Salutogenese im Raum der Kirche

Salutogenese im Raum der Kirche Salutogenese im Raum der Kirche Ein Handbuch Herausgegeben von Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer und Klaus Rasc...
Author: Jacob Breiner
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Salutogenese im Raum der Kirche

Salutogenese im Raum der Kirche Ein Handbuch Herausgegeben von Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok

EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany · H 7944 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Makena Plangrafik, Leipzig Coverbild: Photographie des Bildhauers Dietrich Förster von dem von ihm geschaffenen gläsernen Dreischalenbrunnen, der vor dem Münster Sankt Marien und Jakobus in Heilsbronn (Mfr.) steht. Satz: Konstanze Kemnitzer, Neuendettelsau Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-04142-8 www.eva-leipzig.de

Vorwort

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Vorwort Die Frage der Gesundheit wird im deutschsprachigen Kulturraum zweifellos eines der wichtigsten Themen der nächsten Jahrzehnte sein. Zwar sind, was die Krankheitsbekämpfung und -prävention angeht, in jüngster Zeit beispiellose Erfolge gelungen. Die großen Seuchen, unter denen die Menschheit jahrtausendelang zu leiden hatte, sind ausgerottet oder zumindest weit zurückgedrängt. Viel gesünder ist die Bevölkerung dennoch nicht geworden. An die Stelle der alten Geißeln sind neue getreten: Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes, Aids, Adipositas, ADHS, Demenz und andere. In den letzten Jahren ist zudem ein starkes Anwachsen seelischer Leiden zu verzeichnen. Im Jahr 2007 hat die Zahl der psychischen Erkrankungen und Störungen erstmalig die Zahl der körperlichen Krankheiten übertroffen. Auffällig ist auch, dass immer mehr Gesundheitsprobleme mit der jeweiligen Situation am Arbeitsplatz zusammenhängen. Schon lange ist deutlich, dass die physikalischen und chemischen Methoden der klassischen, naturwissenschaftlich orientierten »Schulmedizin« nicht mehr hinreichen, um eine nachhaltige Gesundheitsvorsorge und -fürsorge der Bevölkerung zu gewährleisten. Alternative Therapieformen wie etwa die Traditionelle Chinesische Medizin, die Wassertherapie Sebastian Kneipps und andere Naturheilverfahren gewinnen an Bedeutung. Seit vielen Jahren schon richtet die psychosomatische Medizin den Blick auf das Zusammenspiel von Körper und Seele und die Auswirkungen des Familiensystems und anderer sozialer Gruppen auf das Individuum. Auch die Bedeutung der Spiritualität für die Gesundheit wird langsam erkannt. Zunehmend wird klar, dass sich die Frage der Gesundheit nur einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen erschließt. In diesem Zusammenhang gewinnt eine Sichtweise immer mehr an Bedeutung, die der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat: das Konzept der Salutogenese. Im Rahmen seiner Arbeit mit Überlebenden deutscher Konzentrationslager war er zu der Erkenntnis gelangt, dass es wesentlich hilfreicher ist, sich mit der Frage zu beschäftigen, was die Gesundheit fördert bzw. erhält, statt, wie die herkömmliche Medizin, mit der Frage, wie man Krankheiten bekämpfen kann. Inzwischen ist in medizinischen Kreisen seine Konzeption als wichtige Ergänzung der traditionellen Gesundheitsfürsorge weitgehend anerkannt. Zugleich wächst im theologischen Diskurs die Erkenntnis, dass das Salutogenese-Konzept auch bedeutsame theologische Implikationen beinhaltet, verknüpft es doch bereits im Begriff die Thematik der Gesundheit mit der des Heils. Dass die Frage der Gesundheit nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein elementar theologisches Thema ist, liegt auf der Hand. In der Nachfolge Jesu waren Christen schon immer auch um die Gesundheit der Menschen bemüht. Umso erschreckender ist, dass gerade im kirchlichen Bereich immer mehr Menschen durch die Art, wie sie ihren beruflichen Tätigkeiten

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Vorwort

nachgehen (müssen), krank werden. So ist einer jüngeren Untersuchung zufolge in einer der deutschen Landeskirchen bereits jeder Fünfte im Pfarrberuf Tätige an stressbedingten Gesundheitsstörungen erkrankt. Insofern kommt auch den Kirchen ---- nicht nur für ihren Bereich ---- gesellschaftliche wie globale Verantwortung zu. Dazu hat die Theologie im engen Verbund mit den Nachbarwissenschaften wissenschaftliche Grundlagen und zielgerichtete Reflexion bereitzustellen. Im vorliegenden Buch, das vor allem auf die Arbeitsgesundheit in kirchlichen Berufen zielt, werden die theologischen Implikationen des Salutogenese-Konzepts erstmals ausführlich entfaltet und für die einzelnen Arbeitsfelder der Praktischen Theologie fruchtbar gemacht. Das Handbuch richtet sich damit vornehmlich an Leitungsverantwortliche im Raum der Kirche und in der theologischen Wissenschaft, will aber auch Betroffenen hilfreiche Informationen für die eigene Urteilsbildung zukommen lassen. Der Buchumschlag zeigt den Eingangsbereich des Refektoriums der ehemaligen Zisterzienserabtei Heilsbronn in Mittelfranken. Im Rahmen der (2011 abgeschlossenen) Neugestaltung des Münsterplatzes hat der Bildhauer Dietrich Förster den gläsernen Dreischalenbrunnen geschaffen, der links im Bild zu sehen ist. Der Schalenbrunnen erscheint uns, den Herausgebern, als treffliches Bild für eine Salutogenese im Raum der Kirche, ein Gesundheitsverständnis mithin, das die geistliche Dimension nicht ausklammert, sie vielmehr als einen integrierenden Bestandteil der Gesundheit von Leib und Seele betrachtet. Sich dem lebendigen Wasser der göttlichen Gnade und Liebe öffnen, das aus dem Urgrund des Seins und den Tiefen unserer Seele zu uns herströmt, empfangen, beschenkt werden, sich füllen lassen bis an den Rand und dann aus dem Überfluss weitergeben, ohne selbst leer zu werden. Diese Haltung könnte ein Heilmittel sein gegen den Stress, der so vielen Menschen heute die Gesundheit und die Freude am Leben raubt. Bernhard von Clairvaux, der Gründer des Zisterzienserordens, hat um die Kraft dieses Wassers und dieser Haltung gewusst. Er schrieb vor etwa tausend Jahren: »Wenn du weise bist, wirst du dich daher als Schale, nicht als Rohr erweisen. Das Rohr nimmt fast zur gleichen Zeit auf und ergießt wieder, was es aufgenommen hat; die Schale aber wartet, bis sie voll ist, und gibt so, was überfließt, ohne einen Verlust weiter. […] Wirklich, ›Rohre‹ haben wir heute in der Kirche in großer Zahl, 1 aber nur sehr wenige Schalen.« Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die sich an diesem Buch beteiligt haben, der Evangelischen Verlagsanstalt für die professionelle Betreuung, dem Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau sowie der Stiftung der AugustanaHochschule für die großzügige finanzielle Unterstützung des Projekts. Neuendettelsau, im Juli 2015, Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer, Klaus Raschzok 1

Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke V, Innsbruck 1995, 255-265, 257.

Inhalt

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Inhalt Inhal

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Einführung ................................................................................................................. 11 Salutogenese im Raum der Kirche ---- ein Handbuch Andreas von Heyl / Konstanze Kemnitzer / Klaus Raschzok

I. Perspektiven ....................................................................... 23 Salutogenese aus psychologischer Perspektive ............................................... 25 Das Beispiel AVEM Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

Soziale Kontexte der Salutogenese .................................................................... 41 Soziologisch-systemische Grundorientierung Christoph Morgenthaler

Gesundheitspolitik zwischen Risikoabwehr und Ressourcenförderung .... 59 Salutogenese aus politisch-rechtlicher Sicht Lothar Stempin

Wirtschaftliche Diskurse zu Strategien der Salutogenese .......................... 73 Thomas Zeilinger

Salutogenese aus alttestamentlicher Perspektive ......................................... 87 Stefan Seiler

Salutogenese aus neutestamentlicher Perspektive ...................................... 103 Markus Müller

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Inhalt

Menschenbild und Arbeit ..................................................................................... 115 Salutogenese aus sozialethischer und ergotherapeutischer Sicht Roland Pelikan / Eva Schenk-Pelikan

Protestantisches Arbeitsethos ........................................................................... 139 Reiner Anselm

Pharmakon: Zur Heilkraft des ostkirchlichen Rituals ................................ 153 Salutogenese aus orthodoxer Perspektive Reinhard Thöle

Heiligkeit ist Gesundheit ..................................................................................... 167 Salutogenese aus katholischer Perspektive Wunibald Müller

Salutogenese in evangelischer Perspektive ....................................................179 Andreas von Heyl

Gesundheitsförderung in freikirchlichen Kontexten ................................... 193 Ralf Dziewas

II. Phänomene ....................................................................... 213 Stress ........................................................................................................................ 215 Körperliche und seelische Überlastungssyndrome Andreas von Heyl

Spiritualität und Gesundheit ............................................................................. 243 Wolfgang Achtner

Gestaltungspotential von Mobilität und Virtualität.................................. 259 Elisabeth Wienemann

Arbeitsklima, Mobbing und Salutogenese ........................................................ 281 Claudia Kuchenbauer

Inhalt

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Arbeit als Gabe der Generationen ..................................................................... 295 Gerhard Wegner

Salutogenese und öffentliche Medien.............................................................. 309 Johanna Haberer

Ausbeutung ............................................................................................................. 317 Konstanze Kemnitzer

Ethische Entscheidungskultur für Pflege und Betreuung ......................... 329 Manfred Riedel

Pfarrberuf und Arbeitsgesundheit ................................................................... 347 Andreas von Heyl

Die heilende Kraft innerer Bilder ..................................................................... 373 Kirstin Faupel-Drevs

III. Handlungsfelder .......................................................... 397 Salutogenese als kirchenleitende Herausforderung ................................... 399 Andreas Weigelt

Salutogenese als diakonische Herausforderung .......................................... 415 Beate Hofmann

Salutogenese in der Pflegewissenschaft ......................................................... 431 Barbara Städtler-Mach

Salutogenese in der Religionspädagogik ......................................................... 441 Martina Kumlehn

Salutogenese in der Gemeindepädagogik ......................................................... 457 Arnd Götzelmann

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Inhalt

Salutogenese in der Familienpädagogik .......................................................... 481 Michael Domsgen

Salutogenese in der Pastoralpsychologie ...................................................... 497 Jürgen Ziemer

Seelsorge und Salutogenese................................................................................ 515 Andreas von Heyl

Salutogenese in der Gottesdienstlehre ............................................................ 535 Klaus Raschzok / Konstanze Kemnitzer

Salutogenese in der Öffentlichen Theologie .................................................. 553 Heinrich Bedford-Strohm / Rüdiger Glufke

Salutogenese und Aszetik am Beispiel der Regula Benedicti ....................... 561 Christel Keller-Wentorf

Autorenverzeichnis ........................................................................................ 573

Einführung

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Einführung Salutogenese im Raum der Kirche ---- ein Handbuch Andreas von Heyl / Konstanze Kemnitzer / Klaus Raschzok

Der Begriff der »Salutogenese« und die damit verbundene Konzeption geht zurück auf den 1926 in Brooklyn geborenen und 1994 in Beerscheba (Israel) verstorbenen israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky.1 Sein Forschungsinteresse wurde geweckt, als er im Rahmen einer 1970 durchgeführten Untersuchung über die Anpassungsfähigkeit von Frauen an die Menopause auf eine Gruppe von Frauen stieß, welche die Gefangenschaft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern überlebt hatten. Erwartungsgemäß litt die Mehrzahl dieser Frauen an körperlichen und psychischen Langzeitschäden. Einige von ihnen erfreuten sich jedoch trotz ihrer traumatisierenden Erfahrungen guter Gesundheit. Offensichtlich verfügten sie über Kräfte und Einstellungen, die es ihnen ermöglichten, die Stressoren zu bewältigen. Fasziniert von dieser Tatsache, konzentrierte sich Antonovsky fortan auf die Erforschung solcher »gesundheitsfördernder Ressourcen«, die Menschen befähigen, ihre leib-seelische Integrität trotz widrigster Lebensumstände zu bewahren.

1.

Vom pathogenetischen zum salutogenetischen Paradigma

Jenen Perspektivwechsel von der Frage: »Was macht krank?« zur Überlegung: »Was macht bzw. erhält gesund?« bezeichnete Antonovsky rückblickend als entscheidenden Wendepunkt seiner Arbeit.2 Mit einem Mal wurde ihm deut-

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Vgl. Antonovsky (1979); Antonovsky (1987); Antonovsky (1993), 3-14; Antonovsky (1984), 114-129. Zum Salutogenese-Konzept vgl. die Sammelbände (sowie die umfangreichen Literaturangaben ebd.): Lamprecht / Johnen (1994) und Schüffel / Brucks / Johnen (1998). Vgl. auch: Udris et al. (1994) und Udris (1990). Vgl. auch die neueren Veröffentlichungen: Schiffer (2013); Wydler / Kolip / Abel (2010); Lorenz / Petzold (2005). 2 Die Idee der Stärkung der Bewältigungsressourcen hat einen historischen Vorläufer im medizinischen Ansatz Sebastian Kneipps. Auf ähnlichen Grundanschauungen basiert auch die um vieles ältere Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und die in Indien und in Sri Lanka beheimatete ayurvedische Heilkunst. Im europäischen Raum

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lich, wie sehr sich die konventionelle Medizin in den Industrienationen bei ihren Bemühungen auf Krankheiten und deren Ursachen fixiert, eben pathogenetisch denkt und handelt. Im pathogenetischen Paradigma besteht das leitende Interesse darin, die schädigenden »Noxen«, also Faktoren bzw. Einflüsse ---- seien dies physikalische oder chemische Einwirkungen, Mikroben, Gifte oder auch psychische Entwicklungen und Krankheiten verursachende Verhaltensweisen ---- zu identifizieren und zu eliminieren. Die tragende Überzeugung des Gesundheitswesens besteht darin, dass einerseits die Gesundheit des Organismus ein Produkt ist, das erhalten bzw. (wieder) hergestellt werden kann und dass sie andererseits der Normalzustand ist, dass Menschen also eigentlich von Natur aus gesund sind. Krankheiten stören den natürlichen Zustand. Der kranke Mensch gilt als weniger »normal«, er ist defizient. Dies aber ist, so Antonovsky, die »fundamentale Inadäquatheit des pathogenen Paradigmas, ihre Achillesferse [… nämlich] die Annahme einer Homöostase als Normalzustand, der Glaube, dass, wenn nicht eine bestimmte Kombination bestimmter Umstände auftritt, Menschen nicht krank werden. Ich dagegen gehe davon aus, dass Heterostase, Ungleichgewicht und Leid inhärente Bestandteile menschlicher Existenz sind, ebenso wie der Tod. […] Das wahre Geheimnis [besteht] nicht darin, warum Menschen krank werden und sterben. Die Pathogene sind ubiquitär, durchdringend und endemisch. Epidemiologische Daten weisen darauf hin, dass Pathologie in der Tat weit häufiger vorkommt, als es vom pathologischen Ansatz angenommen wird. Das eigentliche Rätsel ist, warum einige Menschen manchmal weniger als andere leiden, und warum sie sich auf dem Kontinuum in Richtung des Pols ›Gesundheit‹ bewegen. Dies ist die Frage, die sich mir aufdrängt. Als mir schließlich ihre revolutionären Implikationen klar wurden, stellte ich fest, dass unser Vokabular nicht zufällig keinen Ausdruck für diese Frage besitzt. Aus diesem Grund schuf ich den Neologismus ›Salutogenese‹ ---- die Ursprünge der Gesundheit.«3 Gesundheit ist in Wahrheit kein Produkt, sondern ein Prozess.4 Antonovsky betont: Die Gesundheit gibt es nicht, sondern immer nur eine jeweils unterschiedliche Mischung von gesunden und nicht gesunden Vorgängen und Zuständen in Körper und Geist. Zwischen Gesundheit und Krankheit besteht kein Gegensatz, sondern ein Fließgleichgewicht. Gesundsein und Kranksein sind zwei Formen oder Stadien des Lebendigseins. Der eigentliche Gegensatz oder Gegenpol ist der Tod. Jedes Individuum befindet sich an einem bestimmten Punkt innerhalb des »Gesundheits-Krankheits-Kontinuums«, der sich im Laufe seines Lebens vielfach in die eine und in die andere Richtung verschiebt. »Völlige Gesundheit und völlige Krankheit sind die extremen Ausprädenken in eine ähnliche Richtung auch die Homöopathie und die anthroposophische Medizin. 3 Antonovsky (1993), 6f. 4 Vgl. Schüffel (1998), 1.

Einführung

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gungen, und niemand befindet sich jemals von seiner Geburt bis zum Augenblick seines Todes an einem dieser Extrempole. Es gibt Kräfte, die uns in die eine oder andere Richtung drängen, aber aus Sicht dieses Modells sind wir alle teilweise gesund, teilweise krank.«5 Auch bei einem Sterbenskranken findet man noch gesunde Anteile. Der herkömmlichen pathogenetischen Schulmedizin haftet etwas Verdinglichendes an. Sie ist im Grunde nicht an der Person des Patienten interessiert, sondern an seinen Funktionsstörungen und Symptomen. Grundlage der salutogenetischen Orientierung dagegen ist ein ganzheitlicher und systemischer Ansatz. Im Blickpunkt steht der Mensch in seiner leib-seelischen Einheit, im vielfältigen Geflecht der Wechselbeziehungen mit seinem sozialen Umfeld und im Rahmen seiner je eigenen Biographie, vor allem aber im Lichte seiner noch zu entfaltenden Möglichkeiten. Schon in der Wortwahl wird deutlich, dass Antonovsky von einem umfassen Gesundheitsbegriff ausging. »Gesund« heißt im Lateinischen ja eigentlich »sanus«, und die Gesundheit »sanitas«. Sprachlich korrekt hätte Antonovsky sein Konzept demnach »Sanuto- oder Sanitasgenese« nennen müssen. Dass er stattdessen die Wortschöpfung »Salutogenese« prägte, hat programmatischen Charakter. Es geht um mehr als nur die psycho-physische Gesundheit. Es geht letztlich um das Leben als Ganzes. Es geht um das »salus«, das Heil, das »Heil-Sein« in einer ganzheitlichen, umfassenden Hinsicht.

2.

Kohärenzgefühl

Die zentrale Rolle für die Erhaltung der Gesundheit bzw. für die Wiedergenesung spielt, wie Antonovsky bald erkannte, eine bestimmte Grundeinstellung, die er »Sense of Coherence« (SOC) nannte. Das Fremdwort »Kohärenz« bedeutet »Zusammenhang, Zusammenhalt«, kann aber auch mit »Stimmigkeit« übersetzt werden. Der Terminus »Sense of Coherence« hat zwei verschiedene Bedeutungen: Gemeint ist entweder ein angeborener Sinn für Kohärenz (Stimmigkeit, Zusammenhalt) oder ein (empfundenes) Gefühl von Zusammenhang und Stimmigkeit. Die meisten deutschen Autoren verwenden nur die zweite Bedeutung und sprechen vom »Kohärenzgefühl«. Neurophysiologische Erkenntnisse zeigen aber, dass bei Menschen (wie zugleich bei den meisten Tieren) auch ein »Sinn«, eine neurobiologische Empfindungsfähigkeit für sich aufbauende Kohärenz (stimmige Verbundenheit im Inneren des eigenen Organismus, aber auch im sozialen System, dem der Organismus angehört) angeboren ist. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen. Jeder Mensch sehnt sich aber auch danach bzw. braucht das Gefühl, in einem verstehbaren, bewältigbaren und sinnvollen Zusammenhang zu leben. 5

Antonovsky (1993), 8.

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Antonovsky präzisiert seine Vorstellung vom Kohärenzgefühl folgendermaßen: Das Kohärenzgefühl ist ein nachhaltiges und fortwährendes Vertrauen darauf, dass: 1. Die Welt, in der man lebt, einen sinnvollen Zusammenhang bildet, und dass man die Dinge, die einem widerfahren, verstehen, zuordnen und einordnen kann (sense of comprehensibility). 2. Das Vertrauen darauf, dass man die Dinge, die einem widerfahren, gestalten und handhaben oder zumindest irgendwie bewältigen kann (sense of manageability). 3. Das Vertrauen darauf, dass das, was einem widerfährt, irgendwie einen Sinn ergibt, auch wenn man ihn noch nicht sieht, und dass sich daraus sinnvolle Aufgaben für einen selbst herleiten. Dies ist die wichtigste Komponente des Kohärenzgefühls (sense of meaningfulness).6 Menschen mit ausgeprägtem Kohärenzgefühl verfügen über eine erhöhte Widerstandskraft gegen Stressoren und werden deshalb weniger oft und weniger schwer krank. Die Grundzüge des Kohärenzgefühls entwickeln sich etwa bis zum zehnten Lebensjahr. Es bildet sich nicht nur durch die Erfahrungen, die man als Kind mit seinen Eltern und nächsten Verwandten macht, sondern wird auch bestimmt durch die jeweiligen sozialen und kulturellhistorischen Lebensbedingungen, in die man eingebunden ist. In traditionsbewussten, religiös geprägten Gesellschaften ist das Kohärenzgefühl der Menschen stärker entwickelt als beispielsweise in der gegenwärtigen pluralistisch-postmodernen Situation. Es überrascht übrigens nicht, dass sich im Rahmen einer Verlaufsstudie unter psychosomatischen Patienten bei zwei Personen mit einem Mal eine signifikante Erhöhung ihres Kohärenzwertes ergab, als sie sich nämlich ineinander verliebten. Liebe ist in höchstem Maße sinnstiftend, stärkt die Resilienz und fördert die Salutogenese.7 Das muss nicht nur die erotische Liebe sein. Untersuchungen bei Ordensangehörigen, die unter extrem belastenden Bedingungen, z. B. in der Sozialarbeit oder in der Sterbebegleitung tätig sind, belegen, dass auch die Liebe zu Gott bzw. die christliche Nächstenliebe ein intensiver, die Gesundheit stabilisierender Faktor sein kann.8

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Vgl. Antonovsky (1997), 33 ff. Vgl. auch seine folgende Definition: »Das SOC ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1) die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2) einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3) diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.« Antonovsky (1997), 36. Antonovsky hat die Verbindung zwar nicht gezogen, aber es liegt nahe, in diesem Zusammenhang auch an ERIKSONS Ausführungen über das »Urvertrauen« zu denken. Vgl. Erikson (1976), Erikson (1977). 7 Vgl. Lamprecht / Sack (1994), Einführung, 30. 8 Besonders eindrücklich zeigen dies Cherniss / Krantz (1985). Vgl. auch Cherniss (1999) und Flosdorf (1998).

Einführung

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Antonovsky legte jedoch Wert auf die Feststellung, dass das Kohärenzgefühl keine moralische Dimension besitzt. Die Intensität des Kohärenzgefühls ist ein Gradmesser dafür, wie stark ein Mensch in einem für ihn schlüssigen Sinn- und Bedeutungsgefüge verankert ist. Welche ethische Qualität dieses Gefüge hat, spielt dabei keine Rolle. Auch KZ-Aufseher, Diktatoren oder Betrüger können über ein starkes Kohärenzgefühl verfügen.

3.

Die Salutogenese-Konzeption als Element eines neuen Verständnisses von Mensch und Natur

Das Salutogenese-Konzept steht nicht im luftleeren Raum. Der von Antonovsky geforderte Perspektivwechsel ist auf dem Hintergrund jener viel umfassenderen Neuorientierung im Verständnis von Mensch und Natur zu sehen, die am Anfang des vorigen Jahrhunderts begann und bis in die heutige Zeit hinein ausstrahlt. Damals hatte sich, zunächst in der Physik, dann aber auch in der Biologie und in der Psychologie gezeigt, dass das traditionelle, von Bacon, Descartes und Newton herkommende, linear-kausale Denkmodell nicht hinreicht, um alle Phänomene zu erklären.9 Herausragende Forscher wie Werner Heisenberg, Max Planck, Albert Einstein, aber auch Jakob von Uexküll erkannten, dass sich die komplexen Zusammenhänge der Natur und des Lebens erst einer systemisch-ganzheitlichen Sicht erschließen. Auch führende Mediziner forderten bald eine Neuorientierung in diesem Sinne. So z. B. schon 1930 Viktor v. Weizsäcker mit seiner Konzeption einer »anthropologischen« Medizin, die den Menschen im gesamten Geflecht seiner Beziehungen und seiner Biographie wahrzunehmen versucht.10 In einigen Fachrichtungen der

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Vor allem Francis Bacon und René Descartes haben der Wissenschaftsgeschichte eine »bis heute schicksalhafte Richtung gegeben. Sie ist getragen von dem Glauben, die Phänomene der Natur ließen sich auf die Newtonschen Naturgesetze zurückführen, womit sie quasi mathematisch fassbar würden. Damit ließen sich auch Eingriffe in diese Natur ohne Unsicherheiten kalkulieren und in ihren Folgen verstehen, so lautete die Überzeugung.« Pauli / Schüffel (1998), 246. 10 Vgl. z. B. Weizsäcker (1947). Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts forderten auch die Medizintheoretiker Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack in einer wegweisenden Studie, dass sich die Medizin endlich von ihrer Fixierung auf das »biomechanische« Paradigma lösen und zu einer systemisch denkenden psychosomatischen »Humanmedizin« wandeln soll. Sie hielten in diesem Zusammenhang fest: »Der Siegeszug der neu entstandenen Bakteriologie hatte ein Paradigma geschaffen, das sich an den Erfahrungen mit den Infektionskrankheiten orientierte. Nach ihm besaßen Krankheiten eine Ursache, deren Beseitigung durch eine ätiologische Therapie zur Heilung führte. Das Modell der modernen Medizin wird meist auf Koch und Virchow zurückgeführt. Es beschreibt Krankheiten als Folge isolierbarer Ursachen, wie es Koch für die bakteriellen Erreger tat. [...] Inzwischen hat man gelernt, dass dieses eingleisige Modell viele Probleme ---- auch bei den Infektionskrankheiten ---- nicht lösen kann und

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Medizin, wie z. B. in der Psychosomatik, gehört die Einbeziehung des sozialen Umfelds und der Lebensgeschichte der Patienten inzwischen längst zum Standard.11 Die sogenannte »klassische« naturwissenschaftliche Schulmedizin arbeitet jedoch immer noch weitgehend mit dem von den anderen Naturwissenschaften längst überwundenen mechanistischen Denkmodell, nach dem lebendige Organismen nicht viel mehr sind als eine Art Maschine, die man auseinander nehmen, reparieren und wieder zusammenbauen kann.12 Zwar ist diese Medizin inzwischen in der Lage, früher niemals vermutete biotechnische Höchstleistungen zu erbringen, man denke nur an die Eingriffe ins Erbgut oder an die moderne perinatale und präfinale Intensivmedizin. Aufs Ganze gesehen sind ihre Auswirkungen aber mitunter nicht sehr segensreich. Worauf es ankommt, ist eben letztlich nicht das Funktionieren des Leibes, sondern die Entfaltung des Lebens in all seinen Dimensionen. Zu einer Heilkunde im eigentlichen Sinn wird die moderne Medizin erst, wenn sie den Boden des überlebten Maschinenparadigmas verlässt. Neben Anstößen aus der Psychologie, der Naturheilkunde und der fernöstlichen Medizin könnte hier in besonderer Weise Antonovskys Konzeption ein Wegbereiter sein. Und sie wird ja auch seit über zwanzig Jahren nicht nur intensiv in den Gesundheitswissenschaften diskutiert, sondern gewinnt immer mehr an Zustimmung.13

4.

Verwandte Konzepte

Älter und anders akzentuiert als das Salutogenesekonzept, inhaltlich aber mit ihm verwandt, ist die Resilienzforschung. Der Begriff der »Resilienz« (»Elastizität, Spannkraft, Widerstandsfähigkeit«), der ursprünglich aus der Werkstoffkunde stammt, wurde 1950 von dem an der Universität von Berkeley lehrenden Jack Block zum ersten Mal in sozialpsychologischen Zusammenhängen verwendet. Als die eigentliche Begründerin der Resilienzforschung gilt die in Deutschland geborene, amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner (* 26.5.1929). Sie beobachtete im Rahmen einer von ihr über vier Jahrzehnte hinweg durchgeführten Längsschnittstudie die Entwicklung

dass Krankheiten ein multifaktorielles Ursachengeflecht besitzen.« Uexküll / Wesiack (1991), 6. Vgl. auch den Grundsatzartikel: Uexküll / Wesiack (2003), 3-42. 11 Vgl. Uexküll / Wesiack (1991). Vgl. auch den Grundsatzartikel: Uexküll / Wesiack (2003), 3-42. 12 Ein Wegbereiter des sogenannten »Maschinenparadigmas«, auf dem die moderne Schul---- bzw. »Apparatemedizin« immer noch zum Teil basiert, war der französische Philosoph und Mediziner Julien La Mettrie (1709----1751). Er hatte 1748 ein Buch mit dem bezeichnenden Titel »L’homme machine« veröffentlicht, in dem er darlegt, dass der Mensch letztlich nichts anderes als eine sich selbst steuernde Maschine sei. 13 Vgl. stellvertretend für die Fülle der Literatur die Beiträge in: Lamprecht / Johnen (1994).

Einführung

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von 698 Kindern des Jahrgangs 1955 auf der hawaianischen Insel Kauai.14 Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf den Werdegang jener 200 Kinder dieser Gruppe, die aus schwierigen bis chaotischen Familienverhältnissen stammten. Erwartungsgemäß entwickelte sich die Mehrheit von ihnen problematisch, sie waren teilweise lernbehindert und verhaltensauffällig, wurden straffällig oder litten unter psychischen Störungen. Aber immerhin fanden über sechzig dieser Kinder ihren Weg und wuchsen zu Personen heran, die gut mit dem Leben, ihrer sozialen Umwelt und ihren späteren jeweiligen Lebenspartner/innen und Kindern zurechtkamen. Werner identifizierte bei diesen Pobanden »drei Bündel von Schutzfaktoren«, die sie von ihren stark gefährdeten Altersgenossen unterschieden: Bewältigungskräfte, die im jeweiligen Indiviuum angelegt waren (Fröhlichkeit, Selbstvertrauen, etc.), Ressourcen, die die familiäre Situation bereit stellte (Zuwendung, verlässliche Identitfikationspersonen, etc.) und unterstützende Kräfte aus dem sozialen Umfeld (Fürsorgliche Nachbarn, ein freundlicher Lehrer als Bezugsperson, etc.)15 Bis heute konzentiert sich die inzwischen sehr elaborierte Resilienzforschung und -förderung vor allem auf Kinder und Heranwachsende.16 Als weitere mit der Salutogenesekonzeption verwandte aber nicht explizit auf sie bezogene Entwürfe sind vor allem zu nennen: - Die Coping-Strategien (engl. to cope ---- bewältigen) des von dem Psychologen Richard Lazarus und seinem Team erarbeiteten und 1974 veröffentlichten »transaktionalen Stressmodells«. Lazarus unterscheidet problem-, emotionsund bewertungsorientiertes Coping.17 - Die Entwicklung bzw. Stärkung von »Hardiness« (»Widerstandskraft«). Der Begriff wurde 1979 von der Sozialpsychologin Suzanne C. Kobasa in die Gesundheitsdiskussion eingeführt. Sie bezeichnete damit einen Persönlichkeitsfaktor, der Menschen befähigt, mit Belastungen und kritischen Lebensereignissen umzugehen, ohne krank zu werden. Bestandteile der Hardiness sind »Commitment« (Engagement und Selbstverpflichtung), d. h. die Motivation, die Herausforderungen des Lebens zu meistern; »Control« (Kontrolle), d. h. die Gewissheit und Fähigkeit, auf Dinge Einfluss nehmen zu können und »Challenge« (Herausforderung), d. h. Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrzunehmen.18 - Das Konzept der »perceived self-efficacy« (Selbstwirksamkeitserwartung). Es wurde in den siebziger Jahren von dem Psychologen Albert Bandura entwickelt. Hier geht es um die Entwicklung und Stärkung des Zutrauens einer

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Vgl. WERNER 1977; WERNER / SMITH (1982). Vgl. WERNER in: Welter-Enderlin / Hildenbrand (2012), 31f. 16 Aus der Fülle der Resilienzliteratur vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse (2009) und Welter-Enderlin / Hildenbrand (2012). 17 Vgl. Lazarus (1974); Lazarus / Folkman (1984). 18 Kobasa (1979); (1982). 15

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Andreas von Heyl / Konstanze Kemnitzer / Klaus Raschzok

Person, dass sie die Anforderungen des Alltags, aber auch schwierige Situation aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen kann.19

5.

Die Salutogenese-Konzeption in theologischer Perspektive

Antonovskys Konzeption ist für die Theologie besonders interessant, weil sie sich ---- ohne dass Antonovsky dies intendiert hätte ---- mit ureigenen biblischtheologischen Vorstellungen berührt. Natürlich: Ist doch die »Saluto-Genese«, also das Heil-Werden bzw. die Entstehung von Heil das zentrale Thema der jüdisch-christlichen Glaubenstradition. Bleibt dieses »Heil« bei Antonovsky jedoch gesichtslos, diffus und unbestimmt, so hat es für die Christenheit ein Gesicht und einen Namen: Jesus. Die hebräische Form dieses Namens, Jehoschuah, heißt übersetzt: Jahwe errettet oder Jahwe ist Heil. In keinem anderen ist das Heil ---- so lautet das Zeugnis der ersten Apostel im Blick auf Jesus (Acta 4,12). In ihm, (en Christo) wie Paulus sagt, kommt der Mensch in Kontakt mit dem Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe und wird durch und durch erneuert. Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur (2 Kor 5,17). Das biblische Zeugnis von Jesus lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass mit dieser Erlösung nicht nur das Seelenheil gemeint ist, sondern auch die Heilung und Gesundheit des Leibes und der sozialen Bezüge des Menschen. Andererseits zeigen die Heilungsgeschichten des Neuen Testamentes aber auch überdeutlich, dass die leib-seelische Gesundung mehr ist als bloße Symptomfreiheit. Gesund werden bedeutet in biblischer Sicht: Wieder in Beziehung zu kommen zu Gott und den Mitmenschen. Dies wird z. B. an der Erzählung vom Gichtbrüchigen in Markus 2 deutlich. Seine eigentliche Heilung geschieht in der Zusage Jesu: »Dir sind deine Sünden vergeben.« Das bedeutet: Was dich von Gott und den anderen getrennt hat, ist aufgehoben. Dass er auch wieder laufen kann, wirkt eher wie eine Dreingabe. Oder denken wir an die drastische Schilderung der Heilung des Taubstummen in Markus 7, dem Jesus die Finger in die Ohren legt und die Zunge mit Speichel berührt. Wer sich ganz intensiv und intim von Gott berühren lässt, der wird gesund, bekommt die beiden Voraussetzungen zur Beziehungsfähigkeit zurück, kann wieder hören und sprechen. Das entscheidende Heilmittel sind in der Bibel jedoch nicht Medikamente oder therapeutische Anwendungen, es ist das Vertrauen bzw. der Glaube. Immer wieder sagt Jesus denen, die er geheilt hat: »Dein Glaube hat dir geholfen.« Im Gegensatz zu seinen pharisäischen Gegnern ist Jesus den Menschen stets mit einem »salutogenetischen« Blick begegnet. Er hat ihre Potentiale gewichtet, nicht ihre Defizite. Er hielt sich bei Zachäus nicht auf mit einer Moralpredigt über dessen Sünden, sondern sprach zu ihm das befreiende Wort: »Noch heute muss 19

Bandura (1992).

Einführung

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ich in deinem Hause einkehren.« Er beschrieb, was aus dem verlorenen Sohn werden könnte, wenn er wieder heimkäme zum Vater. Er hat die Ehebrecherin und selbst den Schächer am Kreuz nicht auf ihre Vergangenheit festgeschrieben, sondern ihnen die Zukunft geöffnet. Das Wissen darum, dass vom Glauben zutiefst heilsame Wirkungen ausgehen, nicht nur für die Seele, sondern auch für den Leib, ist in allen Epochen der Kirchengeschichte präsent. Es wird interessanterweise gerade in jüngster Zeit durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse gestützt. Mittlerweile sind auch viele nicht religiös verwurzelte Therapeuten überzeugt, dass gelebte Spiritualität eine zentrale Bedeutung für die Gesundheit hat. Insofern bekommt nun auch das bei Antonovsky noch relativ diffuse Kohärenzgefühl eine konkrete Gestalt. Die Gewissheit eines tragenden Zusammenhanges der Welt und seines Lebens erfährt der Mensch in der »re-ligio«, in der Rückbindung an den Schöpfer des Lebens. Allerdings, und dies gilt es gerade in einer Zeit festzuhalten, in der die Gesundheit vielfach zu einer Ware geworden ist, für die nicht Wenige jeden Preis zu zahlen bereit sind: Das christliche Ideal ist weder der gesunde, noch der starke und auch nicht der schöne Mensch, sondern der Mensch, der auf Gott vertraut. Körperliche und psychische Unversehrtheit ist in christlicher Sicht weder die Grundlage, noch die Voraussetzung oder die Bedingung eines erfüllten Lebens. Auch Schwerkranke, Altersgebrechliche und Behinderte können »heil« sein. Die Vorstellung der Gesundheit als Selbstzweck oder als Mittel zum Zweck eines sorgenfreien und angenehmen Lebens ist dem christlichen Glauben fremd. Der zeitgenössische Gesundheitswahn dagegen hat schon regelrecht heidnischen Charakter. Denken wir nur an den »Bodykult« unserer Zeit und daran, mit wie viel Geld- und Zeitaufwand sich die Menschen heute dem Götzen »Fitness« unterwerfen. Im Raum von Kirche und Diakonie werden Menschen begleitet, in Zeiten körperlicher Stärke und Schwäche, in Krankheit und Gesundheit, in der Dynamik des Lebenslaufes, in dem sie in allem Auf und Ab zum Heil berufen sind. Die Arbeitsbedingungen im Raum von Kirche und Diakonie entsprechen dabei selbst jedoch oft nicht salutogenetischen Standards. Seit einigen Jahren wird Salutogenese zum Leitbegriff der Bemühungen, Arbeitsverhältnisse, bedingungen, -beziehungen und -strukturen im Raum von Kirche und Diakonie so zu verbessern, dass arbeitende Menschen ihre Tätigkeiten in Kirche und Diakonie mindestens nicht als das Unheilsein fördernde, möglicherweise sogar als ihr Heilsein stärkende Dimension ihres Lebens empfinden. Der verantwortungsvollen Gestaltung von Arbeit im Raum der Kirche im Sinne eines salutogenetischen Gesamtverständnisses von Menschsein will das vorliegende Handbuch dienen. Die einzelnen Beiträge eröffnen, sondieren und klären wesentliche Begriffe, zentrale Themen und Debatten, Potentiale, Desiderate und weitere Diskurse und verweisen auf relevante Literatur. Uwe Schaarschmidt und Ulf Kieschke eröffnen aus psychologischer Perspektive mit dem Beispiel AVEM. Christoph Morgenthaler bietet eine soziolo-

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Andreas von Heyl / Konstanze Kemnitzer / Klaus Raschzok

gisch-systemische Grundorientierung zu sozialen Kontexten der Salutogenese. Aus politisch-rechtlicher Sicht beleuchtet Lothar Stempin die Gesundheitspolitik zwischen Risikoabwehr und Ressourcenförderung. Thomas Zeilinger zeigt wirtschaftliche Diskurse zu Strategien der Salutogenese. Stefan Seiler fasst Grundgedanken zur Salutogenese aus alttestamentlicher Perspektive zusammen. Markus Müller gibt einen Überblick zur Salutogenese aus neutestamentlicher Perspektive. Roland Pelikan und Eva Schenk-Pelikan erläutern unter der Überschrift »Menschenbild und Arbeit« Salutogenese aus sozialethischer und ergotherapeutischer Sicht. Mit ethischem Schwerpunkt reflektiert Reiner Anselm Aspekte des Protestantischen Arbeitsethos. Konfessionelle und ökumenische Perspektiven zeigen Reinhard Thöle (orthodoxe Perspektive), Wunibald Müller (katholische Perspektive), Andreas von Heyl (evangelische Perspektive) und Ralf Dzwieas (freikirchliche Kontexte) auf. Im zweiten Teil des Handbuchs wird das Thema Salutogenese im Raum der Kirche anhand von Phänomenen beleuchtet. Andreas von Heyl erarbeitet das Thema »Stress ---- körperliche und seelische Überlastungssyndrome«, Wolfgang Achtner »Spiritualität und Gesundheit«, Elisabeth Wienemann »Gestaltungspotential von Mobilität und Virtualität«, Claudia Kuchenbauer »Arbeitsklima, Mobbing und Salutogenese«, Gerhard Wegner »Arbeit als Gabe der Generationen«, Johanna Haberer »Salutogenese und öffentliche Medien«, Konstanze Kemnitzer »Ausbeutung«, Manfred Riedel »Ethische Entscheidungskultur für Pflege und Betreuung«, Andreas von Heyl »Pfarrberuf und Arbeitsgesundheit« und Kristin Faupel-Drevs die »Heilende Kraft der inneren Bilder«. Der dritte Hauptteil des Handbuchs wendet sich den Handlungsfeldern zu und verortet Salutogenese und Arbeitsgesundheit als Thema spezieller praktisch-theologischer Disziplinen. Andreas Weigelt befasst sich mit Salutogenese als kirchenleitende Herausforderung. Beate Hoffmann schreibt über Salutogenese als diakonische Herausforderung. Barbara Städtler-Mach schließt aus Sicht der Pflegewissenschaft an. Salutogenese als religionspädagogisches Thema erörtert Martina Kumlehn. Gemeindepädagogisch reflektiert das Thema Arnd Götzelmann, familienpädagogisch Michael Domsgen, pastoralpsychologisch Jürgen Ziemer. Andreas von Heyl nimmt die Salutogenese als Herausforderung für die Seelsorge in den Blick, Konstanze Kemnitzer und Klaus Raschzok im Feld der Gottesdienstlehre. Für den Bereich der öffentlichen Theologie stehen Heinrich Bedford-Strohm und Rüdiger Glufke, für die Aszetik Christel Keller-Wentorf. Die Herausgeber erhoffen sich durch diesen Zuschnitt, dass sowohl der phänomenologische als auch der forschungsperspektivierte Zugriff auf das Thema erschlossen werden kann und ›Salutogenese im Raum der Kirche‹ damit sowohl für die praktische Arbeitswelt als auch für die akademischen Diskurslandschaften fruchtbar gemacht wird.

Einführung

6.

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Literatur

ANTONOVSKY, AARON, Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung, in: Franke, Alexa / Broda, Michael (Hg.), Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese-Konzept, Tübingen 1993, 3-14 ANTONOVSKY, AARON, Health, stress and coping, San Francisco 1979 ANTONOVSKY, AARON, The Sense of Coherence as a Determinant of Health, in: Matarazzo, Joseph D. / Weiss, Steven M. / Herd, Alan J. / Miller, Neill E. (Eds.), Behavioral Health. A Handbook of Health Enhancement and Disease Prevention, New York 1984, 114-129 ANTONOVSKY, AARON, Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well, San Francisco 1987 (Deutsch: Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit, Tübingen 1997) BANDURA ALBERT, Self-Efficacy. The Exercise of Control, New York 1997 CHERNISS, CARY / KRANTZ, DAVID L., The Ideological Community as an Antidote to Burnout in the Human Services, in: FARBER, BARRY A., Stress and Burnout in the Human 2 Service Professions, New York 1985, 198-212 CHERNISS, CARY, Jenseits von Burnout und Praxisschock. Hilfen für Menschen in lehrenden, helfenden und beratenden Berufen, Weinheim 1999 4 ERIKSON, ERIK H., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1977 (Original: Identity and the Life Cycle, New York 1959) 6 ERIKSON, ERIK H., Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1976 (Original: Childhood and Society, New York 1950) LAMPRECHT, FRIEDHELM / JOHNEN, ROLF (Hg.), Salutogenese. Ein neues Konzept in der Psychosomatik, Frankfurt 31994 LAMPRECHT, FRIEDHELM / SACK, MARTIN, Kohärenzgefühl und Salutogenese. Eine Einführung, in: Lamprecht, Friedhelm / Johnen, Rolf (Hg.), Salutogenese. Ein neues 3 Konzept in der Psychosomatik, Frankfurt 1994, 22-36 LORENZ, RÜDIGER / PETZOLD, HILARION G., Salutogenese: Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflegewissenschaftler, München 2005 KOBASA, SUZANNE C., The hardy personality: Toward a Psychology oft Stress and Health, in: SULS J. & SANDERS G., (Hg.), Social psychology of health and illness, Hillsdale, 1982, 3-33 KOBASA, SUZANNE C., Stressful life events, personality and health: An inquiry into hardiness, in: Journal of Personality and Social Psychology, 37 (1979), 1-11. PAULI, HANNES G. / SCHÜFFEL, WOLFRAM, Wandel des Denkens in der Medizin? Wandel der ärztlichen Ausbildung? In: SCHÜFFEL, WOLFRAM u. a. (Hg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998, 244-259 LAZARUS, RICHARD S., Psychological stress and coping in Adaption and illnes, in: International Journal of Psychiatry in Medicine, 1974, 321-332 LAZARUS, RICHARD S. / FOLKMAN, SUSAN, Stress, appraisal and coping, New York 1984 FRÖHLICH-GILDHOFF, KLAUS / RÖNNAU-BÖSE, MAIKE, Resilienz, München 2009 SCHIFFER, ECKHARD, Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim / Basel 2013 SCHÜFFEL, WOLFRAM u. a. (Hg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998 UDRIS, IVARS et al., Gesundheit erhalten, Gesundheit herstellen, in: Bergmann, Bärbel / Richter, Peter (Hg), Die Handlungsregulationstheorie ---- von der Praxis einer Theorie, Göttingen 1994, 198-215

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Andreas von Heyl / Konstanze Kemnitzer / Klaus Raschzok

UDRIS, IVARS, Organisationale und personale Ressourcen der Salutogenese ---- Gesund bleiben trotz oder wegen Belastung?, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene 36, 1990, 453-455 UEXKÜLL, THURE VON / WESIACK, WOLFGANG, Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell, in: UEXKÜLL, THURE VON ET AL. (Hg.), Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns, Mün6 chen / Jena 2003, 3-42 UEXKÜLL, THURE VON / WESIACK, WOLFGANG, Theorie der Humanmedizin. Grundlagen 2 ärztlichen Denkens und Handelns, München / Wien / Baltimore 1991 WEIZSÄCKER, VICTOR VON, Fälle und Probleme. Anthropologische Vorlesungen in der medizinischen Klinik. Beiträge aus der Allgemeinen Medizin, 3 Hefte, Stuttgart 1947 WELTER-ENDERLIN, ROSEMARIE / HILDENBRAND BRUNO (Hg.), Resilienz. Gedeihen trotz 4 widriger Umstände, Heidelberg 2012 WYDLER, HANS / KOLIP, PETRA / ABEL, THOMAS (Hg.), Salutogenese und Kohärenzgefühl: Grundlagen, Empirie, und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts, Weinheim 2010 WERNER, EMMY, The children of Kauai. A longitudinal study from the prenatal period to age ten, University of Hawai’i Press 1977 WERNER, EMMY gemeinsam mit SMITH, RUTH S., Vulnerable but Invincible. A longitudinal study of resilient children and youth. McGraw Hill, New York 1982 WERNER, EMMY AND SMITH, RUTH S., Overcoming the odds: High risk children from birth to adulthood, Ithaca (N.Y.) 1992

23

I. Perspektiven

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

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Salutogenese aus psychologischer Perspektive Das Beispiel AVEM Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

1.

Einleitung

Vertreter des salutogenetischen Ansatzes erweitern das Gesundheitsverständnis durch einen Wechsel der Prämissen, unter denen sie Diagnostik, Intervention1 und Forschung betreiben. Sie fragen nicht mehr allein nach Risikogegebenheiten und Entwicklungsbarrieren, die eine gedeihliche Auseinandersetzung mit Anforderungen verhindern oder erschweren, sondern nach Faktoren, die Problemlösungen und Anpassungsprozesse erleichtern. Der Hauptakzent liegt hier folglich weniger auf Zurückdrängung oder Ausschaltung von Gefährdungsmomenten (das wäre das klassische Betätigungsfeld der Krankheitsprävention2). Augenmerk gilt vielmehr den selbst in widrigen Umständen abrufbaren positiven Gestaltungspotentialen sowie Haltungen, Gefühlen und Kompetenzen, die der Entstehung körperlicher und psychischer Beschwerden entgegenwirken. Thematisiert werden damit ausdrücklich auch personale und situative Bedingungen für die Steigerung von Zufriedenheit und Vitalität (man bündelt Studien solchen Zuschnitts auch unter dem Sammelbegriff »Positive Psychologie«3). Leitend für diese Sichtweise, in der gerade Maßnahmen zur Verbesserung individueller Bewältigungsfähigkeiten stark gewichtet werden (»Empowerment«), ist die Überzeugung, Gesundheit sei mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Für die Diskussion von Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen psychischer Gesundheit soll in unserem Beitrag zentral auf folgende Definition Bezug genommen werden: »Psychische Gesundheit … ist mehr als allgemeines Wohlbefinden. Psychisch gesund ist nach unserem Verständnis ein Mensch, dem es im Alltag gelingt, sich engagiert und doch entspannt den Anforderungen zu stellen, der über eine positive Einstellung zu sich selbst und zu den eigenen Wirkungsmöglichkeiten verfügt, der Ziele verfolgt, in seinem Tun Sinn erfahren kann und sich sozial

1 2 3

Vgl. Schaarschmidt / Fischer (2008). Vgl. Hurrelmann / Klotz / Haisch (2014), 13-24. Vgl. Aspinwall / Staudinger (2003).

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Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

aufgehoben fühlt.«4 Die Psychologie sucht nun schon seit längerem ---- verstärkt nach den breit rezipierten Veröffentlichungen Antonovskys ---- mögliche Determinanten für derartige Zielzustände zu erkunden. Der Blick richtet sich demgemäß auf Einflussgrößen, die in einem empirisch nachweisbaren Zusammenhang mit Selbstbehauptungsfunktionen des Individuums stehen. Besagte Faktoren werden als Ressourcen bezeichnet. Dem Ressourcenkonzept kommt im salutogenetischen Ansatz eine Schlüsselstellung zu. Es soll im folgenden Abschnitt etwas genauer umrissen werden. Anschließend ist kurz zu erläutern, inwiefern man Persönlichkeitsmerkmale als Ressourcen betrachten kann. Nach den konzeptuellen Klärungen stellen wir als Beispiel eines persönlichkeitspsychologischen Ressourcenansatzes das AVEM-Konzept vor, das auf die gesundheitsbezogene Diagnostik und Intervention im Kontext der Berufstätigkeit ausgerichtet ist.

2.

Zum Ressourcenkonzept in der Psychologie

Eine prägnante und für viele psychologische Arbeiten gut anschlussfähige Definition des Ressourcenbegriffes stammt von Grawe.5 Sie zielt auf das individuelle Potential zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Alles, was einschlägige Bemühungen stützt, gegen äußere Störungen abschirmt und voranbringt, hat nach Auffassung des Autors Ressourcenfunktion. Wir finden in der Psychologie aber auch sehr viel breiter gefasste Ressourcenkonzepte, wonach es sich bei Ressourcen um vielfältige materielle oder immaterielle Güter handeln kann, die eher individuell-persönlichen oder systemischen Charakter tragen, mithin auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Hurrelmann, Klotz und Haisch6 z. B. untergliedern Gesundheitsressourcen nach folgenden Hauptkategorien: Umweltfaktoren (Güte des Lebensraums, beschreibbar etwa durch Indikatoren für die vorhandene Infrastruktur oder für Luft- und Wasserqualität), soziale und wirtschaftliche Faktoren (sozioökonomische Bedingungen der Lebensführung, berufliche und private Netzwerke) sowie behaviorale und psychische Faktoren (Gesundheitsverhalten, emotionale, kognitive und soziale Kompetenzen etc.). Als zusätzlichen Ressourcenaspekt führen sie den Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen an (der selbst wiederum durch Faktoren wie Bildung und Mobilität bestimmt wird). Aufzählungen wie die zitierte sind keineswegs überlappungsfrei ---- und können es wohl auch nicht sein. Die genannten Bedingungselemente haben augenscheinlich gemeinsame Effektstrecken; in vielerlei Hinsicht überkreuzen sich Wirkungen oder dürften regelrecht ineinander verschachtelt sein. Ob ich mir z. B. Aufenthalte in einem Lebensraum mit besonders guter Infra4 5 6

Schaarschmidt / Kieschke (2007), 29. Vgl. Grawe (2000). Vgl. Hurrelmann / Klotz / Haisch (2014), 13-24.

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

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struktur leisten kann, hängt u. a. von meiner monetären Situation ab, die mit dem ausgeübten Beruf und meinen persönlichen Leistungsvoraussetzungen für die gewählte Karriere zu tun haben dürfte. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Ressourcenfrage von zentraler Bedeutung für Entwicklungsperspektiven ist. Dies bringt nicht zuletzt die Conservation of Resources Theory von Hobfoll7 zum Ausdruck. Hobfoll vertritt die Auffassung, Ressourcenmanagement sei ein wesentliches Organisationsprinzip menschlichen Verhaltens und Erlebens. Die Bemühungen um Erhalt und Ausbau von Ressourcen hätten über ihren instrumentellen Wert hinaus Relevanz für die Identitätsbildung: Wer oder was ich bin, definiere sich in beträchtlichem Maße über die individuell verfügbaren Ressourcen. Weil das so sei, würden Ressourcenverluste als besonders schwerwiegend wahrgenommen. Die Erlebensintensität des Verlustfalles übertreffe zumeist die des Gewinnfalles. Um sich vor Verlusten zu schützen, Verluste auszugleichen oder Optionen zu mehren, müssten Menschen zwangsläufig Ressourcen investieren. Solche »Investments« seien gegebenenfalls auch mit Stressrisiken verknüpft, nämlich dann, wenn nach einer Investition Gewinne ausbleiben. Hobfoll will seine Überlegungen generell als substantiellen Beitrag zur psychologischen Stresstheorie verstanden wissen: Belastungsphänomene und Bewältigungsanstrengungen sieht er als Parameter des Umgangs mit möglichen oder faktischen Ressourceneinbußen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass derjenige, der auf viele Ressourcen zurückgreifen könne, Rückschläge besser verkrafte und von vornherein größere Chancen habe, weitere Ressourcen hinzuzugewinnen. Die Beachtung derartiger »Schub- und Mobilisierungseffekte« zahlt sich in der Regel auch in Beratungs- und Behandlungszusammenhängen aus. So ist es eben von Vorteil, Aufmerksamkeit nicht einzig Problemen und Defiziten (gewissermaßen dem »Abstand vom Soll«), sondern persönlichen Stärken und bereits vorhandenen Ausgangspunkten für Lösungen (also dem aktuellen »Haben«) zu widmen. Das ist mit dem Prinzip der Ressourcenaktivierung in Beratung und Therapie gemeint.8 Ein Aspekt sei noch erwähnt: Der Verweis auf »Gesundheitsressourcen« hat klare forschungsmethodische Implikationen, die bei der inhaltlichen Durcharbeitung einschlägiger Annahmen nicht immer voll entfaltet werden. Wird ein Merkmal als Ressource eingestuft, ist damit streng gesehen ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis behauptet, das man empirisch auf seine Gültigkeit hin testen kann. Zeigen lassen müsste sich dann, dass der betreffende Faktor Gesundheitskriterien zeitlich vorgelagert und kausal zuzuordnen wäre (derartige Untersuchungen sind einzig in längsschnittlichen Designs möglich; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Differenzierung nach verschiedenen

7 8

Vgl. Hobfoll (1989). Vgl. Grawe / Grawe-Gerber (1999) sowie Schaller / Schemmel (2013).

28

Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

Wirkmechanismen von Ressourcen in Direkteffekt-, Moderator- und Mediatormodellen9).

3.

Persönlichkeitsfaktoren als Gesundheitsressourcen

Antonovskys Arbeiten beleuchten vor allem Persönlichkeitsfaktoren, die als Gesundheitsressourcen wirksam werden. In den Fokus rücken entsprechend relativ beständige Erlebens- und Verhaltensbereitschaften, die das pathogene Potential widriger Umstände (zumindest teilweise) entschärfen und einen günstigen Einfluss auf die individuelle Handlungs- und Anpassungsfähigkeit haben. Derlei »Immunisierungseffekte« bahnen sich nach Auffassung psychologischer Gesundheitsforscher zumeist über zwei Wirkpfade an.10 Zum einen erlauben Personenmerkmale direkte Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit für Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlungsweisen. Der Grad der Risikobereitschaft einer Person wird sich z. B. recht deutlich im Vorsorgeverhalten (Sport treiben, Teilnahme an Gesundheitschecks etc.) und / oder im Umgang mit Gefahren (Substanzkonsum, Verhalten im Straßenverkehr, Bevorzugung körperlich herausfordernder Freizeitbeschäftigungen, Konfrontationsneigung im Streitfall etc.) widerspiegeln. Kurzum: Kenne ich jemanden gut genug, kann ich mit großer Verlässlichkeit abschätzen, welche Affinität zu möglichen Verhaltenskontexten oder Situationsverläufen besteht.11 Zum anderen modulieren Persönlichkeitseigenschaften die Anfälligkeit für und die Konsequenzen von Stress.12 Personen unterscheiden sich zunächst darin, ob sie Umstände aufsuchen oder »anziehen«, die das erlebte Belastungsniveau nach oben schrauben oder mindern. Ein Beispiel: Wer Schwierigkeiten mit seinem Zeitmanagement hat (sich etwa pro Woche viel zu viele Termine und Verpflichtungen aufbürdet), gerät zwangsläufig öfter und massiver unter Druck als jemand, der in der Lage ist, Aufgaben zu delegieren und Erholungspuffer einzuplanen. Interindividuelle Unterschiede sind zudem hinsichtlich der Frage zu erwarten, wie der Umgang mit bereits eingetretenen Belastungen gelingt. Ob jemand durch Trubel, Ereignisdichte, Entscheidungsdruck oder »Gegenwind« leicht zu verunsichern ist und welche Gesundheitskonsequenzen daraus erwachsen, liegt nicht zuletzt in personalen Gegebenheiten begründet. Antonovsky fasst solche persönlichkeitspsychologisch beschreibbaren Entwicklungsvektoren für Gesundheit unter dem Stichwort »Kohärenzsinn« (sense of coherence) ins Auge.13 Verstanden wird darunter eine 9 10 11 12 13

Vgl. Kienle / Knoll / Renneberg (2006), 114ff. Vgl. Knoll / Scholz / Rieckmann (2013). Vgl. Schmitz / Rothermund / Brandtstädter (1999). Vgl. Bolger / Zuckerman (1995). Vgl. Antonovsky (1987) und Antonovsky (1990).

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

29

allgemeine Grundhaltung gegenüber der Welt und dem eigenen Leben, ein Stimmigkeitsgefühl, das an den Eindruck gebunden ist, selbst in widrigen Verhältnissen nicht das »Wozu« seines Tuns zu verlieren. Mit den Worten Antonovskys: Kohärenzsinn ist »[…] a global orientation that expresses the extent to which one has a pervasive enduring though dynamic, feeling of confidence that one’s internal and external environments are predictable and that there is a high probability that things will work out as well as can reasonably be expected«.14 Nach Antonovsky ist das Phänomen »Kohärenzsinn« auf einer Meta-Ebene der Verhaltensorganisation anzusiedeln und umspannt drei Einzelkomponenten: das Gefühl der Verstehbarkeit (»Sense of comprehensibility«: die Umwelt wird als verlässlicher und durchschaubarer Ordnungszusammenhang erfahren), das Gefühl von Handhabbarkeit (»Sense of manageability«: Selbstzutrauen in eigene Bewältigungsmöglichkeiten) und das Gefühl von Bedeutsamkeit (»Sense of meaningfulness«: Eindruck von der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns). Ein stark ausgeprägter Kohärenzsinn zeugt von guten Selbststeuerungsfähigkeiten. Die betreffenden Personen können verschiedenste Einzelressourcen situationsgerecht und effektiv abrufen. Antonovskys Überlegungen haben große Schnittmengen mit anderen Forschungsarbeiten, die um protektive Personenfaktoren kreisen. Das »Kohärenzsinn«Konzept ist insofern lediglich eine, wenngleich sehr prominente Kristallisation der Bemühungen, Persönlichkeitskorrelate von Widerstandsfähigkeit und Invulnerabilität aufzudecken. Als wichtige verwandte Konzepte wären zu nennen: »Resilience«15, »Health Locus of Control«16, »Self-Efficacy«17, »Hardiness«18 und »Optimism«19 (für eine Gegenüberstellung der Konstrukte und zu Fragen der empirischen Bewährung der Theorie Antonovskys sei auf Bengel, Strittmatter und Willmann20 verwiesen). In dem von Antonovsky abgesteckten Diskussionsfeld ist auch das AVEMKonzept beheimatet, das im Weiteren genauer besprochen werden soll. Es geht um einen ressourcenorientierten Diagnose- und Interventionsansatz, der auf den Zusammenhang von Arbeit, Persönlichkeit und Gesundheit ausgerichtet ist.21

14 15 16 17 18 19 20 21

Antonovsky (1979), 10. Vgl. Luthar / Zelazo (2003). Vgl. Wallstone / Wallston (1978). Vgl. Bandura (1982). Vgl. Maddi / Kobasa / Kahn (1982). Vgl. Scheier / Carver (1992). Vgl. Bengel / Strittmatter / Willmann (2001). Vgl. Schaarschmidt / Fischer (2008).

30

4.

Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

Das AVEM-Konzept

AVEM ist ein diagnostisches Verfahren, mit dem das Verhalten und Erleben gegenüber den Arbeits- und Berufsanforderungen erfasst und Interventionen unter Gesundheitsaspekt begründet werden. Angezielt ist die Diagnose persönlichkeitsspezifischer Stile in der Auseinandersetzung mit diesen Anforderungen, die sich in Form von Mustern arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens darstellen lassen (vgl. den folgenden Abschnitt). Diese Muster werden als Indikatoren psychischer Gesundheit im Verhältnis des Menschen zu seiner beruflichen Arbeit verstanden. AVEM erfasst also sehr viel mehr als Belastungssymptome in Form von körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen und Beschwerden. Gefragt wird vielmehr nach Haltungen und Einstellungen, erlebten Kompetenzen und Gefühlen. Es wird damit die aktive Rolle des Menschen in seinem Verhältnis zu den beruflichen Anforderungen betont und dem Umstand Rechnung getragen, dass Menschen nicht einfach Opfer ihrer Belastungen sind, sondern dass sie durch ihre individuellen Verhaltens- und Erlebensweisen, eben durch das Einbringen der persönlichen Ressourcen, die eigenen Beanspruchungsverhältnisse mit gestalten. Freilich wird damit dem arbeitenden Menschen nicht die alleinige Zuständigkeit für sein berufliches Befinden übertragen. Nicht übersehen wird die Bedeutung der äußeren Arbeitsbedingungen. Sie geben den Rahmen dafür vor, wie und in welchem Maße sich persönliche Ressourcen entwickeln und entfalten können. Demzufolge informieren auch die mittels AVEM erzielten Ergebnisse sowohl über die personalen Voraussetzungen, die in die Auseinandersetzung mit den beruflichen Anforderungen eingebracht werden, als auch über die Folgen der bisherigen Beanspruchung. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Der entscheidende Vorteil des Herangehens mittels AVEM ist darin zu sehen, dass über die Aufdeckung der Ressourcen die effektivere Frühdiagnostik und damit gezieltere Nutzung und Förderung von Entwicklungschancen sowie auch die wirksamere Prävention möglich werden. Es gilt nicht abzuwarten, bis psychische oder psychosomatische Beeinträchtigungen manifest geworden sind, um dann auf Fehlbeanspruchung zu schließen. Statt dessen sind schon im Vorfeld, eben über Auffälligkeiten und Warnsignale in den Mustern arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens, mögliche Risiken zu erkennen und angemessene Maßnahmen entgegenzusetzen. Dabei geht es zum einen um die personenbezogene Intervention mittels Training, Beratung und gegebenenfalls Therapie. Sie dient dazu, über die direkte Einflussnahme auf den Verhaltensund Erlebensbereich gesundheitsgefährdende Muster abzubauen und gesundheitsförderliche zu stärken. Zum anderen kommt es darauf an, die vorgefundenen Verhaltens- und Erlebensmuster in ihrer möglichen Abhängigkeit von den Arbeits- und Lebensverhältnissen zu betrachten und ausgehend von diesen Zusammenhängen bedingungsbezogene Interventionen zu begründen. Beide Seiten von Intervention gehören zusammen, d. h. bei der Umsetzung der AVEM-Ergebnisse sollten sich Verhaltens- und Verhältnisprävention einander ergänzen.

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

5.

31

Inhalt und Struktur des Verfahrens AVEM

Das Verfahren lässt sich nach drei Bereichen des Verhaltens und Erlebens gliedern: Berufliches Engagement, Widerstandsfähigkeit und Berufsbegleitende Emotionen. Diesen Bereichen sind insgesamt 11 Dimensionen zugeordnet, die zunächst inhaltlich begründet und dann faktorenanalytisch überprüft wurden: Der Bereich des Arbeitsengagements wird durch die Dimensionen Subjektive Bedeutsamkeit der Arbeit (Stellenwert der Arbeit im persönlichen Leben), Beruflicher Ehrgeiz (Streben nach beruflichem Aufstieg und Erfolg), Verausgabungsbereitschaft (Bereitschaft, die persönliche Kraft für die Erfüllung der Arbeitsaufgabe einzusetzen) und Perfektionsstreben (Anspruch bezüglich Güte und Zuverlässigkeit der eigenen Arbeitsleistung) konstituiert. Es steht außer Frage, dass das Engagement den Arbeitsanforderungen gegenüber zu den wesentlichen psychischen Aspekten von Gesundheit zu zählen ist, schlagen sich darin doch in starkem Maße Sinnerleben und aktive Lebenseinstellung nieder.22 Unter Gesundheitsbezug kann der Zusammenhang jedoch nicht durchweg im Sinne von »je mehr desto besser« verstanden werden. Das Optimum sehen wir eher im dosierten und zielgerichteten Einsatz der Kräfte in Übereinstimmung mit persönlichen Schwerpunktsetzungen.23 Übertragen auf die genannten vier Dimensionen sollte es sich in der Weise ausdrücken, dass höhere Ausprägungen in der Bedeutsamkeit der Arbeit, vor allem aber im beruflichen Ehrgeiz, mit einer zwar deutlichen, aber nicht exzessiven Verausgabungsbereitschaft und einem höheren, aber wiederum nicht überzogenen Perfektionsanspruch einhergehen. Die Widerstandskraft gegenüber Belastungen wird durch die Dimensionen Distanzierungsfähigkeit (Fähigkeit zur psychischen Erholung von der Arbeit), Resignationstendenz bei Misserfolg (Neigung, sich mit Misserfolgen abzufinden und leicht aufzugeben (bei der Auswertung negativ gepolt)), Offensive Problembewältigung (Aktive und optimistische Haltung gegenüber Herausforderungen und auftretenden Problemen) sowie Innere Ruhe und Ausgeglichenheit (Erleben psychischer Stabilität und inneren Gleichgewichts) repräsentiert. Die hohe Gesundheitsrelevanz der Distanzierungsfähigkeit (genauer: psychischen Erholungsfähigkeit) sowie eines offensiven, problemzugewandten, durch Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten gekennzeichneten Verhaltens wird in verschiedenen gesundheitspsychologischen Ansätzen hervorgehoben. Besondere Nähe besteht zu den oben genannten Konzepten »Resilience«, »Health Locus of Control«, »Self-Efficacy«, »Hardiness«, »Optimism« und nicht zuletzt »Sense of coherence«. Dem dritten Bereich, dem der berufsbegleitenden Emotionen, sind die Dimensionen Erfolgserleben im Beruf, Lebenszufriedenheit und Erleben sozialer Unterstützung zugehörig. Diese Merkmale kennzeichnen zum einen den mehr 22 23

Vgl. Kahn (1990), siehe außerdem: Britt / Castro / Adler (2005). Vgl. Walschburger (1990).

32

Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

oder weniger stabilen Hintergrund, vor dem sich die Auseinandersetzung mit den Arbeitsanforderungen vollzieht, und zum anderen kommen in ihnen in sehr unmittelbarer Weise Gesundheitsaspekte zum Ausdruck. Genau in diesem doppelten Sinne findet schon seit Jahren in der gesundheitspsychologischen Literatur das Erleben sozialer Unterstützung besondere Beachtung. Es wird als ein »psychologischer Schutzfaktor« gegenüber kritischen Situationen und zugleich als ein unmittelbarer Ausdruck von Wohlbefinden und damit psychischer Gesundheit betrachtet.24 Das Zusammenwirken dieser 11 Merkmale schlägt sich in den Mustern arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens nieder, die sich für jede Person mittels des Verfahrens bestimmen lassen. Es werden vier solche Muster unterschieden (vgl. Abbildung).

Abbildung: Die 4 Muster arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens

6.

Statistischer Exkurs

Genauer gesagt lässt sich für jede Person der Grad der Passung zwischen ihrem Individualprofil und vier clusteranalytisch gewonnenen Referenzprofilen bestimmen. Diese Berechnung der Profilübereinstimmung erfolgt auf der Grundlage der über die Diskriminanzanalyse gewonnenen Klassifikationsfunktionen. In der Mehrzahl der Fälle ergeben sich dabei keine ›reinen‹ Musterzugehörigkeiten. Häufiger kommen Musterkombinationen vor. Für die meisten Personen werden demzufolge tendenzielle Zuweisungen vorgenommen (z. B. stärkste Tendenz zu G, zweitstärkste zu A). Dieser Umstand bedeutet keineswegs eine Einschränkung in der Anwendbarkeit der Musterbetrachtung. Im Gegenteil: Gerade damit dürfte ein Gewinn an diagnostischer 24

Schwarzer / Leppin (1989).

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

33

Information verbunden sein. Denn mit dem Aufzeigen von Tendenzen in Richtung des einen oder anderen Musters ergeben sich u. U. besonders bedeutsame (da frühe) Hinweise auf gesundheitsrelevante Entwicklungen (z. B. auf mögliche Übergänge von einem ›gesunden‹ zu einem Risikomuster). Die Darstellung bezieht sich auf die Stanine-Skala, die von 1 bis 9 reicht und deren Mittelwert 5 beträgt. Auch 4 und 6 gehören noch zum mittleren Skalenbereich. Die Stanine-Werte 1 bis 3 bzw. 7 bis 9 weisen auf unter- bzw. überdurchschnittliche Ausprägungen hin. Aus der unteren Zeile ist zu entnehmen, mit welcher prozentualen Häufigkeit die jeweiligen Werte vorkommen. Der Skala liegt also die Annahme der Normalverteilung zugrunde. Die vier aus der Abbildung hervorgehenden Muster lassen sich wie folgt beschreiben: 6.1 Muster G Dieses Muster ist Ausdruck von Gesundheit und Hinweis auf ein gesundheitsförderliches Verhältnis gegenüber der Arbeit. Seine Kennzeichen sind: - deutliche, doch nicht exzessive Ausprägungen in den Merkmalen des Arbeitsengagements (am stärksten im beruflichen Ehrgeiz; in subjektiver Bedeutsamkeit der Arbeit, Verausgabungsbereitschaft und Perfektionsstreben mittlere bis leicht erhöhte Werte), - auch in den Merkmalen der Widerstandskraft durchgehend günstige Werte (mittlere Distanzierungsfähigkeit, geringste Ausprägung in Resignationstendenz gegenüber Misserfolgen, stärkste in offensiver Problembewältigung sowie innerer Ruhe und Ausgeglichenheit), - ausnahmslos höchste Werte in den Dimensionen, die positive Emotionen zum Ausdruck bringen (berufliches Erfolgserleben, Lebenszufriedenheit, Erleben sozialer Unterstützung). Zusammenfassend ergibt sich also ein Muster, das durch stärkeres (aber nicht überzogenes) Engagement, Belastbarkeit, Zufriedenheit und Wohlbefinden gekennzeichnet ist. Es versteht sich, dass dieses Muster die besten Voraussetzungen bietet, um sich mit der beruflichen Tätigkeit zu identifizieren und sie als Bereicherung der persönlichen Lebensqualität zu erfahren. 6.2 Muster S Das Verhältnis gegenüber der Arbeit ist durch eine Schonungs- oder auch Schutzhaltung charakterisiert. Seine Kennzeichen sind: - geringe Ausprägungen im Bereich des Engagements (Bedeutsamkeit der Arbeit, beruflicher Ehrgeiz, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionsstreben), - recht gute Widerstandsfähigkeit gegenüber den beruflichen Belastungen (vor allem hohe Distanzierungsfähigkeit),

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- eher positives Lebensgefühl (relativ hohe Lebenszufriedenheit, deren Quelle bevorzugt außerhalb der Arbeit zu suchen sein wird, worauf der relativ niedrige Wert im beruflichen Erfolgserleben hinweist). Häufig schlägt sich im S-Muster das Erleben nicht (mehr) ausreichender beruflicher Herausforderung nieder. Auch weitere berufliche Faktoren (z. B. defizitäre Arbeitsbedingungen und / oder ein belastendes Arbeitsklima) begünstigen den Rückzug aus dem beruflichen Engagement (›innere Kündigung‹). In der Folge wird dann dem familiären und dem Freizeitbereich eine verstärkte Bedeutung beigemessen. Damit ist auch gesagt, dass der Schonungshaltung oftmals eine Schutzfunktion zukommt. Unter dem Gesundheitsaspekt und insbesondere mit Sicht auf die Prävention verdienen die beiden weiteren von uns identifizierten Muster besondere Aufmerksamkeit. Sie sind als Risikomuster zu verstehen, da in beiden Fällen arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensweisen auszumachen sind, die Gefährdungen und Beeinträchtigungen anzeigen: 6.3 Risikomuster A Es handelt sich hier um ein Verhaltensmuster der Selbstüberforderung. Seine Kennzeichen sind: - überhöhtes Engagement (stärkste Ausprägungen in Bedeutsamkeit der Arbeit, Verausgabungsbereitschaft und Perfektionsstreben), - verminderte Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen (vor allem [sehr] niedrige Werte in Distanzierungsfähigkeit und innerer Ruhe und Ausgeglichenheit), - Einschränkungen im Bereich der Emotionen (relativ geringe Ausprägungen in Lebenszufriedenheit und Erleben sozialer Unterstützung). Aus der hier vorliegenden Kombination von übermäßigem Arbeitseinsatz, geringer Widerstandskraft und eher eingeschränkter Zufriedenheit können stärkere pathogene Wirkungen, u. a. auch ein Herz-Kreislauf-Risiko, hervorgehen. 6.4 Risikomuster B Dieses Muster weist eine Nähe zum Burnout-Syndrom auf und ist ein deutlicher Hinweis auf Gesundheitsgefährdung. Seine Kennzeichen sind: - eher niedrige Werte in den Dimensionen des Arbeitsengagements (insbesondere in subjektiver Bedeutsamkeit der Arbeit und beruflichem Ehrgeiz), - stark eingeschränkte Widerstandskraft (hohe Resignationstendenz, geringe Ausprägungen in offensiver Problembewältigung und innerer Ruhe und Ausgeglichenheit),

B

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- negative Emotionen (niedrige Ausprägungen in beruflichem Erfolgserleben und Lebenszufriedenheit). Vorrangig also ist das Bild durch Motivationseinschränkung, defensive Problembewältigung, Resignation, Misserfolgserleben und Unzufriedenheit bestimmt. Solche Erscheinungen gehören auch zur Symptomatik des BurnoutSyndroms. Allerdings setzen wir Muster B und Burnout nicht unbedingt gleich. Um von Burnout zu sprechen, sollte ein prozesshafter Verlauf nachweisbar sein, an dessen Anfang Überengagement steht. Dies trifft für eine (recht häufige) Entwicklung von Muster A nach Muster B zu, aber eben nicht für alle dem B-Muster zuzuordnenden Fälle. So können z. B. auch Voraussetzungen im Sinne des Musters B bereits in den Beruf eingebracht worden sein (etwa die Neigung zu defensiver Problembewältigung und die erhöhte Resignationstendenz bei Misserfolgen). Auch kann unter bestimmten (ungünstigen) Umständen die Schonungshaltung des S-Musters in die resignative des Musters B einmünden. Werden die Muster explizit unter dem Aspekt der Ressourcen betrachtet, so lassen sie sich ---- orientiert an der oben dargestellten Conservation of Resources Theory von Hobfoll25 ---- wie folgt kennzeichnen26: - Muster G steht für einen optimalen Umgang mit den persönlichen Ressourcen. Auch kann hier ein geeigneter Ressourcenpool für die Bewältigung künftiger Anforderungen vorausgesetzt werden. - Muster S ist primär auf den Schutz und die Erhaltung der vorhandenen Ressourcen ausgerichtet. Zu kurz kommt hier das Investment von persönlichen Ressourcen, womit auch dem weiteren Ressourcenzuwachs Grenzen gesetzt sind. - Risikomuster A ist dadurch gekennzeichnet, dass persönliche Ressourcen in hohem Maße investiert werden, dabei deren Schonung vernachlässigt wird und sich keine der Höhe der Investition entsprechenden Gewinne einstellen. Damit ist zwangsläufig ein zunehmender Ressourcenverlust verbunden. - Risikomuster B lässt umfassenden Ressourcenmangel erkennen. Seine Möglichkeiten für Investitionen sind stark begrenzt, womit auch ein Ressourcenzuwachs deutlich erschwert ist.

7.

Muster und Intervention

Unter dem Gesichtspunkt der Intervention kommt natürlich den beiden Risikomustern A und B besondere Bedeutung zu. Doch auch das Muster S kann eine gezielte Einflussnahme erfordern. Zunächst dazu einige Anmerkungen:

25 26

Vgl. Hobfoll (1989). Vgl. Klusmann (2011).

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Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

Es ist in vielen Fällen nicht zutreffend, wenn das S-Muster lediglich als Ausdruck einer in den Beruf eingebrachten Schonungstendenz betrachtet wird. Demzufolge sind hier oftmals rein personenbezogene Maßnahmen (z. B. Appelle an die Leistungsbereitschaft oder Besuch eines Motivationsseminars) wenig zielführend. Vor allem dort, wo wir das Muster S häufiger vorfinden, ist es angebracht, die Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen genauer zu prüfen. Nicht selten ist die Schonungstendenz als Ausdruck einer »inneren Kündigung« in der Folge unbefriedigender Arbeitsanforderungen und / oder konflikthaltiger sozialer Beziehungen am Arbeitsplatz zu verstehen. Im Weiteren ist zu bedenken, dass dem S-Muster mitunter eine Schutzfunktion zukommen kann. Dann dienen die Zurückhaltung in der Verausgabung und die stärkere Distanzierung vor allem dem Zweck, sich in der Auseinandersetzung mit stark belastenden Anforderungen nicht aufzureiben und die Kraftreserven zu erhalten. Das S-Muster wäre in diesem Falle ein Zuviel eines an sich zweckmäßigen Bewältigungsverhaltens. Nicht zuletzt haben wir hier Berufe mit höheren emotionalen Belastungen (etwa durch die häufige Konfrontation mit menschlichem Leid) im Auge. In diesem Sinne erklärt sich wohl auch zu einem Teil der relativ hohe Prozentsatz des S-Musters, der sich bei Pflegepersonen in Krankenhäusern27 oder auch bei Mitarbeitenden der Berufsfeuerwehr28 auffinden ließ. Kurzum: Bei gehäuftem Auftreten dieses Musters ist es vor allem angezeigt, über die Gestaltung von herausfordernden Arbeitsaufgaben, die Einflussnahme auf intakte soziale Beziehungen am Arbeitsplatz und die Gewährleistung von wirksamen Unterstützungssystemen bei der Bewältigung schwieriger beruflicher Anforderungen günstigere Voraussetzungen für die Motivationsentwicklung zu schaffen. Wenden wir uns nun den Risikomustern A und B unter Interventionsbezug zu: Wenn wir die beiden Risikomuster A und B einander gegenüberstellen, so zeigen sich Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Die Gemeinsamkeiten bestehen insbesondere in der eingeschränkten emotionalen Widerstandskraft in Form von Distanzierungs- und Erholungsunfähigkeit sowie innerer Unruhe und Unausgeglichenheit. In beiden Fällen liegen (allerdings graduell verschieden) erhöhte Beschwerdeniveaus im körperlichen und psychischen Bereich vor, was auch eine generell eingeschränkte Lebenszufriedenheit erklärt.29 Gemeinsam ist den beiden Risikomustern weiterhin das Überforderungserleben. Allerdings – und damit sind wir bei den Unterschieden – ist es ein Überforderungserleben von verschiedener Qualität. Bei Muster A handelt es sich um Selbstüberforderung durch übersteigertes Engagement, die bei allem Belastungserleben auch noch Aspekte positiver Emotionen den Berufs- und generellen Lebensanforderungen gegenüber erkennen lässt und sich in offensiver Problemauseinandersetzung niederschlägt. Für Muster B 27 28 29

Vgl. Fischer (2006). Vgl. Schaarschmidt (2005). Vgl. Schaarschmidt / Fischer (2008).

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

37

lassen sich solch positive Elemente nicht mehr finden. Hier beherrschen negative Emotionen das Bild, und die Begegnung mit den alltäglichen Anforderungen ist durch eine passive, resignativ-leidende Haltung geprägt. Diese Gegenüberstellung macht zugleich deutlich, dass die Betroffenen in unterschiedlicher Weise an die Intervention heranzuführen sind. Während im Falle des Musters A sehr viel mehr mit der Fähigkeit und Bereitschaft der Betroffenen gerechnet werden kann, die erforderlichen Veränderungen in der Arbeitsund Lebenssituation selbst herbeizuführen, ist bei Muster B in weitaus größerem Maße die Hilfe von außen gefordert. Dabei muss es zunächst darum gehen, den Willen und die Kraft zur aktiven Selbstgestaltung in Gang zu setzen und zu stärken. In den Tabellen 1 bis 3 werden die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede sowie die daraus für die Intervention abzuleitenden Schlussfolgerungen zusammengefasst. Bei dieser Darstellung wird der Schwerpunkt auf die Möglichkeiten der personenorientierten Intervention gelegt. Wir weisen aber darauf hin, dass stets der Zusammenhang mit den bedingungsbezogenen, d. h. arbeits- und organisationsgestalterischen Maßnahmen beachtet werden sollte.30 Es gilt demzufolge – vor allem bei gehäuftem Auftreten der Risikomuster – auch danach zu fragen, inwieweit die Arbeitsabläufe eine angemessene Proportionierung von Anspannung und Erholung ermöglichen, die Arbeitsanforderungen auch auf längere Sicht zumutbar und bewältigbar sind und angemessene soziale Unterstützung durch die Vorgesetzten und das Team erfolgt. Im Falle des Risikomusters B ist darüber hinaus zu klären, inwieweit die erforderliche berufliche Eignung vorliegt, konnten wir doch oftmals Eignungsdefizite als eine entscheidende Ursache für das zum Muster B gehörige Überforderungserleben ausmachen.31 Gemeinsamkeiten von A und B Innere Unruhe und Unausgeglichenheit, eingeschränkte Distanzierungsfähigkeit, Entspannungsunfähigkeit Eingeschränktes Lebensgefühl (allgemeine Unzufriedenheit) Erleben mangelnder sozialer Unterstützung

Übergreifende Maßnahmen der Intervention Belastungsausgleich durch Entspannen und Kompensieren, Ausagieren (Abreagieren) durch Sport, Gartenarbeit, Bewegung an frischer Luft etc., Entspannungstraining (AT, PMR, Atemübungen, Yoga, Meditation etc.) Schaffen von Zufriedenheitserlebnissen Entwicklung von Teamgeist und Teamfähigkeit, Schaffung eines positiven Arbeitsklimas, Pflege sozialer Kontakte in der Freizeit

Tabelle 1. Gemeinsamkeiten der Risikomuster und übergreifende Maßnahmen der Intervention

30 31

Vgl. Schaarschmidt / Kieschke (2007). Schaarschmidt (2005).

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Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

Charakteristika von A Selbstüberforderung

Einseitige Betonung der Arbeit, exzessive Verausgabung Unzufriedenheit, Unausgeglichenheit

Spezifische Maßnahmen der Intervention Nein-Sagen lernen, Veränderung der individuellen Arbeitsorganisation und des Zeitmanagements, Koordinierung und Ausbalancierung von beruflichen Anforderungen, häuslichen Pflichten und Freizeitaktivitäten Relativierung des Stellenwertes der Arbeit gegenüber den anderen Bereichen des Lebens Konflikt- und Stressbewältigungstraining zum Abbau von Ärger und Ungeduld, zur Erhöhung der Frustrationstoleranz und Verringerung der Verletzbarkeit

Tabelle 2. Charakteristika des Risikomusters A und darauf abgestimmte Interventionsmaßnahmen Charakteristika von B defensive Problembewältigung, eingeschränkte kommunikative Kompetenz Resignation, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung

Spezifische Maßnahmen der Intervention Förderung offensiven Kommunikations- und Konfliktlöseverhaltens Coaching, gegebenenfalls auch Einzel- oder Gruppentherapie zur emotionalen Stabilisierung, Bewältigung von Angst, Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit, neue Zielsetzung und Sinnfindung

Tabelle 3. Charakteristika des Risikomusters B und darauf abgestimmte Interventionsmaßnahmen

Ein konkretes Beispiel, wie die Diagnostik mittels AVEM in geeignete, Ressourcen erhaltende und fördernde Interventionsschritte umgesetzt werden kann, bietet das für Lehrerkollegien und Schulleitungen entwickelte Unterstützungsprogramm »Denkanstöße!«32 Dabei konzentrieren sich die Überlegungen zur Intervention gleichermaßen auf personen- wie bedingungsbezogene Maßnahmen.

8.

Literatur

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32

Schaarschmidt & Fischer (2013).

Salutogenese aus psychologischer Perspektive

39

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40

Uwe Schaarschmidt / Ulf Kieschke

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Soziale Kontexte der Salutogenese

41

Soziale Kontexte der Salutogenese Soziologisch-systemische Grundorientierung Christoph Morgenthaler

Die sozialepidemiologische Frage nach dem Kontext individueller Krankheit und Gesundwerdung hat Antonovsky ein Leben lang beschäftigt. Die Gesundheit eines einzelnen Menschen ist immer auch Ausdruck sozialer Verhältnisse. Belastende Lebensverhältnisse und -ereignisse sind pathogen und können Erkrankungen hervorrufen. Erst in der zweiten Phase seiner beruflichen Karriere wandte sich der Medizinsoziologe stärker den psychologischen Voraussetzungen von Gesundheit zu und prägte jenes Verständnis von Salutogenese, das ihn so bekannt gemacht hat. So gleicht Gesundheit zwar der Balance eines Seiltänzers1, ist Eigenbewegung, Kräftespiel, die Fähigkeit, »kreativ mit sich und seiner Umwelt umzugehen«.2 Der Prozess der individuellen Salutogenese ist aber in soziale und historische Verhältnisse eingelagert, ist nicht nur eine einsame individuelle, sondern auch eine gemeinsame, soziale Aufgabe.

1.

Grundlegung ---- Antonovsky als Medizinsoziologe

Antonovskys Modell der Salutogenese wird als Rahmentheorie, gar als »Metatheorie« der Gesundheitsförderung und Prävention ein hohes orientierendes Potential bescheinigt, gerade auch wegen seiner medizinsoziologischen Fundierung. Der diesbezügliche Kenntnisstand ist hingegen oft mangelhaft.3 Deshalb sollen hier zuerst die soziologisch-systemischen Aspekte seines Modells hervorgehoben werden. 1.1 Folgen des Holocaust ---- der Entdeckungszusammenhang Zu einer »absoluten Kehrtwendung«4 in Antonovskys Denken führte eine Fragebogenuntersuchung zur Adaptation von Frauen an die Menopause.5 Es wur-

1

Antonovsky (1997), 91. Schüffel / Brucks / Johnen / Köllner / Lamprecht / Schnyder (1998), 1. 3 Vgl. Bengel / Strittmatter / Willmann (2001). 4 Antonovsky (1997), 15. Antonovsky nahm diese Kehrtwendung später bei der Reinterpretation vieler medizinsoziologischer Untersuchungen immer wieder vor und zeigte, dass der abweichende Fall »Gesundheit« oft in der Mehrheit ist. Antonovsky (1997), 28. 2

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Christoph Morgenthaler

de untersucht, wie sich unterschiedliche Gruppen in der Art ihres Umgangs mit der Menopause unterscheiden und wie dies mit den Merkmalen dieser Gruppen zusammenhängt ---- eine klassische sozialepidemiologische Fragestellung. Eine der untersuchten Gruppen bestand aus Frauen, die den Aufenthalt in einem Konzentrationslager überlebt hatten. Antonovsky fiel auf, dass unter diesen Frauen eine Teilgruppe ---- ganze 29 Prozent ---- bei guter Gesundheit war. Die extrem belastende Situation des Konzentrationslagers, auch die anschliessende Emigration nach Israel und den Aufbau einer neuen Existenz in einem Land, das drei Kriege erlebte, hatten diese Frauen gesund überstanden. Antonovskys Interesse war geweckt: Er buchte diese Gruppe nicht als unerklärbare und vernachlässigbare Restgrösse ab, sondern begann, nach positiven Gründen zu suchen, warum diese Frauen gesund blieben oder wieder wurden. Der Frage der Entstehung von Krankheit stellte er in der Folge komplementär die »Frage nach der Entstehungsgeschichte von Gesundheit gegenüber«6 und prägte dafür den Neologismus »Salutogenese«. Es entging Antonovsky allerdings nicht, dass die Erfahrung des Konzentrationslagers im Leben der anderen Frauen in dieser Gruppe bleibende gesundheitliche Schäden hinterlassen hatte. Als Medizinsoziologe stellte er trocken fest, dass die Stressorhypothese – belastende Lebensverhältnisse wirken sich negativ auf die Gesundheit aus – auch in dieser Untersuchung auf einem hohen Signifikanzniveau bestätigt wurde. Eine Verharmlosung historischer Traumata wie des »absolut unvorstellbaren Horrors«7 eines Konzentrationslagers und anderer Belastungen wie Armut, Krieg oder Migration lag ihm fern. So hielt er es auch für sinnvoll, weiterhin danach zu fragen, welche protektiven Faktoren es gibt, mittels derer Menschen den Einfluss einer schädlichen Umgebung abpuffern. Er ergänzte aber diese an der Pathogenese orientierte Sicht durch die salutogenetische Frage, weshalb verletzliche Menschen unbesiegbar sein können8, und postulierte ein Potential, das direkt dazu beiträgt, gesund zu bleiben. Dieses Potential macht es bestimmten Menschen möglich, auch schwierigste Lebensbedingungen zu überstehen und krisenhafte Ereignisse auch im weiteren Verlauf des Lebens besser als andere aus vergleichbaren Verhältnissen zu bewältigen. Schon im Entdeckungszusammenhang der Salutogenese zeigt sich also die enge Verschränkung von psychischen und sozialen Faktoren der Gesundwerdung. Entscheidendes Schlüsselelement an deren Schnittstelle ist der »sense of coherence« (SOC).

5

Er ist damit einer von vielen, wie er auch in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit verwandten Positionen dokumentiert: Antonovsky (1997), 47ff. 6 Brucks (1998), 23. 7 Antonovsky (1997), 15. 8 Antonovsky (1997), 55f.

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1.2 Der SOC und seine sozialen Korrelate Das Kohärenzgefühl, oder genauer: die Kohärenzerfahrung (ein Begriff, der das prozessuale Element im SOC präziser benennt) bezeichnet eine psychische Grundorientierung, eine »Weltanschauung«, ein durchdringendes, dynamisches und dauerhaftes Gefühl des Vertrauens, dass Herausforderungen des Lebens verständlich, bewältigbar und mit Sinn verbunden sind. Diese Erfahrung ist motivationale und kognitive Basis für jedes Bewältigungsverhalten eines Menschen. Die drei Komponenten, die als eine Art »Kardinaltugenden« in diese Definition des SOC einfliessen, werden von Antonovsky unterschiedlich gefüllt und gewichtet. Verstehbarkeit ist Niederschlag einer kognitiv ausgerichteten Fähigkeit, ganzheitliche, geordnete Gestalten aus dem Chaos potentieller Erfahrungen zu filtern, ja zu »saugen«.9 Die Erfahrung von Sinnhaftigkeit ist stärker motivational ausgerichtet. Sie ist ein Gespür dafür, dass bestimmte Herausforderungen des Lebens den engagierten Einsatz lohnen, ein Sinn also für das, was Sinn macht. Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit, der Glaube daran, mit Herausforderungen des Lebens umgehen zu können, wurzeln im instrumentellen Vertrauen, dass die benötigten Ressourcen verfügbar sind oder erschlossen werden können. Dabei sind alle Komponenten des SOC in der Vorstellung Antonovskys am sozialen Kontext orientiert: Die Kohärenzerfahrung leitet dazu an, dem sozialen Umfeld strukturierte Bedeutung abzugewinnen. Sie hilft, Sinngebiete zu identifizieren und sich auf diese hinzubewegen, hat also auch eine proaktive, situationsgestaltende Richtung. Sie unterstützt die Aktivierung von allgemeinen Widerstandsressourcen. Ausdrücklich nennt Antonovsky hier auch die sozialen Ressourcen Ehepartner, Freunde, Kollegen, Gott.10 Der SOC steht so in einer zirkulären Beziehung zum Lebenskontext. Kontextuelle Faktoren fördern die Entwicklung des SOC und stützen ihn; der SOC seinerseits führt dazu, dass kontextuelle Faktoren in salutogener Weise rezipiert werden. Antonovsky wehrte sich deshalb dagegen, das Kohärenzgefühl als Prädisposition eines einzelnen Menschen, als Persönlichkeitszug isoliert vom sozialen Kontext zu verstehen. Es geht ihm um eine »grundlegende Art, sich in der Welt zu orientieren, die von der Beschaffenheit dieser Welt mitbestimmt wird« 11, um eine »Landkarte, die Vertrauen schafft, dass Landkarten leicht zu lesen sind«.12 Vertrauen in die Verstehbarkeit von Wirklichkeit kann sich entwickeln, wenn Menschen eine konsistente, in sich stimmige Umwelt erfahren, in der man »Regelmässigkeiten entdecken und Spielräume ausloten kann, die also weder monoton noch chaotisch ist«.13 Eine Haltung, Wirklichkeit sei handhab9 10 11 12 13

Antonovsky (1997), mit Bezug auf Schrödinger. Antonovsky (1997), 35. Brucks (1998), 23-36, 28. Antonovsky (1997), 110. Brucks (1998), 28.

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bar, entwickelt sich in einem Umfeld, das materielle, soziale und psychische Ressourcen zur Bewältigung der Herausforderungen anbietet und erlaubt, Anstrengung und Erholung auszubalancieren. Sinnhaftigkeit wird schliesslich ermöglicht durch »die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die für die Gruppe oder Gesellschaft, in der man lebt, wichtig sind, sodass es möglich ist und Spass macht, sich zu engagieren«.14 Entsprechende Erfahrungen in der Sozialisation bilden die Voraussetzung dafür, dass sich der SOC im Leben von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr oder weniger stark entwickelt.15 1.3 Schwimmen im Fluss des Lebens ---- jeder für sich, alle miteinander Dies hat Folgen für das Verständnis von Therapie und Prävention. Antonovsky gebraucht das Bild des Flusses, um seinen Ansatz zu verdeutlichen. Der Blick der Medizin geht flussabwärts zu Menschen, die in Schwierigkeiten geraten sind; sie sollen ans Ufer gerettet werden. Seltener geht der Blick flussaufwärts. Die präventive Frage danach, wer denn eigentlich alle diese Menschen in gefährliche Wasser stösst und weshalb diese nicht schwimmen wollen, wird wiederum vom Ufer aus gestellt. Für Antonovsky sind beides keine tauglichen Vorstellungen, denn alle schwimmen wir in diesem gefährlichen Fluss. Es ist normal, dass Menschen sich über Wasser halten müssen und permanent Belastungen und Gefahren ausgesetzt sind. Doch wir können einander helfen, gute Schwimmer zu werden, und als Schwimmhilfe und Navigationsinstrument unseren SOC zu entwickeln und einzusetzen. Zudem sollten wir einen genauen Blick auf den Fluss selbst, seine »historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen«16 richten. Auch Flussläufe lassen sich nämlich gestalten, damit sie weniger gefährlich sind. Im Unterschied zur Vorstellung, ein einzelner Mensch könne autonom alle Gefahren kontrollieren, wird mit dem Kohärenzgefühl also das »Vertrauen hervorgehoben, sich dem ›gefährlichen Fluss des Lebens‹ überlassen zu können und Auswege zu finden oder Krisen zu meistern, wobei die Hilfe anderer genau so wichtig ist wie die eigene Kraft«.17 Die Erfahrung von Hilfe ist gar fundamentaler und geht der autonomen Handlungssteuerung voraus. Medizinisches Wissen über Krankheitsbilder muss deshalb ergänzt werden mit Wissen über die Handlungsspielräume, die es einzelnen Menschen und sozialen Gruppen möglich machen, sich mit Belastungen erfolgreich auseinanderzusetzen. Diese sind insgesamt stärker von nichtmedizinischen Faktoren abhängig, insbesondere

14

Brucks (1998), 29. Antonovsky (1997), 91ff. Die These Antonovskys, dass sich der SOC ungefähr nach dem dreissigsten Lebensjahr stabilisiere, ist empirisch umstritten: vgl. Franke (1997), 181. 16 Antonovsky (1997), 92. 17 Schüffel / Brucks et al. (1998), 4. 15

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»von sozialer Gerechtigkeit und gegenseitiger Hilfe beim Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und Prozessen«.18 1.4 SOC als ein Element von Familien, Gruppen und Organisationen Antonovsky war zudem von der Frage fasziniert, inwiefern der SOC auch eine »Gruppeneigenschaft anstelle eines individuellen Charakteristikums mit sozialen Ursachen«19 sein könne. Ein solcher SOC entsteht nicht lediglich durch Addition des SOC einzelner Gruppenmitglieder. Das wäre nicht soziologisch gedacht. Vielmehr muss unter den Mitgliedern einer sozialen Einheit ein Konsens entstehen, eine salutogenetische, soziale Konstruktion von Wirklichkeit, die sich ihrerseits auf die Vorstellungen und das Verhalten Einzelner auswirkt. Empirisch kann der SOC einer Organisation deshalb erhoben werden, wenn man die Individuen nicht nur nach sich selbst, sondern danach fragt, welche Verständlichkeit, Handhabbarkeit und Sinnerfülltheit ihnen diese Organisation vermittelt, und dann bestimmt, wie stark die Mitglieder in dieser Einschätzung übereinstimmen. Dies gilt insbesondere für Gruppen ---- Antonovsky nennt hier ausdrücklich religiöse Organisationen20 ----, in denen das Selbst und die soziale Identität eng miteinander verbunden sind. Dieser SOC kommt auch in den kulturellen Praktiken dieser Gruppe, ihren Mythen und Ritualen, zum Ausdruck und wird durch sie bestärkt. Eine Gruppe mit starkem SOC wird Situationen mit einiger Wahrscheinlichkeit so strukturieren, dass sich mit der Zeit der SOC ihrer Mitglieder verbessert. Im Umgang mit kollektiven Stressoren kann der SOC der Gruppe sogar wichtiger werden als jener der einzelnen Mitglieder.

2.

Rezeption und Weiterentwicklung des Konzepts

2.1 Ebenen der Rezeption Antonovsky führte mit dem Modell der Salutogenese ein Konzept in die gesundheitswissenschaftliche Debatte ein, das dynamisch, offen und zugleich bestimmt genug war, eine breite Diskussion in Disziplinen wie Medizin, Psychologie und Pflegewissenschaften, aber auch der Arbeitspsychologie und den Managementwissenschaften auszulösen und weiterführende Fragen aufzuwerfen. Breit wurden vor allem die psychologischen Aspekte des Modells rezipiert. Defizite des Gesundheitswesens, das Aufkommen holistischer Vorstellungen von Gesundheit und wohl auch die zunehmende Individualisierung des 18

Brucks (1998), 29. Antonovsky (1997), 149. 20 So vermutet Antonovsky mit Blick auf die Mormonen, wenn man tief in einer Struktur verwurzelt sei, die in der Geschichte seit langem ihre Fähgkeit zum Überleben unter Beweis gestellt hat und die zentrale Quelle des eigenen SOC ausmacht, verfüge man höchstwahrscheinlich eher über einen starken als über einen rigiden SOC, Antonovsky (1997), 41. 19

46

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Lebens in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben diese auf die Person fokussierte Rezeption unterstützt. Diese hielt Antonovsky nicht geradezu für verfehlt, aber doch für »besorgniserregend«.21 Medizinsoziologische Implikationen seines Modells waren ihm genauso wichtig. Hier schliesst ein anderer Strang der Rezeption an: Das Modell Antonovskys wurde auch für die öffentliche Gesundheitsförderung und für die Entwicklung von Präventionsprogrammen wie kaum ein anderes wichtig. Erst wenn Antonovskys Modell also in seinen individuellen und sozialen Implikationen verstanden wird, kann Salutogenese der »gemeinsame Bezugspunkt verschiedener Professionen und Versorgungsebenen im Rahmen einer gemeindeorientierten Gesundheitsversorgung« werden.22 2.2 Eine psycho-systemische Lesart Antonovskys Immer wieder setzte sich Antonovsky mit systemtheoretischen Konzepten auseinander, ohne seine eigenen Überlegungen in dieser Richtung zu systematisieren. Konsequent behielt er aber die zwei Ebenen der Salutogenese im Blick: die psychische und die soziale. Auf der psychischen Ebene installiert Antonovsky den SOC als zentrales Movens der individuellen »Realitätskonstruktion«23, als »Dirigent, der den Einsatz verschiedener Verarbeitungsmuster (Copingstile, Copingstrategien) in Abhängigkeit von den Anforderungen anregt«.24 Er trägt dazu bei, dass Menschen inmitten belastender (oder auch inspirierender) sozialer Verhältnisse den Kräften der »Ent-Gesundung«25 und Entropie entgegenwirken und den Gesundheitszustand auf dem Kontinuum krank-gesund in die eher unwahrscheinliche, geheimnisvolle Richtung des Pols der Gesundheit lenken können. Wie einzelne Menschen mittels ihres SOCs soziale Stimuli wahrnehmen, verarbeiten und in einem abgestuften Bewertungsprozesses an ihre individuellen Voraussetzungen adaptieren, spielt in der Salutogenese eine zentrale Rolle. Gegenüber dem sozialen Kontext bleiben Menschen eigenwillig. Genauso so wenig, wie schädliche Einflüsse bei einem starken SOC die Gesundheit wesentlich beeinträchtigen können, genauso wenig ist Gesundheit herstellbar. Gesundheit muss vielmehr als »Ergebnis der Tätigkeit eines Subjekts – einer Person oder einer Gruppe – gesehen werden und nicht als professionell erzeugbares und verteilbares Gut«.26 Auch auf der sozialen Ebene bezieht sich Antonovsky auf Systemtheorien, ohne den sozialen Kontext konsequent systemisch zu entschlüsseln. Trotzdem 21

Antonovsky (1997), 17. Schüffel / Brucks et al. (1998), 5. Dieses Interessse zeigt sich auch an Antonovskys Engagement beim Aufbau einer gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität des Negev ab 1972. 23 Begriff, den Antonovsky von Reiss übernimmt: Antonovsky (1997), 58. 24 Bengel / Strittmatter / Willmann (2001), 30. 25 Antonovsky (1997), 24. 26 Brucks (1998), 29. 22

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ist für den Medizinsoziologen klar – und Antonovsky zeigt dies an vielen Beispielen –, dass individuelle Gesundheit von den historisch und politisch bedingten gesellschaftlichen Umständen individuellen Lebens abhängt, vom spezifischen Arrangement gesellschaftlicher Teilsysteme (wie dem Gesundheits-, Arbeits- und Religionssystem), von der konkreten Organisation wichtiger Sozialsysteme im Nahbereich (wie Arbeitsplatz oder Familie) und schliesslich von den damit verbundenen Mikrosystemen konkreter, alltäglicher Interaktion. Sie alle stehen in Transaktion mit einzelnen Personen, beeinflussen diese und werden von diesen beeinflusst. Insgesamt betont Antonovsky in seinem transaktionalen Stressmodell also die zentrale Bedeutung selegierender und konstruktiver Aktivitäten von Personen, die im Schnittbereich unterschiedlicher sozialer Systeme handeln, welche ihrerseits Niederschlag menschlichen Handelns sind und sich zu sozialen Grössen verdichtet haben, die individuelles Handeln beeinflussen, ermöglichen und begrenzen.

3.

Salutogenetische Potentiale in der Kirche und für kirchliche Mitarbeitende

Antonovsky waren Fragen wichtiger als Antworten. So besitzt sein Konzept der Salutogenese ein hohes heuristisches Potential. Dieses wurde auch in den Kirchen erkannt. In einzelnen deutschen Landeskirchen wurden Ideen zu einer salutogenetisch inspirierten Personalpolitik entwickelt und salutogenetische Fragestellungen für die Kirchenentwicklung fruchtbar gemacht.27 Weiterführende Fragen können hier anschliessen. 3.1 Sensibilisierendes Potential: Eine salutogenetische Kirche? Braucht es eine salutogenetische Wende auch in Institutionen der Religion, besonders bei ihren Mitarbeitenden? Sic et non. Ja und Nein. Einerseits wäre es nicht zielführend, wenn sich Kirchen der Diskussion des Modells, insbesondere auch seiner sozialen Implikationen, verschlössen. Wenn soziale Bedingungen für individuelle Gesundheit so wichtig sind, gehören gesundheitspolitische Fragestellungen auf die Traktandenlisten von Kirchen. Eine öffentliche Kirche trägt als Akteur der Zivilgesellschaft auch auf dem Feld der 27

So hat die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern beispielsweise eine Projektstelle für Salutogenese geschaffen (vgl. http://handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/salutogenese.php), setzt in der Personalentwicklung einen Schwerpunkt auf Salutogenese und bietet salutogenetisch orientierte Fort- und Weiterbildung an. Salutogenetische Konzepte wurden aber auch auf der Ebene Kirchenkreis eingeführt (vgl. http://www.kirchenkreis-wittgenstein.de/salutogenese.html). In den Schweizer Kirchen wurde das Thema bisher kaum rezipiert. Wie auch im ausserkirchlichen Bereich sind viele dieser Konzepte und Massnahmen nicht in schriftlicher und evaluierter Form zugänglich. Deshalb wird im Folgenden auf Materialien zurückgegriffen, die im Internet zu finden sind (Stand: August 2014).

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»public health« Verantwortung und ist herausgefordert, hier ihr Wächteramt wahrzunehmen. Inwiefern tragen also Kirchen, die sich als »Volkskirchen« verstehen, zur Verständlichkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens bei? Kirchen wenden mit Gewinn salutogenetische Fragestellungen auch auf sich selbst an. Weshalb sind innerkirchliche Diskurse oft pathogenetisch fixiert: theologisch, in der Wahrnehmung von Bedürfnissen und im praktischen Umgang mit diesen? Der salutogenetische Perspektivenwechsel wurde in Seelsorge und Diakonie unter dem Stichwort »Ressourcenorientierung« in den letzten Jahren zwar bereits eingeläutet; mit Antonovsky lässt sich das entsprechende Verständnis helfenden Handelns in einen umfassenderen gesundheitswissenschaftlichen Kontext bringen. Zudem kann noch allgemeiner gefragt werden, inwiefern das Handeln der Kirchen generell von einem salutogenetischen Perspektivenwechsel profitieren kann. So sind salutogenetische Fragestellungen auch wichtig für kirchliche Personalpolitik und -entwicklung. Wie kann die Salutogenese in kirchlichen Berufen und Berufungen gefördert werden? Andererseits müssen Kirchen aber auch sensibel reagieren, wenn sich Salutogenese zum dominierenden Leitmodell aufschwingen wollte. Wenn Gesundheit alles und alles Gesundheit wird, ist kritische theologische Reflexion herausgefordert.28 Das Heil, von dem die Kirche spricht, ist nicht identisch mit »Salus« in Saluto-Genese. Der zentrale Code, auf den sich Kirchen als soziale Systeme beziehen, ist nicht Gesundheit, sondern das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz.29 So ist Kohärenz in kirchlicher Tradition nicht nur individuelle und soziale Leistung, sondern auch Geschenk, Gnade. Das Evangelium wird dem »simul justus et peccator« unabhängig von seiner Arbeitsleistung zugesprochen. Ekklesiologisch wäre zudem präziser danach zu fragen, inwiefern Gesundheit in kirchlichen Berufen und Berufungen auch mit den »Früchten des Geistes« (Gal. 5,22), dem Zusammenspiel von Talenten und Gaben im Volk Gottes zusammenhängt. 3.2

Diagnostisches Potential: Macht Kirche ihre Mitarbeitenden mehr gesund als krank ---- oder mehr krank als gesund? Wie steht es eigentlich um die Gesundheit und die Salutogenese jener, die in der Kirche mitarbeiten? In den letzten Jahren wurden immer wieder Untersuchungen zum Burnout in kirchlichen Berufen durchgeführt. Als Beispiel sei eine Untersuchung unter Pfarrpersonen der Evangelischen Kirche in Baden herausgegriffen:30 20 Prozent der Pfarrer/innen zeigen in dieser Studie stress28

Antonovsky selbst fragt: »Wer sagt, dass Gesundheit der einzige Wert ist im Leben oder auch nur der wichtigste?«, zit. bei: Antonovsky (1997), 189. 29 Vgl. Emlein (2006), 216-239. 30 Bauer / Schächtele et al. (2009), 460-466. Die Untersuchung stützt sich auf nur knapp ein Viertel (24 Prozent) der aktiven Pfarrer/innen. Die Stichprobe ist jedoch bezüglich Alter, Geschlecht und Deputatsbelastung repräsentativ. Vgl. auch HeickeMüller (2011), und die gründliche Untersuchung von Heyl (2003).

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bedingte Gesundheitsstörungen (im Vergleich: Lehrer: 30 Prozent, Allgemeinbevölkerung: 13 Prozent). Als besonders belastend werden die Überlappung von Berufs- und Privatleben, der Religionsunterricht in Schulen und der Konfirmandenunterricht sowie Organisationsaufgaben in der Gemeinde erlebt. 10 Prozent der Pfarrerinnen empfinden eine Dysbalance zwischen Verausgabung und Anerkennung (Lehrer: 20,8 Prozent). Besonders belastend wirkt zudem die Diskrepanz zwischen den Motiven für die eigene Berufswahl und der Realität des Berufes. Ohne weiteres lässt sich aus dieser und anderen Untersuchungen ein Inventar von besonders heiklen, belastenden Aspekten der Arbeit in der Kirche ableiten, das zu präventiven Überlegungen Anlass gibt. Auch hier ist allerdings der Perspektivenwechsel Antonovskys aufschlussreich: Was ist eigentlich mit den 80 Prozent der Pfarrpersonen, die keine stressbedingten Gesundheitsstörungen zeigen? Weshalb laufen Berufstätige im Pfarramt weniger Gefahr, ein Burnout zu entwickeln als Lehrer? Wir wissen es nicht. Es fehlt die Forschung, es fehlen »Daten für Taten«.31 Vom Konzept der Salutogenese lassen sich höchstens Hypothesen entwickeln: Offenbar verfügen viele Pfarrpersonen über einen gut entwickelten SOC. Aber weshalb ist dies so? Instrumente zur »Salutodiagnostik«32 in der Kirche müssten erst noch entwickelt werden, nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der sozialen Ebene. Bei der Analyse der sozialen Voraussetzungen eines starken SOC von kirchlichen Mitarbeitenden können die folgenden drei Leitfragen aufschlussreich sein: Inwiefern bieten Kirchen ihren Mitarbeitenden eine konsistente, in sich stimmige Umwelt, in der man Regelmässigkeiten entdecken und Spielräume ausloten kann, die also weder monoton noch chaotisch ist? (Verstehbarkeit) Inwiefern enthalten kirchliche Berufe Möglichkeiten, ein Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Erholung aufrecht zu erhalten, sodass die Anforderungen des täglichen Lebens und besondere Krisen bewältigbar bleiben und die nötigen Ressourcen nicht nur bereit stehen, sondern wirklich beansprucht werden (Handhabbarkeit). Inwiefern ermöglichen kirchliche Berufe die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die für die Gruppe oder Gesellschaft, in der kirchliche Mitarbeitende leben, wichtig sind, sodass es möglich ist und Spass macht, sich zu engagieren?33 In einer solchen Diagnostik gälte es, über ein dichotomes Denken in den Alternativen Gesundheit / Krankheit hinauszukommen und zu fragen, was Kirchen dazu beitragen können, dass ihre Mitarbeitenden mehr gesund als

31

Aus: Evangelische Kirche von Westfalen, Tagungsprogramm »Kirche gefährdet Gesundheit«, 2013. 32 Bengel / Strittmatter / Willmann (2001), 97. 33 Leicht umformuliert nach: Brucks (1998), 28f.

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krank und nicht mehr krank als gesund werden. Der Schritt von dieser Frage zur betrieblichen Gesundheitsförderung ist klein. 3.3 Kybernetisches Potential: Gesundheitsmanagement in der Kirche? In den Bedingungen für die Entwicklung und Stärkung des Kohärenzgefühls lassen sich »mühelos die Kriterien einer guten Arbeitsgestaltung wiedererkennen«.34 In der Folge des Dargestellten müssen zwei Faktoren unterschieden werden, die sich je anders auf die Gesundheit auswirken und unterschiedliche Massnahmen erfordern: Zum einen ist pathogenetisch nach äusseren und inneren Belastungen in der Arbeit zu fragen, die nach Möglichkeit abgebaut oder minimiert werden sollen. Zudem kommt ergänzend die salutogenetische Sichtweise ins Spiel. Hier geht es um generalisierte Widerstandsressourcen, die erkannt und nach Möglichkeit ausgebaut und erweitert werden sollten. Ein effektives Gesundheitsmanagement arbeitet immer in beide Richtungen: präventiv in Richtung Arbeitsschutz und salutogenetisch in Richtung Gesundheitsförderung. Betriebliche Gesundheitsförderung verweist auch auf globale Aufgaben eines strategischen Managements in der Kirche. Dem SOC kirchlich Mitarbeitender förderlich ist – auf Verstehbarkeit bezogen – ein Management, das Kommunikation nach innen und aussen, Information und Kalkulierbarkeit fördert und somit ein Gefühl der Verstehbarkeit vermittelt. Handhabbarkeit ermöglicht ein Management, das den Komplexitätsgrad von Anforderungen angemessen reguliert, sodass diese einerseits herausfordernd, andererseits überschaubar und bewältigbar sind und ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen. Für Sinnhaftigkeit, Spass und Stolz an der Arbeit ist »Teilnahme an sozial geschätzten Entscheidungsprozessen«35 und ein gestaltbarerer Ermessensspielraum wichtig. 3.4

Professionstheoretisches Potential: Berufs- und berufungsspezifische Differenzierung der Salutogenese? Antonovsky betont, der SOC bilde die Basis zur Aktivierung generalisierter Widerstandsressourcen und zur Auswahl eines angemessenen Bewältigungsverhaltens in kritischen Lebenssituationen. Inwiefern trifft dies auch für das Bewältigungsverhalten jener zu, die in der Kirche haupt- oder ehrenamtlich mitarbeiten? Zwei Aspekte können hier unterschieden werden: Auf der einen Seite ist der SOC als grundlegende Einstellung nicht von den jeweiligen beruflichen Kontexten in der Kirche abhängig. Er ist einzelnen berufsfeldspezifischen Kompetenzen vorgelagert. Der SOC bildet also in salutogenetischer Hinsicht eine gemeinsame Basis verschiedener beruflicher Kompetenzen und Tätigkeiten in der Kirche. Er kann deshalb gemeinsamer Bezugspunkt entsprechender professionstheoretischer Überlegungen werden. Zudem kann 34 35

Brucks (1998), 29. Antonovsky (1997), 108.

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gefragt werden, wie der SOC durch die spezifischen Traditionen und Praktiken der Kirche ---- ihre Mythen und Rituale ---- getragen und gestärkt wird. Auf der anderen Seite wird der SOC in den einzelnen Tätigkeitsfeldern der Kirche auch kontextspezifisch beansprucht und gefördert. Deshalb ist es ebenfalls sinnvoll, kontextspezifisch danach zu fragen, wie die Tätigkeiten und Tätigkeitsfelder so ausgestaltet werden können, dass der SOC derjenigen, die in der Kirche arbeiten, je berufungsspezifisch zum Tragen kommen kann und gestärkt wird. Pfarrer stehen bisher im Vordergrund der Debatte um gesundheitliche Belastungen in kirchlicher Arbeit. Das ist aus Gründen der gerechten Wertschätzung unterschiedlicher Berufsgruppen in der Kirche problematisch. Es ist aber auch aus genuin salutogenetischer Perspektive kontraproduktiv. Die Kooperation unterschiedlicher Berufsgruppen in der Kirche, die Erfahrung, dass auch andere gut arbeiten, die gegenseitige Abstimmung und gemeinsame Verbindlichkeit der Tätigkeiten sind grundlegend für Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Arbeitserfahrungen und die Ausbildung eines Gruppen-SOC in kirchlichen Organisationen, der individuelle Kohärenzerfahrung stützt. Deshalb müssen die salutogenetischen Potentiale und spezifischen Gefährdungen unterschiedlicher Berufsgruppen in der Kirche in gerechter Weise thematisiert und die Profile der einzelnen Berufe unter dem »Dach des allgemeinen Priestertums und dem Leitgedanken des gegliederten Amtes« flexibel aufeinander bezogen werden.36

4.

Desiderate für die Entwicklung einer salutogenetischen Sichtweise in Kirchen

Potentiale des Konzepts der Salutogenese, wie sie benannt wurden, können in der Kirche auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen ausgeschöpft, in konkrete Projekte umgesetzt und strukturell verankert werden. 4.1 Salutogenese als Teil der kirchlichen Leitbildarbeit Um Salutogenese in der Kirche zu fördern, braucht es mehr als eine Ergänzung oder Neubenennung bekannter Arbeitsformen ---- wozu das »Modewort«37 Salutogenese verführt. Vielmehr ist es nötig, salutogenetische Anliegen in kirchliche Leitbilder zu integrieren und verschiedene Personengruppen für gemeinsame, gesundheitsbezogene Entwicklungsprozesse in der Kirche zu gewinnen. Hier kann von Entwicklungen im Gesundheitssektor gelernt wer-

36

Nach These 4 aus: Fünf Thesen zur Personalentwicklung für beruflich Mitarbeitende in der Evangelisch - Lutherischen Kirche in Bayern (http://www.berufsbildpfr.de/sites/www.berufsbild-pfr.de/files/files/5_Thesen_Beschluss-Version_LKR_Juli_ 2011. pdf). 37 Bengel / Strittmatter / Willmann (2001), 42.

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den. So wurde Salutogenese in der »Budapest-Deklaration« bereits in den 1990er-Jahren für die Institution Krankenhaus konkretisiert.38 Ein salutogenetisches Leitbild für Kirchen sei hier versuchsweise entwickelt, wobei Formulierungen übernommen und angepasst wurden. Eine gesundheitsförderliche Kirche implementiert Ziele der Gesundheitsförderung in der gemeinsamen Unternehmensphilosophie; nimmt gesundheitspolitische Verantwortung als Organisation der Zivilgesellschaft wahr und entwickelt eine differenzierte Theoriebildung zur Salutogenese in der Kirche und zur salutogenetischen Mitarbeit von Volkskirchen am Wohl der Bevölkerung; weckt das Bewusstsein für den Einfluss des Umfelds einer Kirche / Kirchengemeinde auf die Gesundheit der Kirchenmitglieder, Mitarbeiter und Gemeinde; erkennt die Bedeutung der äusseren und inneren Gestaltung der Kirchen (und ihrer Gebäude etc.) für die Unterstützung und Förderung von Gesundungsprozessen; fördert Ressourcenorientierung, Prävention und Gesundheit in allen ihren Arbeitsfeldern; fördert eine aktive und partizipative Rolle der kirchlichen Mitarbeiter und Gemeindeglieder entsprechend ihrem gesundheitlichen Vermögen; schafft gesunde Arbeitsbedingungen für hauptamtlich, nebenamtlich und ehrenamtlich Mitarbeitende und bemüht sich, gesundheitsfördernde Dienstleistungen und Arbeitsplätze mit Modellcharakter anzubieten; identifiziert spezifische Zielgruppen innerhalb der Kirche / Kirchengemeinde, um ihre besonderen (gesundheitlichen) Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen (Kranke, Behinderte, hier auch: kirchliche Mitarbeiter); pflegt und fördert die Zusammenarbeit mit Gesundheitsdiensten, Organisationen, Initiativen und Selbsthilfegruppen in ihrem Umfeld; entwickelt eine epidemiologische, auf die Verhütung von Krankheit und Unfällen und die Förderung von Gesundheit bezogene Datenbasis und gibt entsprechende Informationen an (kirchliche) Entscheidungsträger weiter. 4.2

Salutogenetische »Resonanzen« auf unterschiedlichen Systemebenen erkennen und verstärken Strategien der Gesundheitsförderung können in der Kirche auf mehreren Ebenen ansetzen. Systemisch sind Personen, Strukturen, Prozesse und Inhalte in Kirchen auf unterschiedlichen systemischen Ebenen aufeinander bezogen, mit der Möglichkeit der »Ent-Gesundung« kirchlicher Arbeit, aber auch dem Potential, kirchliche Arbeit in Richtung des Gesundheitspols weiterzuentwickeln und der Entropie kirchlichen Handelns entgegenzusteuern. In Tabelle 1 sind fünf solche Ebenen, entsprechende gesundheitsrelevante Aspekte und mögliche Konkretisierungen aufgeführt. Es gibt beispielsweise keinen Zweifel, dass das Gesundheitsmanagement auch in der Kirche von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst wird. Prozesse der Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen führen zu einem Mitglieder- und Ressourcenschwund, der gravierende Auswirkungen auf allen anderen Ebenen 38

Vgl. Baumann / Frey / Köllner (1998), 169.

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kirchlicher Arbeit zeitigt und nicht zuletzt »das Vertrauen in die Kontinuität des Systems«39 erschüttert. Andererseits können ein geschicktes Gesundheitsmanagement, gesunde und überzeugende kirchliche Mitarbeiter zur Bindung der Kirchenmitglieder beitragen, die Reputation der Kirchen stärken und die Basis auch einer eigenständigen und kritischen Positionierung in der Gesellschaft sein. Ebene Gesellschaft

Gesichtspunkt Gesundheitsmanagement in Kirche ist proaktiv auf gesellschaftlichen Kontext bezogen und reaktiv von diesem beeinflusst

Gesamtkirche

Gesundheitsmanagement ist strategische Aufgabe der Gesamtkirche / Landeskirche

Regionale / örtliche Kirche

Gesundheitsmanagement ist auf operationaler Ebene in Zusammenarbeit der kirchlichen Akteure zu konkretisieren Gesundheitsmanagement ist in einzenen beruflichen Tätigkeitsgebieten (z. B. Unterricht) und den damit zusammenhängenden Mikrosystemen zu implementieren (z. B. Mitarbeiterteam in einer Kirchengemeinde, Kirchenvorsteherschaft) Einzelne Personen managen ihre Gesundheit abhängig von individuellen Erfahrungsmustern, die sich im individuellen SOC verdichten, und einem salutogenetischen Umfeld Individuelles Gesundheitsmanagement geschieht im »Vieleck« kirchlicher und nicht-kirchlicher Systeme (Partnerschaft, Familie, Freizeit etc.)

Kirchliche Mikrosysteme

Individuum als System

Strukturell mit Kirche gekoppelte Systeme

Beispiele Prozesse der Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung Wohlstand / Gerechtigkeit Stand des Gesundheitswesens Kirchliche Arbeitsgesetzgebung Personalentwicklung Leitbilder kirchlicher Berufe Stellenbeschreibungen Arbeitszeitregelungen Konzepte der Salutogenese im Kirchenkreis Beispiel Unterricht: Angemessene Didaktik und Methodik des Unterrichts Supervision, Coaching Kooperation

An einzelnen Personen und Gruppen orientierte Gesundheitsprogramme und Gesundheitsförderung »Fussball für frustrierte Pfarrer« Förderung des familiären SOC der Mitarbeitenden Familienfreundliche Gestaltung kirchlicher Berufe Diversity-Management

Tabelle 1

Ein kirchlicher SOC kann sich dann auf unterschiedlichen Ebenen der kirchlichen Organisation entwickeln und damit die Salutogenese der Mitarbeiter und Mitglieder stützen, wenn auf die wechselseitigen Resonanzen dieser Ebenen geachtet wird, mit dem Ziel, Leben und Zusammenarbeit in der Kirche auf 39

Antonovsky (1997), 111.

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allen Ebenen verlässlich, handhabbar und sinnvoll zu machen. Gesundheit lässt sich allerdings auch in Kirche nicht interventiv herstellen. Es geht vielmehr um die Entwicklung von »enabling conditions«, von Arbeits- und Lebensbedingungen, die es wahrscheinlich machen, dass jene, die in der Kirche leben und arbeiten, ihre Gesundheit als dynamischen Prozess gestalten und weiterentwickeln können. 4.3

Salutogenetische Prozesse auf der Ebene Kirchenkreis / Kirchengemeinde in Gang setzen Eine gesundheitsförderliche Organisationskultur wird für die einzelnen Mitarbeitenden auf der Ebene der regionalen resp. örtlichen Kirche erlebbar und fühlbar. Dabei wird eine doppelte Wahrnehmungsperspektive wichtig: Welche Belastungen, die im Sinn einer pathogenetisch orientierten Prävention abgepuffert werden sollten, enthält zum einen der jeweilige Bereich? Welche allgemeinen Widerstandsressourcen zur Entwicklung ihrer Gesundheit stehen Mitarbeitenden zum anderen zur Verfügung? Bereich Arbeitsplatzgestaltung

Belastungen PC-Arbeit Ungeeignete Arbeitsräume Mangelhafte Abtrennung von privaten und beruflichen Räumen

Ressourcen Lebensfreundliche Wohnungen, Räume, Arbeitsplätze Ausrüstung von Arbeitsplätzen Finanzielle Ressourcen

Teamarbeit

Fehlende gegenseitige Abstimmung Unterschiede in professionellem Selbstverständnis Konkurrenzdruck Leistungsvergleich Konflikte, Mobbing Hohe, unrealistische und divergierende Erwartungen Unklare, unprofessionelle Führung Konflikte um Kompetenzen

Mutua consolatio Leitung, die Verständnis, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit der Arbeit fördert Ergänzung, Synergien durch unterschiedliche Berufsprofile Teilung von Verantwortung Ergänzung von Sichtweisen und Ressourcen freiwillig und beruflich Mitarbeitender Funktionsund Arbeitsteilung Motivationen und Visionen von Kirche Leitbilder, Pflichtenhefte Flexible Führung

Verhältnis des Personals einer Kirchengemeinde zum Kirchenvorstand / Kirchengemeinderat Organisationsklima

Tabelle 2

Problemzentrierung Fehlende Gesamtpolicy Fehlende Feedbackkultur

Strategien Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung Architektonische Anpassungen an Bedürfnisse der Arbeitsorganisation Supervision Teamentwicklung in Retraiten Weiterbildungstage

Gemeindeberatung Weiterbildung Kirchenvorstand, Training des Vorgesetztenverhaltens Entwicklung und Präzisierung von Pflichtenheften Leitbildprozesse von Kirchenvorsteherschaft und Team der Mitarbeitenden

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Es geht kybernetisch also darum, auf der Ebene von Kirchengemeinde und Kirchenbezirk Handlungsstrategien zu entwickeln, die präventiv und salutogenetisch wirken können, also Belastungen zu minimieren und den Ressour40 cengebrauch zu maximieren. Pro Bereich werden in Tabelle 2 exemplarisch einige Belastungen, Ressourcen und mögliche kybernetische Strategien aufgeführt. Es ist klar, dass diese je nach Personen und Situationen angepasst werden müssen. 4.4

Soziale Voraussetzungen der individuellen Salutogenese wahrnehmen und entwickeln Gesundheit ist nicht durch Dritte herstellbar, sondern ein höchst persönliches Projekt. So ist die Grundeinstellung des Einzelnen eine entscheidende Variable der Salutogenese. Diese wird aber, wie dargestellt wurde, in sozialen Kontexten entwickelt und stabilisiert. Deshalb müssen Strukturen und Prozesse bereitgestellt werden, die es den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlauben, ihren SOC zu aktivieren, zu validieren und weiterzuentwickeln, Ressourcen zu beanspruchen und von ihrer Freiheit zur Gesundheit sinnvoll Gebrauch zu machen. Massnahmen zur Förderung der Gesundheit einzelner sind umso erfolgversprechender, je besser sie in ein Gesamtkonzept der Gesundheitsförderung integriert sind. Entsprechend sind einander in Tabelle 3 Belastungen, die an der Salutogenese einzelner kirchlicher Mitarbeiter zehren, Bewältigungsressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, und betriebliche Strategien der Gesundheitsförderung zugeordnet. Dabei muss beachtet werden, dass es einen Unterschied zwischen der Bereitstellung von Ressourcen und der Beanspruchung von Ressourcen gibt. Bestehende Angebote werden oft nicht wahrgenommen, weil die Schwellen zu hoch sind, die Formate zu wenig Rücksicht nehmen auf die Unterschiedlichkeit heutiger Lebensverhältnisse und spirituelle Angebote zu wenig ausdifferenziert sind.41 Bereich Arbeitsmotivation

40

Belastungen Überlastung Psychische Veränderungen infolge Burnout Steigendes Arbeitsaufkommen, Zeitdruck

Ressourcen Sinnerfahrung Intrinsische Motivation Identifikation mit Arbeitsgeber Befriedigung / Feedback in Arbeitsvollzügen

Strategien Jahresgespräche Weiterbildung Sabbaticals

Weiterentwickelt nach: Rohnke (2013). Dies sind Erfahrungen Andreas Weigelts, des Fortbildungsreferenten und Beauftragten für Salutogenese der Ev.-luth. Kirche in Bayern, vgl.: Salutogenese in der Kirche, Präsentation am Fachtag »Burnout in kirchlichen Arbeitsfeldern«, 8.7.2013 (http://www.amd-westfalen.de/uploads/media/Workshop_5_Salutogenese in_ der_ bayr_LK-Andreas_Weigelt.pdf).

41

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Arbeitsbereiche

Erhöhte Anspruchshaltung von Mitgliedern der Kirche Zunahme psychischer Belastungen in allen Altersgruppen Reduktion zeitlicher, finanzieller etc. Mittel

Individuelle Fachund Personkompetenzen Kollegen Infrastruktur

Geistliches Leben

Zeitknappheit Andere Prioritäten Belastungen durch problematische Aspekte der religiösen Biographie

Religiöse Bindung / Sinnsysteme Formen individueller und gemeinsamer Spiritualität

Work-LifeBalance

Nicht dem Anstellungsgrad entsprechende zeitliche Belastung Grosser Koordinationsaufwand zwischen Arbeit, Familie und Freizeit Überhöhte Erwartungen an sich selbst

Fähigkeiten, sich abzugrenzen und zu organisieren Sensibilität für Überlastungssymptome Bereitschaft, sich helfen zu lassen

Umgang mit Körper, Krankheit, Belastung

Innere Kündigung, Absentismus (als Symptom und zusätzliche Belastung) Chronische und akute Krankheiten

Selbstaufmerksamkeit Bewegung, Sport Gesundheitsverhalten Erreichbare Gesundheitsdienste

Strukturwandel

Adaptation an neue Arbeitsverhältnisse bei Restrukturierungen Ängste vor Verlust der Arbeitsstelle

Organisationale Erfahrung und Verständnis Unterstützung in Arbeitsteams Partizipation bei Entscheidungen

Fort- und Weiterbildung Gemeinsame Planung Bereitstellung guter Hilfsmittel Arbeitsbewältigungscoaching Supervision, Mentoring Angebote für geistliches Leben; Exerzitien, Auszeiten; Sabbat-, Wüsten-, Oasentage; Geistliche Begleitung Biographiearbeit Diversity Management Klare und flexible Regelungen der Arbeitszeit (Teilzeitregelungen, Lebensarbeitszeit) Vertretungsregelungen, »Springerpastoren« Kurse in Zeitmanagement Regelmässiges Gesundheitsscreening Sportangebote; Suchtprophylaxe und Ausstiegsangebote Gute Kommunikation,Transparenz bei Reformen Einbezug Betroffener bei Strukturreformen

Tabelle 3

4.5 Salutogenese im Volk Gottes? Es ist sinnvoll, die Salutogenese kirchlich Mitarbeitender ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Gesundheit, Zufriedenheit, Ausstrahlung und Motivation der Mitarbeitenden der Kirche sind ein zentraler Faktor in der Wirkung der Kirche und der Wahrnehmung ihrer Kompetenz, mit direkten

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Auswirkungen auf die Reputation. Eine Ausweitung dieser Perspektive ist jedoch ---- sowohl unter ekklesiologischem wie salutogenetischem Blickwinkel ---- ebenso wichtig und sinnvoll: Salutogenese in der Kirche ist kein Produkt salutogenetisch gewiefter kirchlicher Mitarbeiter. Es gibt eine wechselseitige Beziehung zwischen der Salutogenese kirchlich Mitarbeitender und der Salutogenese des Volkes Gottes. Im Strom des Lebens schwimmen nicht nur die kirchlich Mitarbeitenden, sondern alle, denen Kirche etwas bedeutet. Ein Weg, Salutogenese in der Kirche und bei kirchlich Mitarbeitenden zu fördern, besteht also nicht zuletzt darin, den SOC auch bei Gemeindemitgliedern zu entdecken, bewusst zu machen und zu fördern. Es ist keineswegs gesagt, dass kirchliche Mitarbeiter einen stärkeren SOC ausgebildet haben als die Menschen, mit denen sie es in ihrer Arbeit zu tun bekommen. Sie sind hier oft auch die Empfangenden und können manchmal nur staunen, wie es Menschen gelingt und geschieht, Kohärenz zu schaffen, wo alles auseinanderzufallen droht, sich zu erholen und wieder zur Lebensfreude zu finden.

5.

Schluss

An der Salutogenese soll und kann die Kirche genesen. So könnte das hier Ausgeführte missverstanden werden. Dies wäre theologisch problematisch und nicht im Sinne des Erfinders des SOC, der allen »Wunderwaffen« gegenüber kritisch eingestellt war.42 Salutogenese ist nicht berechenbar und herstellbar, Gott kein Mathematiker, meint Antonovsky, und formuliert eine andere Metapher, die auf eine wenig diskutierte Tiefenstruktur seines Denkens verweist: Gott ist möglicherweise ein Poet. »Seine Werke sind voll von Anspielungen, Illusionen, Fragen, Widersprüchen, offenen Alternativen, Wortspielen, Verzweiflung und Liebe. Dennoch können wir versuchen, ein Gedicht zu verstehen«.43 Kirche ist nicht zuletzt ein Ort, wo man die poetische, heilschaffende Botschaft dieses Gottes in aller Widersprüchlichkeit und allen Widersprüchlichkeiten des Lebens hört und versucht, heilsam mit der »Realität des Gedichts umzugehen, das soziale Existenz heisst«.44

6.

Literatur

Antonovsky, Aaron, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, Bd. 36), deutsche, erw. Ausgabe von Alexa Franke, Tübingen 1997 Bauer, Joachim et al., Belastungserleben und Gesundheit im Pfarrerberuf, in: Deutsches Pfarrerblatt 109 (2009), 460-466

42 43 44

Antonovsky (1997), 30. Antonovsky (1997), 154. Antonovsky (1997), 154.