ERASMUS-Erfahrungsbericht Poitiers Wintersemester/Sommersemester 2013-2014 Warum Frankreich? Obwohl ich an der Grenze Frankreichs aufgewachsen bin, begrenzte sich meine Sprachkenntnis vor meinem ERASMUS-Aufenthalt in Poitiers nur auf Schulniveau und auch sonst war mir unser Nachbarland und wichtiger Partner in der Europäischen Union doch relativ fremd geblieben. Ich habe seit der Grundschule Französisch erlernt, das ich gerne praktisch nutzen wollte. Dabei wollte ich nicht nur die Kommunikation für den Alltag verbessern, sondern auch die juristische Fachsprache erlernen. Konkret reizte mich, dass Französisch eine der wichtigsten Amts- und Arbeitssprachen in der Europäischen Union, insbesondere an den Gerichten und zahlreicher wichtiger internationaler Organisationen ist, sodass fließende Sprachkenntnisse in Französisch sehr nützlich sein können. Außerdem ist Frankreich ein wichtiges Nachbarland in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, das ich gerne besser kennenlernen wollte. Nicht zuletzt interessierte mich das Kennenlernen

von

Franzosen,

grundsätzlich

kulturelle

Unterschiede

und

Gemeinsamkeiten entdecken, Kontakte knüpfen und hoffentlich auch neue Freundschaften aufzubauen. Poitiers ist mit ca. 90.000 Einwohnern eine relativ kleine Stadt in Westfrankreich. Die Hauptstadt

der

Region

Poitou-Charentes

ist

eine

Studentenstadt,

neben

französischen Studenten unterschiedlichster Fakultäten trifft man überall auch auf verschiedenste

internationale

Studenten

aus

aller

Welt.

Insbesondere

die

mittelalterliche Innenstadt ist sehr hübsch, mit vielen Gassen und unzähligen Kirchen, Cafés und Bars. Die Université de Poitiers ist eine der ältesten Frankreichs (1431 gegründet). I.

Erfahrungen im Studium an der Gastuniversität Université de Poitiers 1. Lehrveranstaltungen

Als ERASMUS-Student kann man Lehrveranstaltungen vom ersten bis zum vierten Studienjahr wählen, das bedeutet, von Licence 1 (Bachelor erstes/zweites Semester) bis Master 1. Außerdem besteht die Möglichkeit, ein Zertifikat der Universität zu erwerben. Ich habe mich für das „Certificat de droit public français“ entschieden, mit Schwerpunkt auf dem Öffentlichen Recht. Die drei Pflichtfächer für dieses Zertifikat

sind Droit administratif I und II, Droit constitutionnel II sowie Organisations européennes. Dazu waren mindestens drei weitere Fächer zu wählen, wie zum Beispiel Libertés et droits fondamentaux, Institutions administratives und Droit de l’Union européenne, welche ich belegt habe. Bei Droit administratif müssen im Rahmen des Zertifikats neben der Vorlesung auch sogenannte Travaux dirigés (TD) belegt werden. Dabei handelt es sich um kleinere Arbeitsgemeinschaften, in denen jede Stunde Gerichtsurteile bearbeitet und besprochen werden und schriftliche Arbeiten dazu verfasst werden, die mehrmals abgegeben und benotet werden. Auch die Mitarbeit während der TDs wird benotet. Im Gegensatz zu den meisten Vorlesungen, in denen die Studenten kaum Fragen stellen, sondern Wort für Wort mitschreiben, wird hier erwartet, aktiv teilzunehmen und sich möglichst viel zu Wort zu melden. Dadurch entstanden zum Teil auch spannende

Diskussionen,

zum

Beispiel

bezüglich

der

Affäre

Dieudonné

(Auftrittsverbot des umstrittenen französischen Komikers Dieudonné). Bei den schriftlichen Arbeiten handelt es sich fast immer um „commentaires d’arrêts“, in denen man in einer bestimmten Form sehr strukturiert Gerichtsurteile kommentieren muss, d.h. zum Beispiel in die laufende Rechtsprechung einordnen, allgemeine Prinzipien des Verwaltungsrechts anhand des Urteils erläutern, ohne dabei den Bezug zu diesem zu verlieren, kurzum eine im Vergleich zum deutschen Studiensystem völlig andere Art von Prüfung. Auch die schriftlichen Klausuren bestanden in droit administratif immer aus solchen commentaires d’arrêts, praktische Fallbearbeitungen sind unüblich. Daher war das französische Verwaltungsrecht eine große Herausforderung. Im ersten Semester habe ich aus Interesse auch in droit constitutionnel I die Vorlesung sowie die dazugehörige TD besucht. Da es sich dabei um eine Vorlesung für Erstsemester handelt, waren die Arbeitsgemeinschaften bei Vorbereitung gut machbar, genauso wie die Klausuren. Auch in dieser Arbeitsgemeinschaft wurden jede

Woche

hauptsächlich

schriftliche die

benotete

französische,

Tests

aber

durchgeführt,

auch

englische

welche und

zu

Beginn

amerikanische

Verfassungsgeschichte zum Thema hatten. Allgemein wurde in vielen Vorlesungen großer Wert auf den rechtsgeschichtlichen Hintergrund gelegt und eingehend auf wichtige geschichtliche Ereignisse eingegangen.

In allen anderen Fächern gab es für die ERASMUS-Studenten am Ende des Semesters mündliche Prüfungen, welche den gesamten Vorlesungsstoff zum Gegenstand hatten. 2. Eindrücke Es ist zu empfehlen, während der Vorlesungen einen Computer mitzunehmen, wie alle französischen Kommilitonen, es sei denn, man freut sich über oft mehr als 20seitige Mitschriebe. Die französischen Kommilitonen waren so hilfsbereit, dass sie teilweise von sich aus ihren Rat und Mitschriebe zum Vergleich anboten. Die Vorlesungen des ersten Semesters sind wie in Deutschland sehr stark besucht. Allerdings kann man sich schon nach den ersten vier Semestern spezialisieren, zum Beispiel in Richtung Zivilrecht oder Öffentliches Recht. Dadurch sind die Studentengruppen ab der Licence 3 in den Vorlesungen weitaus kleiner. Die Vorlesungen der ersten Semester eignen sich natürlich sehr gut, einen ersten Eindruck über das französische Rechtssystem zu gewinnen, inklusive des genauen geschichtlichen Hintergrundes, der verschiedenen Institutionen und vor allem der Rechtsprechung; auch das Fachvokabular wird dort häufig noch erläutert. Wenn man Glück hat und ein Professor eine etwas interaktivere Vorlesung hält, was es erfreulicherweise manchmal auch gibt, kann es auch gut sein, dass französische Kommilitonen

im

Gespräch

auf

eine

juristisch

treffendere

Ausdrucksweise

hingewiesen werden oder die internationalen Studenten dazu aufgefordert wurden, sich zu äußern. In Verfassungsrecht wurden die deutschen Studenten zum Zeitpunkt der deutschen Bundestagswahl 2013 beispielsweise gebeten, das deutsche Wahlsystem zu erklären. Vorlesungen der höheren Semester sind ebenfalls interessant, gerade weil sie für bereits spezialisierte Studenten konzipiert sind und man als ERASMUS-Student auch selbst nach Belieben und Interesse seine Kurse wählen kann. Grundsätzlich überwiegt der Eindruck, dass die Kenntnis der aktuellen und alten Rechtsprechung ungemein wichtig ist, was im Rahmen des französischen juristischen Prüfungssystem logisch erscheint, da die Auseinandersetzung mit Gerichtsentscheidungen in vielen Klausuren gefordert wird.

Außerdem ist, wie in Deutschland, der Einfluss des EU-Rechts deutlich spürbar, in beinahe jedem Fach wird außer der französischen Rechtsprechung auch die Position des Europäischen Gerichtshofes zumindest erwähnt, wenn nicht sogar ausführlich besprochen. Die französischen ERASMUS-Koordinatoren waren stets sehr freundlich. Auch die Bibliothekarinnen

waren

sehr

hilfsbereit

und

äußerst

zuvorkommend.

Die

Bibliotheken sind sonntags generell geschlossen. Die meisten Informationen, was den universitären Alltag, aber auch praktische Informationen bezüglich der Wohnungssuche und den vielen Verwaltungsgängen, z.B. wichtige Unterlagen, die mitzunehmen sind (Tipp: mehrere Passfotos mitnehmen!), findet man online auf der Fakultätsseite oder in dem zugeschickten Leitfaden. Sprachkurse in verschiedenen Niveaus wird angeboten (mit Französisch bis zum Abitur sowie dem dreisemestrigen Kurs „Einführung in das französische Recht“ der Universität Heidelberg (empfehlenswert, was das Fachvokabular angeht) konnte den Vorlesungen allerdings auch ohne weitere sprachliche Vorbereitungen gut gefolgt werden). II.

Erfahrungen außerhalb des Studiums im Gastland 1. Alltag

Während des akademischen Jahres in Poitiers habe ich in der privaten Studentenresidenz Résidence Beaulieu in der Nähe des Campus gewohnt. Mit dem Fahrrad war man in fünf Minuten an der Universität und gleich bei einem Großsupermarkt. Der Hausmeister und mein Vermieter waren jederzeit erreichbar und ebenfalls sehr freundlich. Allerdings würde ich auf jeden Fall empfehlen, lieber in einem der universitären Studentenwohnheime wie zum Beispiel dem Wohnheim Marie Curie oder in der Innenstadt eine Wohnung zu suchen. In meiner Résidence lebten die Mitbewohner sehr zurückgezogen, wogegen in

den universitären Wohnheimen die meisten

internationalen Studenten, aber auch viele französische Studenten wohnen, sodass ich mich häufig entweder in einem anderen Wohnheim oder gleich in der Innenstadt aufgehalten habe.

Nach der Ankunft sollte man schnellstmöglich ein französisches Konto eröffnen, was etwas länger dauern kann. Dieses benötigt man für weitere Verwaltungsgänge, wie der Erwerb einer französischen SIM-Karte, Antragsstellung bei der französischen Behörde CAF (Wohngeld, das die Finanzierung des Studienaufenthaltes durchaus erleichtert), Aufladen des Studentenausweises etc. Es lohnt sich, verschiedene Banken und Handyanbieter zu vergleichen. Mein Konto war bei der Bank BNP Paribas. Ein Scheckbuch, welches man ebenfalls bei seiner Bank erhält, ist sinnvoll, da Schecks ein öfter gefragtes und noch relativ übliches Zahlungsmittel sind (anscheinend jedoch rückläufig). Während der Anmeldung an der Universität bestand die Möglichkeit, sich für ein Tandemprogramm anzumelden. Mein Tandempartner war ein marokkanischer Ingenieursstudent, außerdem war noch eine chinesische Wirtschaftsstudentin im Team. Wir haben uns in der Stadt in einem Café getroffen oder zusammen gekocht, allein durch die großen kulturellen Unterschiede kam es immer zu hochinteressanten, langen Unterhaltungen. Eine weitere gute Möglichkeit, mit französischen Studenten außerhalb der Vorlesungen (während der Vorlesungen herrscht meist aufmerksame Stille und alle schreiben wortwörtlich mit, was der Professor erzählt) in Kontakt zu kommen, ist der Unisport (Service universitaire des activités physiques et sportives). Um daran teilnehmen zu können, muss man bei der administrativen Registrierung bei der Fakultät einmalig zehn Euro zahlen. Danach steht einem ein breites Angebot an Sportarten offen, aus dem man drei Kurse und beliebig viele „stages“, d.h. Ausflüge wie Segeln, Surfen, Klettern oder Kanufahren auswählen kann. Man sollte sich möglichst frühzeitig für die jeweiligen Kurse anmelden, da sie schnell belegt sind. Während eines Segelwochenendes in La Rochelle zum Beispiel lernt man nicht nur alle möglichen neuen Vokabeln, sondern vor allem auch viele französische Studenten aus allen möglichen Fachrichtungen kennen und mit etwas Glück ergeben sich daraus sogar gute Freundschaften. Praktischerweise habe ich dadurch etwa auch die Vorsitzende einer juristischen Studentenvereinigung, BDE Droit Poitiers (Bureau des étudiants), kennengelernt. Diese

Vereinigung

bietet

unter

anderem

auch

Besichtigungen

juristischer

Institutionen an. Ich habe an einer Exkursion nach Paris teilgenommen und unter anderem den französischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat besucht.

2. Kultur und Freizeit In meiner Freizeit habe ich viele Ausflüge mit anderen Studenten in der näheren oder weiteren Umgebung Poitiers unternommen. Aber auch in Poitiers kann man Einiges unternehmen, wenn man nur genug sucht. Ansonsten ist die Lage Poitiers zwischen La Rochelle und Paris unschlagbar, mit dem TGV erreicht man beide Städte in etwa eineinhalb Stunden. Dabei empfiehlt es sich, eine Carte Jeune bei der SNCF zu erwerben, mit der man zum Teil bis zu 60 % Ermäßigung erhält. Weitere reizvolle und gut erreichbare Städte sind zum Beispiel Tours, Nantes, Bordeaux oder Arcachon und allgemein die Küstengegend. Poitiers selbst ist recht hügelig, sodass man neben dem Fahrrad als mögliches Fortbewegungsmittel auch häufig auf die Busse angewiesen ist, insbesondere nachts. Es lohnt sich daher, ein Studententicket für ein oder zwei Semester zu kaufen, was man beim Hauptbüro der Busfahrgemeinschaft Vitalis in der Innenstadt erwerben kann. Ab und zu finden größere oder kleinere kulturelle Veranstaltungen in Poitiers statt. Dazu gehören zum Beispiel die „journées de la patrimoine“, das Musikfestival „Les Expressifs“ und viele kleine Konzerte, außerdem ist der Weihnachtsmarkt vor dem schönen Rathaus und im Parc Blossac im Winter schön anzusehen, im Februar ist der Carnaval sehr stimmungsvoll, alle Altersstufen sind mit Begeisterung dabei und am 21 Juni findet die „fête de la musique“ in ganz Frankreich statt, was kostenlose Konzerte überall in der Stadt bis spät in die Nacht hinein bedeutet. Die Association Méli-Mélo ist ein Studentenverein für internationale wie französische Studenten und organisiert Sprachtandems, Themenabende wie Karaokeabende oder Salsaabende und Ausflüge in die Umgebung (Schlösser der Loire, Chauvigny, La Rochelle, Weinproben und Farmbesichtigungen…). Dadurch, dass Poitiers keine riesige Stadt ist und die Fakultäten auf dem Campus dicht beieinander liegen, kommt man schnell in Kontakt mit französischen wie gefühlt allen internationalen Studenten, sodass man tagsüber in der Stadt und abends in Bars oder bei jemandem daheim in der Wohnung immer gleich mehrere bekannte Gesichter trifft. Trotz der recht kleinen Größe der Stadt ist ein ERASMUS-Aufenthalt

in Poitiers bestens dazu geeignet, Bekanntschaften aus aller Welt und gute Freundschaften zu knüpfen. Die vielen Begegnungen und neue Freunde haben mein akademisches Jahr in Frankreich auch am meisten und nachdrücklichsten geprägt. Besonders angenehm war die grundsätzlich herzliche Atmosphäre in Poitiers, die Menschen haben sich allgemein ausgesprochen zuvorkommend und höflich verhalten, sei es im Bus, im Geschäft oder auf der Bank. In einer neuen Umgebung mit anderen Lernmethoden und vor allem mit neuem Lernstoff

in

einer

fremden

Sprache

klarzukommen,

ist

eine

spannende

Herausforderung, durch welche das bereits gewohnheitsmäßige Wiederholen und Erlernen des deutschen Rechts unterbrochen wird. automatisch

die

fremde

Rechtsordnung

mit

den

Dabei vergleicht man eigenen

deutschen

Rechtskenntnissen. Mein ERASMUS-Studienjahr hat mir daher einen neuen Blick auf das deutsche Recht ermöglicht, meine Sprachkenntnis gründlich vertieft und unzählige positive Erlebnisse mit tollen Leuten beschert, die ich nicht missen möchte. Einen ERASMUS-Auslandsaufenthalt kann ich daher nur wärmstens empfehlen und wünsche allen, die die Chance dazu ergreifen, viel Erfolg und schöne Erfahrungen!