regelungen fehlen (z. B. bei Hilfsmitteln) oder in denen das Gesundheitsstrukturgesetz unterlaufen wird (z. B. bei Fahrkosten), setzt sich die Expansion der Leistungsausgaben fort.



Die Einsparungen erfolgten ohne die von vielen befürchteten Qualitätseinbußen in der medizinischen Versorgung - insbesondere im Arzneimittel- und Krankenhausbereich.



Der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz ging in den alten Ländern bereits von 13,4 % (1. Januar 1993) auf 13,2 % (1. Juli 1994) zurück; in den neuen Ländern ist eine Stabilisierung unterhalb von 13 % erkennbar.



Bei einer Reihe von Krankenkassen besteht bei wieder aufgefüllten Finanzreserven Spielraum für Beitragssatzsenkungen.



Durch den Risikostrukturausgleich konnten die krassen Beitragssatzdifferenzen bereits abgebaut und damit Voraussetzungen für faire Wettbewerbschancen der Krankenkassen geschaffen werden.

Ein wesentliches Ziel des Gesundheitsstrukturgesetzes ist erreicht: Die Ausgaben sind im Lot mit den Beitragseinnahmen. Bei konsequenter Umsetzung wird das auch bis Ende 1995 so bleiben, so das Bundesgesundheitsministerium. Zugleich gab es aber auch Hiobsbotschaften: Berichte von Patienten, die von ihrem Arzt nicht mehr "ihre" Medizin bekamen. Hinweise auch auf "Verschiebepraktiken": Niedergelassene Ärzte überwiesen "teure" Patienten in die Krankenhäuser; die wiederum setzten ihre Behandlung auf Sparflamme. Der Karlsruher Bürgermeister Ullrich Eidenmüller zum Beispiel signalisierte der Deutschen Krankenhausgesellschaft bereits im Herbst letzten Jahres erhebliche Qualitätsverluste in dem 1500Betten-Klinikum seiner Stadt: Routineuntersuchungen - listete er auf - würden unterbleiben; teure Medikamente und andere "segensreiche Entwicklungen aus rein finanziellen Gründen nicht" mehr verordnet.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Ganz anders die Lage in Trier. Die dortige Caritas-Trägergesellschaft mit gut einem Dutzend Krankenhäusern konnte problemlos die Qualität der Krankenbehandlung halten und weiter schwarze Zahlen schreiben. Die Erklärung für so widersprüchliche Ergebnisse ist relativ einfach. "Herzstück" der Gesundheitsstrukturreform ist die Budgetierung der ärztlichen Leistungen: In der ambulanten Praxis dürfen die Ärzte nicht mehr ausgeben als 1991, in den Krankenhäusern nicht mehr als 1992. Werden diese Etatgrenzen überschritten, müssen Ärzte und Krankenhäuser - und nicht mehr die Krankenkassen - den Mehraufwand selbst tragen. Das Budget-Korsett gilt bis 1995. Solange nämlich wird es dauern, bis die entscheidenden Neuerungen des neuen Reformgesetzes voll wirken und im Detail umgesetzt ist, was das Gesetz vorschreibt: •

freie Kassenwahl im Wettbewerb



enge Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung mit der Stärkung des Hausarztsystems



Umstellung des Honorierungssystems



Einführung einer Positivliste für Arzneimittel und



Abbau der Ärzteschwemme über ein neues Zulassungsverfahren für Kassenärzte.

Diese Einzelmaßnahmen werden frühestens 1996 abgeschlossen sein. Um zu verhindern, daß die ganze Branche bis dahin noch einmal ordentlich zulangt, wurde ihr der Budget-Riegel vorgeschoben. Fürs erste ist der Ausgabenanstieg auch gebremst. Nach einem Kassendefizit von beinahe zehn Milliarden Mark (1992) hat die Gesetzliche Krankenversicherung im vergangenen Jahr erstmals wieder einen Überschuß erzielt.

Schlüsselrolle des Hausarztes stärken Zu heftigen Auseinandersetzungen in der Ärzteschaft hat die künftige Rolle des Hausarztes geführt. Das GSG sieht vor, dem Hausarzt eine Schlüsselrolle in der Krankenversorgung zuzuweisen. Kassenpatienten sollen nur noch über den Hausarzt Zugang zum teuren Facharzt haben. Die Fachärzte fürchten - sicher auch zu Recht - daß sie zukünftig viele Patienten (und natürlich auch Einkommen) verlieren, weil die Kollegen in der Hausarztpraxis nicht mehr in jedem Fall die Patienten überweisen, sondern vieles selbst behandeln. Und für die Internisten, heute schon vielfach in der Rolle des Hausarztes, ist ungeklärt, ob sie in das Primärarzt-System einsteigen wollen. Sie könnten es, müßten dann aber den Verzicht auf viele (gut bezahlte) medizinische Leistungen hinnehmen, die sie heute mit ihrem Facharzt-Status erbringen dürfen.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Feinsteuernde Maßnahmen statt undifferenzierter Einsparungen Dennoch ist strikte Budgetierung als dauerhafte Kostenbremse fragwürdig. Sie kann zu Qualitätsverlusten in der Krankenversorgung führen. Beispiel England: Dort hat die Ausgabenbudgetierung medizinische Leistungen zunehmend mehr auf das Allernotwendigste begrenzt. Das ist die Verwaltung von Mangel, im Ergebnis strikte Rationierung. Diese Gefahr steckt ohne Zweifel in der Budgetierung, wenn sie ganz buchhalterisch nur auf die Ergebnisse unter dem Strich zielt, also zur Sparsamkeit um jeden Preis verpflichtet. Um so wichtiger ist es, daß die strukturellen Änderungen der Reform zügig umgesetzt werden: zum Beispiel die Einführung einer Positivliste für Arzneimittel und die Zulassungsbegrenzung für Kassenärzte. Die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit ab 1999 bedeutet freilich nur bedingt auch eine Ausgabenbegrenzung. Solange der Arzt es nämlich in der Hand hat, die Menge seiner Leistungen und damit sein Einkommen weitgehend selbst zu bestimmen, bleibt auch die Einschränkung der Ärztezahl ein Herumdoktern an Symptomen. Solange das Prinzip der sogenannten EinzelleistungsVergütung nicht durch ein anderes System abgelöst wird - vielleicht die Abrechnung nach Fallpauschalen - könnte die Positivliste für Arzneimittel eine wirksame Kostenbremse sein. Die Praxisund Krankenhausärzte dürfen dann nur noch solche Medikamente auf Kassenkosten verschreiben, die nach vorheriger Prüfung auf Wirksamkeit und Preis in die Positivliste aufgenommen wurden.

Neue vernetzte Versorgungsformen notwendig Weit schwerer ist es für die Selbstverwaltung - Krankenkassen einerseits, Ärzteverbände andererseits - die übrigen gesetzlichen Vorgaben zu verwirklichen. Die kostensparende engere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung hat ihre Tücken. Noch sind es nur wenige niedergelassene Ärzte, die ihre Praxis für solche Eingriffe ausgestattet haben und - ebenso wichtig - auch die notwendige Qualifikation haben. Derzeit werden Ärztefunktionäre durchaus auch von der Sorge umgetrieben, daß Kollegen mit dem Blick auf gute Honorare in gefährlicher Selbstüberschätzung vorschnell zum Skalpell greifen. Umgekehrt müssen sich auch die Krankenhäuser erst auf ambulante Operationen einstellen; denn: für kleinere Eingriffe ist der hochtechnisierte OP-Saal unwirtschaftlich und viel zu teuer.

Solidarische Wettbewerbsordnung als Basis Der Markt der Krankenversicherung steht vor dem größten Umschwung seiner Geschichte. Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen wird aufgrund der allgemeinen Kassenwahlfreiheit zu einem zentralen Ordnungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung. In allen Krankenkassen wird zur Zeit mit Hochdruck daran gearbeitet, die Kunden davon zu überzeugen, daß sie sich für die richtige Krankenversicherung entschieden haben.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Wie sich zukünftig die freie Wahl der Krankenkasse und der damit verbundene Wettbewerb auf die Ausgabenentwicklung auswirken wird, ist noch völlig unklar. Bisher waren Arbeiter mehr oder weniger zwangsweise in der AOK als sogenannter Pflichtkasse versichert, während Angestellte die Wahl hatten, entweder Mitglied in einer der regionalen AOKs oder in einer der meist bundesweit organisierten Ersatzkassen zu werden. Die Ersatzkassen hatten durch die besser verdienenden Angestellten immer die höheren Beitragseinnahmen. Da die sogenannten "besseren Schichten" erfahrungsgemäß auch weniger anfällig für Krankheiten sind, kosten sie die Kasse als bessere Versicherungsrisiken auch weniger. Die Folge: die durchschnittlichen Beitragssätze der Ersatzkassen waren niedriger als die der AOKs. Und obwohl die Vollversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich für alle die gleichen Leistungen vorsieht, hatten die Ersatzkassen damit auch finanziellen Spielraum für die "Extras" in der Leistungshonorierung und auch in der Leistungsgewährung. Mit diese Risikoselektion hat das Reformgesetz von 1992 auch aufgeräumt. Der 1. Januar 1994 war der Stichtag für die Einführung des kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleiches. Er soll die finanziellen Auswirkungen der unterschiedlichen Risikostrukturen der Krankenkassen ausgleichen. Dadurch sollen im Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gleiche Startbedingungen und die Beitragsgerechtigkeit für die Beitragszahler verbessert werden. Dieser Risikostrukturausgleich wird zunächst in der allgemeinen Krankenversicherung eingeführt und ab 1995 auf die Krankenversicherung der Rentner ausgedehnt. Zu diesem Zeitpunkt entfällt der bislang obligatorische KVdR-Finanzausgleich. Bei dem Risikostrukturausgleich handelt es sich nicht um einen ausgabenorientierten, wie dieses beim KVdR-Finanzausgleich der Fall ist, sondern einnahmenorientierten sowie risikonivellierenden Ausgleich. Ausgeglichen werden die beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassen, die sogenannten Grundlöhne und Belastungsunterschiede aufgrund de Alters- und Geschlechtsstrukturen sowie des Anteils beitragsfrei mitversicherter Familienangehöriger. Ab dem 01.01.1995 werden zusätzlich Belastungsunterschiede der Versichertengruppen mit Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrentenbezug in den Risikostrukturausgleich miteinbezogen. Aber damit sind noch längst nicht alle Wettbewerbshindernisse beseitigt. Der Risikostrukturausgleich berücksichtigt nicht die auf regionalen Anbieterstrukturen und Morbiditätsstrukturen beruhenden unterschiedlichen Leistungsausgaben. Diese werden nicht ausgeglichen. Aber damit sind noch längst nicht alle Wettbewerbshindernisse beseitigt. So sind beispielsweise Morbiditätsrisiken der Versicherten vom Strukturausgleich ausgeschlossen; schon eine relativ geringe Anzahl von Schwerstkranken kann kleine Kassen bei den extrem hohen Behandlungskosten ruinieren.

Neue Wettbewerbsfelder Da der Gesetzgeber für alle GKV-Versicherten gleiche Leistungen vorsieht, kann es Wettbewerb zwischen den Krankenkassen allenfalls für Leistungen außerhalb des gesetzlichen Rahmens geben. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Prävention hat derzeit bei allen Kassen einen hohen Rang. Ob Diabetes-Früherkennung, "Rückenschule", Herzsportgruppen oder Ernährungsberatung - die Verhinderung von Krankheit oder die frühe Erkennung könnten natürlich auf Dauer Kosten sparen. Die Kosten-Nutzen-Relation wird sich jedoch nie exakt aufschlüsseln lassen, und böse Zungen behaupten, daß Gesundheitsaufklärung am Ende ein teurer Spaß für die Kassen ist, weil jede Medizinsendung im Fernsehen auch die Zahl der eingebildeten Kranken ansteigen läßt. Unstrittig ist, daß Verhaltensänderungen hin zu mehr Gesundheitsbewußtsein nicht über Nacht zu erzielen sind und langfristige Konzepte erfordern.

Leitvorstellungen für eine Reform der Krankenversicherung Mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes, das wesentliche Teile des Gesundheitswesens einer strukturellen Erneuerung unterzogen hat, ist die Diskussion um Reformen im Gesundheitswesen im allgemeinen und in der gesetzlichen Krankenversicherung im besonderen nicht beendet. Der Gesundheitsminister und viele Beteiligte haben sich vielmehr offensiv in eine neue Debatte um die ordnungspolitisch e Grundausrichtung, den Einsatz von Steuerungsinstrumenten und die Neubestimmung von Strukturprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung gestürzt. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei - wie schon eben erwähnt - der "Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung". Ich möchte Ihnen die in Politik und Wissenschaft diskutierten Gedankenmodelle kurz darstellen:

Die weitgehende Bewahrung des Status quo Die Befürworter einer starken, durch das Solidaritätsprinzip dominierten gesetzlichen Krankenversicherung lehnen Änderungen der Grundprinzipien ab. Sie plädieren für die Beibehaltung oder den Ausbau des Prinzips der einheitlichen und gemeinschaftlichen Vertragspolitik aller Kassenarten und die Beschränkung oder gar Reduzierung des Preis- und Servicewettbewerbes. Die Beibehaltung des Status quo beinhaltet auch die Ablehnung aller verursacherbezogenen Finanzierungsformen, sei es über Steuern, sei es über ein Bonus-MalusSystem. Grund- und Wahlleistungen werden prinzipiell abgelehnt. Aber auch die Befürworter des Status quo sehen Reformbedarf in der GKV, vor allem im Bereich der Rehabilitation und der Prävention. Sie plädieren dafür, nach Evaluierung der mit dem GSG verbundenen Reformschritte das System ggf. behutsam fortzuentwickeln. Diese Auffassung wird im Sachverständigenrat vor allem von Prof. Zöllner vertreten. Außerhalb des Rates befürworten die Gewerkschaften, die SPD und Teile der CDU/CSU diese Linie.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Moderate Fortentwicklung in Richtung Marktwirtschaft Die Befürworter einer Fortentwicklung in Richtung Marktwirtschaft sprechen sich vor allem für eine Ausdünnung des Leistungskataloges und für eine Erweiterung der Wettbewerbsparameter der Krankenkassen aus. Im Blickfeld der Leistungsausgrenzungen stehen versicherungsfremde und konsumnahe Leistungen Brillen, Zahnersatz usw. Dabei wird auch diskutiert, diese Ausgrenzungen mit einem Modell von Grund- und Zusatzleistungen zu verbinden. Im Bereich der Zusatzleistungen könnte dann ein Wettbewerb zwischen PKV und GKV entstehen. Die Wettbewerbsmöglichkeiten der Krankenkassen sollen insbesondere dadurch erweitert werden, daß die Kassen größere Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich des Vertrags-, Leistungs- und Beitragsrechtes bekommen. Eine Fortentwicklung in Richtung Marktwirtschaft bedeutet auch die Aufbrechung von Monopolen auf der Anbieterseite. Dabei wird vor allem das sogenannte Einkaufsmodell diskutiert. Im Rahmen dieses Einkaufsmodelles sind verschiedene Varianten denkbar, die von einer einheitlichen und gemeinsamen Einkaufspolitik über die bedarfsorientierte Vertragspolitik jeder Kassenart bis hin zu neuen Modellen mit Eigeneinrichtungen der Krankenkassen - z. B. in Anlehnungen an amerikanische oder Schweizer HMOs (Health Maintenance Organisationen) - reichen. Auf dieser Linie bewegen sich weite Teile der Regierungskoalition. Dabei ist auch nach einer Grundsatzrede vor der GVG unklar, welche Position der Bundesgesundheitsminister einnimmt (vgl. Anlage 1). Dem Einkaufsmodell sind auch SPD und DGB nicht abgeneigt. Die Mehrheit des Sachverständigenrates tendiert ebenfalls in diese Richtung.

Die Einführung eines generellen Wettbewerbsmodells Die Einführung eines generellen Wettbewerbsmodells - entsprechend den Vorstellungen liberaler Ökonomen - läuft darauf hinaus, die Systeme von GKV und PKV aneinander anzugleichen und ggf. volle Wahlfreiheit herzustellen. Den Krankenkassen sollen weite Spielräume bei der Gestaltung von Leistungen und Tarifen eingeräumt werden. Es soll ihnen freigestellt sein, ob sie Leistungen einkaufen oder selbst erbringen. Im Bereich der Finanzierung steht das Solidarprinzip ebenso zur Diskussion wie das Umlageverfahren. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage nach der Angemessenheit des Arbeitgeberbeitrages. Vorbild einer solchen Lösung ist die vielzitierte Kfz-Haftpflicht: Der Staat bestimmt den Umfang der Versicherungspflicht und einige grundlegende gesetzliche Rahmenbedingungen; alles andere regelt der Markt. Eine solche Option ginge Politik, Sozialpartnern und Wettbewerbern derzeit sicher zu weit. Sie zeigt allerdings an, wohin eine konsequente Verfolgung der zweiten Option führen kann.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Gesundheitspolitische Vorstellungen der Parteien Was spiegeln nunmehr die Wahl- und Regierungsprogramme kurz vor der Bundestagswahl im Oktober 1994 wider? Im Regierungsprogramm von CDU/CSU wird für die Bereitschaft zum Umbau des Sozialstaates geworben. Beide Schwesterparteien wollen das Niveau der sozialen Sicherung erhalten und sozialen Fortschritt auch in Zukunft möglich machen. Neue Herausforderungen durch wirtschaftlichen, demographischen und gesellschaftlichen Wandel könnten nur gemeistert werden, wenn traditionelle Besitzstände vorbehaltlos auf den Prüfstand gestellt und ggf. neue Prioritäten gesetzt würden. Die christdemokratischen Parteien bekennen sich ausdrücklich zum Gesundheitsstrukturgesetz und stellen ihren Beitrag bei der Schaffung einer sozialen Pflegeversicherung heraus. Sie wollen Organisation und Instrumente der sozialen Sicherung auf Leistungsfähigkeit, Qualität der Aufgabenerfüllung und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung hin überprüfen. Durch die ständige Überprüfung der Notwendigkeit einzelner Leistungen wollen sie Spielraum für die Fortentwicklung des Sozialstaats und die Bewältigung dieser neuen Herausforderungen schaffen. Sie kündigen die Fortsetzung der Reform des Gesundheitswesens an, da die Gesundheitsversorgung auch angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts und der steigenden Zahl älterer Menschen finanzierbar bleiben müsse. Die solidarisch abzusichernden Risiken müßten neu gewichtet werden; der Eigenvorsorge wollen sie einen höheren Stellenwert geben. Dies dürfe allerdings nicht dazu führen, daß der Solidarausgleich zu Lasten von Geringverdienern und Familien reduziert wird. Eine "Zwei-KlassenMedizin" lehnen CDU und CSU ab. Im Regierungsprogramm '94 stellt die SPD klar, daß Bürgerinnen und Bürger im Krankheitsfall alle Leistungen erhalten müssen, die sie zur Genesung benötigen. Diese Leistungen sollen auch in Zukunft solidarisch finanziert werden. Eine Privatisierung von gesundheitlichen Risiken und insbesondere eine Aufspaltung des Leistungskataloges der GKV in Wahl- und Regel-, Grund- und Zusatzleistungen wird strikt abgelehnt. Die SPD verweist auf ihre Erfolge beim Zustandekommen des Gesundheitsstrukturgesetzes und zeigt sich offen für den Einbau weiterer wettbewerblicher Elemente, wenn sie mit den sozialen Funktionen der GKV harmonieren. Der weitere Ausbau der Selbstbeteiligung der Krankenversicherten wird strikt abgelehnt. Bestehende Selbstbeteiligungen sollen daraufhin überprüft werden, wie eine einseitige Belastung chronisch Kranker verhindert werden kann. Die SPD will die Prioritäten zugunsten von Prävention und Gesundheitsförderung verschieben. Speziell bei chronisch Kranken sollen die gesundheitliche und die soziale Betreuung besser verzahnt werden. Außerdem spricht sie sich für den weiteren Abbau künstlicher Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aus. Die SPD will den Ausbau von Qualitätssicherungsmaßnahmen und von Verbraucherschutzaspekten der medizinischen Versorgung vorbereiten. Besondere Augenmerk legt sie auf einen humanen Umgang mit Aids-Infizierten und -Erkrankten. Ausdrücklich ins Regierungsprogramm aufgenommen ist das Ziel, lange Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und die Versorgung in der häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Dies soll vor allem über einen Ausbau der ambulanten Pflege gewährleistet werden. Auch die SPD streicht ihren Anteil am Zustandekommen der gesetzlichen Pflegeversicherung heraus. Im Wahlprogramm der FDP spielt die Abkehr von Dirigismus und bürokratischer Rationalisierung von Gesundheitsleistungen eine herausragende Rolle. Die FDP will für alle Beteiligten mehr Frei-

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens räume schaffen und Reglementierungen im geltenden Krankenversicherungsrecht durch flexiblere Regelungen ablösen. Grundprinzipien der sozialen Krankenversicherung wie das Solidarprinzip sollen durch kostendeckende Beiträge für jeden Versicherten und Kostenerstattungsregelungen mit spürbaren Selbstbeteiligungen ersetzt werden. Grund- und Wahlleistungen sollen den einheitlichen und umfassenden Leistungskatalog der GKV ersetzen. Von der Budgetierung und der Bedarfsplanung soll alsbald Abschied genommen werden. Auch die Wünsche der Zahnärzte und der Apotheker finden sich im FDP-Programm wieder. Besondere Kapitel sind einer neuen Drogenpolitik und dem Kampf gegen Aids gewidmet. Ausführlich begründen Bündnis 90/Die Grünen ihr Plädoyer für eine humane Gesundheitspolitik. Eine ökosoziale Gesundheitspolitik müsse am Gesundheitsbegriff der WHO ausgerichtet werden und bedeute eine Abkehr von einer symptombezogenen High-Tech-Reparaturmedizin hin zu einem Vorsorge- und ursachenorientierten Gesundheitssystem. Sie streben vor allem gesunde und sozialverträgliche Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen an und setzen den Schwerpunkt auf Prävention. Ihr Wahlprogramm macht detailliertere Aussagen zum Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt, zur natürlichen Lebensweise und Ernährung und zur Einbeziehung der Umweltpolitik. Bündnis 90/Die Grünen machen auf die Vermarktungsinteressen der Leistungserbringer im Gesundheitswesen aufmerksam und wenden sich gegen einen weiteren Ausbau von Technisierung und Standardisierung. Als Folge des Gesundheits-strukturgesetzes und der geplanten dritten Stufe der Gesundheitsreform sehen sie eine Entsolidarisierung und Leistungsausdünnung mit der Folge einer ZweiKlassen-Medizin. Sie befürchten einen Trend zum "gläsernen Patienten". Sie befürworten eine Reform der Vergütungssysteme, damit Anreize für technische Leistungen in Diagnose und Therapie spürbar zugunsten patientennaher, ganzheitlicher Medizin reduziert werden. Eine bessere Bezahlung und gesellschaftliche Anerkennung soll pflegende Tätigkeiten aufwerten. Auch Bündnis 90/Die Grünen widmen der Immunschwäche-Krankheit Aids besondere Aufmerksamkeit. Das Wahlprogramm der PDS definiert sich in erster Linie als "Opposition gegen Sozialabbau und Rechtsruck". Die PDS spricht sich für eine neue Gesundheitspolitik aus, die medizinische Betreuung und Versorgung nicht von den finanziellen Möglichkeiten des einzelnen abhängig mache. Sie wendet sich gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Sie widmet der Entwicklung und staatlichen Förderung einer ganzheitlichen Betreuung besondere Aufmerksamkeit. Die PDS will Prävention und Rehabilitation einen höheren Stellenwert beimessen. Sie fordert die Schaffung eines "einheitlichen" Versicherungssystems mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Eine Reform der ambulanten medizinischen Betreuung müsse die gleichberechtigte Zulassung poliklinischer Einrichtungen einschließen. Die PDS spricht sich für eine verschärfte öffentliche Kontrolle der Pharmaindustrie und der Hersteller medizinischer Geräte aus.

AOK-Thesen zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Auch die AOK spricht sich für weitere Reformen des Gesundheitswesens aus. Diese Reformen sollen das bestehende System optimieren, Fehlsteuerung ausschalten und den Krankenkassen die Möglichkeit geben, auch als Verbraucherschützer aktiv zu werden.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Die AOK hat hierzu Thesen zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufgestellt und möchte mit diesen Thesen mit ihren Kunden - also den Versicherten und Arbeitgebern -, mit den Sozialpolitikern und der Fachwissenschaft ins Gespräch kommen. Diese AOK-Thesen sollen zu konkreten Reformvorschlägen weiterentwickelt werden. Hierbei darf das bewährte Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Disposition stehen. Konkret fordert die AOK in ihrem Thesenpapier u. a. mehr Möglichkeiten für die gesetzlichen Krankenkassen, im Interesse der Beitragszahler ein optimales Preis-/Leistungsverhältnis verwirklichen zu können. Es ist notwendig, alle Beteiligten im Gesundheitswesen strikter als bisher auf die Einhaltung von Wirtschaftlichkeit und Qualität zu verpflichten. Im Zentrum der kommenden Reformen sind daher feinsteuernde Maßnahmen notwendig, die bei allen Beteiligten Anreize zu mehr Wirtschaftlichkeit und Qualität setzen. Hierbei ist besonders die Stellung des Arztes als Erbringer und Veranlasser von Leistungen ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, daß der Arzt Einfluß auf Angebot und Nachfrage von Gesundheitsleistungen hat. Ferner muß er die pharmazeutische Industrie oder die Hersteller medizinisch-technischer Geräte künftig in das System vertraglicher Beziehungen einbezogen werden. Krankenkassen und Ärzte müssen mehr Einflußmöglichkeiten auf die patientengerechte und wirtschaftliche Gestaltung der Arzneimittelversorgung haben. Dies gilt ebenso für die Beziehungen zu den Leistungserbringern. Den Versicherten konkurrierender Krankenkassen stehen auf der anderen Seite weiterhin Monopole und Kartelle der Leistungserbringer gegenüber. Unter dem Stichwort "Einkaufsmodell" will die AOK neue Formen der Leistungserbringung entwickeln. Das Ziel der AOK ist, mehr Wahlmöglichkeiten für Patienten unter alternativen Versorgungsformen zu schaffen und die Möglichkeit für die Krankenkassen mit Ärzten oder Ärztegruppen Verträge abzuschließen, die medizinische Versorgung optimieren und von der Einzelleistungsvergütung wegführen. Der AOK schweben Gesundheitszentren oder auch Eigeneinrichtungen der Krankenkassen vor. Anstelle sozial unvertretbarer Grund- und Wahlleistungsmodelle sollen die Versicherten künftig wählen können zwischen der heutigen Versorgung und alternativ der Einschreibung bei einem Hausarzt oder der Nutzung eines Gesundheitszentrums. Beide könnten wirtschaftlicher agieren. Denkbar wäre dann ein niedrigerer Beitragssatz. Auch gegenüber Arbeitgebern sind differenzierte Beitragssätze vorstellbar, etwa wenn sich die Unternehmen an effizienten Programmen der betrieblichen Gesundheitsförderung beteiligen. In der Gesundheitspolitik ist nach Ansicht der AOK mehr möglich als Kostendämpfung. Die solidarische Krankenversicherung kann leistungsfähiger und wirtschaftlicher gemacht werden.

These 1: Soziale Krankenversicherung innovativ entwickeln Bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens ist ein vollwertiger Gesundheitsschutz über die soziale Krankenversicherung zu gewährleisten. Tragende Strukturprinzipien dieser sozialen Krankenversicherung dürfen nicht beseitigt oder ausgehölt werden. 1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Seit seiner Etablierung durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hat das System der gesetzlichen Krankenversicherung die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens gewährleistet. Tragende Strukturprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere eine umfassende Solidarität, die paritätische Finanzierung über Beiträge von Versicherten und Arbeitgebern, die am Bedarf orientierte Gewährleistung einer vollwertigen Versorgung, die Verpflichtung aller Beteiligten zur Wirtschaftlichkeit, der Vorrang des Sachleistungsprinzips und die Steuerung des Gesundheitswesens in Selbstverwaltung zählen zum sozialen Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland und stehen bei einer Weiterentwicklung des Gesundheitswesens für die AOK nicht zur Disposition. Für die AOK akzeptable Reformüberlegungen müssen diese Strukturgrundlagen stärker oder zumindest mit ihnen vereinbar sein. Zahlreiche Umfragen zeigen, daß die Bürger mit Ausgestaltung und Niveau des Gesundheitswesens sowie mit der umfassenden Absicherung des Krankheitsrisikos über die gesetzliche Krankenversicherung sehr zufrieden sind. Sie präferieren eine Absicherung des Risikos auf hohem Niveau und aus einer Hand (vollwertige Versorgung). Die hohe Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland beruht auch auf der umfassenden Absicherung des Krankheitsrisikos innerhalb der Sozialversicherung. Das deutsche Modell der Gesundheitssicherung über die soziale Krankenversicherung findet international besondere Anerkennung und ist Vorbild für die Umgestaltung vieler Gesundheitssysteme in West und Ost. Angesichts der Präferenzen der Bürger, der Flexibilität der Steuerungsinstrumente der gesetzlichen Krankenversicherung und im Interesse der wirtschaftlichen sozialen Stabilität des Gesundheitswesens lehnt die AOK eine Umgestaltung des Krankenversicherungssystems in Richtung hin zu einer rein marktwirtschaftlichen Regulierung und Liberalisierung ab. Sie sieht keinen Anlaß, in eine Diskussion um die Absenkung des Sicherungsniveaus der sozialen Krankenversicherung und um die Rationierung von Gesundheitsgütern zu treten. Im Rahmen der vollwertigen Versorgung lehnt die AOK auch die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung oder eine Aufteilung in eine Grund-/Basisversorgung und eine Zusatz-/Wahlversicherung ab. Eine grundsätzliche Beibehaltung des derzeitigen Sicherungsniveaus schließt aber nicht aus, daß von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegrenzte Leistungen von der AOK selbst oder durch Kooperationen mit Dritten angeboten werden. Eine ergänzende Absicherung ausgeschlossener Risiken und Leistungen darf aber nicht zur Aushöhlung eines vollwertigen Gesundheitsschutzes durch die gesetzliche Krankenversicherung führen.

These 2: Anwalt der Versicherten Die gesetzlichen Krankenkassen müssen in die Lage versetzt werden, mehr als bisher global und individuell als Vertreter der gesundheitlichen Interessen von Versicherten und Patienten zu agieren. Die wirtschaftlichen Interessen der Beitragszahler sind zu beachten.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Jede Reform muß von einer Vision angetrieben sein. Die gesetzliche Krankenversicherung eignet sich nicht zum Austragungsort ordnungspolitischer Grundsatzdebatten. Die Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung darf sich auch nicht auf schlichte Kostenverlagerung reduzieren. Leistungsbegrenzungen und erhöhte Zuzahlungen haben zu einer Entfremdung von Versicherten und Krankenkassen beigetragen. Rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen beeinträchtigen die Sachwalterfunktion der Krankenkassen für die gesundheitlichen Interessen von Versicherten und Patienten. Die Krankenkassen müssen deshalb in die Lage versetzt werden, sich vorbehaltlos für die gesundheitlichen Interessen ihrer Versicherten zu engagieren. Über die Sachwalterfunktion hinaus müssen die Krankenkassen eine Rolle als Anwälte von Versicherten und Patienten übernehmen. Dies setzt veränderte Grundeinstellungen bei den Krankenkassen, aber auch erhebliche strukturelle Veränderungen außerhalb der Krankenkassen voraus. Weitere Reformen im Gesundheitswesen müssen von einer positiven Vision der künftigen Aufgaben, Rollen und Funktionen der Krankenkassen geleitet werden. Zu den Aufgaben der Krankenkassen zählt weiterhin die Gewährleistung einer effizienten Mittelverwendung im Gesundheitswesen. Die Balance zwischen Finanzierung und Leistungen muß gewahrt bleiben. Die Beitragszahler dürfen nicht überfordert werden.

These 3: Vernetzte Strukturen Ein weiterer Schritt zur Reform des Gesundheitswesens muß die integrierte gesundheitliche Versorgung aller Patienten in den Vordergrund rücken. Auch nach zwei Reformschritten, die die Strukturen im Gesundheitswesen grundlegend umgestaltet haben, lassen sich weiterhin erhebliche Defizite ausmachen. Vor allem die prinzipiell beibehaltene Trennung der Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen schafft unklare Verantwortlichkeiten und Kompetenzen in der Prävention, konserviert zersplitterte Versorgungsstrukturen in der Rehabilitation und verhindert die notwendige Vernetzung mit psycho-sozialen Versorgungsformen. Sie verursacht Versorgungslücken und -defizite und trägt zur Ressourcenverschwendung im Sozialsystem bei. Die demographische Entwicklung, die Individualisierung der Lebensstile und vor allem die langfristig sich verändernde Morbidität mit Krankheitsbildern und Behandlungsmustern verlangen die Entwicklung integrierter Versorgungsformen und eine stärkere Vernetzung der gesetzlichen Krankenversicherung mit anderen Sozialsystemen. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Prävention, Rehabilitation und Pflege.

These 4: Offen für alle Die gesetzliche Krankenversicherung muß prinzipiell allen Bevölkerungsgruppen offenstehen.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Der rechtliche oder faktische Ausschluß bestimmter Bevölkerungsgruppen von der gesetzlichen Krankenversicherung ist mit dem Solidarprinzip nicht vereinbar. Allen Bevölkerungsgruppen muß die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung offenstehen. So müssen auch Beamte, Selbständige und gut Verdienende die Möglichkeit erhalten, Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden und zu bleiben, auch wenn sie mit ihrem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze liegen. Bei einer Neuordnung der Finanzierung ist eine Neubestimmung des Verhältnisses von gesetzlicher und privater Krankenversicherung erforderlich. Reformüberlegungen, die auf eine erhebliche Ausweitung des Versichertenkreises in der privaten Krankenversicherung abzielen, durchbrechen das Solidarprinzip und gefährden die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Die AOK lehnt alle Bestrebungen ab, die gesetzliche Krankenversicherung auf eine von staatlichen Zuschüssen abhängige Grundversorgung für sozial schwache Bevölkerungskreise zu reduzieren.

These 5: Solidarität stärken Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung muß grundsätzlich das Arbeitseinkommen sein. Eine vom Staat unabhängige gesetzliche Krankenversicherung verlangt grundsätzlich eine Finanzierung durch Beiträge. Das Solidarprinzip gebietet dabei eine möglichst vollständige Erfassung aller Einnahmen, die Leistungsfähigkeit der Versicherten bestimmen. Angesichts der sich rasch verändernden Rahmenbedingungen kann eine Verbesserung der Einnahmesituation der gesetzlichen Krankenversicherung erforderlich sein. Da grundlegende Reformoptionen zum Umbau des Sozialstaates, etwa durch Abkopplung der Sozialversicherung vom Arbeitsverhältnis, zur Zeit noch nicht ausdiskutiert sind, können sich verschlechternde finanzielle Rahmenbedingungen eine systemkonforme Ausweitung der Finanzierungsgrundlage erforderlich machen. Die Erschließung neuer Einnahmequellen ist nicht unproblematisch. Eine Ausweitung der Schwarzarbeit ist ebensowenig ausgeschlossen wie der Wegfall von Arbeitsplätzen. Manipulationen und Mißbräuche werden - auch angesichts der Gesamtbelastung von Bürger und Unternehmen mit Steuern und Abgaben - zunehmen. Die AOK hält deshalb eine umfassende Abwägung aller Gesichtspunkte vor einer Erweiterung der Finanzierungsgrundlagen für unbedingt erforderlich. Bei der stärkeren Hervorhebung der Eigenverantwortung des einzelnen werden vermehrt BonusMalus-Systeme diskutiert. Danach sollen Rauchen, Alkoholkonsum, aber auch bestimmte oder alle Sportarten als gesundheitsgefährdend bestraft (Malus-System), gesundheitsbewußtes Verhalten (Bonus-System) belohnt werden. Da gesundheitsgefährdendes oder -förderndes Verhalten kaum zu klassifizieren ist und gesundheitsgefährdende /-fördernde Umstände bei einer Fixierung auf das individuelle Handeln außer Betracht bleiben müssen, lassen sich Beitragsdifferenzierungen nach dem Verursacherprinzip nicht gerecht bestimmen. Die AOK lehnt es ab, zur Gesundheitspolizei ihrer Versicherten zu werden. Dies schließt allerdings nicht aus, daß höhere Abgaben auf gesundheitsgefährdende Produkte

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens durchaus sinnvoll sein können. Eine erhöhte Besteuerung sollte aber mit stärkeren Aktivitäten des Staates im Gesundheitsschutz einhergehen.

These 6: Vollwertige Gesundheitsleistungen Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung muß alle medizinisch notwendigen Leistungen enthalten. Eine Absenkung des Sicherungsniveaus unterhalb einer vollwertigen Versorgung ist ebenso wenig diskutabel wie die Rationierung von Gesundheitsgütern. Bereits das geltende Krankenversicherungsrecht schreibt fest, daß nur medizinisch notwendige Leistungen von den Versicherten beansprucht, von den Leistungserbringern erbracht und von den Krankenkassen finanziert werden dürfen. In der Praxis werden allerdings eine Reihe von nicht notwendigen Leistungen beansprucht, erbracht und finanziert. Es ist primär Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung, dieser Praxis entgegenzuwirken. Eine Schlüsselstellung kommt dabei der ärztlichen Profession zu. Die AOK unterstützt alle Bestrebungen, den Umfang medizinisch notwendiger Leistungen näher zu bestimmen. Die Bestimmung des Leistungsumfanges darf nicht zu Qualitätseinbußen zu Lasten der Patienten führen und ist keine rein politische Entscheidung. Eine mit der Definition von notwendigen Leistungen beabsichtigte Absenkung des Sicherungsniveaus unterhalb einer vollwertigen Versorgung steht im Widerspruch zu den tragenden Prinzipien einer sozialen Krankenversicherung. Die AOK sieht keinen Anlaß, über eine grundlegende Neubestimmung des Leistungskataloges oder gar über eine Rationierung von Gesundheitsgütern zu diskutieren. Leistungen der Krankenversicherung, die keinen Bezug zur Krankheit haben, sollten ausgegliedert werden. Der Staat muß diese dann über Steuern finanzieren. Statt weiterer Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen sollte Rationalisierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen der Vorrang gegeben werden.

These 7: Wirtschaftlichkeit und Qualität Im Gesundheitswesen sind alle Beteiligten strikter als bisher auf die Einhaltung von Wirtschaftlichkeit und Qualität zu verpflichten (Rationalisierung statt Rationierung). Die Erfahrungen mit dem Gesundheitsreformgesetz und dem Gesundheits-strukturgesetz haben gezeigt, daß in allen Versorgungsbereichen des Gesundheitswesens erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven bestehen. Sie haben aber auch gezeigt, daß undifferenzierte Sparmaßnahmen zu Qualitätseinbußen führen können und daß sich ein grauer Markt, etwa über Zuzahlungen, entwickeln kann. Im Zentrum der nächsten Reformstufe müssen deshalb feinsteuernde Maßnahmen stehen, die bei allen Beteiligten Anreize zu mehr Wirtschaftlichkeit und Qualität setzen. Bei der Feinsteuerung ist der besonderen Stellung des Arztes als Erbringer und Veranlasser von Leistungen ebenso Rechnung zu tragen wie der Tatsache, daß der Arzt Einfluß auf Angebot und Nachfrage von Gesundheitsleistungen hat. Anreizsysteme müssen so ausgestaltet sein, daß Patienten nicht zwischen

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Einrichtungen hin- und hergeschoben werden. Überflüssige Kapazitäten müssen - speziell im Krankenhausbereich - abgebaut oder umgewidmet werden. Ein umfassendes Konzept zur Steigerung von Qualität und Wirtschaftlichkeit muß alle Rationierungsdebatten überflüssig machen. Beteiligte, wie die pharmazeutische Industrie oder die Hersteller von medizinisch-technischen Geräten, die bisher unzureichend in die Verantwortung für Effektivität und Effizienz des Gesamtsystems eingebunden sind, müssen in das System vertraglicher Beziehungen einbezogen werden.

These 8: Wettbewerb der Leistungserbringer Die Leistungserbringung muß stärker flexibilisiert werden. Wettbewerb muß auch als Steuerungsinstrument auf Seiten der Leistungserbringer eingesetzt werden. Die Monopolstellung der Kassenärztlichen Vereinigung und die eingeschränkten Möglichkeiten der Krankenkassen grenzen die Suche nach integrierten, qualitativ hochstehenden, humanitären und wirtschaftlichen Versorgungsformen ein. Auch die Dominanz des Arztes im Gesundheitswesen, die strikte Trennung der Versorgungsbereiche und die Fixierung auf die ärztliche Einzelpraxis als selbständige Unternehmungen in der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung erschweren diese Suche. Die bestehenden Rahmenbedingungen schaffen ein tendenzielles Übergewicht auf der Seite der Leistungserbringer gegenüber den Krankenkassen. Dadurch werden administrative und bürokratische Planungs- und Steuerungsinstrumente, wie etwa die vertragsärztliche Bedarfsplanung, begünstigt. Darüber hinaus tragen sie zur Erstarrung und Verkrustung des Systems bei. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eine stärkere wettbewerbliche Ausrichtung der gesetzlichen Krankenversicherung eingeleitet. Der Wettbewerb der Krankenkassen wird erheblich intensiviert. Konkurrierende Krankenkassen stehen aber weiterhin Monopolen und Kartellen der Leistungserbringer gegenüber. In einer wettbewerblich orientierten GKV muß deshalb Wettbewerb auch auf der Leistungserbringerseite initiiert werden. Die AOK spricht sich dafür aus, die Nachfragemacht der Krankenkassen über ein Einkaufsmodell zu stärken und neue Formen der Leistungserbringung zuzulassen. In allen Versorgungsbereichen muß die Pluralität der Träger und der Versorgungsformen möglich werden. Über Konkurrenz von Ärzten und Arztgruppen muß die Steigerung von Qualität und Wirtschaftlichkeit angeregt werden. Dabei ist neu zu bestimmen, welche Punkte der Vertragsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistusngserbringern einheitlich und gemeinsam (z. B. Leistungsrahmen de ambulanten Versorgung, Pflegesätze und Fallpauschalen in der stationären Versorgung, Festbeträge bei Arznei- und Hilfsmitteln, Qualitätsstandards) geregelt werden müssen und welche Felder der Vertragspolitik dem Wettbewerb überlassen werden können. Gleichzeitig ist sicherzustellen, daß die Verantwortung der gemeinsamen Selbstverwaltungen von Krankenkassen und Leistungserbringern für die Effektivität und Effizienz des Gesamtsystem gewahrt bleibt. Die Verbände im Gesundheitswesen, speziell die Kassenärztlichen Vereinigungen, werden damit also nicht überflüssig, sondern erhalten neue Aufgaben und Funktionen.

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Die AOK befürwortet eine schrittweise Öffnung und Umgestaltung der Versorgungsstrukturen und hält eine Erprobung neuer Formen der Leistungserbringung für sinnvoll. Wettbewerb muß auch auf Seiten der Leistungserbringer als Steuerungsinstrument gezielter eingesetzt werden.

These 9: Neue Versorgungsformen Vor allem in der ambulanten Versorgung sind neue Formen der Leistungserbringung und neue Versorgungsstrukturen zu fördern. Speziell in der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung können neue Formen der Leistungserbringung Qualität und Wirtschaftlichkeit ärztlichen Handelns spürbar verbessern und für eine Vernetzung mit anderen Versorgungsformen sorgen. Im Zentrum der Reformüberlegungen steht einerseits der Hausarzt, dem als Erbringer von eigenen Leistungen und Veranlasser von ärztlicher und nicht-ärztlicher Leistungen eine Schlüsselfunktion im Gesundheitswesen zukommt. Seine Gate-Keeper-Funktion muß durch entsprechende Vergütungssysteme sinnvoll stimuliert werden. Über kombinierte Budgets könnte der Arzt alle veranlaßten Leistungen steuern und dafür auch in die wirtschaftliche und qualitative Verantwortung genommen werden. Im System der ambulanten Versorgung muß dem Hausarzt also eine herausgehobene Funktion zukommen. Damit einhergehen müßte eine deutliche Aufwertung der Betreuung gegenüber der pharmakologisch und technisch ausgerichteten Medizin sowie die Sicherstellung von Prozeß- und Ergebnisqualität. Andererseits muß der Aufbau von Versorgungsketten zur Gewährleistung einer integrierten Versorgung der Patienten ohne Restriktion möglich werden. Die Reformpalette reicht dabei von der wirksamen Förderung von Kooperationen über die Grenzen der ärztlichen Profession hinweg über die Zulassung von Health Maintenance Organisationen (HMOs) und Gesundheitszentren in kommunaler, freigemeinnütziger oder privater Trägerschaft bis hin zum Ausbau von Eigeneinrichtung der Krankenkassen. Welche Versorgungsform die beste Qualität erbringt, welche die wirtschaftlichste Alternative für die Versicherten bietet, welche die größte Akzeptanz unter den Patienten findet, dies sollte ein Wettbewerb zwischen alternativen Versorgungsformen erweisen.

These 10: Mehr Selbstbestimmung der Versicherten Ein erweiterter Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sollte auf der Basis einer solidarischen Wettbewerbsordnung - auch durch die Wahl der Versorgungsform - Vorteile für die Versicherten schaffen. Die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeschlagene Richtung zu einem sozial verträglichen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen muß fortgesetzt werden. Es bestehen aber noch erhebliche Disparitäten zwischen den Krankenkassen (unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten der Versi1. Fachtagung Sozialarbeit mit Nierenkranken, Berlin 1994

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Stand und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens cherten, Organisations-möglichkeiten der Krankenkassen und Selbstverwaltungsstrukturen). Der Risikostrukturausgleich gleicht zwar wichtige Faktoren der unterschiedlichen Risikostrukturen bei den einzelnen Krankenkassen und Kassenarten aus. Da die unterschiedliche Morbidität nicht ausgeglichen wird, entwickelt sich eine Risikoselektion entlang der Ausgabenstrukturen in den jeweiligen Altersgruppen. Morbiditätsbedingte Risikoselektion und unterschiedliche Betreuungsqualitäten müssen in einem solidarischen Wettbewerb der Krankenkassen durch eine Anpassung des Risikostrukturausgleichs dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Zudem muß ein intensivierter Wettbewerb, der zur Zersplitterung der Nachfragerseite und zu Kostensteigerungen führt, verhindert werden. Die Erweiterung der Wettbewerbsfelder zwischen den Krankenkassen muß vielmehr dort ansetzen, wo eine Konkurrenz um Innovation und Effizienz zu erwarten ist. Wettbewerb ist für die AOK vor allem dort erkennbar, wo es um das beste und wirtschaftlichste Versorgungskonzept geht. Eine Wettbewerbsordnung mit verbindlichen Regeln und Sanktionen muß sicherstellen, daß Versicherte nicht diskriminiert werden. Es muß sichergestellt werden, daß die dem Wettbewerb innewohnenden Entsolidarisierungstendenzen nicht zu einer Ausgrenzung oder Vernachlässigung bestimmter Versichertengruppen führt. Die Rechte des Versicherten müssen in dieser Wettbewerbsordnung, etwa durch Schaffung eines für alle Kassen und Kassenarten zuständigen Ombudsmannes, gestärkt werden. Selbstregulierenden Mechanismen zwischen den Krankenkassen ist dabei der Vorzug zu geben vor aufsichtsrechtlichen Regelungen. Auch wenn die AOK ein Grund- und Wahlleistungskonzept, das auf die Schaffung zusätzlicher Einnahmequellen bei Leistungserbringern abzielt, ablehnt, hält sie die Erweiterung von Wahlmöglichkeiten der Versicherten für sinnvoll. Diese Wahlmöglichkeiten müssen sich nicht auf das abgesicherte Risiko und die zugesagten Leistungen, sondern auf die Versorgungsform richten. Der Versicherte hätte beispielsweise die Wahl zwischen der heutigen Versorgung und direktem Zugang zu allen Ärzten, der Einschreibung bei einem Hausarzt, der befristeten Bindung an eine bestimmte Versorgungskette oder der Nutzung eines Gesundheitszentrums/einer Eigeneinrichtung. Dann wäre es konsequent, versicherten einen Beitragssatzabschlag anzubieten, die eine integrierte, besonders wirtschaftlich arbeitende Versorgungsform wählen. Eine entsprechende Differenzierung des Beitragssatzes könnte auch bei Arbeitgebern denkbar sein, etwa wenn sie sich an Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung beteiligen.

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte von Günter Pause

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 1

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 2

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 3

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 4

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 5

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 6

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Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation für Dialysepatienten und Nierentransplantierte Günter Pause, Kopie Seite 7

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Anlagen

Anlagen

Anlage 1 zu zum Beitrag „Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten“ Strukturierungshilfen für ein Gespräch über die Handlungskompetenz eines alten Menschen in seiner sozialen Umwelt

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Anlagen Anlage 1, Kopie Seite 1

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Anlagen Anlage 1, Kopie Seite 2

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Anlagen Anlage 2 zum Beitrag „Krankheitserleben bei älteren Dialysepatienten“ - Literaturangaben

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Anlagen Anlage 2, Kopie Seite 1

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Anlagen Anlage 2, Kopie Seite 2

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Referentenliste

Referentenliste Dr. Thomas Elkeles Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) Forschungsgruppe Gesundheit Reichpietschufer 50 10785 Berlin Frau Vjenka Garms-Homolová Institut für Gesundheitsananlysen u. soziale Konzepte (IKG) e. V. Spessartstra. 12 14197 Berlin Tel.: 030/8219999 Jürgen Heese AOK für das Land Brandenburg 14510 Teltow Tel.: 03328/45-0 Dipl. Psychologin Uta Jurack Kinderdialyse des Kuratoriums für Dialyse und Nierentransplantation e.V. Abtnaundorfer Straße 66 -68 04347 Leipzig Tel.: 0341/2417112, App. 31 Dr. Karl Kertzendorff Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Abteilungsarzt für Rehabilitation Postfach 10704 Berlin Tel.: 030/865-22217 Sozialarbeiterin Gabi Metten-Haumann Universitätsklinikum Rudolf-Virchow Augustusburger Platz 1 13465 Berlin Tel.: 030/450/71 688 Sozialarbeiter Manfred Möckelmann Schönwalder Allee 26 13587 Berlin Tel.:030/336 86 63

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Referentenliste Günter Pause Arbeitsamt II Sonnenallee 262 12039 Berlin Tel.:030/6833-110 Sozialarbeiterin Gabi Reinhard-Touré St. Joseph-Krankenhaus Bäumerplan 24 12101 Berlin Tel.: 030/7882-2374 Sozialarbeiterin Beate Schneider St. Joseph-Krankenhaus Bäumerplan 24 12101 Berlin Tel.: 030/7882-2374 Dipl. Psychologin Ruth Wiedemann Kastanienallee 56 10119 Berlin Sozialarbeiterin Gisela Wieder Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e.V. Brandenburger Straße 17 26133 Oldenburg Tel.: 0441/43005

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