Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive

Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit einem grundsätzlichen Problem: der Dynamik kommunikationswissenschaftlicher Phänomene. In theoretischen u...
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Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit einem grundsätzlichen Problem: der Dynamik kommunikationswissenschaftlicher Phänomene. In theoretischen und methodischen Beiträgen, die jeweils unterschiedliche Perspektiven einnehmen, werden die Schwierigkeiten, aber auch die Chancen einer adäquaten Berücksichtigung des Faktors Zeit in der Kommunikationswissenschaft thematisiert.

Reihe Rezeptionsforschung

Reihe Rezeptionsforschung l 22

Suckfüll | Schramm Wünsch [Hrsg.]

Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive

22

ISBN 978-3-8329-6275-3

Suckfüll | Schramm | Wünsch [Hrsg.]

Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive

http://www.nomos-shop.de/13249 Die Reihe Rezeptionsforschung ist ein Forum für aktuelle empirische und theoretische Beiträge zum Thema Medienrezeption. Dazu gehören Untersuchungen der aktiven Auseinandersetzung der Rezipienten mit Medienbotschaften, die von der Selektion von Medienangeboten und ihren Gründen über Rezeptionsqualitäten und Verarbeitungsprozesse bis hin zur Einbettung der Rezeption in den Alltag und den sich daraus ergebenden individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen reicht. Kurz: Es geht um die Frage „Was machen die Menschen mit den Medien?“ Ansprechpartner für die Redaktion der Reihe: Carsten Wünsch Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Sozialwissenschaften Universitätsstraße 1 40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected]

Reihe Rezeptionsforschung herausgegeben von Carsten Wünsch, Holger Schramm, Helena Bilandzic, Volker Gehrau Beirat: Uwe Hasebrink Patrick Rössler

Band 22

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Monika Suckfüll | Holger Schramm Carsten Wünsch [Hrsg.]

Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive

Bildnachweis Titel: istockphoto.com

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-6275-3

1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft/Edition Reinhard Fischer, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Konzeptionelle und systematisierende Überlegungen Andreas Fahr und Hannah Früh Prozessbetrachtungen in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . 19 Leyla Dogruel und Sven Jöckel Eine eingeschränkte Qual der Wahl – Pfadabhängigkeiten in der prozessorientierten Medienwahl. Ein theoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . 37 Thomas Koch Vielschichtig verknüpft. Zum Zusammenhang von Gewohnheiten und Zeit bei der Fernsehnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

II. Mediennutzung in zeitlicher Perspektive Sascha Hölig, Hanna Domeyer, Uwe Hasebrink Souveräne Bindungen: Zeitliche Bezüge in Medienrepertoires und Kommunikationsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Florian Hottner TV-Konsum in Abhängigkeit von Zeit und Raum. Eine Mehrebenenanalyse von zeitlichen und regionalen Determinanten der Fernsehnutzungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

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Claudia Wilhelm und Wolfgang Seufert Mediennutzung und Zeitverfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

III. Dynamische Medienwirkungen Christian Schemer Selbstverstärkende Medienwirkungs- und -selektionsspiralen. Der wechselseitige Einfluss der Aufmerksamkeit für politische Werbung und der Erregung negativer Emotionen in politischen Kampagnen . . . . . . . . . . 129 Thilo von Pape und Vincent Meyer Emotionen, die hochkochen? Zum Einfluss von Rezeptionsemotionen auf die Härte von Strafeinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Susanne E. Baumgartner, Patti M. Valkenburg & Jochen Peter Risikoverhalten Jugendlicher im Internet: Eine Längsschnittstudie zum kausalen Zusammenhang von Wahrnehmungen und Verhalten . . . . . 167 Sophie Lecheler und Claes H. de Vreese Wie ›langlebig‹ sind Framing-Effekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

IV. Methodische Herausforderungen Anke Wonneberger, Klaus Schönbach und Lex van Meurs Der Mehrwert von Sequenzanalysen für die Mediennutzungsforschung: Eine Beispielanalyse zur Nutzung politischer Fernsehinhalte . . . . . . . . 199 Janina Grunow, Justine Niemczyk, Astrid Carolus, Dagmar Unz und Frank Schwab Zeitverschwendung? Oder machen uns die Medien mit der Zeit immer schlauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Annie Waldherr und Marko Bachl Simulation gesellschaftlicher Medienwirkungsprozesse am Beispiel der Schweigespirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Frank M. Schneider, Julian Erben, Isabel Satzl, Romina-Scarlett Altzschner, Tobias Kockler und Sarah Petzold Die Übungssequenz macht den Meister…? Eine experimentelle Studie zu Kontext-Effekten von Übungsstimuli bei Real-Time-Response-Messungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Flavia Bleuel Zeit ist relativ – Zur Bedeutung und Messung von Betrachtungszeiten in der Rezeptions- und Wirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

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Vorwort der Herausgeber Im Januar 2010 fand an der Universität der Künste Berlin die alljährliche Tagung der Fachgruppe Rezeptions- und Wirkungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) statt. Die Tagung widmete sich dem Thema »Rezeption und Wirkung in zeitlicher Perspektive«. Diesen Titel trägt auch der vorliegende Tagungsband. Die Fachgruppe konnte bei dieser Tagung eine besonders hohe Zahl von Einreichungen verzeichnen. Nach einem strengen Review-Verfahren wurde etwa die Hälfte der Beiträge im Tagungsprogramm berücksichtigt. Viele Kolleginnen und Kollegen fanden den Weg nach Berlin. Mit weit über 100 Teilnehmern war die Tagung äußerst gut besucht. Im vorliegenden Tagungsband ist nun wiederum eine Auswahl der Beiträge versammelt, von denen wir glauben, dass sie einen umfassenden und anspruchsvollen Querschnitt der im Rahmen der Tagung diskutierten Themen vermitteln. Die grundsätzliche Überlegung, Theorien, Ansätze, Modelle und Methoden der Rezeptions- und Wirkungsforschung mit Blick auf eine zeitliche Perspektive zu diskutieren, ist keinesfalls neu. In der Kommunikationswissenschaft sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere programmatische Auseinandersetzungen mit zeitgebundenen Phänomenen der Nutzung, Rezeption und Wirkung von Medienangeboten vorgelegt worden (Neverla 1992, Beck 1999, McQuail 2000, u.a.). Im Jahr 1990 fand bereits eine Tagung zum Thema »Zeit und Raum als Determinanten gesellschaftlicher Kommunikation« (gemeinsame Arbeitstagung der Deutschen und der Österreichischen Gesellschaft für Publizistikund Kommunikationswissenschaft in Salzburg) statt, auf der schon damals die Bandbreite der zeitbezogenen Fragen in der Kommunikationswissenschaft deutlich wurde (Hömberg/Schmolke 2000). Mit dem Dynamisch-Transaktionalen Ansatz (Früh/Schönbach 1982, 2005) ist außerdem in unserem Fach ein Denkmuster etabliert, das den dynamischen oder prozesshaften Charakter nahezu aller Phänomene in der Kommunikationswissenschaft nachhaltig hervorgehoben und dessen Berücksichtigung eingefordert hat. Im Jahr 2007 richtete die Fachgruppe Rezeptions- und Wirkungsforschung ihre Tagung in Leipzig zum Thema »Integrative Modelle in der Rezeptions- und Wirkungsforschung: Dynamische und transaktionale Perspektiven« aus (Wünsch/Früh/Gehrau 2008). Auch im Rahmen dieser Tagung wurden prozesshafte Aspekte der Rezeptionsund Wirkungsforschung diskutiert.

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10 Warum also (erneut) eine Tagung ausrichten, die den dynamischen Aspekt kommunikativer Phänomene in den Mittelpunkt rückt? Die Überzeugung, dass eine solche Themensetzung einen Schritt nach vorne bedeuten kann, ergibt sich aus den folgenden Überlegungen: Dynamische Phänomene sind nicht nur auf eine oder wenige Komponenten bezogen (nur Nutzung, nur Rezeption, nur Wirkung oder nur als unabhängige Variable, nur als abhängige Variable, nur als Datenerhebungsproblem oder nur als Auswertungsproblematik), sondern sie betreffen alle Komponenten gleichzeitig. Diese Komplexität trägt dazu bei, dass der Blick auf kommunikationswissenschaftliche Problemstellungen unter einer zeitlichen Perspektive schnell unübersichtlich wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass ohne eine Berücksichtigung der innewohnenden Dynamik kaum ein Ansatz oder Modell bestehen kann. Und doch steht dieser einhelligen Auffassung eine Aussparung der Problematik bei vielen Studien entgegen. Was sind die Gründe für diese Vernachlässigung der Variable Zeit? Sicherlich liegt ein Grund in der Datenerhebung. Der Aufwand für Längsschnittstudien ist schlicht höher als bei einmaligen oder bei vorher-/nachher-Messungen. Nicht alle (Nachwuchs-)Wissenschaftlerinnen sind (immer) in große Forschungsprojekte eingebunden, die finanzielle Unterstützung erfahren. Deshalb müssen häufig pragmatische Überlegungen in die Konzeption von Forschungsvorhaben einfließen. Gleichzeitig sind für die Auswertung von Prozessdaten mit zahlreichen Messzeitpunkten besondere Kenntnisse nötig, die bis heute nicht zum klassischen Kanon der Statistikausbildung an den Instituten zählen. Ein weiteres Problem ist weniger leicht zu identifizieren: Ein für die Praxis und die Anwendung relevantes Konstrukt hat bessere Chancen verstanden und umgesetzt zu werden, wenn es stabil ist. Das ist eine etwas provokante These. Das folgende Beispiel kann diese Behauptung vielleicht untermauern: Wenn man Praktikern erklärt, dass die Nutzung sozialer Netzwerke von zahlreichen Faktoren abhängt, die in ihrem dynamischen Wechselspiel permanenten Änderungen unterworfen sind, werden sie durchaus berechtigt fragen, wie ihnen das nutzt etwa für die Vorhersage von Ereignissen auf der Basis vergangener Ereignisse. So gesehen hat auch die in den letzten Jahren angestiegene Einbeziehung von Persönlichkeitsdispositionen einen forschungspragmatischen Aspekt: Viele Persönlichkeitseigenschaften (traits) sind qua definitionem stabil. Wiederholte Messungen dienen lediglich der Reliabilitätsbestimmung. Obwohl die Bedeutung der Zeitdimension außer Frage steht, scheinen also Forschungsstrukturen zu existieren, die einer konsequenten Berücksichtigung der Dimension Zeit in der Theorien- und Methodenentwicklung entgegenstehen. Auf der Jahrestagung der DGPuK in Lugano im Jahr 2009, als der Fachgruppenversammlung das Thema vorgeschlagen wurde, wurden Stimmen laut, das Thema sei zu allumfassend. Um ein definiertes Erkenntnisziel erreichen zu kön-

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Vorwort der Herausgeber

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nen, müsse man sich auf einen oder mehrere, aber klar benannte Aspekte konzentrieren. Nun war es aber gerade der Anspruch, zeitliche Perspektiven in ihrer ganzen Breite zuzulassen, um erst in einem nächsten Schritt Teilbereiche, die unabhängig voneinander behandelt werden können, identifizieren zu können. Im call for papers zur Tagung hieß es entsprechend: »Zeit ist eine zentrale Dimension von Kommunikation. Und auch die Rezeptions- und Wirkungsforschung befasst sich in den seltensten Fällen mit singulären oder momenthaften Phänomenen. Vielmehr sehen sich die Forschenden konfrontiert mit Nutzungsepisoden, Rezeptionsprozessen oder Wirkungsverläufen, um nur wenige Stichworte zu nennen. In der Rezeptions- und Wirkungsforschung sind also Fragestellungen an der Tagesordnung, die die Variable Zeit – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – berücksichtigen. Die große Vielfalt der Studien reicht von der Erhebung von Nutzungszeiten, -häufigkeiten und -regelmäßigkeiten (wann, wie lange, wie oft etc.) bis hin zu (…) Ansätzen, die sich häufig auf Längsschnittdaten beziehen. Eine umfassende Systematisierung temporaler Perspektiven in der Rezeptionsund Wirkungsforschung liegt bisher nicht vor. Die Tagung soll dazu beitragen, das unübersichtliche Feld zu strukturieren.« Bereits im call for papers waren insgesamt sechs übergeordnete Themenbereiche genannt worden, zu denen Beiträge eingereicht werden konnten: (1) Theorie und Begriffsklärung: Zeit kann sich auf die Abfolge von Stadien oder Phasen beziehen. Die Begriffe Nutzung, Rezeption und Wirkung werden mitunter als Komponenten eines zeitlich ausgedehnten Prozesses interpretiert. Es mangelt noch an theoretischen Auseinandersetzungen mit diesen zentralen Konstrukten unter einer zeitlichen Perspektive. (2) Zeit als Variable: Zeit kann in Form unterschiedlicher Variablen, als unabhängige, moderierende oder abhängige Größe konzeptioniert werden. Von Interesse sind entsprechende Definitionen, Operationalisierungen und Modellvorstellungen. Eine bekannte Größe sind hier Zeitbudgets, aber auch beispielsweise das Zeitempfinden kann zur Erklärung von Nutzung, Rezeption und Wirkung beitragen. (3) Rezeptionsprozesse: Um dynamische Wechselwirkungen von Medien- und Rezeptionsmerkmalen im Verlauf prüfen zu können, müssen Prozessdaten erhoben werden. Häufig ist zu beobachten, dass aufwendig erhobene Daten für Zwecke der Auswertung aggregiert werden. Im Rahmen der Tagung sollte Studien Raum gegeben werden, die Prozesse detailliert beschreiben und erklären. (4) Nutzungs- und Wirkungsprozesse: Einzelne Rezeptionsprozesse sind in übergreifende Nutzungs- und Wirkungsprozesse eingebunden. Auch auf dieser Ebene spielt der Umgang mit Prozessdaten, die mitunter über sehr lange Zeiträume erhoben werden, eine wichtige Rolle. Insofern waren auch Fragestellungen, Konzeption und Ergebnisse von Längsschnittstudien ein Thema, das im Rahmen der Tagung aufgegriffen wurde. (5) Identifikation von Mustern: Ein bisher wenig thematisiertes Feld ist

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12 die Identifikation von Nutzungs- und Rezeptionsmustern und daraus potentiell ableitbaren Prognosen. Es galt, grundsätzlich nach möglichen Kategorien von Mustern, Regelmäßigkeiten oder gar Rhythmen zu fragen. (6) Methoden: Der Umgang mit über die Zeit erhobenen Daten erfordert besondere methodische Kenntnisse. Hier waren spezifisch zugeschnittene Untersuchungsdesigns, Erhebungs- und Auswertungsverfahren von Interesse. Vergleicht man diese im call for papers vorab eröffneten Kategorien mit dem letztlich entstandenen Tagungsprogramm, wird deutlich, dass einzelne Kategorien überhaupt nicht bedient, andere gleich in mehreren Beiträgen aufgegriffen wurden und wieder andere neu hinzu gekommen sind. Selbstverständlich kann man die entstandene Auswahl nicht als repräsentativen Querschnitt durch die aktuelle, zeitbezogene Forschung interpretieren. Trotzdem wollen wir im Folgenden die Differenzen zwischen vorab eröffneten und letztlich resultierenden Kategorien von Forschungsarbeiten, die den Aspekt Zeit in den Mittelpunkt stellen, näher betrachten: So ist zunächst auffällig, dass es kaum Einreichungen zum Thema Rezeptionsprozesse gab. Dieser Tatsache wurde im Rahmen der Tagung Rechnung getragen, indem im Anschluss an das Tagungsprogramm ein Workshop angeboten wurde, in dem Kolleg/inn/en, die in ihren Forschungsarbeiten Prozessdaten (mit sehr vielen Messzeitpunkten) erheben und auswerten, von ihren Erfahrungen berichteten und diese mit den Anwesenden diskutierten. Das Interesse an diesem Workshop war unerwartet groß. Man kam zu dem Schluss, dass eine Interessensgruppe gegründet werden soll, in der man sich zunächst bemühen wollte, Strukturen für einen regelmäßigen Austausch zu schaffen. (Inzwischen ist der erste Workshop der Gruppe Beobachtungsverfahren angekündigt.) Es stellt wohl keine Überinterpretation dar, wenn man darin ein Anzeichen für einen Bedarf an einer stärkeren Berücksichtigung dieses Forschungsansatzes sieht. Im Rahmen der Tagung wurden allerdings konzeptionelle Überlegungen zum Rezeptionsprozess diskutiert. Diese theoretische Perspektive ist auch mit Beiträgen in diesem Tagungsband vertreten. Auch zum fünften im call for papers eröffneten Thema Identifikation von Mustern gab es nur einen Beitrag, der diesem Thema direkt zugeordnet werden konnte und ebenfalls im Tagungsband vertreten ist. Zu unspezifisch ist noch der Begriff Muster. Wenn man freilich in jeder komplexeren Struktur, die häufiger in Erscheinung tritt, ein Muster sieht, hätte man weiteren Beiträgen attestieren können, dass sie sich mit Mustern auseinandersetzen. Schließlich wurden auch keine Beiträge zu spezifischen Auswertungsverfahren eingereicht. Man könnte mutmaßen, dass es sich hier um einen thematischen Überschneidungsbereich mit der Fachgruppe Methoden in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in der DGPuK handelt und entsprechende Beiträge auf einer Tagung dieser Fachgruppe besser angesiedelt wären. Die methodischen

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Vorwort der Herausgeber

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Beiträge setzen sich auch weniger mit besonderen Datenerhebungsverfahren auseinander als mehr mit der Frage, für welche Merkmale die Erhebung von (Reaktions-)Zeiten als Operationalisierung dienen kann. Dieser Aspekt der Anwendung von Zeit in der Kommunikationswissenschaft wurde erst durch die Einreichungen zur Tagung thematisiert. Letztlich entstand also ein höchst heterogenes und breit gefächertes Tagungsprogramm. Zum Teil konnte - wie oben bereits dargestellt - nur ein Beitrag den vorab definierten Themenbereichen zugeordnet werden. Für die Tagung wurden die Beiträge deshalb nach Möglichkeit zu thematischen Blöcken zusammengefasst, um dem Tagungsablauf eine Struktur zu verleihen. Wir haben uns für den vorliegenden Tagungsband in ähnlicher Weise für die folgende Gliederung entschieden: Zunächst werden konzeptionelle und systematisierende Überlegungen (Abschnitt I) vorgestellt. Unter Abschnitt II werden Beiträge, die sich mit Fragen der Mediennutzung unter einer zeitlichen Perspektive beschäftigen, aufgeführt. Im nächsten Schritt werden Beiträge zusammengestellt, die dynamische Medienwirkungen berichten (Abschnitt III). An das Ende des Tagungsbandes haben wir die methodischen Beiträge gestellt (Abschnitt IV). Selbstverständlich kann eine solche Unterteilung nicht trennscharf sein. D.h. dass in einem Beitrag, den die Herausgeber unter dem Abschnitt Methoden eingeordnet haben, durchaus auch Aspekte der Nutzung angesprochen werden können. Wir haben versucht, den für die Rezeptions- und Wirkungsforschung innovativsten Aspekt, der in einem Beitrag vorgestellt wird, zum Kriterium für die Einordnung zu machen. Um den Leserinnen und Lesern eine erste Orientierung über die Vielfalt der Thematisierung von zeitbezogenen Aspekten in der Rezeptions- und Wirkungsforschung, die in diesem Tagungsband versammelt sind, zu geben, werden im Folgenden alle Beiträge kurz vorgestellt Unter Abschnitt I: Konzeptionelle und systematisierende Überlegungen finden sich drei Beiträge: An erster Stelle steht der Beitrag Prozessbetrachtungen in der Kommunikationswissenschaft von Andreas Fahr und Hannah Früh. Die Autoren legen eine umfassende Diskussion zahlreicher Aspekte vor, die bei der Analyse von Prozessdaten eine Rolle spielen können, und erläutern ihre Überlegungen anhand von Beispielen aus der kommunikationswissenschaftlichen Theorienlandschaft. Der nachfolgende Beitrag Eine eingeschränkte Qual der Wahl – Pfadabhängigkeiten in der prozessorientierten Medienwahl. Ein theoretischer Ansatz von Leyla Dogruel und Sven Jöckel stellt eine neue theoretische Konzeptualisierung der prozessorientierten Medienwahl vor. Der Prozess der Medienwahl wird in zeitlich distinkte (Sub )Phasen differenziert und in Form von Pfadabhängigkeiten modelliert. Ein Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Reflektion der bislang in der Rezeptions- und Wirkungsforschung vernachlässigten Phase der Medienanschaffung und deren Restriktionen für die nachgeordneten Phasen

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14 der Medienwahl. Der Beitrag Vielschichtig verknüpft. Zum Zusammenhang von Gewohnheiten und Zeit bei der Fernsehnutzung von Thomas Koch liefert eine Systematisierung der Zusammenhänge zwischen habituellen Fernsehgewohnheiten und Nutzungszeiten und Nutzungsdauer. Der Autor betrachtet zwar einen in der Kommunikationswissenschaft seit langem bekannten Aspekt der Nutzung über die Zeit, die Systematisierung wirft jedoch ein neues Licht auf die komplexen Zusammenhänge. Auch unter Abschnitt II: Mediennutzung in zeitlicher Perspektive wurden drei Beiträge eingeordnet: Sascha Hölig, Hanna Domeyer und Uwe Hasebrink gehen in ihrem Beitrag Souveräne Bindungen: Zeitliche Bezüge in Medienrepertoires und Kommunikationsmodi auf die zeitliche Komponente der Nutzung mehrerer Medienangebote durch ein Individuum in einer individuell konstruierten Situation ein. Die Ergebnisse zweier qualitativer Studien beleuchten die Überlegungen insbesondere unter Bedingungen einer zeitversetzten Nutzung. Florian Hottner befasst sich in seinem Beitrag TV-Konsum in Abhängigkeit von Zeit und Raum – Eine Mehrebenenanalyse von zeitlichen und regionalen Determinanten der Fernsehnutzungsdauer mit dem Zusammenhang von Zeitbudget und Mediennutzung (insbesondere des Fernsehens). Im theoretischen Kontext des uses and gratification-Ansatzes modelliert er Fernsehnutzung als ein Resultat des Zeitbudgets der Rezipienten und des sozialen Kontextes im Rahmen einer Mehrebenenanalyse von Sekundärdaten. Er geht davon aus, dass das soziale Umfeld mit bestimmt, welche funktionalen Alternativen zur Fernsehnutzung zur Verfügung stehen, aus denen sich die Rezipienten im Rahmen ihres individuell gegebenen Zeitbudgets Angebote auswählen können. Claudia Wilhelm und Wolfgang Seufert untersuchen in ihrem Beitrag Mediennutzung und Zeitverfügbarkeit den Einfluss des frei verfügbaren Zeitbudgets auf die Nutzung verschiedener Medien(-gattungen). Sie legen für ihre Überlegungen u.a. die mikroökonomische Konsumtheorie zugrunde und überprüfen ihre Annahmen mit einem Strukturgleichungsmodell, das auf Zeitbudget- und Mediennutzungsdaten der Langzeitstudie Massenkommunikation 2005 basiert. Unter Abschnitt III: Dynamische Medienwirkungen wurden vier Beiträge eingeordnet: Christian Schemer beschreibt in seinem Beitrag Selbstverstärkende Medienwirkungs- und -selektionsspiralen. Der wechselseitige Einfluss der Aufmerksamkeit für politische Werbung und der Erregung negativer Emotionen in politischen Kampagnen das Verhältnis von Medienwirkung und Medienzuwendung als ein dynamisches Wechselspiel in Form von »reinforcing spirals« (Slater 2007). Er greift dabei auf empirische Daten der Zuwendung zu einer politischen Kampagne in der Schweiz und dem dadurch induzierten negativem Affekt zurück. Auch Thilo von Pape und Vincent Meyer gehen der Dynamik des Wechselspiels von Medienwirkung und Medienzuwendung nach. Anders als Christian Schemer

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Vorwort der Herausgeber

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wählen sie für ihren Beitrag Emotionen, die hochkochen? Zum Einfluss von Rezeptionsemotionen auf die Härte von Strafeinstellungen einen anderen zeitlichen Fokus und untersuchen innerhalb einzelner Rezeptionsepisoden am Beispiel eines Fernsehbeitrags über Kindesmisshandlung den Zusammenhang zwischen den dabei entstehenden Emotionen und der Einstellung zu diesem Thema. Ebenfalls eine dynamische Perspektive auf Medienwirkungen nimmt der Beitrag Risikoverhalten Jugendlicher im Internet: Eine Längsschnittstudie zum kausalen Zusammenhang von Wahrnehmungen und Verhalten von Susanne Baumgartner, Patti Valkenburg und Jochen Peter ein. Ziel dieser Studie war es, die wechselseitigen Einflüsse von riskantem sexuellem Internetverhalten Jugendlicher und den Wahrnehmungen solchen Verhaltens zu untersuchen. Im Zuge eines Paneldesigns wurden über 1000 niederländische Jugendliche im Abstand von einem halben Jahr zweimal befragt. Die Kausalitäten zwischen Wahrnehmungen und Risikoverhalten wurden auch hier mit Hilfe eines Strukturgleichungsmodells überprüft. Der den Abschnitt III abschließende Beitrag Wie »langlebig« sind Framing-Effekte? von Sophie Lecheler und Claes de Vreese diskutiert die Dynamik und die vermeintliche Dauer von Framing-Effekten. Die Autoren skizzieren ein Bild der bestehenden Resultate zur Dauer von Framing-Effekten und stellen anschließend in Frage, inwieweit diese Effekte tatsächlich mithilfe experimenteller Designs, die zurzeit in der Framing-Forschung noch überwiegen, getestet werden können. Der Beitrag nimmt somit eine theoretische und modellierende Perspektive auf dynamische Medienwirkungen ein und stellt aufgrund seiner methodischen Überlegungen gleichermaßen einen Übergang zum nachfolgenden Abschnitt der methodischen Herausforderungen her. Unter Abschnitt IV: Methodische Herausforderungen finden sich fünf Beiträge: Anke Wonneberger, Klaus Schönbach und Lex van Meurs stellen in ihrem Beitrag Der Mehrwert von Sequenzanalysen für die Mediennutzungsforschung: Eine Beispielanalyse zur Nutzung politischer Fernsehinhalte eine bisher in der Kommunikationswissenschaft kaum genutzte Methode zur Bestimmung von Sequenzen vor. Gemeint sind Abfolgen (erst x, dann y, dann wieder x usw.), die als festes Muster wiederholt auftreten. Eine interessante Frage greifen Janina Grunow, Justine Niemczyk, Astrid Carolus, Dagmar Unz und Frank Schwab in ihrem Beitrag Zeitverschwendung? Oder machen uns die Medien mit der Zeit immer schlauer? auf. Es geht um einen möglichen Trainingseffekt im Umgang mit den zunehmend formal komplexen Medienangeboten. Die Autoren kombinieren eine Inhaltsanalyse mit einer Rezeptionsstudie. Im Rahmen der Inhaltsanalyse werden Fernsehserienangebote älteren und neueren Datums verglichen. Im Rahmen der Rezeptionsstudie wird ein so genanntes »dual task paradigm« eingesetzt, das bisher in der Kommunikationswissenschaft kaum zur Anwendung gekommen ist. Annie Waldherr und Marko Bachl stellen in ihrem Beitrag Simu-

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16 lation gesellschaftlicher Medienwirkungsprozesse am Beispiel der Schweigespirale eine Alternative zu aufwändigen und komplexen empirischen Datenerhebungen vor, wie sie für die adäquate Prüfung dynamischer Rezeptions- und Wirkungstheorien erforderlich sind. Am Beispiel der Schweigespirale demonstrieren sie den fruchtbaren Einsatz von Simulationen. Das Autorenteam um Frank M. Schneider befasst sich mit einem methodischen Problem, welches beim Einsatz rezeptionsbegleitender Response-Messung auftritt. In ihrem Beitrag Die Übungssequenz macht den Meister…? Eine experimentelle Studie zu Kontext-Effekten von Übungsstimuli bei Real-Time-Response-Messungen untersuchen sie den Effekt, den die notwendigen Übungssequenzen für die eigentliche Messung haben und unterbreiten Lösungsvorschläge für dabei auftretende Probleme. Flavia Bleuel diskutiert in ihrem Beitrag Zeit ist relativ – Zur Bedeutung und Messung von Betrachtungszeiten in der Rezeptions- und Wirkungsforschung schließlich, was der Indikator »Betrachtungszeit« über kognitive und affektive Aspekte der Rezeption aussagen kann. Auf der Grundlage von Theorien der Informationsverarbeitung leitet sie Einsatzmöglichkeiten dieses Indikators ab und diskutiert methodische Implikationen. Wir hoffen, dass dieser Tagungsband einen ersten Schritt zur Systematisierung aller Facetten dynamischen Denkens und Forschens in der Rezeptions- und Wirkungsforschung leisten kann. Gleichzeitig steht aber außer Frage, dass die Berücksichtigung von Dynamik in der Kommunikationswissenschaft weiterhin betont und eingefordert werden muss. Wir sind nach der intensiven Arbeit an diesem Tagungsband überzeugt, dass die Berücksichtigung von Zeit in den unterschiedlichen Forschungsarbeiten zu hochinteressanten und überzeugenden Ergebnissen führen kann. Abschließend möchten wir uns bei der Universität der Künste Berlin bedanken, die durch die Gewährung eines Publikationskostenzuschusses die Finanzierung dieses Tagungsbandes ermöglicht hat.

Monika Suckfüll, Holger Schramm, Carsten Wünsch Literatur Beck, Klaus (1994): Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein. Opladen: Westdeutscher Verlag. Früh, Werner / Schönbach, Klaus (1982): Der dynamisch-transaktionale Ansatz. Ein neues Paradigma der Medienwirkungen. Publizistik, 17(1 — 2), 74 — 88. Früh, Werner / Schönbach, Klaus (2005): Der dynamisch transaktionale Ansatz III: Eine Zwischenbilanz. Publizistik, 50(1), 4 — 20. Hömberg, Walter / Schmolke, Michael (Hrsg.) (1992): Zeit, Raum, Kommunikation. München: Ölschläger.

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McQuail, Denis (2000): Medienwirkungen als Thema der kommunikationswissenschaftlichen Forschung: Versuch einer Evaluation unter besonderer Berücksichtigung der Variable Zeit. In: Schorr, Angela (Hrsg.): Publikums- und Wirkungsforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 31 — 43. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. München: Ölschläger. Slater, Michael D. (2007): Reinforcing spirals: The mutual influences of media selectivity and media effects and their impact on individual behavior and social identity. In: Communication Theory, 17(2), S. 281 — 303. Wünsch, Carsten / Früh, Werner / Gehrau, Volker (Hrsg.) (2008): Integrative Modelle in der Rezeptions- und Wirkungsforschung: Dynamische und transaktionale Perspektiven. München: Fischer.

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