Heldinnen und Helden der Sozialarbeit

SozialarbeiterInnen klagen über Stress und Ueberlastung und stellen fest, dass sie ihrem Auftrag nicht mehr gerecht werden können. Sie hätten immer mehr und immer komplexere Fälle zu bearbeiten und immer weniger Unterstützung in der Oeffentlichkeit. Einige werden krank, andere geben den Beruf auf. Arbeitgeber haben Schwierigkeiten, diplomierte SozialarbeiterInnen zu finden. Politiker und Medien kritisieren die Sozialarbeit als zu teuer, ineffizient und unprofessionnel. Ausgehend von solchen Feststellungen führte die Sozialschule Lausanne eine Studie über die Arbeitsbelastung in der Sozialarbeit durch . Dieser Artikel fasst die wichtigsten Resultate der Untersuchung zusammen. von Vérena Keller Die Frage der Arbeitsbelastung ist so alt wie die berufliche Sozialarbeit selbst. Bereits aus den 1940−er Jahren sind Aussagen erhalten, die eine zu grosse Fallzahl und damit einhergehende Machtlosigkeit und Ineffizienz bedauern. Ein Zitat aus den fünfziger Jahren mutet seltsam bekannt an : « Die Sozialdienste sind häufig überlastet. Die Fälle sind so zahlreich, dass man sie nicht gründlich bearbeiten kann. [...] Es fehlt an Zeit, um die Probleme jedes Falles wirklich zu lösen. » (L’Eplattenier, 1957). Was heisst aber « gründlich bearbeiten », « Probleme wirklich lösen » ? Die Ziele der Sozialarbeit sind heute nicht konkreter definiert als früher, sie sind auch nicht unbedingt realistischer geworden. Dies ist eine erste Schwierigkeit in der Frage der Arbeitsbelastung : Was genau müssen denn die SozialarbeiterInnen tun, was erreichen ? Wann haben sie ihren Auftrag erfüllt ? Sozialhilfe : Geld und dann nichts mehr ? Die kantonalen Gesetze der Sozialhilfe der Romandie fassen den Auftrag weit, grosszügig und ungenau : Sozialhilfe soll finanzielle Unterstützung in Notlagen leisten, zu finanzieller und sozialer Unabhängigkeit führen, soziale Kohäsion und Integration fördern, Ursachen von sozialen Problemen, Armut und Ausgrenzung erkennen und bekämpfen. Wir stellten in unserer Untersuchung fest, dass sich die Sozialhilfe in der Romandie immer mehr auf finanzielle Unterstützung reduziert. Der Anteil der Dossiers mit finanzieller Hilfe steigt, während jener ohne finanzielle Hilfe sinkt. Viele SozialarbeiterInnen sagten uns, sie müssten wegen Überlastung Bitten um nicht−finanzielle Unterstützung an « andere » Sozialdienste weiterweisen – allerdings ohne Garantie, dass dort den Leuten auch geholfen wird. So erfüllen die SozialarbeiterInnen den Gesetzesauftrag nicht, welcher ein Zusammenspiel von finanzieller und sozialer Hilfe sowie Ursachenbekämpfung beinhaltet. Es kommt zu einer Segmentierung der Probleme : Besonders in den grossen Städten müssen die Leute eine Vielzahl von spezialisierten Diensten aufsuchen. Diese Spezialisierung wird aber weitgehend verleugnet ; die SozialarbeiterInnen beziehen sich weiterhin auf eine Berufskultur der Polyvalenz. Dieser Widerspruch ist gewiss ein Grund für berufliche Unzufriedenheit. Arbeitsteilung : experimentell und individuell Um die Arbeitsbelastung zu erfassen, müssen wir nicht nur die Aufgaben kennen, sondern auch wissen, wer diese denn erfüllen soll. In allen untersuchten Stellen sind SozialarbeiterInnen (nicht alle diplomiert) und administratives Personal tätig. Letzteres trägt verschiedene Titel, Sekretärin ist der gängigste. An manchen Orten wurden vor kurzem und oft überstürzt neue Funktionen eingeführt, weil keine diplomierten SozialarbeiterInnen mehr gefunden wurden. Dies, um die Sozialarbeitenden vom « Papierkrieg » zu entlasten oder um die finanzielle Hilfe professionneller 1

(bzw. kontrollierter) zu verwalten. Das administrative Personal übernimmt ganz unterschiedliche Aufgaben : Es ist zuständig für einen Teil oder für sämtliche administrativen Arbeiten, in Eigenverantwortung oder im Auftrag der SozialarbeiterInnen. Manchmal haben administrative Mitarbeiterinnen direkten Kontakt zur Klientel und führen « einfache » Fälle. Diese Arbeitsteilung ist kaum reglementiert. Sie ist dauerndem, schnellem Wechsel unterzogen und wird oft von den betreffenden KollegInnen persönlich ausgehandelt. Dies wurde unseres Wissens nirgends evaluiert, doch wird diese Teilung oft als problematisch erlebt : Niemand weiss genau, wer wofür zuständig ist. Die Arbeitsverteilung unter den SozialarbeiterInnen ist ähnlich vielfältig und individuell gestaltet. Wir wollten wissen, wie die neuen Fälle zugeteilt werden und fanden drei Vorgehensweisen: Freiwilligkeit, im Turnus oder der Arbeitszeit entsprechend. Keine dieser Methoden wird « konsequent» angewandt ; häufig trägt man einer Überlastungssituation oder grosser Müdigkeit der KollegInnen Rechnung. Diese Rücksicht basiert auf rein subjektiven Kriterien, die allgemein anerkannt scheinen. Manche SozialarbeiterInnen gaben ihrer Befriedigung, ja ihrem Stolz Ausdruck, ein solchermassen solidarisches, flexibles Verteilsystem zu haben. Allerdings kann das zu ganz unterschiedlichen Arbeitsvolumen führen, was dann wiederum unterschiedliche Leistungen für die Klienten bedeuten kann. Wir werden noch darauf zurückkommen. In keinem der untersuchten Sozialdienste werden die Fälle nach qualitativen Kriterien zugeteilt wie z.B. der Problematik, den vorgesehenen Leistungen oder der Sprache. Diese stelleninterne Polyvalenz wird vielerorts als Garant für eine qualitativ hochstehende Sozialarbeit und als Mittel gegen Ermüdung dargestellt. Allerdings ist dieses Modell aufwändig in einer Zeit schneller Veränderungen der gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen : Alle SozialarbeiterInnen müssen dauernd alle ihre Kentnisse à jour halten – oder aber sie sind nicht überall auf dem aktuellen Stand. Was ist ein Fall − 35 oder 180 Fälle pro SozialarbeiterIn ? In den untersuchten Sozialdiensten wird die Fallzahl als einzige Grösse zur Erfassung der Arbeitsbelastung benutzt. Deshalb wollten wir wissen, wie ein « Fall » definiert ist, nach welchen Kriterien ein Dossier eröffnet und nach welchen ein solches abgeschlossen wird. Dabei fanden wir acht verschiedene Definitionen in Bezug auf die Eröffnung eines Dossiers und sechs betreffend des Abschlusses. So wird zum Beispiel ein Dossier ab der ersten telefonischen Kontaktnahme eröffnet und damit als Fall gezählt, während dies an anderer Stelle erst nach der ersten Zahlung erfolgt. Ein Fall wird abgeschlossen, « wenn die Hilfe nicht mehr notwendig ist » oder aber automatisch per EDV im zweiten Monat ohne Finanzhilfe. Überall wird unterschieden zwischen Fällen mit und solchen ohne Finanzhilfe. Fälle mit Finanzhilfe sind klarer definiert (im allgemeinen : mindestens eine Zahlung im Jahr). Nur die Sozialdienste der Stadt Lausanne und jene des Kantons Genf haben schriftliche, verbindliche Definitionen. Und es kommen weitere Schwierigkeiten dazu : So gibt es Sozialdienste, in denen die Fälle eines Jahr aufaddiert werden, anderswo zählt diese an einem spezifischen Stichtag. Bei so unklaren Verhältnissen ist die jeweils genannte Fallzahl keine verlässliche Grösse, um die Arbeitsbelastung zu erfassen. Und doch wird von vielen Beteiligten immer wieder betont, die Belastung nehme zu, was man an zunehmenden Fallzahlen pro SozialarbeiterIn erkenne; ebenso wurden darauf abgestützt neue Stellen bewilligt. So fragten wir denn nach der Fallzahl, d.h. der Anzahl laufender Fälle zum Zeitpunkt der Untersuchung, umgerechnet auf eine volle Stelle. Die Unterschiede sind beträchtlich, manchmal innerhalb eines Sozialdienstes. Wir fanden zwischen 35 und 180 Fällen pro SozialarbeiterIn. Wir wissen aber nicht, ob diese enormen Unterschiede verschiedene Arbeitsbelastungen bedeuten, oder ob sie auf uneinheitliche Verhältnisse und Definitionen zurückzuführen sind. Wir haben nur an drei Orten Standards betreffend Fallzahlen gefunden und zwar 70 Dossiers im 2

Kanton Genf, 80 im Kanton Waadt, 150 in der Stadt La−Chaux−de−Fonds. Diese Normen können überschritten werden, was oft auch geschieht. So erstaunt es nicht, dass sich viele der Interviewten, aber nicht alle, dahingehend äussern, dass die Arbeitsbelastung zugenommen habe und zu gross sei, dass sie den Ereignissen hinterherrennen, nur noch Dringendes erledigen und nie « à jour » seien. Andere, vor allem Kaderleute, sehen die Ueberlastung eher als Folge unklarer Zielsetzung und ineffizienter Arbeitsorganisation von Seiten der SozialarbeiterInnen. Die heutige Datenlage erlaubt es denn nicht, sich ein Bild zu machen über die aktuelle Arbeitsbelastung und noch weniger über deren Entwicklung. Wir stehen so vor dem Paradox, dass sich viele Sozialarbeitende wegen Ueberlastung beklagen, ohne dass man Instrumente hätte, um die Belastung zu erfassen. Der öffentliche Dienst « Sozialhilfe » kann verbessert werden Unsere und andere Studien zeigen, dass die Qualität der Sozialarbeit nicht immer gewährleistet ist. So wird nur wenig Zeit für die Erstevaluation einer Klientensituation aufgewendet. Die Intensität der Begleitung ist allgemein niedrig und von KlientIn zu KlientIn sehr verschieden, ohne dass man feststellen könnte, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. So haben gemäss einer Studie nur ein Drittel der KlientInnen eine monatliche Besprechung mit der SozialarbeiterIn ; eine Untersuchung zeigt, dass eine Besprechung nur 19 Minuten dauert. Andere Studien zeigen auf, dass die Sozialarbeitenden während 22 und 39% ihrer Arbeitszeit in direktem Kontakt zur Klientel stehen oder dass sie zwischen 40 und 50% ihrer Zeit für administrative Arbeiten aufwenden. Diese Feststellungen müssten präzisiert werden. Sie zeigen aber bereits deutlich, dass die berufliche Zufriedenheit und die Gesundheit der SozialarbeiterInnen in Gefahr ist, und dasselbe gilt für die Qualität – und die Effizienz − des Sozialdienstes. Wir trafen in der Sozialhilfe der französischen Schweiz auf verschiedenste Organisationsformen, in Krisensituationen schnell eingeführt, selten dokumentiert, oft selbst der kantonalen Aufsichtsbehörde unbekannt, kaum diskutiert, nirgends evaluiert. Das Prinzip der Gleichbehandlung ist nicht respektiert, weder für die Bevölkerung noch für die Angestellten. SozialarbeiterInnen werden erdrückt von zahllosen Einzelfällen, ihre Arbeit ist wenig bekannt und schlecht anerkannt. Isoliert und heldenhaft versuchen sie, standzuhalten. Kontrolle oder Hilfe ? Wie eingangs erwähnt, ist die Frage der Arbeitsbelastung so alt wie die Sozialarbeit selbst. Immer hatten die Sozialarbeitenden zu viele Fälle, nie konnten sie tun, was sie eigentlich für notwendig hielten. Insofern führt die Problematik des Arbeitspensums zu anderen, grundsätzlichen, ebenfalls alten Fragen : was ist und was soll Sozialarbeit, welches ist ihr gesellschaftlicher Auftrag, was sind ihre Möglichkeiten und Grenzen? Ist Sozialarbeit eine Bereitschafts−Feuerwehr, eine Maschine für soziale Kontrolle, Normalisierung und Arbeitszwang ? Oder eine Einrichtung der Solidarität und Unterstützung für Menschen in schwierigen Lebenslagen, mit den Zielen Emanzipation, Freiheit, Gerechtigkeit ? Die seit mehr als einem halben Jahrhundert anhaltende, ungelöste Problematik der Arbeitsbelastung mag darauf hindeuten, dass Sozialarbeit nicht zuviel tun soll für die einzelnen Menschen. Wenn dann aber die Berufstätigen das anders wollen, geraten sie in eine tragische Position : sie werden zu Helden, die das Unmögliche versuchen. Um da rauszufinden, müssen eine Reihe von Fragen diskutiert und geklärt werden. Diese Diskussionen betreffen die Sozialpolitik, die Organisation der Sozialdienste und die Methoden der Sozialarbeit. Erst nachdem diese Fragen geklärt sind, kann man das Problem der Arbeitsbelastung angehen. Solche Klärungen können nicht ohne öffentliche Diskussion geschehen. Diese ist von den politischen Kräfteverhältnissen geprägt. Neoliberale Gegner des Sozialstaates werden versuchen, die Ziele der Sozialarbeit einzuschränken und deren Leistungen zu rationieren. Ihnen gegenüber sind KlientInnen, SozialarbeiterInnen, Institutionen, Sozialschulen, Gewerkschaften und andere 3

Verbände gefordert, eine Sozialarbeit zu denken und zu praktizieren, die den Berufstätigen Befriedigung gibt und ihre Gesundheit nicht gefährdet, damit qualitativ hochstehende Leistungen für die Bevölkerung erbracht werden können. Hier einige Stichworte zu den verschiedenen Diskussionsebenen : Sozialpolitik : keine leeren Versprechen Heute verspricht die Sozialhilfe neben Geldleistungen Begleitung und Unterstützung. Unsere Studie zeigt, dass den Sozialarbeitenden dafür die notwendige Zeit fehlt. Wie vernünftig ist es ausserdem zum Beispiel, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Integrationsprogramme anzubieten ? Kann Sozialarbeit in Zeiten von Wohnungsnot realistischerweise Hilfe bei Wohnproblemen bieten? Der Widerspruch zwischen gesetzlichem Auftrag (Ideal) und Realität wird von den SozialarbeiterInnen individuell aufgefangen und oft mit Gefühlen der Machtlosigkeit oder mit Krankheit bezahlt. Für eine Verbesserung müssten auf der Ebene der Sozialpolitik klare und realistische Ziele für die Sozialarbeit gesetzt und die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Ebenso muss festgelegt werden, welche konkreten Leistungen die Sozialhilfe der Bevölkerung garantiert. Eine klare Organisation der Sozialdienste Betreffend der Organisation der Sozialdienste sind folgende Punkte zu überarbeiten : Für eine korrekte Arbeitsverteilung bedarf es einer klaren, schriftlichen und verbindlichen Definition eines zu zählenden Falles. Es muss auch überlegt werden, ob die SozialarbeiterInnen sich stellenintern spezialisieren sollen. Ebenso muss die Arbeitsteilung geklärt werden zwischen den verschiedenen Berufen aus dem sozialen, administrativen und juristischen Bereich. Die Mitarbeit von Kaderleuten und SpezialistInnen kann notwendig sein (z.B. für Abklärungen von Rechtsansprüchen, Schuldensanierung, Integrationsprojekte). Warum immer nur Einzelhilfe ? Unsere Untersuchung zeigt, dass heute eine wenig intensive Einzelhilfe vorherrscht. Prävention, Information, Gruppen− oder Gemeinwesenarbeit wird nicht praktiziert. Man müsste sich wieder einmal fragen, welche Methoden der Sozialarbeit die geeignetsten sind, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Was die Einzelhilfe betrifft, so müsste man bestimmte Standards festlegen, z.B. die « ideale » Intensität der Intervention : wieviele Besprechungen in welchem Zeitraum sollen stattfinden ? Ist diese Intensität in allen Phasen der Hilfe und für alle KlientInnen dieselbe ? Ist es sinnvoll, die Intervention auf eine gewisse Zeit zu konzentrieren (zu beschränken) ? Brauchen alle SozialhilfebezügerInnen während der ganzen Zeit der Hilfe einen Sozialarbeiter ? Auch bei diesen Fragen müssen die Sozialtätigen mitreden, denn sie entscheiden mit über Befriedigung am Arbeitsplatz und prägen die Qualität der Hilfe. Nachdem diese Fragen – Ziele der Sozialhilfe, Organisation der Sozialdienste, Methoden – geklärt sind, und zwar nicht ein für allemal sondern als provisorische Standortbestimmung, dann und erst dann kann man die Frage der Arbeitsbelastung in Angriff nehmen. Fünf Methoden der Arbeitserfassung In unserer Studie trafen wir auf fünf verschiedene Modelle zur Steuerung der Arbeitsbelastung. Ein erstes, sehr einfaches Modell nennen wir « faire au mieux ». Es besteht darin, die anfallende Arbeit ohne Kriterien, ohne Standards und ohne jede Evaluation zu verteilen « wie sie gerade kommt ». Das 2. Modell besteht in der Zählung der Dossiers, die nach verschiedenen, objektivierten, Kriterien verteilt werden. Das 3. Modell versucht, die verschiedenen Tätigkeiten oder Leistungen aufzulisten, ihren Zeitaufwand festzustellen (Standard) und die Arbeit entsprechend zu verteilen. Das 4., sehr komplexe Modell setzt die Erfassung der Bedürfnisse und Probleme einer Region voraus, worauf dann festgestellt wird, wieviele Sozialarbeitende oder Sozialdienste erforderlich sind. Ein 5. Modell liegt auf einer andern Ebene, nämlich der Methode der Sozialarbeit, und wurde vor 20 Jahren von Ruth Brack entwickelt. In der welschen Schweiz kaum bekannt, führte dieses Instrument seinerzeit 4

in der Deutschschweiz zur Aufstockung von zahlreichen Stellen. Es besteht darin, die pro KlientIn tatsächlich verfügbare Zeit im Jahr festzustellen und davon ausgehend den Bedarf an SozialarbeiterInnen festzulegen. So kann für das Welschland berechnet werden, dass zur Zeit einE SozialarbeiterIn, wenn sie 60 Fälle hätte, jedem Fall ungefähr 15 Stunden in einem Jahr widmen könnte. Wenn dieser Wert bekannt ist, gibt es schematisch gesehen zwei Möglichkeiten : es werden mehr Stellen geschaffen, weil 15 Stunden nicht genügen, um die Ziele zu erreichen, oder aber die Ziele der Sozialarbeit werden reduziert, damit sie in 15 Stunden erreicht werden können. Wie oben ausgeführt, liegen die Fallzahlen heute zum Teil wesentlich über 60, sodass entsprechend weniger als 15 Stunden zur Verfügung stehen. Jedes dieser Modelle hat Vor− und Nachteile. Die Gespräche, die wir im Laufe der Untersuchung führten, zeigten uns, dass ein Kriterium zentral ist bei der Auswahl eines Modells : es sollte im Einverständnis mit den Sozialarbeitenden gewählt werden, denn das Messen der Arbeitsbelastung kann sehr wohl als Sparmassnahme und Sozialabbau verstanden werden. Und : die Frage der Arbeitsbelastung ist eine ganz zentrale Problematik, die die Qualität der Sozialarbeit, ja der Sozialpolitik, mindestens so stark beeinflusst wie ein neues Gesetz über die Sozialhilfe.

Die Studie : « La charge héroïque » Die Studie untersucht Aufgaben, Organisationsformen und Methoden zur Erfassung der Arbeitsbelastung in der Sozialhilfe der Romandie und kommentiert 22 einschlägige Erfahrungen aus dem In− und Ausland. Die Studie wurde finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung und der Kommission für Technologie und Innovation (Aktion Do−Re). Durchgeführt wurde sie von der Schule für Sozialarbeit Lausanne, in enger Zusammenarbeit mit den Direktionen der Sozialhilfe der Kantone Waadt und Genf. In den Kantonen Genf und Waadt wurden Akteure aller Stufen interviewt, vom Regierungsrat bis zu den SozialarbeiterInnen ; in den andern 4 Kantonen die Direktion von je drei Sozialdiensten. Insgesamt führten wir 31 Interviews und besuchten 16 Sozialdienste. Das Buch kann über den Buchhandel oder bei der Ecole d’études sociales et pédagogiques, Lausanne (Tel. 021 651 62 00, Fax 021 651 62 88) bezogen werden. Preis : Fr. 29.−, 230 Seiten.

Literatur (Auswahl) BRACK R. (1994, 3e éd.). Das Arbeitspensum in der Sozialarbeit. Ein Beitrag zur Klärung der Arbeitsbelastung. Bern und Stuttgart : Haupt. DEJOURS C. (1998), Souffrance en France. La banalisation de l’injustice sociale. Paris : Seuil. LEY K. (1982), « La féminitude, une profession », in : Fragnière J.−P. et Vuille M., Assister, éduquer et soigner. Lausanne : Réalités Sociales. L’EPLATTENIER J.−P. (janv./fév. 1957), « La surcharge des travailleurs sociaux face aux cas individuels ». Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, Heft 1/2. LE STRAT Cl. (2001), Un échange de services paradoxal. Actes de la recherche en sciences sociales N° 136−137. LORIOL M. (2000), Le temps de la fatigue. La gestion sociale du mal−être au travail. Paris : Anthropos. MADOERIN M. (2001), « Care Economy – ein blinder Fleck der Wirtschaftstheorie ». Widerspruch, No. 40. MUELLER−TRACHSLER R. (1995), Leistungserfassung in der Sozialarbeit. Bern : Edition Soziothek. RUDER R. (1995), New Public Management und Sozialhilfe – ein Widerspruch ? Bern : Edition Soziothek. SOMMERFELS P., F. JUNGK (2001), Beurteilung der SozialarbeiterInalhilfe im Kanton Solothurn 5

durch ihre Klientinnen und Klienten. Schlussbericht. Olten : Fachhochschule Solothurn.

Zur Autorin : Véréna Keller schloss mit dem Diplom in Sozialer Arbeit ab und machte das Lizenziat in Erziehungswissenschaften. Langjährige Tätigkeit als Sozialarbeiterin. Seit 1996 Dozentin an der FHS Lausanne in den Bereichen Sozialpolitik und Soziale Arbeit. Mitarbeit an Studien in diesen Bereichen.

www.avenirsocial.ch

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