Schiffbau, inside & outside

Schiffbau, inside & outside Autor(en): Heller, Martin Objekttyp: Article Zeitschrift: Du : die Zeitschrift der Kultur Band (Jahr): 75 (2015) He...
Author: Angelika Lange
2 downloads 2 Views 12MB Size
Schiffbau, inside & outside

Autor(en):

Heller, Martin

Objekttyp:

Article

Zeitschrift:

Du : die Zeitschrift der Kultur

Band (Jahr): 75 (2015) Heft 861:

Schauspielhaus Zürich : heute Theater

PDF erstellt am:

13.03.2017

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-544309

Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind.

Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch http://www.e-periodica.ch



00

3

Q

Schiffbau, inside & outside Seit seiner Eröffnung vor fünfzehn Jahren ist der Schiffbau ein wunderbarer Theaterort und zugleich eine wirkungsvolle Zentrifuge in der Zürcher Kulturlandschaft. Als urbane Ikone steht er für den Energieschub, den Zürich seit den Neunzigerjahren im Kreis 5 durchläuft. Allerdings sehen sich die einstigen Pionierpflanzen mittlerweile von Renditebauten bedrängt. Ein kritischer Liebhaber städtischer Transformationen, der in den verschiedenen Welten des Schiffbaus zu Hause ist, blickt zurück und nach vorn. Text MARTIN HELLER

Seit zehn Jahren gehe ich im Schiffbau ein und aus. Nicht etwa, weil ich als Spätberufener ins Theaterfach gewechselt hätte. Unsere Firma ist hier eingemietet. Dieser Umstand bestimmt meine Wahrnehmung des Gebäudes - als Nutzer und nicht als Besucher oder Beobachter. Wobei die Begriffe Wahrnehmung und Nutzer etwas Wesentliches verfehlen: den Umstand, dass ich mich im Schiffbau zu Hause fühle. Dass ich hier bloss arbeite, ändert nichts daran. Weil ich zu jenen Menschen gehöre, für die Arbeit und Leben nicht eindeutig zu trennen sind, bin ich im Umfeld des Schauspielhauses gut aufgehoben und weiss deshalb sehr genau, wie sich der Schiffbau nachts um zwei oder morgens um fünf anfühlt. Was mit sich bringt, dass ich bestimmte Eigenheiten dieses Ortes wohl gar nicht mehr sehen kann, weil ich sie verinnerlicht habe. Oder dass die zahlreichen Events, die sich immer öfter für kurze Zeit in der Location Schiffbau einnisten, mich deswegen nerven, weil niemand freiwillig sein Zuhause mit mehr oder weniger prominenten Schweizer Leistungsträgern und Unterhaltungssternen teilen mag. Aber wahrscheinlich mache ich mir in solchen Momen50

|

51

ten zu wenig bewusst, wie sehr das Theater mehr denn je nicht nur selbst inszeniert, sondern auch von Inszenierungen zehrt, die ihm der Alltag zuhält - der aktuelle wie der vergangene. Darum heisst das Gebäude eben auch nicht Schauspielhaus West oder ähnlich, sondern Schiffbau. Es ist vor allem ein prominentes Beispiel für jene Infusion von Geschichte in die Gegenwart, die dem Kulturbetrieb spätestens seit den Siebzigerjahren eine Vielzahl von ebenso ungewöhnlichen wie attraktiven Spielorten beschert hat. Spielorte von gerade für Schweizer Verhältnisse oft grosszügigen Dimensionen und mit einer Patina, die über vergangenes Leben und vergangene Arbeit so etwas wie gesellschaftliche Bedeutung und Würde verheissen. Diese Spielorte sind - von wenigen militärhistorischen Immobilien abgesehen - ehemalige Industriegebäude. Aus einer Zeit, in der industrielle Produktion und Ideologie zur Welteroberung ansetzten und sich die dafür notwendigen Räume und Zeichen bauten. Viele dieser architektonischen Monumente wurden geschleift, als sich die Bedingungen von Arbeit und Gewinn fundamental veränderten, die

Vorhergehende Doppelseite: Herein! Herein! ich atme euch ein!: Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Sabin Fleck. Premiere am 11. Januar 2011 im Schiffbau. Die urbane Ikone des Kreises 5: Der Schiffbau von aussen [links] und von innen [rechts].

Städte zu Dienstleistungsmaschinen mutierten und die einstigen Industriegebiete, mittlerweile in Zentrumsnähe, umgezont wurden. Die Renditen, die diesen Prozess befeuerten, waren gewaltig; sie ermöglichten innert kurzer Zeit urbanistische Entwicklungen, die zuvor undenkbar schienen. Theater in Industriearchitektur ist lediglich eine Fussnote dieses Prozesses. Aber eine prominente: Es ging bei diesem Joint Venture keineswegs nur um bessere räumliche und funktionale Arbeitsbedingungen. Die wechselseitigen Übertragungen und Nobilitierungen waren innovativ, sorgten für Irritation, erforderten neue Praktiken, lösten Lernprozesse aus und sensibilisierten das Publikum. Das Ergebnis ist heute selbstverständlich geworden. Gerade darum aber macht der Rückblick Sinn. Er hilft, die Gegenwart zu verstehen als Produkt der Geschichte, die in die Zukunft drängt.

Zusammenspiel Eigentlich handelt es sich beim Schiffbau um vier Gebäude. Das erste, historische, ist die ehemalige Schiffbauhalle der Firma Sulzer-Escher Wyss. Sie beinhaltet gleichsam die Schauseite

des Kulturbetriebs: den Haupteingang, das Restaurant LaSalle, den Jazzclub Moods, die grosse Halle, alle verbunden durch das geräumige Foyer mit Garderobe und Bar, dann im Obergeschoss noch die Theaterkantine. Das zweite Gebäudeelement ist ein Zwischentrakt zum Hofbau mit der kleinen Spielstätte, der Box, der Matchbox des Jungen Schauspielhauses, einer Probebühne sowie Erschliessungswegen. Der Hofbau versammelt alles, was das Theater braucht an WerkStätten zwischen Bühnenbild und Schneiderei, dann Lager und Fundus, eine weitere Probebühne, Arbeitsräume, Büros, angeordnet um einen Innenhof mit umlaufenden Galerien auf jedem Stockwerk. Die zwei obersten Geschosse enthalten Eigentumswohnungen; ganz unten dann die Tiefgarage. Das vierte Gebäude ist der Kopfbau - oder Hinterkopfbau - zum Turbinenplatz hin; ein Zusammenschluss von gestalterisch orientierten Firmen hat ihn gekauft und sich darin etabliert. In diesem Konglomerat spielt die besondere Lebenswelt des Schiffbaus: ein immer wieder auch spannungsvolles, aber liebenswertes Gefüge von irgendwie ähnlich ausgerichteten Aufgaben und Mentalitäten, in teils erklärter, teils informeller Gemeinschaft, mit

Was als kreativer Aufbruch begann, ist inzwischen in den Zürcher Kapitalgewinnungszirkel eingemeindet:

Baustelle neben dem Schiffbau.

reichlich Bewegungsfreiheit. Dahinter steht eine Bedürfnislage, die das Schiffbauprojekt in den frühen Neunzigerjahren ausgelöst hat. Damals wollte das Schauspielhaus zu dem zwar technisch aufgerüs-

teten, jedoch anachronistisch beengten Hauptgebäude beim Kunsthaus - dem Pfauen - ein neues Wirkungszentrum errichten. Viele Funktionsräume des Theaters waren über die ganze Stadt verstreut, mit komplizierten Abläufen und entsprechenden Kostenfolgen. Dieser Verzettelung sollte durch eine offensive Sparmassnahme Einhalt geboten werden, zumal das Theater tiefrote Zahlen schrieb. Dass dieses zusätzliche Theaterzentrum, mit dem das Schauspielhaus effizienter und billiger werden wollte, im Kreis 5 entstand, war Zufall - und letztlich doch keiner. Unterschiedliche Standorte wurden geprüft, zumal im Norden der Stadt. Aber erst in unmittelbarer Nähe der Hardbrücke, einem verkehrstechnischen Befreiungsschlag der frühen Siebzigerjahre, kam ein für alle Beteiligten interessanter Handel zustande. Es lag in der Luft, dass diese Gegend im Aufwind war: zentrumsnah, pittoresk hybrid, ebenso kleinteilig wie grossflächig und prädestiniert für das, was wenig später als KreativWirtschaft die Illusion nähren sollte, Kultur und Wirtschaft seien in der postmodernen Gesellschaft mit gutem Willen und ausreichender Selbstausbeutung problemlos zu versöhnen. Solche Ingredienzien Hessen aus der industriellen Erbzone im Westen der Stadt jenes Boomquartier werden, das der Bezeichnung Züri West, 1984 durch die gleichnamige Berner Rockband in Umlauf gebracht, jede Ironiefähigkeit austrieb. Aber auch andernorts sorgten im städtischen Diskurs vergleichbare Wertschöpfungspotenziale für gebündelte Aktivitäten, in Form sogenannter Areale von Maag und Steinfels über Hürlimann bis Labitzke, deren Neubebauung irgendwann auch den Begriff wieder aus dem Verkehr zieht. Es ist, als ob Zürich West der Stadt, die sich - wie Marcel Meili damals unter dem Titel Erduldete Urbanität schrieb - «dagegen sträubt, Stadt zu werden» ', ermöglicht hätte, erstmals so richtig die Lust und die Last des Stadtwerdens auszukosten.

Überlieferungen Die Entstehungs- und Baugeschichte des Schiffbaus wurde zeitnah anschaulich und unterhaltsam dokumentiert*. Aber auch die mündliche Überlieferung ist reichhaltig; die Beteiligten geizen nicht mit handfesten Schilderungen zum Alltag der Kulturpioniere. Beides unterstreicht, dass die Bedeutung, die dem Projekt nachträglich zugeschrieben werden darf, bereits zur Zeit seiner Realisierung erkannt und gefühlt wurde.

Welche Eindrücke lassen sich aus diesen Berichten filtern? Die Fakten natürlich: Nach ersten Sondierungen ein internationaler Studienauftrag, definitive Planung mit dem Sieger Ortner & Ortner aus Wien 1996, Baubeginn t997, festliche Eröffnung 2000, Baukosten geplant 66 Millionen Franken, tatsächlich dann 80 Millionen. Dann die Vorzüge des Entwurfs, der als Einziger der Versuchung widerstand, grossspurige Architektur zu zelebrieren, und stattdessen die Notwen-

digkeiten und Wünsche des Theaterbetriebs ernst nahm, in unangestrengter Gelassenheit, wie der Jurybericht festhält. Erzählt wird auch von der gleichsam rollenden Planung im engen Zeitkorsett, die auf zahlreiche Veränderungen im Programm zu reagieren hatte darunter als wichtigste jener Moment, in dem Christoph Marthaler, damalige Lichtgestalt von Theaterzürich, die ursprünglich anderen Nutzungen vorbehaltene Schiffbauhalle als «sensationelle» SpielStätte annektierte. Eine besondere Tonlage in diesen Erzählungen handelt von verschworenen Beteiligten, vom Abenteuer eines ungewöhnlichen Projekts mit Freiräumen trotz Kostendruck, von Schlitzohrigkeit, Leidenschaft und Stolz und nicht zuletzt von ungewöhnlichen Allianzen, durch die erst das Ziel erreicht werden konnte. Greifbar wird auch ein Sendungsbewusstsein. Das Schauspielhaus war nicht allein. Auch andere kulturelle Initiativen und Institutionen eroberten nach und nach diese Gegend und machten sie zum angesagten Terrain für Grenzerfahrungen zwischen Hochkunst und Mainstream, zwischen Kunsthalle Zürich, Musikklubs und dem Multiplexkino. Dies alles Erinnerung ist ein schwieriges Geschäft! -, kurz nachdem der erste Block des Technoparks den Betrieb aufnahm und lange bevor der Prime Tower einer breiteren Bevölkerung signalisierte, dass im Westen gross angerichtet wird. Erhellend schliesslich die Hinweise darauf, wie über Ortner & Ortner eine österreichische Architektur- und Baukultur den Schiffbau geprägt hat. Im Innern sorgt sie für saloppe Coolness, die unangestrengtes Leben zulässt, weitab von schweizerischem Perfektionswahn, und dem Bau ein sympathisches Altern in Aussicht stellt. Nach aussen sind es die gezielt divergenten Sprachen der einzelnen Gebäudeteile, die - anders als etwa die Massigkeit des Puls 5, unmittelbarer Nachbar am Turbinenplatz und um eine denkmalgeschützte Giessereihalle von Escher Wyss herumgebaut - dem Schiffbau einen städtisch fast schon übermütigen Auftritt garantiert. Dazu kommt die Konsequenz, mit der Ortner & Ortner auf einer theatralischen Auszeichnung insbesondere des Hofbaus beharrten. Mit den übergrossen Halbreliefs eines Mädchentorsos, einer griechisch antiken Kore nachempfunden und leichthändig über die Lisenen der drei Fassaden verteilt - Dekoration als zerstreutes Programm. Oder mit dem Gebäudesockel, den Laurids Ortner ebenso wie das Arbeitstor zur Anlieferung für die Werkstätten mit emaillierten Goldtafeln verkleiden wollte: «Man könnte den Koloss des weissen Hofgebäudes auf goldenen Blitzen schweben sehen.» * Der Kostendruck hat dazu geführt, dass sich die Sockelzone mit goldeloxiertem Blech bescheiden musste - eine Pointe, wie sie nur das reiche, aber bis in die Knochen puristische Zürich zu liefern imstande ist. Trotzdem fällt es leicht, sich vorzustellen, wie Ortners Konkurrenten über solch barock inspirierte Festfreude gelästert haben mögen.

Die Baugrube Fünfzehn Jahre ist es her, dass der Schiffbau eröffnet wurde. Wenn ich beim Schreiben dieses Textes aus dem Bürofenster im dritten Stock des Hofbaus zur Hardbrücke hinblicke, öffnet sich unvermittelt eine Baugrube. Das Baufeld G des 1995 in Kraft getretenen Gestaltungsplans, ausgelöst durch die Projektierung des Technoparks und verhandelt zwischen der Stadt Zürich und den Grundeigentümern, wird in einer nächsten, längst fälligen Etappe überbaut. Das Baugespann vermeldet, es entstehe hier ein «Geschäftshaus am Schiffbauplatz» als «sechsgeschossiger Neubau für Büro, Gewerbe und Industrie»; als Bezugsdatum wird Herbst 2or7 angegeben. Der Entwurf ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den Baukontor Architekten aus Zürich gewonnen haben (einer der Partner ist Vittorio Magnago Lampugnani). Dafür wurden zwei Industriegebäude abgebrochen, das eine ein früher Betonbau, das andere eine Backsteinkonstruktion wie die Schiffbauhalle. Bestehen blieb der denkmalgeschützte Kamin

mit Wassertank, der als Solitär den freigespielten Erschliessungs-

Die zehn Gebote, Regie: Karin Henkel, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Klaus

räum der Giessereistrasse überragen wird wie ein Finger, der seine Hand verloren hat.

Bruns, mit Gottfried Breitfuss, Lena Schwarz, Fritz Fenne, Jean Chaize, Christian Baumbach, Milian Zerzawy, Thierry Voigt [Kind], Carolin Conrad, Dagna Litzenberger Vinet. Premiere am 27. September 2015 im Schiffbau.

Lebensbedürfnisse Natürlich verschwanden für den Neubau nicht nur Gebäude. Es hatte sich darin ein bemerkenswert bunter Mietermix angesammelt, vom Thinktank Avenir Suisse über einen Zürcher Showroom von Vitra bis zu den typischen Design-, Gastro- und Kreativunternehmen der Leichtgewichtsklasse. Sie mussten weiterziehen,

mit mehr oder weniger Schwierigkeiten, je nach Finanzkraft. Was damit für das Umfeld des Schiffbaus verloren ging, war ein weiteres Stück jener Vielfalt, wie sie in Zwischennutzungen möglich, in renditegetriebener Architektur aber kaum mehr zu halten ist. Das Trendquartier, das der Schiffbau mit angeschoben hatte, ist unter Druck geraten, Keineswegs überraschend - die Pläne und die damit verbundenen Möglichkeiten sind längst bekannt. Und doch schmerzen die Veränderungen, an einigen Stellen mehr, an anderen weniger. Neue Verdichtungen und Knoten sind entstanden - bei der luxuriös umgebauten ehemaligen Toni-Molkerei zum Beispiel, wo nun die Zürcher Hochschule der Künste untergebracht ist, zusammen mit einem beträchtlichen Anteil an Wohnungen. Auch anderswo wurden und werden Wohnungen gebaut, in Hochhäusern zumal, mit hip gewordenem Blick auf die Gleisfelder. Die überwiegende Zahl dieser Wohnungen ist teuer bis sehr teuer. Das Gleiche gilt für die Büro- und Gewerbeflächen. Der Trend frisst seine Kinder und greift sich stattdessen gut situierte Erwachsene. Die Pionierpflanzen von Zürich West, zu denen der Schiffbau gehört hatte, sind mittlerweile umgeben von Kulturfolgern unterschiedlicher Provenienz. Das neue Quartier ist im Entstehen, wie imaginiert und geplant, aber in einer Normalität und einer Verwertungslogik, die gegen Träume immun sind. Und der Schiffbau ähnelt zusehends einer von Uniformität umspülten Insel. Damit verschieben sich die Prioritäten. Natürlich ist dieses neue Quartier noch immer ein auch kulturell vitaler Lebensraum. Die Hochschule der Künste und andere Ansiedler bringen neue und willkommene Aktivitäten. Spielentscheidend ist mittlerweile jedoch etwas anderes: ob es gelingt, die Renditelogik punktuell zu brechen und zu ersetzen durch idealistische oder gar philanthropisch motivierte Projekte, die zum Ziel haben, qualitatives und erschwingliches Wohnen und Arbeiten weiterhin auch in diesem Teil der Stadt zu ermöglichen.

Gegenwart Zurück zum Theater: Es bleibt die Frage, inwiefern solche Normalisierung auch jene erreicht hat, die den Schiffbau zum Aufbruch in - zumindest für Zürich - neue Theaterdimensionen nutzen wollten. Christoph Marthaler braucht man dazu nicht mehr zu fragen; zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung wurde er entlassen, und die Zürcher Politik stellte aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten den Schiffbau als Spielstätte infrage. Gewiss ist, dass der Schiffbau die öffentliche Wahrnehmung des Schauspielhauses entscheidend verändert hat. Zum kleinkariert angestaubten Groove im Pfauen hin, der einem bei jedem Besuch unabhängig vom Programmangebot - von Neuem den Atem verschlägt, manifestierte sich hier ein anderes Theater. Eines, das mit der Stadt liiert ist und nicht primär mit dem Zürichberg, das Gegenwart lebt und nicht bloss behauptet und dessen Arbeit mehr zulässt und fordert als nur Bühnenpräsenz. Ebenso wichtig war, dass das Schauspielhaus damit Anschluss fand zu jener Theaterszene, die in Zürich an etlichen Orten, in zwangsläufig kleinerem Massstab und im ständigen Austausch mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen, ein neues Publikum anzog. Dauerhaft zu gewinnen ist dieses Publikum nicht - dazu ist es zu launisch, und Zürich ist keine TheaterStadt, die ihre Leiden und Orgasmen ständig und überall verhandelt, 54

I

55

wo Kultur ein Thema sein könnte. Aber Anziehung ist keine schlechte Voraussetzung für Interesse, und so erwies sich der Schiffbau durchaus als Magnet, der für das Theater den einstigen Antagonismus zwischen betulich konservativer Hochkunst und avantgardistischer Off-Kultur definitiv auflöste. Bezeichnenderweise spielte dabei die mit unglaublich hohen Erwartungen belegte Halle im Schiffbau eine untergeordnete Rolle. Natürlich beflügelt ein ungewöhnlicher Raum die schöpferische Fantasie und den Gestaltungswillen von Regie und Ausstattung. Wenn einem jedoch im Laufe eines langen Abends die herausfordernde Weite der Schiffbauhalle bewusst wird und der Blick auf Wanderschaff geht, hat die Inszenierung bereits verloren. Glücksmomente sind im Theater keine Frage der Kubatur. Dazu kommt, dass mittlerweile ein beträchtlicher Teil des Zürcher Publikums diese Halle eher von weit prosaischeren Veranstaltungen her kennt als von theatralisehen Gipfeltouren. Der Schiffbau war eine Zäsur, und der Schiffbau war eine Brücke. Er hat etliche kulturelle Beziehungen in Zürich aufgemischt und die Theaterwelt neu ausgerichtet. Mit einem Ort, der auf die Dauer nicht mit einzelnen Glanzpunkten, sondern als klug erdachtes und ebenso klug geführtes Ganzes zu überzeugen wusste - unprätentiös, gastlich, dienlich. Wenn Normalität eine derartige Kraft entwickelt, ist sie kein Abstieg, sondern eine willkommene Ausgangslage für vieles, was sich weiterhin ändern wird und muss. Der Schiffbau hat sich bewährt. Und ohne in esoterisches Halbdunkel abzugleiten: Vielleicht ist der merkwürdige Umstand, dass das Binnenland Schweiz hier einst Schiffe baute, noch immer produktiv. Nicht nur als Rechtfertigung für ein Theater, das immer auch mit dem Bild des Narrenschiffs unterwegs ist, sondern als Patenschaft für eine sehnsuchtsgetriebene, spektakulär eigenwillige und gerade damit gesellschaftsfähige Arbeitsstätte.

1

2

Marcel Meili: Erduldete Urbanität, in: Martin Heller, Claude Lichtenstein, Heinz Nigg: Letten it be. Eine Stadt und ihr Problem, Museum für Gestaltung Zürich, 1995 (Schriftenreihe t9), S. 13-20, Zitat: S. 14. Schijgfbau. Eine

Produktion von Hochparterre für das Schauspielhaus Zürich,

Zürich 2000. Bundesamt für Kultur (Hg.): Schiffbau. Transformation eines Ortes, Basel, Boston, Berlin, 2002 (Birkhäuser for Architecture). 3

Laurids Ortner, in: Schiffbau, wie Anm. 2,

S.

30.

Martin Heller, 1952 iri Basel geboren, Ausstellungsmacher, Autor und Unternehmer. Er war Direktor des Museums für Gestaltung Zürich sowie des Museums Bellerive Zürich. Von 1999 bis 2002 künstlerischer Direktor der Expo.02, von 2005 bis 2010 Intendant für die Kulturhauptstadt Europas Linz, anschliessend Projektleiter des Humboldt-Forums im wiederaufgebauten Berliner Stadtschloss. Betreut mit seiner Firma Heller Enterprises diverse Projekte zwischen Kultur, Wissenschaft und Stadtentwicklung. Seit 2010 Träger des Österreichisehen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse.

Als der Schiffbau noch nicht Schiffbau hiess, sondem ein Ort war, an dem Schiffe und deren Motoren

gebaut wurden. Unten: Kein futuristischer Entwurf aus DDR-Zeiten, sondern Zürcher Gegenwart: Die neuen Gebäude um den Escher-Wyss-Platz, die im letzten Jahrzehnt gebaut wurden. Rechts: Visuelle Zeitmaschine - das Logo des BauUnternehmens überragt inzwischen die Passanten.

Jrf B

Ä1^ as ü ilII

IrT Het P1NBI

-HAH,

n'm SU« nEjn

« n si «

n p a

E V P K a h n n n n B! m w

si s si w