PSYCHO-NEWS-LET TER NR. 86

P S YC H O - N E W S - L E T T E R N R . 8 6 Ein kleiner Literaturrundflug Im Auftrag des Vorstands der DGPT Verfasst von Michael B. Buchholz Email: ...
Author: Dorothea Reuter
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P S YC H O - N E W S - L E T T E R N R . 8 6 Ein kleiner Literaturrundflug

Im Auftrag des Vorstands der DGPT Verfasst von Michael B. Buchholz Email: [email protected] Mitte August 2011

PSYCHOANALYTISCHE WELTEN

W

VERBINDEN

er das Buch von Paul E. Stepansky (2009) zur Hand nimmt, ist sogleich mit einer Diagnose konfrontiert, die dieser Autor im Titel mitteilt: „Psychoanalysis at the margins“ – die Psychoanalyse befindet sich am Rande. Natürlich niemals in ihrer Selbstwahrnehmung oder in der ihrer prominenten Vertreter; nein, da ist die Psychoanalyse selbstverständlich Zentrum der Weltdeutung. Aber aus einer anderen Perspektive sieht’s anders aus. Stepansky ist von Hause aus nicht Psychoanalytiker, sondern in Harvard ausgebildeterer Historiker und Sozialwissenschaftler. Er hat über etwa zwei Jahrzehnte „The Analytic Press“ geleitet, jenen Verlag, aus dem einige großartige Bücher hervorgegangen sind. Stepansky hat sie alle selbst

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gelesen, hat sie wegen ihrer besonderen Qualitäten ins Programm des Verlages aufgenommen und hatte aufgrund ihrer hohen Qualität erwartet, dass er bald hohe Absatz- und Verkaufszahlen würde registrieren können. Erst verblüfft, dann mehr und mehr irritiert musste er feststellen, dass der projektierte ökonomische Erfolg sich nicht einstellen wollte. Von vielen Büchern wurden nicht mehr als etwa sechs- bis siebenhundert Stück verkauft – und das in einem Land wie Amerika, das doch viel mehr Leser hat als die Bundesrepublik. Sollte das alles auf die allgemeine Lese-Unlust, auf das Überhandnahmen elektronischer Medien, auf die absinkenden Bildungsqualitäten zurück zu führen sein? Stepansky hatte eine für ihn nicht ganz nebensächliche Frage zu klären, davon hing ja immerhin sein einflussreicher Job ab. Er fing an zu recherchieren. Dabei stellt er fest, dass wenige Jahre zuvor mit psychoanalytischen Büchern noch ganz andere Verkaufszahlen zu erzielen gewesen waren. Die Bücher von Erich Fromm oder Karen Horney, aber auch die von Karl Menninger hatten hundertfach höhere Erlöse erzielt, waren also manchmal bis zu 600.000 Stück oder noch mehr verkauft worden – und das nicht innerhalb einiger Jahre, sondern in wenigen Wochen nach ihrem ersten Erscheinen! Wie konnte ein solcher Wandel eingetreten sein? Denn an der Qualität konnte es nicht liegen. Im Gegenteil! Die älteren Bücher waren teils in dem Sinne „schlechter“, als sie die Sicherheit eines Wissens vortäuschten, die aus einem ungetrübten Sendungsbewusstsein stammt; die jüngeren Titel waren in dem Sinne besser, als sie viel nüchterner, viel gründlicher gearbeitet waren, ja auch wissenschaftlicher. Wie konnte man diese Diskrepanz erklären? Stepanskys Antwort ist, dass es mit der real existierenden Psychoanalyse zu tun haben muss. Was er über diese herausfindet und in seinem Buch mitteilt, lohnt die Lektüre. Denn er bietet eine scharfe Diagnose zur Lage der Psychoanalyse in der amerikanischen Welt, die nur dem Grade, nicht der Substanz nach von der deutschen bzw. europäischen Lage verschieden sein dürfte. Die Psychoanalyse, so der Hauptbefund, hat sich in allzu viele und in zu verschiedenartige Zentren und lokale Gruppierungen fragmentiert. Wer in New York lebt, erfährt vielleicht nicht eine andere Psychoanalyse, aber doch andere psychoanalytische Diskussionen und er hört und vernimmt von anderen als zentral angesehenen Autoren der Psychoanalyse als einer, der in Chicago oder San Francisco lebt. In New York zitiert man v.a. New Yorker Autoren, in anderen Zentren kaum anders. Aber in jedem dieser Zentren meint man, das Zentrum der Psychoanalyse zu repräsentieren, von dem die anderen jeweils nur Abweichungen darstellen. Deshalb werden die Autoren der anderen Zentren nicht zitiert oder wenn doch, dann mit der Geste der Herablassung - um sie geistreich zu widerlegen. Ein jeder hat die Bretter vor dem Kopf, die ihm die Welt bedeuten.

…UND

SIE

BEWEGT SICH

So murmelte der Legende nach einst Galilei, als er mit lauten Worten dem Inquisitionstribunal Gefolgschaft schwur, wonach die Erde das von Gott geschaffene Zentrum sei, um welches alle anderen Gestirne sich bewegten. Aber mit leiser Stimme soll er eben diesen berühmten Satz gesagt haben – dass die Erde sich eben doch bewegt. Nämlich um die Sonne. Die Inquisitionsrichter hatten sich zuvor geweigert, durch seine Fernrohre zu blicken und darauf verwiesen, es stünde doch alles in den Büchern des Aristoteles. Nun, etwas Ähnliches habe ich kürzlich mit einem bekannten Schweizer Psychoanalytiker erlebt. Der meinte im Gespräch, so

DOCH!

einen Fall wie die von Thomä und Kächele umfangreich und detailliert beschriebene Fallgeschichte der Amalie X. – das werde er niemals lesen! Mit der Untersuchung von gesprochenen Worten bekäme man doch nie etwas heraus. Als ich ihn darauf verwies, dann verhalte er sich doch ähnlich vorurteilsbeladen wie einst jene, die sich weigerten, durch Mikroskope und Fernrohre zu blicken, gefiel ihm dieser Vergleich weniger gut, aber ein paar Zuhörer mussten doch schmunzeln. Dies Vorurteil ist leider weit verbreitet; meist vertreten es diejenigen laut, die selbst keine Erfahrung mit der genauen Analyse von Gesprächen haben. Man stelle

PNL-86 sich nur einmal vor, in anderen Wissenschaften hätte man sich geweigert, durch Mikroskop oder Fernrohr zu schauen! Das ist eine Sorte von Erfahrung, die Stepansky nun auch berichtet. Und die er zutiefst bedauert. In ihr erkennt er eine Hauptquelle jener Uneinigkeiten, die die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit diskreditiert habe. Sein Vergleich mit den Herzchirurgen, die manche kniffligen Fragen an den „Fakten“ entscheiden konnten, überzeugt mich freilich nicht ganz. Aber der Punkt ist extrem wichtig. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich im Behandlungszimmer die Aggressivität eines Patienten auf dessen autochthonen Aggressions- oder Todestrieb zurückführe oder aber als Reaktion auf etwas, das ich gesagt oder getan habe. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich den Ödipuskomplex im ersten Lebenshalbjahr beginnen lasse oder erst im vierten oder fünften. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich die Liebesenttäuschung an den Eltern als ödipal notwendige „Kastration“ auffasse oder als mangelnde Hilfe bei deren Sublimierung. Ob ich Symbolbildungsprozesse beginnen lasse durch „halluzinatorische Wunscherfüllung“ bei abwesendem Objekt oder ob ich für die Symbolbildung eine bestimmte stille, aber aufmerksame Präsenz verfügbarer Anderer für notwendig erachte. Ob ich von Persönlichkeitsstörungen spreche oder von habitualisierten Charakterneurosen. Ob ich Neurosenlehre an Fallgeschichten begreife oder an den Schemata eines formalisierten Diagnosesystems wie OPD oder auch ICD. Ob ich Psychoanalyse als eine Art medizin-ähnliche Medikation verstehe oder aber eher als philosophisch inspirierte Lebenskunstlehre, als „weltliche Seelsorge“ in Freuds Formulierung. Ob ich Sexualität oder Bindung, Anerkennungsbedürfnis oder Triebbefriedigung, Sinn- und Wahrheitssuche sowie Spiritualität, Rechtfertigungsmotive und Gerechtigkeitsverlangen, den Beziehungswunsch oder die aggressive Selbstbehauptung als primäre Motivation ansetze. Ob ich so…, oder so… so könnte man unendlich weit fortsetzen und sich das ganze schwer überschaubare gewordene Spektrum der Psychoanalyse aufblättern.

3 Stepansky tut das in höchst kenntnisreicher Weise und es tut gelegentlich weh, das so krass vor Augen geführt zu bekommen. In jedem Zentrum ist etwas anderes zentral. Aber, diese Frage stellt sich auch ein: Was war die Einheit der Psychoanalyse, bevor sie so zerbrochen ist? Gab es die jemals? Können wir uns zurück sehnen nach jenen Zeiten (wenn es sie denn je gab)? Klare Antwort: wir können nicht. Es gab sie nicht, Freud war, einem Bonmot zufolge, sowenig ein Freudianer wie Marx Marxist. Die multiperspektivische Denkweise erst entfernt jene Bretter, von denen ich oben gesprochen habe und die medizinische Auffassung der Psychoanalyse ist auch nur eine von vielen anderen möglichen Perspektiven. Stepansky beschreibt auch eindrücklich und im Detail jene Vorgänge, die zur Entmachtung der Psychoanalyse geführt haben, zum Verlust von Chefpositionen in Kliniken oder dem Verlust von einst erfolgreich durch Psychoanalytiker geführten Lehrstühlen. Da ist die amerikanische Welt nicht viel anders, nur irgendwie größer als die bundesdeutsche Realität. Was an seinem Buch bemerkenswert ist, ist die Wendung des Titels an dessen Ende. Psychoanalyse am Rande, also nicht am Ende. An diesem Rande, so ermutigt Stepansky, haben schon manch andere auch Überlebenskünste erfunden und Stepansky rät, davon sich ein bisschen abzugucken. Selbst solche Praktiken wie die Homöopathie haben es, am Rande, geschafft, dass sich hin und wieder ein Arzt interessiert dorthin bewegt. Proportional etwa in dem Umfang, wie derzeit die schmalen Zahlen der neuen Ausbildungskandidaten tröpfeln. Anregungen zu bunten Diskussionsforen, eigenwillige Antworten auf bewegende Fragen, tiefe Einblicke ins sonst nur oberflächlich Behandelte, attraktive Verbindungen zu anderen am Rand Überlebenden, durchaus auch wundersame Heilungen oder aber tiefere Vernetzungen von Themen mit Durchblick auf bislang nur Geahntes – das alles möglichst breitenwirksam anzubieten sind Überlebenspraktiken, die zu den von Stepansky aufgeführten gehören. Und dann, so stellt man fast ein bisschen perplex fest, befinden

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wir uns also schon in dieser Welt? Ja? Nein? Sind wir schon „am Rande“? Immerhin lassen sich „vom Rande“ einige höchst beachtliche Dinge hier mitteilen, die mit großem Fleiß und noch größerer Ken-

LANDEN

IN

nerschaft zusammen gestellt sind und das Zeug haben, manche Zentrumsgrenzen zu überwinden.

LONDON –

DIE

ERSTEN

E IN E R FABE L HAF TE N

Ich weiß, es gibt auch in deutschen psychoanalytischen Familienbanden die Fraktion der Londonfahrer, die von anderen wie Pilger des Mittelalters angesehen werden. Andere schwören auf die französische Lehre und auch aus Italien kommen sehr interessante Impulse. Verhalten wir uns also nicht mittelalterlich, indem wir Glaubenskriege im Namen der einzigen und wahren Wahrheit anzetteln. Eine solche Friedfertigkeit wird uns im englischen Fall seit einigen Jahren leichter gemacht, weil wichtige Beiträge aus dem International Journal of Psychoanalysis zunächst durch die Initiative von Gabriele Junkers auf Deutsch übersetzt und in drei handlichen Bänden der „edition diskord“ thematisch gebündelt wurden. Diese Initiative hat Angela Maus-Hanke fortgesetzt – bislang ebenfalls drei Bände, nun im Psychosozial-Verlag. Wer etwas genauer wissen möchte, was da in den letzten Jahren in jenem ominösen London geschrieben und gedacht wird, dem möchte ich empfehlen, diese – insgesamt 6 - Bände in die Hand zu nehmen. Sie sind fast immer vorzüglich übersetzt, sorgfältig ediert und fassen Beiträge zu klinisch relevanten Themen auf eine Weise zusammen, so dass man zu sehen beginnt: so einheitlich ist selbst dieses „London“ gar nicht. Aber, einer guten britischen Tradition folgend, sehr gesprächig, sehr diskursiv, sehr argumentativ, intellektuell mit britischem understatement und klinisch zugleich feinfühlig. Man merkt sogleich: zum Gefühl und der Gegenübertragung muss das Denken dazu kommen, wenn man ein guter Kliniker sein möchte. Kein Wunder in einer so von Bion beeinflussten Welt. Das Erfreuliche ist, ganz nebenbei auch, dass man auch hierzulande nicht bei den „Controversial Discussions“ der vierziger Jahre hängen zu bleiben braucht, auch wenn die Beiträge öfter mal eine solche Wurzel erkennen lassen.

REIHE

3 BÄNDE

Endlich kommt man über die Kontroversen der analytischen Großelterngeneration mal Tatsächlich sind die Probleme des Perversionskonzepts noch weit komplexer. Ein Blick in das von Claudia Frank, Ludger M. Hermanns, und Elfriede Löchel herausgegebene „Jahrbuch der Psychoanalyse“ (Band 60, 2010) macht das klar. „Eine auch nur annähernd einheitliche und konsensfähige inhaltliche Definition von Perversion gibt es nicht“, stellt Friedemann Pfäfflin in seinem Beitrag einleitend fest und gibt dann einen souveränen Überblick. Der macht sehr deutlich, dass durchaus differenzierte Konzeptualisierungen gelungen waren, dass aber mit Einführung der ICD-10 wohl wieder „die alte moralische Verurteilung“ auferstand. Psychoanalytische Konzeptionen wie die von Reimut Reiche bleiben hingegen klinisch genau. Reiche hatte 5 Kriterien genannt: die Besetzung unbelebter Objekte (Fetisch), die perverse Szene, das Kriterium des Orgasmus, die süchtige Unaufschiebbarkeit und das Kriterium der „Perversion-in-der-Perversion“, was die Beobachtung meint, dass sich hinter jeder perversen Ausgestaltung eine weitere verbirgt. Reiche illustriert das am Beispiel eines als „Hybrid-Nazi“ bezeichneten Patienten. Diese Falldarstellung ist ungewöhnlich, beginnt mitten in der 74. Stunde mit dem Einschlafen des Patienten, der mit einem Traum erwacht – keine leichte klinische Situation, die Reiche gekonnt beschreibt. Man erfährt von diesem Patienten dennoch irgendwie wenig, dass er sich auf Parkplätzen seine Partner sucht, mit denen er ein bestimmtes Nazi-Ritual ausübt. Davon erfährt man dann, wie er die Nazi-Identität simuliert und darin also die perverse Puppe-in-der Puppe steckt; dass alles gerät auf eine Weise in die Übertragung, die ein hohes Maß an Können verlangt. Was Reiche am Schluß über die „Faszination der Gewalt“ schreibt, bedarf eigener Lektüre. Weitere Beiträge von Bernd Nissen, Heinz Weiß und Udo Hock zeigen, wie das perverse Moment selbst in die argumentative Rede vordringt oder halten Erinnerungen an den perversen Vater aus einer Behandlung bereit. Die Auseinandersetzung um das, was als pervers gilt, hat wichtige neue Anregungen bekommen. Eine verbindliche, nicht-moralische Definition steht aus.

PNL-86 hinaus! Ein erster Band (2006) gruppiert sich um „Verkehrte Liebe“. Ruth Stein aus New York eröffnet mit dem klinisch so wichtigen Hinweis auf den „perversen Pakt“, der am Beispiel eines Paares dargestellt wird (S. 35). Alice erträgt die beruflichen Erfolge ihres Freundes Dan kaum, sie fühlt sich von ihm auch sexuell benutzt, damit er sich an ihr erregen kann, weil er in seiner Arbeit vorankommen und sich entspannen möchte. Sie möchte ihn bestrafen und treibt das soweit, dass er seine Erregung nicht anders als durch Masturbation abführen kann. Er revanchiert sich, indem er sie anruft, in einen intellektuellen Diskurs verwickelt – und sie muss realisieren, dass er dabei sich selbst befriedigt. „Es war nicht Liebe, sondern Haß: der ‚perverse Pakt‘, eine Beziehung zwischen zwei Komplizen, eine wechselseitige Übereinkunft, gewebt aus komplexen, verwickelten Beziehungen und erregten Spielen, eingebettet in vielschichtige Abstufungen von Bewußtheit und Vergessen. Diese Übereinkunft, ob bewußt, vorbewußt oder unbewußt, diente beiden und wechselseitig dazu, den Blick des Komplizen von den katastrophalen biographischen Ereignissen, die beide erlitten hatten (Dans Mutter hatte ihn zutiefst verraten), abzuwenden oder diese zu verdecken.“ (S. 36)

In der Perversion, so hält die Autorin fest, vertauschen sich Lüge und Wahrheit kaum aufhebbar und dieser Irr-Sinn webt sich auch in die therapeutische Beziehung ein. Auch hier kann es lange Phasen der Lüge geben und deshalb schließt sogleich ein Beitrag von Alessandra Lemma über „Die vielen Gesichter des Lügens“ an. Ein voran gestelltes Epigramm von Montaigne macht klar, dass die Lüge mehr als nur ein Gesicht hat; sonst müsste man von der Lüge ja nur ein Gegenteil annehmen und hätte schon die Wahrheit in der Hand. Aber die Lüge hat „hunderttausend Gesichter“ (Montaigne). Die Autorin unterscheidet ein sadistisches Lügen von einem selbsterhaltenden Lügen und auch sie folgert konsequent auf die analytische Beziehung: „Auf der Suche nach der ‚Wahrheit‘ sollten wir an die Möglichkeit denken, daß unsere Patienten uns anlügen, und daß sie das häu-

5 figer tun, als wir es möglicherweise wahrhaben oder wissen können. Ihre Gründe mögen sich aus der Situation ergeben, aber dennoch sind sie von nicht geringer Bedeutung. Sie spiegeln Charakterzüge wider, die in Verbindung mit spezifischen Selbstobjektkonfigurationen stehen, die in der Persönlichkeit wurzeln.“

Das Problem besteht darin, dass in solchen Konfigurationen in der Gegenübertragung das „zwingende Gefühl“ entsteht, „das zu glauben, was die Lüge des Patienten vorschreibt“. (S. 75). Eine Schlußfolgerung allerdings vermag ich nicht als allein mögliche anzusehen, nämlich wenn die Autorin schreibt: „Eine Lüge ist immer eine indirekte Form emotionaler Kommunikation über die Innenwelt“. (S. 75)

Wieso immer über die Innenwelt? Sind Lügen nicht gerade in Bezug auf die Außenwelt mindestens ebenso thematisch? Wo von Lügen die Rede ist, muss es eine dringlich gesuchte Wahrheit geben – ob man tatsächlich geschlagen, weg gegeben, vernachlässigt wurde? Ob die eigenen intriganten Manipulationen zur Trennung der Schwester von ihrem Mann geführt haben? Oder vielmehr die eigene Aufrichtigkeit einen Schaden, den man schwer bereut, angerichtet haben könnte? Die Eingrenzung dieses Satzes auf die Innenwelt stellt ein Problem dar; wir haben es in der analytischen Praxis nicht nur mit Innenwelten zu tun. Bemerkenswert, dass in diesem ersten Band dann ein Abschnitt mit drei Beiträgen über das französische Konzept der „Nachträglichkeit“ folgt, London also nach Paris blickt und die Feinheiten der Übersetzungsthematik hier en detail diskutiert werden. Diesem Abschnitt folgt ein weiterer, betitelt mit „Wessen Bion?“ und es sind englische, italienische und südamerikanische Autorinnen und Autoren, die diese Frage zu beantworten suchen. Jeder nach seiner Lesart – ein Bion allein ist nicht zu haben. James Grotstein beschreibt eine „projektive Transidentifizierung“, worin er, der in einem anderen Buch (s.u.) sehr berührend über seine Analyseerfahrungen bei Bion geschrieben hatte, das Konzept der projektiven Identifizierung zu erweitern sucht. Bion habe das Ein-Personen-Konzept von Melanie Klein zu einer

PNL-86 intersubjektiven Version (S. 160) erweitert; Grotstein bespricht die Unterschiede genau und hebt dabei vor allem auf die bewussten und/oder vorbewussten „Modi der sensomotorischen Induktion und/oder Evozierung oder Techniken seitens des projizierenden Subjekts“ (S. 171 f.) ab, und darauf nun richtet sich die „altero-zentrierte Partizipation“ des Analytikers (hier zitiert Grotstein den Säuglingsforscher Daniel Stern), nämlich die Fähigkeit, selbst zu erleben, was ein anderer erlebt. Die Induktion durch Gestik und Stimme kommt in den Blick: „Wenn meine Ausführungen zutreffen, unterscheidet sich die durch Stimmlage und Gestik vermittelte Mitteilung, die ich mit einer hypnoseähnlichen Induktion, Evozierung, Provokation, Anregung und Auslösung in Verbindung bringe, signifikant von der eigentlichen Identifizierung, ist aber ein Bestandteil des Vorgangs der projektiven Transidentifizierung und könnte ein weiterer kommunikativer Faktor … sein.“ (S. 176)

Die Folgerung für die Theoriebildung ist sehr aufschlussreich: „Was die Mutter oder der Analytiker/die Analytikerin containen, sind demzufolge nicht wirklich die Projektionen des Säuglings oder des Analysanden, sondern eher die emotionalen Ergebnisse des entsprechenden unbewußten Heranziehens ihrer eigenen Erfahrungen, anhand derer sie die kindliche Erfahrung rekonstruieren, der ihre Resonanz entspricht“. (S. 177)

Hier kann man also durchaus ins Nachdenken kommen, ob manche gleichsam direkt ins Unbewusste vorstoßenden Auffassungen von den eigenen Gegenübertragungsreaktionen hier nicht stillschweigend korrigiert werden. Nicht immer ist das Gegenübertragungsgefühl direktes Abbild des Projizierten; vielmehr regt die Projektion Eigenes des Analytikers an! Aber an diesem Eigenen kann man etwas ablesen, in Analogie zu dem Gesuchten oder Vermuteten. Ein zweiter Band, 2007 ebenfalls bei edition diskord erschienen, nimmt sich wiederum eines höchst relevanten klinischen Themas an: „Schweigen“. Da beginnt ein 23jähriger Patient, so gibt ihn Carmen C. Mion wieder, das Erstinterview mit folgenden Worten:

6 „Ich bin ein komischer Typ. Ich muss herausfinden, wer ich bin. Ich mache nichts. Es gibt nichts, das mir wichtig ist. Bevor ich ganz aufgebe, muss ich wissen, ob das Problem an der Welt um mich herum liegt oder an mir, ob ich derjenige bin, der merkwürdig ist.“ (S. 43)

In der Tat, ein bemerkenswerter Auftakt, an dem man noch bei der Lektüre zu spüren meint, wie fremd sich da jemand ist. Das also ist ein Schweigen, das überhaupt erst einmal als solches erkannt sein will; denn es äußert sich im lärmenden Sprechen. In einem entfremdeten Sprechen, weil da ein Selbst sich noch nicht gefunden hat. Die Behandlung zeigt: ein Selbst, das ohne Resonanz durch signifikante Andere bleiben musste. Und unmittelbar blättert man nach einer beeindruckten Lektüre zum Text von Elsa Ronningstam, die das Schweigen in seiner kulturellen Bedeutung analysiert und sogleich wiederum ein Epigramm dem eigenen Text voranstellt: „Es ist die Stille, der Du zuhören solltest / die Stille hinter den Apostrophierungen, den Anspielungen / die Stille in dem, was die Leute so reden…“ (S. 121)

Schweigen gibt es in der Höflichkeit, wie die Autorin an der Betrachtung verschiedener Filme aus unterschiedlichen Herkunftsländern verdeutlicht, es gibt ein graues und ein suchendes, ein leidenschaftliches und ein nachdenkliches Schweigen und weiter das bedrohliche und das schwarze Schweigen „in dem es um eine endgültige Ablehnung, Selbstdestruktivität und Tod geht“ (S. 124). Freilich – schon auf dem ersten psychoanalytischen Symposium zu diesem Thema im Jahr 1958 wurde entdeckt, dass das Schweigen immer auch eine kommunikative Funktion hat und als solches einen eigenen, paradoxalen Wert in der Entwicklung einer Persönlichkeit. Wir sehen dann am Beispiel einer interkulturellen Analyse mit einer Patientin namens Susan wie verschieden das aufgefasst wird und begreifen dennoch den allgemeineren Zusammenhang: dass das Reden auf dem Schweigen aufruht so wie das Leben zeitweilig über den Tod triumphiert; aber ein Leben, dass diesen Möglichkeitsraum aufgeben müsste, könnte sich selbst nur im Schweigen verlieren, selbst wenn es noch so gesprächig daher käme. Das ist in der Tat eine kulturelle, eine

PNL-86 kulturkritische und eine zeitdiagnostische Dimension des Schweigens, die man lesend im Hinterkopf mit den Wirrnissen von ADHS, medialen Übererregtheiten und der Überfülle der kommunikativen Welt unwillkürlich in Verbindung bringt. Ein dritter Band, schon redigiert von Angela Maus-Hanke, 2008 erschienen, bringt Beiträge aus dem Intern. Journal, die einen „Vorstoß ins Sprachlose“ wagen. Michael Parsons entwickelt eine Idee zum „Zuhören jenseits der Gegenübertragung“: „Seit den fünfziger Jahren hat sich die Vorstellung entwickelt, dass Gegenübertragung sich auch dann entfaltet, wenn Teile des psychischen Erlebens des Patienten dem Analytiker unbewusst übermittelt werden. Wird sich der Analytiker dessen bewusst, so kann ihm dies helfen, die analytische Interaktion zu verstehen. Achtet der Analytiker aber ständig darauf, dass seine eigenen Reaktionen die Analyse nicht behindern, oder versucht er andauernd zu erfassen, ob seine Gefühle vom Patienten stammen, so kann dies zu einem selbst kontrollierenden In-Sich-Hinein-Hören führen, das auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, anstatt dem zuzuhören, was gerade zu hören ist…In diesem Fall gehen Analytiker mit sich selbst so um, wie sie es dem Patienten gegenüber gerade vermeiden wollen. Andererseits können Analytiker aber auch zu einem InSich-Hinein-Hören finden, das auf natürliche Weise den eigenen inneren Prozessen gegenüber gleichschwebend ist. Dann hört ein Analytiker sich selbst mit analytischer Haltung zu. Diese Art des Zuhörens, das ohne Ziel ist und sich offen und verletzbar allem aussetzt, was im Analytiker auftaucht, braucht das Containment einer besonderen Art von innerem Raum.“ (S. 69)

Klinisch hat man sofort eine Ahnung, wovon Parsons hier spricht. Theoretisch freilich stecken einige Schwierigkeiten in solchen Wendung wie „auf natürliche Weise“ – was ist das genau, möchte man wissen? Oder aber auch, wie man sich vorstellen kann, dass da einer sich selbst mit analytischer Haltung zuhört – wenn doch eben dies Zuhören „mit analytischer Haltung“ erst einmal beschrieben werden soll. Hier hat man das nicht so seltene Phänomen einer „Puppe in der Puppe“. Man beschreibt das analytische Zuhören eben durch die Methode des natür-

7 lichen „analytischen Zuhörens“. Trotz dieser Einwände spricht einen da etwas an. Parsons nennt es das „innere Setting“. Wie entwickelt man sich – durchaus nach Abschluß der Weiterbildung – zum Psychoanalytiker? „Das innere analytische Setting ist eine psychische Arena, in der Konzepte wie Symbolismus, Phantasie, Übertragung und unbewusste Bedeutung definieren, was Realität ist. Natürlich wirkt all dies immer in Geist und Psyche (mind). Die spezifische Bedeutung des inneren Settings liegt darin, dass diese Konzepte hier die Realität bedeuten. Wie das äußere Setting eine räumliche und zeitliche Arena festlegt und schützt, in der Patient und Analytiker die analytische Arbeit durchführen können, so definiert und schützt das innere Setting eine Arena in der Psyche des Analytikers, in der alles, was passiert, auch im äußeren Setting, aus einer analytischen Perspektive betrachtet werden kann. Das äußere Setting kann von außen verletzt werden, wenn zum Beispiel die Bauarbeiter nebenan zu hämmern beginnen oder wenn jemand versehentlich das Zimmer betritt; oder von innen, wenn der Patient auf bestimmte Weise agiert oder der Analytiker eine Störung verursacht. Wenn aber das innere Setting des Analytikers unversehrt bleibt, so können Verletzungen des äußeren Settings in Bezug auf deren analytische Bedeutung betrachtet und in die Analyse einbezogen werden.“ (S. 72)

Ich habe mich bei der Lektüre dieses Aufsatzes an einen älteren Text des Sohnes von Wilhelm Fliess, nämlich von Robert Fliess erinnert gefühlt. Robert war Psychoanalytiker geworden und hatte 1942 einen klugen Beitrag geschrieben über „The Metapsychology of the Analyst“. Darin beschreibt er genau die Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung des „inneren Settings“, wie Parsons sagen würde, die uns allen während des Praxisalltags ständig Probleme machen und die wir so selten thematisieren. Beide Texte, den von Parsons wie den von Robert Fliess, kann man wunderbar nebeneinander lesen. Denn über die Art und Weise unseres Arbeitens in der alltäglichen Praxis gibt es insgesamt wenig; viel immer über Patienten. Der Text von Robert Fliess ist über PEP zugänglich.

PNL-86 In diesem Band folgen, wie auch in den vorangegangenen Bänden, Beiträge, die jeweils nicht zu den großen Themen gehören, die den Band immer einleiten. Hier möchte ich auf einen Beitrag von Rachel B. Blass und Zvi Carmeli aufmerksam machen, die in einem gemeinsamen Text ein „Plädoyer gegen die Neuropsychoanalyse“ halten. Die Autoren beobachten, wie andere auch, dass der „Ton“, in welchem die Ehe mit den Neurowissenschaften geschlossen werden soll, „manchmal prophetisch“ sei (S. 121) – aber sie sehen vor allem die Gefahr einer „neuen, biologistischen Sichtweise bezüglich des Charakters der Psychoanalyse“ (S. 122). Das ist nicht von der Hand zu weisen. Denn es geht nicht nur um den Charakter der Psychoanalyse, sondern auch, ob wir „Störungen“ als biologisch determiniert auffassen wollen – dann würden daraus nämlich sehr schnell „Behinderungen“ und das wäre wohl wirklich fatal, wenn wir unsere Patientinnen und Patienten als „Behinderte“ wahrzunehmen lernten. Psychoanalyse habe es, wie sie mit Nachdruck betonen, mit Bedeutungen zu tun und zu dieser Dimension des Menschlichen haben die Neurowissenschaften „nicht wesentlich beitragen können“ (S. 124). Die beiden Autoren diskutieren vier Gebiete neurowissenschaftlicher Forschung mit Einfluss auf die Psychoanalyse: Trauma und Gedächtnis: Die behauptete „Unabrufbarkeit mancher Erinnerungen“ wird neurobiologisch begründet – und dann kann man darauf verzichten, dem Patienten nahezubringen, dass zu erinnern sich lohne. Das ist für die Behandlungssituation ein wichtiger Punkt. Zudem gibt es einen logischen Fehler: „Die Frage, ob Traumata explizit, implizit oder gar nicht erinnert werden, kann Gegenstand einer empirischen Forschung sein, aber solch eine Studie gehört nicht in besonderer Weise zum Gebiet der Neurowissenschaften. Eine adäquate Antwort auf diese Frage erforderte die Untersuchung der Häufigkeit von Erinnerungen in einer Gruppe von Individuen, die bekannterweise ein Trauma erlitten haben.“ ( S. 127)

Das ist sicher ein wichtiger Einwand. Man kann sehen, dass der Bezug zu einer äußeren Realität auch in dieser Frage von Gewicht ist

8 – man müsste diese Frage an Menschen studieren, die „bekannterweise“ ein Trauma erlitten haben: Was wird erinnert? Von allen oder nur von wenigen? Sonst nämlich würde man in eine sehr merkwürdige Schleife einlaufen, wenn man etwas untersucht, von dem niemand weiß, ob es vorgefallen ist, weil es ja niemand erinnert. Ein wenig weiter fügen die Autoren mit Bezug auf die Borderline-Pathologie noch an: „…dass die Erforschung neuronaler Korrelate unser Verständnis von bereits auf psychologischer Ebene erkannten Phänomenen nicht vertiefen und uns nicht über psychologische Phänomene sinnvoll aufklären kann, die nicht als solche erkannt sind“ (S. 129)

Umgekehrt wird es richtig: erst muss man psychologisch feststellen, was erinnert wird und was nicht und dann kann man die neurowissenschaftlichen Momente daran erforschen. Motivation und Affekt: Die neurowissenschaftliche Forschung hat eine Reihe von Motivationen wie Hunger, Durst, Sicherheit, Hingabe und ein allgemeines Suchsystem als motivational relevant ermittelt. Aber ist das für die Psychoanalyse relevant? Es ist doch „augenscheinlich, dass Menschen viele verschiedene Motivationen haben“ (S. 133) wird ernüchternd eingewandt. Tatsächlich sind diese Momente seit Jahrhunderten keineswegs unbekannt, aber es wird so getan, als könnten erst die Neurowissenschaften deren „grundlegende Struktur“ enthüllen (S. 134). Wer sich an Musik erfreut oder an der Schönheit eines mathematischen Beweises – braucht man zur Erklärung solcher Affekte ein eigenes motivationales Zentrum? Solche Zweifel werden hier bezüglich des Anspruchs der Neurowissenschaften für die Psychoanalyse aufgeworfen.

PNL-86 Traumtheorie: Behauptet wird, dass beim Träumen höhere Motivationszentren nicht beteiligt seien und das widerspricht der psychoanalytischen Traumtheorie, also könne diese Theorie nicht stimmen. Aber, so wenden die Autoren ein, hat die Psychoanalyse denn je behauptet, dass alle Träume aus einer solchen niederen Motivationsquelle stammen? Nein, sie behauptet vielmehr, dass Träume eine Bedeutung haben. Freud hielt bekanntermaßen die somatischen Traumquellen für die weniger relevanten und kannte v.a. die vorbewussten und die unbewussten Traumquellen. Wer den Sinn des Traums betont, muss die Rolle des Wunsches nicht verneinen. Das Traummuster der Psychoanalyse, der Traum von Irmas Injektion, ist gespeist durch Freuds Wunsch, sich zu rehabilitieren vor dem möglichen Vorwurf, einen ärztlichen Kunstfehler begangen zu haben. Über solche, für die Psychoanalyse zentralen Sinnmomente geben neurowissenschaftliche Befunde keinerlei Auskunft. Die Theorien des Mentalen: Auch hier ist der Hauptkritikpunkt, dass die psychoanalytischen Theorien nicht richtig dargestellt

9 werden. Neurowissenschaften und Psychoanalyse verfolgen nicht unbedingt die gleiche Aufgabe, die Arbeitsweise des Geistes zu verstehen. Die Psychoanalyse beschäftige sich nicht mit Grundlagen von Wahrnehmungspsychologie, dem Denken oder dem Spracherwerb. Hier die Stellungnahme der Autoren: „Die klinischen Konzepte, für welche diese Modelle als relevant angesehen werden, scheinen in einer solchen Weise beschnitten und vereinfacht zu werden, dass Raum für einen neurowissenschaftlichen Beitrag geschaffen wird. Um das Beispiel der Übertragung wieder aufzunehmen: man geriete in Bedrängnis, wollte man einen Analytiker finden, der nicht der Ansicht wäre, dass sowohl innere als auch äußere Einflüsse den Charakter der Übertragung gestalten. Freud war sich sicherlich beider Arten von Einflüssen bewusst (wie aus seinen Fallstudien und technischen Schriften deutlich wird). Die psychoanalytische Kontroverse bezüglich der Übertragung dreht sich nicht um die Frage, ob es äußere Einflüsse auf die Beziehung des Patienten zum Analytiker gibt oder nicht gibt, sondern eher, ob solche

Die Frage nach der Erinnerbarkeit des Traumas, insbesondere in den nächsten Generationen, wird auch von anderen sehr aufmerksam beachtet. Hier ragen psychoanalytische Überlegungen „über den Rand“ in andere Fächer. Ein Historiker, Egon Flaig, stellt in der Zeitschrift „Merkur“, August 2011, Heft 747, die Frage: „Warum gibt es kein historisches Trauma?“ und fordert, einen „Nonsense-Begriff“ zu verabschieden. Das ist zunächst irritierend, aber dann wird klar, es geht nicht um Verharmlosung des Schreckens, sondern um sorgfältige Begriffsdispositionen. Er argumentiert genau, dass die Rede vom Trauma ein Ereignis voraussetzt. Aber weder Ereignis noch Erfahrung kann weitergegeben werden – aus dem einfachen Grund, weil Erfahrungen generell nicht weiter gegeben werden können. Da hat er wohl Recht. Was wird weitergegeben? Jedenfalls nicht „das Trauma“. Sorgfältig analysiert er ei nige der psychoanalytischen Veröffentlichungen zu diesem Thema und stellt fest, dass in keiner der Fallgeschichten auch nur irgendein spezifisches Symptom beschrieben wurde, was in der Tat ein ernstes Manko wäre! Dass Kinder an der Verschlossenheit, Gebrochenheit oder Unzugänglichkeit ihrer Eltern leiden, stellt er einfühlsam keineswegs in Abrede, aber er fordert, genau in der Begrifflichkeit zu sein und zu sehen, dass die Kinder der zweiten bzw. dritten Generation sich Phantasien ausmalen, was ihren Eltern bzw. Großeltern widerfahren sein könnte. Und dann, so ist seine rasante Schlußfolgerung, entsteht die paradoxe Situation, dass manchmal etwas „erinnert“ werden könne, was gar nicht geschehen ist. Doch, das gibt es! Ein Beispiel. Der Holländer Geert Mak reist durch Europa, um der Geschichte des 20. Jahrhunderts hautnah auf die Spur zu kommen; sein Buch „In Europa“ ist allererste Sahne. Ein Gespräch mit einem Freund in Brüssel ergibt, wie einsam dieser aufwuchs und sich in Vorstandkinos herumtrieb, die ihm die Familie ersetzten – so war das in den 60er Jahren für viele. Und dieser Freund sagt dann: „Manchmal glaube ich, dass ich bestimmte Momente aus der Geschichte selbst erlebt habe, obwohl ich sie nur im Kino gesehen haben kann. Ich kenne auch den umgekehrten Fall, dann erinnere ich mich an Filmszenen, die es nicht gibt, die ich selbst zusammenphantasiert habe“ (Mak, S. 691). Wie Traumata „erinnert“ werden, ob in der Erinnerungsgemeinschaft dann Ansprüche fundiert werden, ist natürlich eine Frage von nicht geringer kulturpolitischer Bedeutung – der sich die Psychoanalyse in der Wahl ihrer theoretischen Begrifflichkeiten stellen muss. Der Beitrag von Flaig ist hier sehr scharfsinnig. Man sollte ihn nicht ignorieren!

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Einflüsse den Fokus der Aufmerksamkeit in einer Analyse bilden sollten, oder ob der Fokus primär auf den inneren unbewussten Determinanten liegen sollte …Die Frage ist, welche Formen von Aufmerksamkeit und Intervention dem analytischen Prozess am besten dienen. Zu dieser Frage haben die Neurowissenschaften nichts zu sagen.“ (S. 142)

„Mit anderen Worten, lässt man die Frage nach der Relevanz für die Psychoanalyse an sich beiseite, bleibt die Frage, ob es für das Verständnis kognitiver Prozesse notwendig ist, sich den Neurowissenschaften zuzuwenden. Was gebraucht wird, sind gute Theorien des Mentalen (mind), nicht unbedingt gute neurowissenschaftliche Theorien des Mentalen“ (S. 143)

Diese Argumentation wirkt zunächst wie eine Verschiebung. Verneint wird die Relevanz der Neurowissenschaften für den analytischen Prozess, aber die Frage war doch eine andere, nämlich die nach Spracherwerb, Denken, Wahrnehmung – oder? Dem Eindruck, dass hier etwas vermuddelt argumentiert wird, helfen die Autoren aber ab, indem sie vollkommen richtig (siehe meinen PNL-85) später darauf verweisen, dass innerhalb der Neurowissenschaften selbst umstritten ist, ob man für eine gute psychologische Theorie von Denken, Wahrnehmung oder Spracherwerb überhaupt neurowissenschaftliche Befunde benötige.

Kurz, nach Auffassung dieser Autoren werden die Neurowissenschaften bezüglich ihrer Relevanz für die Psychoanalyse überschätzt. Dieser Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, wird doch deren ausgreifende Geste auf benachbarte wissenschaftliche Gelände, etwa die Jurisprudenz, die Philosophie oder die Geschichtswissenschaften auch dort mittlerweile mit größter Skepsis gesehen. Es waren die 90er Jahre, die vom amerikanischen Kongress als Jahrzehnt dieser Wissenschaftsstimmung ausgerufen wurden. Diese Jahre sind, vielleicht, vorbei. Den hier vorgetragenen Argumenten wird man sich kaum entziehen können, sie sind lesenswert.

UND

ERHEBLICHE ERWEITERUNGEN „GROSSE ERWARTUNGEN“ – BAND 4-6

Das bekannte Buch von Charles Dickens kommt mir in den Sinn, der Titel „Große Erwartungen“ klingt an, wenn man die Bände 4-6 dieser Serie, jetzt aus dem Psychosozial-Verlag, in die Hand nimmt. Sie werden, wie schon gesagt, von Angela Maus-Hanke (2009-2011) herausgegeben. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt einen sofort erkennen, dass hier erhebliche thematische Erweiterungen anvisiert werden. Das schon angesprochene Buch von James Grotstein über Bion „A Beam of Intense Darkness“ wird in einem ausführlichen Buchessay von Antonino Ferro besprochen, es gibt einen Beitrag über den „Körper in der analytischen Sitzung“ oder über den Analytiker als „ausgeschlossenen Beobachter“ – und schon ist man als Kliniker angesprochen. Denn diese Titel sind, mit Christopher Bollas so etwas wie „evokative Objekte“; sie rufen sofort Erinnerungspotentiale an analytische Sitzungen auf. Wie es aber so geht, kann man solche Texte kaum besprechen, ohne die jeweiligen illustrativen Fallgeschichten mit zuneh-

men – und dabei verkürzen sich bereits notwendigerweise verkürzte Darstellungen noch einmal. Ich empfehle unverdrossen die Selbstlektüre und wende mich jenen Aufsätzen in diesen Bänden zu, die neue Thematisierungen anbieten. Lawrence S. Spurling etwa fragt: „Gibt es in der Psychoanalyse noch einen Platz für das Konzept der ‚therapeutischen Regression‘?“ Dieser Autor bekennt zunächst seine tiefe Ratlosigkeit hinsichtlich des Konzepts der Regression. Was eigentlich ist damit gemeint? Bollas etwa denkt an jene Phasen im analytischen Prozess, wo man seinem Patienten vermittelt, es sei nicht unbedingt erforderlich, dass er ständig von sich berichte oder sich gedanklich exploriere, sondern eher das Brachliegenlassen sich gewähren könne. Diese Idee ist von Balint inspiriert, der die Grundstörung in Zuständen solcher benigner Regression ausheilen lassen wollte. Und zwar unter Verzicht auf therapeutische Intervention. Aber:

PNL-86 „Das Problem war, dass meine Patienten einfach nicht so regredierten, wie es in der Literatur beschrieben wurde“ (S. 114)

ruft Spurling, beinah etwas verzweifelt, aus. Liegt es am Mangel eigener Erfahrung, an fehlendem Zutrauen, fragt er sich? „Aber auch zunehmende klinische Erfahrung und Selbstverstrauen, besonders durch die Arbeit mit schwerer gestörten Patienten in intensiveren und längeren Behandlungen … brachten nicht die erwartete Einsicht in das bis dahin unerkannte Bedürfnis der Patienten, in eine Regression zu fallen. Im Gegenteil bestätigte sich lediglich, dass die Idee, meine Patienten durchliefen eine therapeutische Regression, für mich anscheinend obsolet geworden war.“ (S. 115)

Die erneute Wendung in die Literatur erbringt dem Autor eine weitere Entdeckung: Jetzt konnte er sie in der Literatur nicht mehr erkennen. „Entweder das beschriebene Phänomen – der Patient kommt mit körperlichen oder präsymbolischen Erfahrungen oder Gefühlen in Berührung, der Patient empfindet ein Bedürfnis nach Schweigen als dem Vorläufer von Denken oder Fühlen usw. – unterschied sich für mich nicht sonderlich von den normalen Dingen, die Patienten in der Behandlung tun, und schien den Gebrauch eines speziellen Begriffs nicht zu rechtfertigen. Oder der Autor beschrieb eine Verbindung zu seinem Patienten, die intensiver war als die sonst in einer Therapie oder Analyse auftretenden starken Übertragungsgefühle und behauptete damit, dem Patienten eine andere Ebene der Erfahrung zu eröffnen, die ihm nur zugänglich ist, weil er das Glück hat, mit einem Analytiker zu arbeiten, der an den Wert der therapeutischen Regression glaubt.“ (S. 115).

Der stark von Winnicott beeinflusste Autor liest erneut die Literatur, auch Winnicott. Er findet, dass Regression in drei Bedeutungen verwendet wird: a) Als Evokation des Primitiven, b) als Forderung nach Verzicht auf Intervention, c) als Phase in einer Behandlung, die durch den Verzicht auf die analytische Standardtechnik gefördert werden soll. In einer Diskussion einiger Fälle von Hanna Segal, die auch bereits von anderen Autoren diskutiert wurden, erkennt er, dass sie – die relativ aktiv die Denkverweigerung bzw. den

11 „Hass auf das Denken“ ihres Patienten deutete -, nicht etwa „falsch“ intervenierte, „sondern dass die Prämissen ihres klinischen Denkens sie daran hinderten, den regredierten Zustand ihres Patienten zu erkennen, und daher (unbeabsichtigt) eine Verletzung dessen darstellten, was Winnicott den Prozess des Patienten nannte, der ‚bei jedem Patienten ein eigenes Tempo und einen eigenen Verlauf‘ hat … So betrachtet ist es manchmal das oberste Ziel der Analyse, den Prozess des Patienten vor Übergriffen zu schützen, besonders wenn der Patient in eine schwere Regression gerät.“ (S. 121)

Hängt also die Idee der therapeutischen Regression, von der die Autoren ja annehmen, dass manche Patienten sie „brauchen“, eher damit zusammen, welche Prämissen des klinischen Denkens der Therapeut oder die Therapeutin selbst hat? Immerhin würde eine solche Annahme ja dann plausibel machen, dass manche Patienten „das Glück“ hatten, von dem Spurling oben sprach – mitentscheidend ist offensichtlich, was der Analytiker denkt über das, was da in der Sitzung geschieht und das wiederum steuert, wie er die Dinge auffasst und was er sagt oder ob er schweigt. Spurling beschreibt genau die Fähigkeit Winnicotts, sich detailliert an die Bedürfnisse seiner Patienten anzupassen und er denkt an die „Katastrophen“, wenn diese Anpassung einmal versagt, weil der Analytiker erleichtert (im Geist, nicht in der Realität) „sozusagen in Urlaub“ geht, wenn es dem Patienten besser zu gehen beginnt. Aber Spurling fragt mit großer Berechtigung, ob solche Anpassung an den Patienten nicht geradezu eine „Erwartungs- und Anspruchshaltung beim Patienten“ wecke, „die die unumgängliche Enttäuschung um so bitterer und gehässiger macht.“ (S. 127)

Man merkt den großen klinischen Ernst, der hier zum Tragen kommt, denn solche Erfahrungen bilden den klinischen Hintergrund dieser Diskussion. Die Annahme des Analytikers, er habe beinah die Totalverantwortung für seinen Patienten wird besonders bedrohlich, wenn eine Suiziddrohung im Raume steht – und gerade hier wird es entscheidend, als was der Analytiker das Geschehen auffasst: als schwere Regression? Oder als Phase der Niedergeschlagenheit, ei-

PNL-86 ner Kränkung, als manische Flucht oder enttäusche Omnipotenz. Spurling stellt nämlich in seiner Diskussion der Winnicott’schen Fallbeispiele nüchtern fest, dass Winnicott kein Wort darüber verliert, was er eigentlich meint, was bei seiner Patientin los war – er hatte einfach zufällig ein paar Dinge im Behandlungszimmer, genauer auf seinem Schreibtisch, umgestellt und das Wüten der Patientin daraufhin, die das sofort registrierte, galt ihm als „Katastrophe“. Aber wieso eigentlich? Und gibt sich ein Analytiker mit einem solchen Konzept vielleicht allzu sehr in die Gefahr der Erpressbarkeiten? Oder macht stillschweigend Versprechungen der Bedürfnisbefriedung, des Nachheilens oder des besseren Objekts? Versprechungen, die er nicht halten kann und die der Patient dann als letztlich vielleicht sogar sado-masochistisches Arrangement verstehen könnte? Der Autor jedenfalls entschließt sich, auf das Konzept der Regression zu verzichten: „zu bedeutungsleer, um brauchbar zu sein“. Aber er anerkennt, dass manche Konzepte dennoch ihren Wert behalten, solange sie das Denken von Klinikern erweitern können. Nun, dieser Schluss ist nach meinem Geschmack nun doch etwas zu versöhnlich, denn seine Kritik ist wohl formuliert, deutlich und prägnant und hat das Potential, manches ins Wanken zu bringen, dem wir unsere Bereitschaft zu glauben dargebracht haben. An dieser Stelle lohnt es sich, zur Frage nach der Spaltung einen weiteren aktuellen Text zu Rate zu ziehen. Siegfried Zepf hat zwei neue Bände über „Psychoanalyse“ (2011) erscheinen lassen. Im zweiten Band stellt er die Frage, „Brauchen wir das Konzept der Spaltung?“ (S. 223) und argumentiert von einer klassischen Position aus. Auch er zitiert Paul Pruyser, gleichsam als Kronzeugen dafür, das „Spaltung“ ein „star word“ in der Psychoanalyse und in Kernbergs Konzeption zentral wurde. An Kernberg kritisiert Zepf, dass dessen „heterogenes Bündel begrifflicher Bestimmungen des Ichs nicht mehr erkennen lässt, wer spaltet und was gespalten wird“ (S. 229) und weiter den fehlenden Bezug zwischen Spaltung und Symptomatik. Die Frage, ob Spaltung eine Folge oder eine Ursache ist, ist ein kniffliges und kein nebensächliches Thema.

12 Robert D. Hinshelwood schließt mit einem Beitrag an, der „Verdrängung und Spaltung“ einer vergleichenden Konzeptbetrachtung unterziehen will. Solche Vergleiche gehören ebenso zur Wissenschaft wie die Durchführung empirischer Untersuchungen, sie werden viel zu selten gemacht. „Kontroversen sind der Ausgangspunkt der Entwicklung“, so wird Bion von Hinshelwood gleich zweimal, gewissermaßen sicherheitshalber zitiert. Denn die Frage, ob Spaltung oder Verdrängung im Zentrum stehen, hat mit zu den historischen Kontroversen beigetragen. Hoffen wir also, dass sie wirklich zur Entwicklung beitragen; manchmal können einem ja Zweifel kommen, da diese alten Kontroversen immer noch flackern und das ungelöschte Potential zur Entzündung von alten Flammen haben. An solchen Entzündungen erkrankt manches. „Historisch betrachtet tendierten die Vertreter der klassischen Psychoanalyse dazu, sich mehr auf den Begriff der ‚Verdrängung‘ zu beziehen, wenn es um das Verständnis psychischer Abwehrmechanismen ging, während Kleinianer eher den Begriff ‚Spaltung‘ anwandten“ (S. 144)

Das ist das Hinweisschild auf das alte Minenfeld, das noch nicht ganz abgeräumt ist. Hinshelwood nimmt sich vor, die Begriffe zunächst semantisch und dann am klinischen Material zu klären. Zur Verdrängung bei Freud erinnert er daran, wie geradezu einfach und phänomenologisch genau Freud von Verdrängung als „Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten“ sprach; erkennbar sei die Verdrängung, wie die Analyse der Fehlleistungen immer erneut zeigt, am Auftauchen von Ersatzvorstellungen. Dann aber schreibt Hinshelwood: „Klein übernahm Freuds Auffassung, dass die Ersatzvorstellung die Grundlage der Verdrängung ist, verstand sie aber darüber hinaus als Grundlage der Sublimierung und der Symbolbildung…“ (S. 146)

Schon ist man in der Küche des Teufels gelandet. Denn an diesem kleinen Satz stimmt gar nichts. Hier lese ich das englische Original deshalb nach, es lautet so: „Klein accepted Freud’s view of substitution, as the basis for repression, but extended it as the basis of sublimation and sym-

PNL-86 bol-formation“ (Int. J. Psychoanal., June 2008, S. 506)

Man sieht, es ist richtig übersetzt, aber der Inhalt ist fragwürdig. Im Englischen ist die Rede von Freuds Auffassung von den Ersatzvorstellung „as the basis for repression“ – und das eben war nicht Freuds Auffassung! Die Ersatzvorstellung waren nicht „basis“, waren nicht „Grundlage“ der Verdrängung, sondern deren – Folge! Die zeitliche Reihenfolge ist genau anders herum. Das ist kein geringfügiger Unterschied! Klein konnte also nicht „übernehmen“, weil Freud die Ersatzvorstellung ja gerade nicht als „Grundlage“, sondern als Folge der Verdrängung beschrieb! Hier ist die Hinshelwoods semantische Analyse nicht genau genug, die Differenz zwischen Freud und Klein wird – in diesem Satz jedenfalls – überspielt. Wer von beiden die Dinge richtig sah, ist damit ja noch überhaupt nicht angesprochen. Aber es geht um ganz unterschiedliche Konzepte. Ähnliche Schwierigkeiten empfinde ich bei der Darstellung der Verleugnung, die sich zunächst gegen die äußere Realität gerichtet habe. Freuds Analyse des Fetischismus zeigte dann in der klassischen Auffassung, dass die Verleugnung sich gegen eine ganz bestimmte Realität richte, nämlich gegen den „Penismangel der Frau“ (S. 148). Die „IchSpaltung im Abwehrvorgang“, wie Freud seinen späten Text betitelte, verhindere gerade eine Integration, die Hinshelwood so beschreibt: „Zunehmende Reife bedeutet allerdings, die Realität schließlich doch zu akzeptieren, aber die Verdrängung ist bereits geschehen, und das Wissen um die Kastration wird unbewusst.“

Halt – möchte man ausrufen: Welches „Wissen“? Eine Frau ist doch gar nicht kastriert! Dass sie „kastriert“ sei, ist doch eine unbewusste Phantasie (weshalb man die Formel von der „Kastration der Frau“ beständig in Anführungszeichen schreiben muss). Hier müsste also dringend ein „Wissen“ von einer „Phantasie“ unterschieden werden. Die Nivellierung dieses Unterschieds hat nun weitreichende Folgen. Es geht dann so weiter: „Allerdings führt die verdrängte Akzeptanz dieses Wissens beim Fetischisten nicht zur

13 Aufhebung der Verleugnung. Wegen einer ‚Schwäche‘ des Ichs, dem die normale Integration fehlt, bestehen diese Abwehrprozesse nebeneinander fort. Mit dieser Art der Spaltung wird die normale Realitätswahrnehmung aufrechterhalten, die in einem anderen Ich-Anteil mit aller Kraft geleugnet wird. Dies lässt vermuten, dass es zunächst zur Verleugnung (Verneinung) der Realität des weiblichen Mangels kommt und das Ich sich erst danach spaltet, damit es zu einer reiferen Entwicklung der Verdrängung kommen kann, ohne die Verleugnung aufgeben zu müssen“ (S. 148)

Man sieht, das Weglassen der Anführungszeichen hat nicht geringe Folgen. Da ist erneut die Rede von der „Realität des weiblichen Mangels“ – aber in welchem Sinne, in wessen Sinn ist das „Realität“? Der Fetischist hält mit einem Teil an der unbewussten Phantasie fest, während er sich mit einem anderen Teil seines Ich an die „normale Realitätswahrnehmung“ anpasst. Die knifflige Frage ist, ob man in solcher Spaltung einen unbewussten Abwehrvorgang annehmen muss? Ist „Spaltung“ dann eigentlich ein aktiver Abwehrmechanismus oder ist Spaltung nicht vielmehr die Folge von diesen Vorgängen? Obwohl Hinshelwood an dieser Stelle die Spaltung klar als eine Folge, also als einen Zustand des Ichs infolge von Verleugnung und Verdrängung beschreibt, nennt er kurz darauf die Spaltung als einen aktiven Abwehrmechanismus, der zu den beiden anderen hinzukomme und spricht von einer „komplexen Organisation von drei Abwehrformen: Verdrängung, Verleugnung und Spaltung“ (S. 149) Da wird, leider, in Hinshelwoods semantischer Analyse manches überhaupt nicht klar. Er zitiert andere Autoren wie Pruyser, die forderten, auf den Begriff der Spaltung überhaupt zu verzichten, eben weil daran überhaupt nichts klar sei: Spaltung werde im Sinne Freuds ebenso verwendet wie als Klein’sche „Vernichtung“, aber auch als Analogon der Verdrängung und schließlich auch als gewöhnlicher Konflikt. Resignation klingt aus Hinshelwoods Satz: „Das Durcheinander so so groß, dass Pruyser recht haben könnte“ (S. 153). Resignieren freilich will der Autor nicht.

PNL-86 Seine klinische Analyse nun ringt mit ähnlichen Schwierigkeiten. Schon der Anspruch, dass nur aus der Erinnerung des Analytikers stammendes klinisches Material „bei der Beantwortung dieser Fragen eine entscheidende Rolle spielen und nicht nur zur Veranschaulichung dienen kann“, ist besonders hoch gehängt und muss zwangsläufig in große Schwierigkeiten einmünden, wenn es um einen selbst behandelten Fall geht. Ich rate einmal, sorgfältig zu lesen und sich dann die Frage vorzulegen, ob eine Patientin, die davon spricht, bestimmte Gedanken und Erfahrungen „klein gehackt“ zu haben und sie durch den „Schredder“ laufen zu lassen, nicht einen sehr bewusstseinsfähigen Akt beschreibt? Wieweit kann man von einem unbewussten Abwehrmanöver sprechen, wenn die Patientin in der Stunde so luzide diesen Vorgang beschreibt und das zumal in Reaktion auf manche therapeutische Äußerungen? Handelt es sich nicht auch um eine Redeweise, die für heutige Patienten geläufig ist, man kann solche Wendung in Songs hören, in Talkshows und ich habe die Wendung vom „Schredder“ auch schon ein paarmal vernommen. Als moderne Metapher für – ja für was? Für Verdrängung oder eben für Spaltung? Nein, für einen bewussten Vorgang des sich nicht Beschäftigen-Wollens mit unangenehmen Dingen. Durch Kleinarbeiten. Dass dieser Vorgang selbst wiederum unbewusste Hintergründe hat, darf man annehmen. Aber kann man vom „Schredder“ direkt auf Spaltung schließen??? Hinshelwood deutet diesen Vorgang freilich sehr viel tiefer und kennt seine Patientin natürlich, dennoch bleibt seine Folgerung, man könne an solchem Material „valide zwischen der Verdrängung eines Inhalts und dem Verlust einer Ich-Funktion unterscheiden“ (S. 161) nicht überzeugend. Aber darin besteht auch nicht Wert oder Unwert eines solchen Beitrags. Sondern in der hoffentlich lebhaften Reaktion darauf. Denn Kontroversen sind der Ausgangspunkt der Entwicklung. So ist es und das kann nicht ausbleiben. David Tuckett und Richard Taffler präsentieren ihre ausgefeilte psychoanalytische Sicht auf die Turbulenzen der Finanzmärkte. Ausgangspunkt ihres Versuchs, das klinische

14 Wissen der Psychoanalyse zur Erklärung hier einzubringen ist die enorme Unsicherheit und Vieldeutigkeit, unter der die Akteure entscheiden. Das mobilisiert geradezu zwangsläufig erhebliche Phantasiebeziehungen zu den Finanzprodukten, deren Abstraktheit gleichsam auf dingliche Konkretion herunter gedrückt werden muss, um damit überhaupt hantieren zu können. Wahn und Sinn muss auch hier nebeneinander produziert werden – und manchmal kaum unterscheidbar. Die mit Akteuren geführten Interviews zeigen deutlich, dass die Unsicherheit sich nicht nur auf sachliche Entscheidungen erstreckt, sondern v.a. darauf, dass nie sicher ist, ob Gewinne eigentlich der Selbstwirksamkeit eines Akteurs, etwa eines Fondsmanagers, zugerechnet werden können oder eher zufällig eingetreten sind – und Verlust dann natürlich ebenso. Der amerikanische Großinvestor Warren Buffett hat es einmal so ausgedrückt, dass man im Fall von Investition von „keiner Korrelation zwischen Aktivität und Erfolg ausgehen“ könne (FAZ vom 4. Juli 2011). Diese Akteure sind in einem psychologischen Sinn waghalsige Agenten, die sich gewissermaßen oft genug brüsten müssen mit Erfolgen, von denen sie selbst am ehesten wissen, wie wenig davon tatsächlich ihrem eigenen Einflussnehmen zugerechnet werden kann. Denn es gibt „kaum Belege dafür, dass ein Fondsmanager oder ein beliebiger anderer Investor die Marktperformance systematisch und dauerhaft übertreffen kann, es sei denn, er hätte einfach Glück…Wenn Manager überleben, dann vielleicht nur, weil sie überdurchschnittliche Risiken eingehen und Glück haben; die anderen, die ebenso viel riskieren und weniger Glück haben, verlieren ihren Job. Unter diesen Bedingungen wird Abspalten belohnt.“ (S. 258)

Spaltung wäre hier also nicht ein früher Abwehrmechanismus, sondern eine aktualisierte Tendenz zur Überlebens- und Illusionssicherung. Auch dies zeigt noch einmal einen weiteren Bedeutungsgebrauch des Spaltungsbegriffs. Wie sehr sich die Psychoanalyse in einzelnen Ländern ihren weit diversifizierten Traditionen überlässt, kann auch der Beitrag von Evelyne Sechaud zeigen, der von der

PNL-86 Handhabung der Übertragung in der französischen Psychoanalyse berichtet. Sie beginnt mit der Feststellung, dass die französische Psychoanalyse selbst „heute außerordentlich vielgestaltig“ sei. Natürlich kommt diese Autorin auf Lacan zu sprechen, natürlich aber auch auf die ursprüngliche Auffassung Freuds von der Übertragung als einer Mesalliance. Die unbewusste Vorstellung nämlich, so wird Freud zitiert, sei überhaupt unfähig, ins Vorbewusste zu gelange und kann dort nur eine Wirkung erzielen, indem sie sich mit einer dem Vorbewussten bereits angehörigen Vorstellung liiert und sich „durch sie decken lässt“. Diese Kursivierung ist bereits in Freuds Original (hier S. 179). Die Übertragung kommt also mit solchen Worten, die „Mesalliance“ deutet es ja an, durchaus aufs Wiener Parkett. Michel Neyraut hatte das in seiner unübertroffenen Studie von 1976 deutlich gemacht. Die behandlungstechnische Kniffligkeit entsteht nun daraus, dass die Übertragung zu hundert Prozent wirkt; das bedeutet, sie kann nicht einfach durch eine Deutung aufgelöst werden. Die Autorin zitiert Pontalis: „Die Übertragung disqualifiziert eine Deutung als solche, indem sie sie als Suggestion, als Geschenk, als Ablehnung, als Angriff oder als Gegenangriff qualifiziert.“ (hier S. 185)

Die Übertragung, so Pontalis weiter, könne deshalb nicht Gegenstand einer Deutung sein! Das ist ein gewaltiger Kontrapunkt zu dem, was die meisten hierzulande denken. Ich löse den Knoten hier nicht, weil ich ja möchte, dass diese Texte gelesen werden; Frankreich ist immer einen Krimi wert, denn just so spannend kann klinische Debatte sein. Auch wenn der Band des Jahres 2009 noch weitere reiche Beiträge enthält, springe ich doch jetzt in den des Jahres 2010, weil hier ein Beitrag von Deborah Anna Luepnitz in gelungener Übersetzung erschienen ist, der vom „Denken im Raum zwischen Winnicott und Lacan“ handelt. Diese beiden prominenten Analytiker haben sich gegenseitig mit persönlichem Respekt behandelt, aber ihre Anhänger haben sich geweigert zu lesen – den je anderen. Das ist das, was Stepansky auch für das Verhängnis der amerikanischen

15 Psychoanalyse angesehen hat. Es bildeten sich so lokale Gruppierungen, die untereinander nur oberflächlichen Kontakt halten und es sich erschweren, die konzeptuellen Auffassungen der je anderen wirklich tief zu verstehen. Die Folge ist, dass es nur sehr wenige Analytiker gibt, die mit den Besonderheiten von mehr als einer psychoanalytischen Auffassung gründlich vertraut sind. Luepnitz möchte zeigen, wie interessant demgegenüber die wechselseitige vertiefte Zurkenntnisnahme werden kann. Sie diskutiert Lacans Spiegelstadium im Vergleich mit den Auffassungen Winnicotts, untersucht, warum der eine vom „Selbst“, der andere vom „Subjekt“ spricht, nimmt die Texte in den Blick, wo unterschiedliche Zielvorstellungen thematisch werden, bietet ein eigenes Fallfragment zur Diskussion unter beiden entwickelten Perspektiven an und schlägt schließlich vor, die Leere im Raum zwischen den Beiden durch Lehre zu ersetzen. Das ist reich an Einfällen, reich an Kenntnis beider Autoren und der jeweiligen regionalen Besonderheiten. Erika Krejci trägt in großer Gelassenheit neue Aspekte ihrer Behandlungstechnik vor, die sie als „Vertiefung in die Oberfläche“ bezeichnet. Das ist dem Maler Max Beckmann entlehnt, der Kunst just eben so, als „Vertiefung in die Oberfläche“ gekennzeichnet hatte. Man könnte sogleich anfügen, dass Max Ernst einmal den Ausspruch getan hat, er sei froh, sich nicht gefunden zu haben – was verblüfft, aber genau zu Krejcis Thema gehört. Es gibt Patienten mit einer harten narzisstischen Abwehrschale, die über wenig Binnendifferenzierung verfügen, aber sich sachlich selbst bereits so analysieren, als wüssten sie schon alles; der Analytiker wird ein ausgeschlossener, bedeutungsloser Beobachter. Sie stehen neben sich, schauen sich zu, berichten detailliert, weil sie Berichterstatter sind, die nicht erleben können. Sie machen sich so unerreichbar, Deutungen ihres Selbst nehmen sie an, aber sie bleiben wirkungslos. Sie durchstehen die Analyse, weil sie an deren Ende „analysiert“ sein möchten oder wie die Autorin schön schreibt, „in den Stand der Gnade“ gelangen wollen, was ihre Verleugnungstendenzen beizubehalten erlauben

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würde. Allzu „großformatige“ Deutungen lebensgeschichtlicher Erfahrungen nehmen sie gelangweilt zur Kenntnis, nie kommentieren sie von sich aus die Übertragung. Hier hilft die Beachtung der Oberfläche. „Die genaue Beachtung der Äußerungen und Verhaltensweisen des Patienten innerhalb der analytischen Beziehung ist wie das Umkreisen eines zunächst amorphen Feldes, in dem im Laufe der Zeit durch die Benennung und Zuordnung einzelner, erkennbar gewordener Aspekte eine Transformation zu symbolisierten Partialobjekten, also zu bedeutungshaltigen Phänomenen erfolgt. Wie die Eisstücke im Märchen von der Schneekönigin … fangen die Fragmente an, zu tanzen, und legen sich irgendwann zu einem sinnvollen Text“ (S. 75)

Es geht also bei solchen Patienten, die den Analytiker als Konkurrenten empfinden, um die „Arbeit an der Oberfläche“. Denn nur so kann die Erfahrung sich einstellen, wahr genommen zu werden; indem etwas angesprochen wird, was und wie der Patient etwas sagt und das kann dann gemeinsam betrachtet werden. „Wenn sie von ‚man‘ sprechen statt von ‚ich‘ oder sich in anderer Weise in Verallgemeinerungen zu verflüchtigen suchen, beschreibe ich das. Ich mache sie auch auf Verabsolutierungen wie ‚Etwas ist immer so und so!‘ aufmerksam… Rhetorische Fragen, die gestellt werden, um eine von vornherein bekannte Antwort darauf zu geben, apodiktische Behauptungen, die keinen Platz für eine andere Sichtweise lassen,

werden von mir in ihrer Funktion, eine in sich geschlossene Welt zu entwerfen, gekennzeichnet.“ (S. 77)

Dafür hat die Autorin den hübschen Ausdruck „kleine Interventionen“ (S. 79) parat. Sie verhüten, dass Patienten sich einer unbeabsichtigten Definitionsmacht des Analytikers meinen unterwerfen zu müssen, der große Zusammenhänge sieht, für die noch gar kein Raum ist. Vielmehr machen solche kleinen Interventionen auf eine freundliche Weise dem Patienten sichtbar, wie der Analytiker „beobachtet und denkt“ (S. 79). Dazu nämlich können sie befugt Stellung nehmen, ohne sich seiner Definitionsmacht anheim geben zu müssen. „Die Phänomene sind ihnen nahe genug, um sich dazu zu äußern, und sie haben das letzte Wort. Die Klärung und Exploration von Einzelphänomenen sowie die Beschränkung auf begrenzte Zusammenhänge ermutigen die Patienten, sich auf die Suche nach sich selbst zu machen. Wenn sie ihre Widersprüchlichkeit besser verstehen, erleben sie sich als einheitlicher und damit als stärker“ (ebd.)

Das ist eine insgesamt anschauliche, theoretisch anspruchsvolle und ganz unprätentiös geschriebene Arbeit, die klinische Erfahrung aufbereitet so, dass am Ende auch der Weg zum Selbst nicht abgeschnitten werden muss. Davon kann man lernen. Ich frage mich einzig, warum die Eingrenzung auf eine bestimmte klinische Gruppe von Patienten? Könnte das nicht eine Arbeitsweise sein, die sich generell empfiehlt?

LEKTÜRE!

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enerell betrachtet, kann ich nicht verhehlen, wie viel ich aus der Lektüre dieser 6 Bände gelernt habe und ich möchte anderen diese Erfahrung auch wünschen. Auch wenn es überall verschiedene Zentrierungen der theoretischen und behandlungstechnischen Auffassung gibt, so merkt man doch ein intensives Bemühen, die Brücken zu schlagen zwischen Paris und London, zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum. „Übersetzungen“ sind

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demnach dann auch das Leitthema des Beitrags von Dana Birksted-Breen, die fragt, ob diese überhaupt möglich sind. Das Vorliegen so gelungener Bände lässt die Frage spontan positiv beantworten; man kann nicht anders, als den Beteiligten Bewunderung und Dank zu sagen für eine Menge Arbeit. Natürlich wird die Psychoanalyse insgesamt ihre marginalisierte Position dadurch nicht verlieren. Aber diese Bände machen einem vergnüglich klar, wie man sich am Rande einrichten könnte, durch intellektuelle Auseinandersetzung, durch gewitzte Beiträge, durch scharfe Einwürfe, durch Offenheit für das, wie andere die Psychoanalyse und ihre Thesen beobachten. Man kann sich am Rande kommod, wie die Schweizer sagen würden, einrichten und aus dem Lesesessel heraus in den beginnenden Herbst blicken. Das Wetter wird man nicht ändern können – wer auch würde das versuchen wollen? -, aber die Beeinflussung der kulturellen Atmosphäre sollte doch denen, für die das ein Herzensanliegen ist, möglich werden. Am Rande kann man sich unbeschwerter wirklich auseinandersetzen, vielleicht deshalb, wenn es sowieso nicht mehr allzu viel zu verlieren gibt? Muss man nicht mehr so viele Rücksichten nehmen, sagt sich manches dann doch leichter und das könnte andere animieren, sich ebenfalls zu Wort zu melden. „To live outside the law you must be honest“ – diesen Satz des Lyrikers Dylan Thomas hat Bob Dylan nicht umsonst in einen seiner Songs übernommen. Man könnte überlegen, ob eine solche Sentenz nicht genau jene Maxime für eine Psychoanalyse „at the margins“ formuliert, mit der wir uns derzeit einzurichten haben.