„Risikomanagement“ aggressiven Verhaltens Fortbildungsveranstaltung 17. Juni 2015 Christian Graz

Gliederung

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

„Risikomanagement“ – was ist das?

Definition: Das richtige Erkennen der richtigen Risikofaktoren zum richtigen Zeitpunkt und deren angemessene Behebung bzw. deren Ausgleich durch sog. protektive Faktoren.

(Nedopil, 2014) A) Einführung

Fragestellung an den „Risikomanager“ Wer wird wann, unter welchen Umständen, mit welchem Aggressionsdelikt auffällig / rückfällig und wie können wir es verhindern bzw. welche Behandlungsoptionen stehen zur Verfügung? A) Einführung

„Aggressives Verhalten“ Definition: Lateinisch aggressio; angreifen. Verhaltensmuster mit der Absicht, anderen Menschen zu schaden, wobei verbale (Diffamierung, Beleidung), psychische (Ausgrenzung, „Mobbing“) und tätliche Aggressionen (Sachbeschädigung, körperlicher Angriff) unterschieden werden können.

(Smith, Mackie, 2000) (Aronson, Wilson, 2008) A) Einführung

Erklärungsmodelle zerebral (frontale Enthemmung / orbitofrontaler, medial präfrontaler Cortex) physiologisch (Neurotransmitter / erniedrigter Serotoninspiegel / reduzierter Glucosemetabolismus frontotemporal)

triebtheoretisch / lerntheoretisch (Lernen am Modell / klassische, instrumentelle Konditionierung) ontogenetisch (Erfahrungen, Vorbilder)

Aggressives Verhalten gruppensoziologisch (Rangordnung)

genetisch (M > F, XYY, XXY) Kultur- / stammesgeschichtlich

sozial-ökologisch (hohe Gruppendichte)

Tiermodelle (Mausstamm mit Knock-out des MAO-A-Gens) A) Einführung

Psychotrope Substanzen

„Biopsychosoziales Modell“ von Aggression Ätiologische Faktoren

Beispiele

Psychische Auffälligkeiten

Zusätzliche Faktoren

biologisch

Reduzierte serotonerge Aktivität, Testosteron

Verminderte Impulskontrolle

Krankheit

entwicklungsbedingt

Aggressive Vorbilder (Elternhaus, peergroup)

Dissozialität, Mangel an Empathie

Umfeld

„Crowding“, Isolation, autorisierte Aggression

„Sensation seeking“, Angst, Ärger

Alkoholisierung

Situativ

Beleidigung, Kränkung, „günstige“ Gelegenheit

Wut, Hilflosigkeit, Ohnmacht

Alkoholisierung

Drogen

Merke: Genetische / biologische Disposition, entwicklungsbedingte Faktoren, ein aggressionsförderndes soziales Umfeld und situative Reize führen – je nach Gewicht der Einzelfaktoren – zu unterschiedlichen Formen von Aggression A) Einführung

(Elliot, 2004) (aus Nedopil, 2013)

Wie häufig findet sich aggressives Verhalten?

A) Einführung

(PKS, 2013)

A) Einführung

(PKS, 2013)

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

„Basisraten“ / Näherungswerte für Rückfälligkeit „Rückfallraten“ / Näherungswerte bezogen auf einen Zeitraum von 2 – 6 Jahren (nach Literaturanalyse) Delikte mit Rezidivraten über 50 % - Straßenverkehrsdelikte - Drogendelinquenz - Sexualdelikte bei homosexueller Pädophilie

Delikte mit Rezidivraten zwischen 25 und 50 % - Körperverletzung - Eigentumsdelinquenz - Sexualdelikte bei Pädophilie - Exhibitionismus

Delikte mit Rezidivraten zwischen 10 und 25 % - Raub - Brandstiftung - Vergewaltigung und sexuelle Nötigung

Delikte mit Rezidivraten zwischen 3 und 10 % - Inzest - Gewaltdelikte bei Pädophilie

Delikte mit Rezidivraten zwischen 0 und 3 % - Mord und Totschlag

B) Konzepte zur Risikoerfassung

(Groß und Nedopil, 2005)

Prognoseinstrumente und ihre Indikationen Instrument zur Risikoeinschätzung

Indikationen

Psychopathy Checklist Revised, PCL-R (Hare, 1990)

Straftäter allgemein

Violence Risk Appraisal Guide, VRAG (Harris, 1993)

Gewalttaten allgemein

Level of Service Inventory Revised, LSI-R (Andrews u. Bonta, 1995)

Straftäter, die nicht psychisch krank sind

Historical, Clinical and Risk Variables, HCR-20 (Webster et al., 1995, 1997)

Psychisch kranke Gewalttäter

Integrierte Liste von Prognosevariablen (Nedopil, 1997)

Psychisch kranke „Rechtsbrecher“

Sex Offender Risk Appraisal Guide , SORAG Rice et al, 1997

Sexuelle Gewalttaten

Static 99 bzw. Static 2002 (Hanson and Thornton, 1999, 2002)

Sexualdelikte allgemein (statische Risikofaktoren)

SONAR 2000 bzw. STABLE (Hanson and Harris, 2000)

Sexualdelikte allgemein (dynamische Risikofaktoren)

B) Konzepte zur Risikoerfassung

Einschätzung der Prognose (nach ILRV): stabile und veränderbare Risikofaktoren Statische Risikofaktoren bzw. Variablen (ILRV A und B): - Anamnestische Daten - Persönlichkeitsgebundene Dispositionen - kriminologische Faktoren Dynamische / klinische Risikofaktoren (ILRV C, teils D): - (gegenwärtige) Fehlhaltungen und –einstellungen - risikoträchtige Reaktionsmuster - klinische Symptomatik - Krankheitseinsicht / Therapiemotivation - Selbstkritischer Umgang - Lebenseinstellung (pro- / antisozial) - Entwicklung von Copingmechanismen In die Zukunft gerichtete Risikovariablen (ILRV D): - „Sozialer Empfangsraum“ (Arbeit, Unterkunft, soziale Beziehungen) - Offizielle Kontrollmöglichkeiten, Compliance B) Konzepte zur Risikoerfassung

(ILRV: Nedopil, 1997)

Ausgleich dynamischer Risikofaktoren durch sog. protektive Faktoren „Resilience“ (übersetzt: „Festigkeit und Stabilität“): - Emotionale Stabilität - Flexibilität - Anpassungsfähigkeit - Fähigkeit zur Distanzierung

(Küfner, 1999) B) Konzepte zur Risikoerfassung

(Lösel u. Bender, 1999)

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

Aggressives Verhalten als „Symptom“ psychischer Störungen Diagnostisches Kriterium (DSM-IV-TR bzw. DSM-V): - Persönlichkeitsänderung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors (aggressiver Typ) - Intoxikationssyndrome (Alkohol, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, Amphetamine etc.) - Antisoziale Persönlichkeitsstörung - Borderline-Persönlichkeitsstörung

(Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association, 1994, 2013) C) Aggression bei psychischen Störungen

Aggressives Verhalten als „Symptom“ psychischer Störungen Erhöhte Aggressionsbereitschaft - Organische Psychosyndrome (Frontal- / Temporalhirnschaden) - Schizophrenien (insbesondere, wenn komorbid F10.1) - Abhängigkeitserkrankungen

(Golden, 1996) (Grafman, 1996) (Nedopil, 2000) (Müller, 2010) C) Aggression bei psychischen Störungen

Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Aggression Population

Anteil von Gewalttätigen (%)

Psychosen ohne Substanzmissbrauch

17,9

Psychosen mit Substanzmissbrauch

31,1

Andere psych. Störungen mit Substanzmissbrauch

43,0

Vergleichsgruppe mit Substanzmissbrauch

11,1

Vergleichsgruppe ohne Substanzmissbrauch

3,3

Studienergebnis: => 951 Patienten vs. 519 „Gesunde“ (3 Gemeinden in den USA) - bei 4,5 % der Patienten offizielle Registrierung von Gewalthandlungen („BZR“) - ABER: 23,7 % der Patienten gestanden vergangene Gewalthandlungen ein - 27,5 % der Bezugspersonen / Angehörige berichteten über Gewalthandlungen - im Mittel 2,12 Gewalthandlungen / Jahr (Steadman, 1998) (aus Nedopil, 2013) C) Aggression bei psychischen Störungen

Tötungsdelikte durch psychisch Kranke in Finnland Diagnose

Risikoerhöhung (Odds Ratio)

Schizophrenie

8,0

Alkoholabhängigkeit

10,7

Antisoziale Persönlichkeitsstörung

11,7

Major Depression

1,6

Schizophrenie und Alkoholabhängigkeit

17,0

Studienergebnis: => psychiatrisch-forensische Untersuchung der Mörder und Totschläger Finnlands - Männliche Täter: Anteil der Schizophrenen 6,5-mal höher als in Allgemeinbevölkerung - Weibliche Täter: Anteil der Schizophrenen 15-mal höher als in Allgemeinbevölkerung - Der Anteil der Täter mit Alkoholabhängigkeit und antisozialer Persönlichkeitsstörung lag insgesamt deutlich höher. (Eronen, 1996) C) Aggression bei psychischen Störungen

Gewaltdelikte durch psychisch Kranke (dänische Jahrgangskohorte) Diagnose

Risikoerhöhung (Odds Ratio) Männer

Frauen

Schizophrenie

4,4

32,2

Organische Psychose

8,8

16,6

Affektive Störung

2,0

3,9

Studienergebnis: => Untersuchung einer dänischen Geburtskohorte mit etwa 360.000 Menschen - jeweils erhöhte Raten von Gewaltdelikten für Patienten mit Schizophrenien, organischen Psychosen und affektiven Störungen (wobei auch Faktoren wie niedriger sozialer Status und Substanzmissbrauch einen Einfluss hatten) - Psychische Störungen bei Frauen scheinen einen wesentlich größeren Einfluss auf Gewaltdelinquenz zu haben! (Brennan, 2000) C) Aggression bei psychischen Störungen

Kritik - Nicht untersucht wurden die Kontextvariablen, in welchen Gewalt entsteht, mit dem Ziel, weitergehende Präventionsvariablen zu entwickeln… Ziel der Prognoseforschung des beginnenden 21. Jahrhunderts: - Wie kann künftige Gewalt vorhergesagt werden? - Wie erreichen wir eine „Risikominimierung“? => Dieser Fragestellung widmeten sich neuere Studien: Folgende Hauptrisikomerkmale bildeten sich zusammengefasst in diesen Studien ab: - junge Patienten - frühere Gewalttätigkeit - Komorbidität Psychose – Substanzmissbrauch - Hostilität (bedrohlich-feindseliges Verhalten) (Schanda u. Taylor, 2001) - manisches Syndrom (Skeem et al., 2002) - ausgeprägte Denkstörungen (Steinert, 2002) - akute Intoxikationen (Soyka u. Graz, 2004, 2006) - mangelnde Compliance (Graz et al., 2008)

C) Aggression bei psychischen Störungen

Antistigma „Antistigma“-Rechenbeispiel: Nehmen wir an, das Risiko zur Begehung einer Gewaltstraftat von Patienten mit schizophrener Psychose ist um das 5-fache erhöht gegenüber der Allgemeinbevölkerung, es liegt also bei ca. 1:2.000 gegenüber 1:10.000 in der Allgemeinbevölkerung. Damit ist das statistische Risiko, Opfer eines schizophrenen Patienten zu werden, dennoch ausgesprochen gering, da man ungefähr einen schizophrenen Patienten unter 100 Menschen antrifft und somit 200.000 Menschen begegnen muss, um einen Gewalttäter mit dieser Diagnose zu treffen… Merke: Für die Allgemeinbevölkerung ist das bestehende Gewaltrisiko psychisch kranker Menschen kaum relevant, wohl aber für stationär-psychiatrische Akutstationen, ggf. auch für ambulante Versorgungsstrukturen der Allgemeinpsychiatrie in „Krisensituationen“!

C) Aggression bei psychischen Störungen

(Nedopil, 2007) (Steinert u. Bergk, 2008)

Exkurs: Jugendliche Aggressionstäter Tätertyp I (häufig) Dissozialer jugendlicher Aggressionstäter

Tätertyp II (selten) „Aggressionsgehemmter“ Jugendlicher

ungünstige Aufwuchsbedingungen

unauffällig bis gehemmt, sensibel

geringe intellektuelle Ausstattung

zurückgezogen bis isoliert

diskrete hirnorganische Auffälligkeiten

einzelgängerisch

Hinweise auf hyperkinetisches Syndrom

leicht kränkbar

Teilleistungsschwächen

eher ängstlich bis niedergeschlagen

Schädlicher Drogengebrauch

aggressiv-gehemmt bis überkontrolliert

=> Entwicklung einer antisozialen PD

=> häufiger narzisstische Veranlagung

(Häßler und Kinze, 2010) (Freisleder, 2013)

C) Aggression bei psychischen Störungen

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

Warum Aggressionsprävention? Studien: - 2 % der stationär-psychiatrischen Patienten: tätlich aggressive Handlungen - 8 %: verbale Drohungen, Aggressionen gegen Gegenstände - 40 % der (befragten) Psychiater: zumindest einmalig Opfer eines körperlichen Angriffs Zwangsmaßnahmen (Fixierung, Isolierung, Pharmakotherapie gegen Willen): - bei ca. 8 % der in psychiatrischen Kliniken behandelten Patienten - Hauptrisikogruppe: Demenzielle Syndrome => mechanische Beschränkung dient hier dem Eigenschutz

D) Aggressionsprävention

(Nedopil, 2007) (Steinert u. Bergk, 2008)

Unspezifische Strategien bei aggressiven Verhaltensweisen -Erkennen von und Reagieren auf frühzeitige Anzeichen aggressiven Verhaltens (Fäuste ballen, zornige Mimik) - Verbale (Be-) Drohungen ernstnehmen - Sichere Gestaltung der Umgebung (gefährliche Gegenstände) - Blickkontakt halten (z.B. nicht Rücken zuwenden) - ruhige, kompetente, sichere Haltung; im Dialog bleiben - Zusätzliche personelle Unterstützung zu Hilfe rufen - ggf. Personensicherungsanlage (Polizei) - hohe Anzahl von Mitarbeitern im Falle der Anwendung physikalischer Sicherungen (z.B. Fixierung) (Citrome, 2007) D) Aggressionsprävention

Aggressionsprävention Primäre Prävention: - Identifikation möglicher „Risikopatienten“ - Eigen- und fremdanamnestische Erhebung vergangener Fremdgefahr - sinnvolle Tagesstrukturierung - Schulung des Personals - Stabilität und Zusammenhalt im Therapeutenteam - übersichtliche Einrichtung, viel Raum, offene Fluchtwege - Verbot von Waffen, Drogen, Alkohol Sekundäre Prävention: - „Deeskalationstechniken“ - körperlich Abstand halten, „talking down“, Freundlichkeit, Humor - Motivation und Ziel des Aggressors herausfinden - dem Aggressor sollte ermöglicht werden, sein Gesicht zu wahren - Begrenzung von Ausmaß und Dauer der Aggression - Entschärfung bedrohlicher Situationen - Frühzeitige Intervention bei Eskalation von Gewalt - Unterbrechen körperlicher Auseinandersetzungen - Letztes Mittel: Physische Interventionen mit Fixierung und Absonderung des Aggressors => Beachte: exakte Dokumentation jeder Zwangsmaßname! D) Aggressionsprävention

Aggressionsprävention Tertiäre Prävention: - Minimierung der Langzeitfolgen von Aggressionshandlungen - Verständnisvolle Rekapitulation der Ereignisse - Signalisieren von Unterstützung - Training zur Vermeidung künftiger Aggression statt disziplinarische Folgen - Rechtliche Aufarbeitung, sorgfältige Dokumentation (elaborierte Dokubogen) BEACHTE: Risikosituationen: Konkurrenzverhalten von Männer, gegenseitiges Eindringen in die Privatsphäre (räumlich / verbal), Bedrohungen im Rahmen affektiver Zuspitzungen *) „Risikopatient“: In Vergangenheit gewalttätig, junges Alter, affektive Beteiligungen an Wahn und Halluzinationen, Akathisie, selbstverletzendes Verhalten, geringe Verbalisationsfähigkeit, niedrige soziale Funktionsfähigkeit. **) „Risikopersonal“: Verweigerungshaltung, Rückzug, soziale Vernachlässigung der Patienten, alleine im Dienst, klinisch unerfahren, empfänglich für Provokationen

D) Aggressionsprävention

„Längsschnitt“: Explorationsbereiche Exploration folgender Risikobereiche: - Aggressionshandlungen in der Vorgeschichte - Polizeikontakte in der Vorgeschichte - Verurteilungen in der Vorgeschichte - Verhaltensprobleme im Familienrahmen / Zuhause - Verhaltensprobleme in der Schule - Verhaltensprobleme auf der Straße - Substanzabusus / vergangene Intoxikationen - Institutionalisierung vor dem 18. Lebensjahr - Erziehungsschwierigkeiten - Diagnosen im Jugendalter (ADHS, Störung des Sozialverhaltens)

D) Aggressionsprävention

„Querschnitt“: Klinische Einschätzung Erfassung des akuten Aggressionsrisikos: - inhaltlich eingeengtes Denken auf gewalttätige Lösung? - gehört Aggression zu den habituellen Konfliktlösungsstrategien? - „gewaltverherrlichende“ Einstellungen? - geminderte Impulskontrolle? - Verfügung von / Umgang mit Waffen? - Depravationserscheinungen? - reduzierte Bereitschaft, Hilfsangebote anzunehmen? - Verfügbarkeit von Coping-Mechanismen? - aktuelle psychotische Symptomatik?

D) Aggressionsprävention

A) Einführung B) Konzepte zur Risikoerfassung C) Aggressives Verhalten bei psychischen Störungen D) Aggressionsprävention E) Leitlinien zur Behandlung

Vorgehen in der psychiatrischen Notfallsituation aggressiven Verhaltens - Abschätzen akuter Fremdgefahr für Untersucher, Personal, sich selbst - Prüfung der Indikation zur Zwangseinweisung - Vorläufige diagnostische Einordnung des „Notfallsyndroms“ - Formulierung der vermuteten Arbeitsdiagnose des aggressiven Verhaltens durch Eigen-, Fremdanamnese und Verhaltensbeobachtung - Festlegung der Behandlungsstrategie und –modalität (freiwillig, unfreiwillig) - ggf. „Rechtfertigender Notstand“ gemäß § 34 StGB? - Unterbringungsbeschluss? Betreuung? Beachte: Gesetzesänderungen der Ländergesetze. Wichtig: Rechtsgrundlage klären, stringente Begründung der Zwangsmaßnahmen bei aggressivem Verhalten, sorgfältige Dokumentation (zwingende Erfordernis, fehlende Alternativen, realistische Erfolgsaussichten etc.) (Hippius, 2014) (Müller, 2012) E) Leitlinien zur Behandlung

Gesetzliche Grundlagen

E) Leitlinien zur Behandlung

Regeln für Psychopharmakaeinsatz in der psychiatrischen Notfallsituation - Zunächst und immer begleitend nichtpharmakologische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten wie verbale Deeskalation und Reizabschirmung - Psychopharmakologische Notfallbehandlung auf Grundlage der (vorläufigen) diagnostischen Einschätzung des aggressiven Verhaltens - Psychopharmakaeinsatz zur Beruhigung, nicht zur Schlafinduktion - Fremdaggressive Patienten sollen in die Auswahl der Medikamente und der Applikationsform einbezogen werden (perorale Einnahme vor parenteraler Gabe; Wilson, 2012) Merke: Häufig akut nicht einsichtsfähige Patienten! Deshalb gilt umso mehr: - Hohe Sicherheit (Verträglichkeit, Zulassung) - Hohe Wirksamkeitswahrscheinlichkeit in Bezug auf Zielsymptomatik - Hohe Applikationssicherheit und kurze Wirklatenz (Hippius, 2014) E) Leitlinien zur Behandlung

Pharmakologische Behandlung Merke: - keine unspezifische „antiaggressive“ medikamentöse Behandlung - Zwangsmedikation als letztes Mittel - Medikamente alleine stellen keinen ausreichenden Schutz gegen Aggressionshandlungen dar Notfallsituation: - sedierende Neuroleptika Mittel der 1. Wahl - rasch resorbierbare orale Neuroleptika bzw. kurzwirksame Neuroleptika zur intramuskulären Verabreichung - ggf. kurzwirksame Benzodiazepine (CAVE: paradoxe Reaktionen) Zur Prophylaxe: - Lithium, Antiepileptika, β-Blocker, SSRI

E) Leitlinien zur Behandlung

Langfristige Verhaltensmodifikation bei Aggressionstätern - Generell gilt: Psychotherapeutische Verfahren bedienen sich der gleichen Methoden und Wirkprinzipien wie bei anderen psychischen Störungen - Therapie beschränkt auf Maßregelvollzug und Haftanstalten (SOTHA S / G) - Aber: Ausbau forensischer Nachsorgeambulanzen / Fachambulanzen - Verhaltenstherapeutische Konzepte wie Affekt- / Ärgerkontrolle („anger control“) - sorgfältige Analyse bisheriger Gewalttätigkeit, ihrer Auslösefaktoren und der subjektiven psychischen und physischen Reaktionen im Vorfeld, während und nach der Gewaltausübung („Tatvorfeld“, „Nachtatverhalten“) Therapieziele (nach Tardiff, 1996): Analyse der Behandlungsmotivation; unvoreingenommene Verbalisierung von Problemen und Konflikten; Förderung der Selbstkontrolle; Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle beachten lernen; Empfindungen wahrnehmen; Entwicklung von Einsicht und Empathie; Verbesserung der Fähigkeiten, die Folgen eigenen Handelns vorherzusagen und emotional zu bewerten; Aufbau eines prosozialen Empfangsraums E) Leitlinien zur Behandlung

Langfristige Verhaltensmodifikation bei Aggressionstätern Methodisch: Einzel- und Gruppensitzungen Therapieprogramme *): Rollenspiele; Einnahme der Opferrolle; symbolische „Wiedergutmachung“; „Täter-Opfer-Ausgleich“ Ergänzung: Sozialtherapie, Entspannungsübungen, Sporttherapie, kreative Therapieformen (z.B. Kunst-, Musiktherapie) Hauptziele: Erlernen von „Ärgerkontrolle“ und Empathie, Aufbau sozialer Kompetenz, Besserung der Kommunikationsfähigkeit

*)

Reasoning & Rehabilitation Program, R&R (Eucker, 1998) Therapeutisches Intensivprogramm gegen Gewalt und Aggression, T.I.G.A. (Wolters, 1998) Antigewalttraining, AGT (Hansen u. Römhild, 1998)

E) Leitlinien zur Behandlung

S2-Behandlungsleitlinie

Ziel: Empfehlungen zu Diagnose und Therapie aggressiven Verhaltens auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, um Zwangsmaßnahmen und –unterbringungen zu reduzieren bzw. bei nicht vermeidbarer Anwendung dieser die Menschenwürde zu wahren u. Rechtssicherheit zu gewährleisten. Zielgruppe: Alle in der Versorgung psychisch Kranker tätigen Berufsgruppen, aber auch Betroffene einer psychischen Störung mit aggressiven Verhaltensweisen und deren soziales Umfeld. Good Clinical Practice: Aggressionsmanagement-Schulungen / Trainings über Ursachen und Formen aggressiven Verhaltens und zur professionellen Bewältigung aggressiv geladener Situationen. Ziel: optimale Sicherheit für Personal und PatientInnen.

E) Leitlinien zur Behandlung

S2-Behandlungsleitlinie Prävention und Rahmenbedingungen Institutionelle Voraussetzungen: Geschlechtliche Mischung auf psychiatrischen Stationen. Administrative Verteilung von „Risikopatienten“ für aggressives Verhalten. Günstiger Stellenschlüssel. Großzügiges Raumangebot (u.a. zur Wahrung der Intimsphäre). Klare und transparente Strukturen und Regeln auf Station. Weitestgehend „offene“ Stationen. Beziehung und Pflege, Good Clinical Practice: Wechselseitiger Respekt und Achtung der Würde wirken in hohem Maße gewaltpräventiv. Empfehlung: Klar beschriebene Vorgehensweisen zur Beobachtung und Beziehungsgestaltung. Höchstens 2 Stunden intensive Einzelbetreuung durch einen Pflegenden. Gute Dokumentation! Behandlungsvereinbarungen fördern eine vertrauensvolle Zusammenarbeit (Benennung / Einschaltung externer Vertrauenspersonen; subjektiv hilfreich erlebte Medikamente?; Deeskalatations- vor Zwangsmaßnahmen, ggf. Festlegung der subjektiv am wenigsten belastenden Form von Zwangsmaßnahmen). Bei ethnischen Minderheiten / Migrationshintergrund: interkulturelle und sprachliche Kompetenzen einzelner KollegInnen nutzen. E) Leitlinien zur Behandlung

S2-Behandlungsleitlinie Intervention Ethische Grundlagen: Zwangsmaßnahmen können zu schweren psychischen Folgen führen! Daher: sorgfältige ethische Klärung: - Liegt eine psychische Störung vor, die die freie Willensbestimmung beeinträchtigt? - Sind die beabsichtigten Maßnahmen verhältnismäßig im Hinblick auf die Schadensvermeidung? - Welche Form der Zwangsanwendung ist am wenigsten eingreifend in das Selbstbestimmungsrecht? Pharmakologische Interventionen: Wirksamkeitsnachweise bei parenteraler Gabe für: Haloperidol, Lorazepam, Flunitrazepam, Midazolam, Olanzapin, Ziprasidon, Zuclopenthixolacetat.

E) Leitlinien zur Behandlung

S2-Behandlungsleitlinie Intervention Pharmakologische Interventionen: Patienten Entscheidungsmöglichkeiten mit Alternativen anbieten! - hinsichtlich Art der Applikationsform (oral, i.m., i.v.) - hinsichtlich der Substanzwahl In der Regel gilt: - Oral vor i.m. / i.v. -Schnell resorbierbare Antipsychotika und Benzodiazepine Prophylaktische Pharmakotherapie: Antipsychotika, Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, Betablocker

E) Leitlinien zur Behandlung

World Health Organization

WHO-Empfehlung

=> Fixierung und Isolierung nur, wenn einzige Möglichkeiten, unmittelbaren oder drohenden Schaden von der Person selbst oder anderen abzuwenden => für die kürzest notwendige Dauer => während Zwangsmaßnahme aktiven und persönlichen Kontakt halten => Sicherstellung der Gesetzgebung

(WHO, 2005) E) Leitlinien zur Behandlung

Konklusion zum Risikomanagement Wer wird wann, unter welchen Umständen, mit welchem Aggressionsdelikt auffällig / rückfällig und wie können wir es verhindern bzw. welche Behandlungsoptionen stehen zur Verfügung?)

Literatur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften S2-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten in der Psychiatrie und Psychotherapie

DANKE für Ihre Aufmerksamkeit

Ihr Christian Graz [email protected] www.nexusklinik.de