OrganisationsEntwicklung

OrganisationsEntwicklung Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management

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14 Auf Leben und Tod Die Biografie der Organisation gestalten

Ewiger Kreislauf

Die Lebenswege von Unternehmen verstehen

Forever young?

Klaus Doppler zur Begleitung von Startups

An der Schwelle

Wann wird eine Organisation richtig erwachsen?

Organversagen

Warum Unternehmen untergehen

Wenn Giganten stolpern

Die wundersamen Wandlungen der Daimler AG

Das verborgene Mandat

Zum Umgang mit Machtfragen beim Beratungsauftrag

Erfahrung | Kleine Schritte, langer Atem | Siegfried Kaltenecker, Michael Beyer

Kleine Schritte, langer Atem Evolutionäres Change Management bei den Schweizerischen Bundesbahnen AG Siegfried Kaltenecker und Michael Beyer Es ist eine Binsenweisheit des Managements, dass Arbeitsprozesse laufend verbessert werden müssen. Doch wie organisiert man das? Der Beitrag zeigt am Beispiel einer IT-Abteilung der SBB, wie eine solche Verbesserung durch eine Serie kleiner, überschaubarer Maßnahmen gestaltet und nachhaltig kultiviert werden kann. Der Schlüssel dazu lag in einem Leitungs­team, das Schwächen eingestehen und Fehler zum Motor für Reflexion und Lernen machen konnte.

Mit rund 29.000 Mitarbeitenden aus 80 verschiedenen Natio­ nen und 150 verschiedenen Berufen ist die SBB AG das größte Reise- und Transportunternehmen der Schweiz. Pro Jahr wer­ den etwa 350 Millionen Fahrgäste und knapp 50 Millionen Net­ totonnen Güter transportiert. Auch im internationalen Vergleich beeindruckt die SBB nicht zuletzt durch das weltweit am dich­ testen befahrene Bahnnetz. Die Abteilung UNO (Unified Net­ work Objects) trägt zu dieser Nutzungseffizienz bei, indem sie eine große Menge von Rohdaten zu einem informativen Netz­ werk verknüpft, welches die Basis für die Fahrplanplanung, Zugprognose und Zugsteuerung darstellt. Zentrale Qualitäts­ kriterien sind dabei naheliegender Weise die Vollständigkeit, Qualität und Konsistenz des Outputs.

Wartungsaufgaben und neuen Anforderungen; und last but not least die geringe Planbarkeit durch sich ändernde Rahmenbe­ dingungen. Anfang 2012 hat sich die Lage um einiges verschärft. Terminund Qualitätsprobleme machen wiederholte Neuplanungen notwendig, die tägliche Arbeit ist durch viele parallele Tätig­ keiten geprägt, nicht wenige Mitarbeitende mit Spezialwissen sind chronisch überlastet. Trotz hohem Einsatz des Teams las­ sen die Resultate zu wünschen übrig. Doch wie lässt sich ein solcher Teufelskreis durchbrechen? Und wie kann die notwendige Produktivitätssteigerung mit effektiver Entlastung kombiniert werden?

Evolutionäres Change Management mit Kanban Ausgangslage und Teamstruktur Das UNO Team ist interdisziplinär zusammengesetzt: Neben Informatik ist fachliches Spezialwissen von Zugführern und Fahrdienstleitern ebenso gefragt wie von Mathematikern und Physikern. Intern baut UNO auf den vier Kernteams Analyse, Entwicklung, Test und Datenmanagement auf. Die Leiter die­ ser Kernteams bilden gemeinsam mit dem Releasemanager, dem Produktmanager und dem UNO-Leiter das Führungs­team, das für die gesamte operative Steuerung verantwortlich ist. Extern ist UNO selbst in ein dichtes Netzwerk von Auftrag­ gebern, Datenlieferanten und Abnehmern eingebettet. Man kann also von einer klassischen Drehscheibenfunktion spre­ chen, die durch drei wesentliche Herausforderungen gekenn­ zeichnet wird: die Menge komplexer Daten, die verarbeitet werden müssen; die Gleichzeitigkeit von Datenverarbeitung,

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Auf der Suche nach einem geeigneten Vorgehen wird die UNOLeitung beim sogenannten evolutionären Change Management mit Kanban fündig. Ursprünglich ein Herzstück der schlanken Fertigungsphilosophie des Toyota Production Systems wurde Kanban in den letzten Jahren auch für die Wissensarbeit frucht­ bar gemacht. Insbesondere David J. Anderson ist mit seiner An­ wendung für die Softwareentwicklung weithin bekannt gewor­ den (Anderson 2011). Die Grundidee dieses Veränderungsansatzes ist eine konti­ nuierliche Optimierung des bestehenden Arbeitssystems durch diejenigen, die in diesem System arbeiten. Evolutionär heißt dabei vor allem, in kleinen, pragmatischen Schritten voran zu gehen statt einem großen, detaillierten Zukunftsplan zu fol­ gen. Bestehende Arbeitsabläufe, Rollen oder Verantwortlich­ keiten werden erst einmal respektiert, also all das, woraus die

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Menschen für gewöhnlich einen wesentlichen Teil ihres Selbst­ wertgefühls und ihrer professionellen Identität ableiten. Man könnte folglich von einem niedrigschwelligen, wenig bedrohlichen Veränderungsansatz sprechen. Das wird durch das Bestreben gefördert, systemische Verbesserung über eine Serie kleiner, überschaubarer Maßnahmen voranzutreiben. Ver­bessert werden soll primär das Arbeitssystem, insbesonde­ re über die Menge an parallelen Tätigkeiten sowie die Zusam­ menarbeit mit anderen Einheiten im Geschäftsprozess. Kanban, der japanische Begriff für Signalkarte, ist dabei ein zentrales Hilfsmittel, um eine Kultur kontinuierlicher Verbesserung (Kai­ zen) auf den Weg zu bringen. Statt auf große Change-Pläne, Top-Down getriebene Transformationsprojekte oder eigene Pro­ zessspezialisten wird bewusst auf die Fachkompetenz und Lern­ bereitschaft derer gesetzt, die das System im Alltag betreiben. Wie bereits erwähnt startet der Verbesserungsprozess mit dem Ist-Zustand des Systems. Das Ziel des evolutionären Ver­ änderungsmanagements ist jedoch kein idealisierter Soll-Zu­ stand, auf den mit einem vorweg definierten Plan hingearbeitet wird. Komplexere Veränderungsfelder, so das Kanban-Credo, können nur inkrementell, d. h. in kleinen Schritten effektiv durchschritten werden. Da es sich bei diesen Feldern um un­ bekanntes Gelände handelt, sind viele Dinge nämlich erst auf dem Weg zu entdecken und nicht durch eine vorgefertigte Landkarte zu antizipieren. In den Worten von Produktentwick­

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lungs-Guru Don Reinertsen: «Statt zeitlich festgefroren in un­ seren ursprünglichen Plan eingesperrt zu bleiben, müssen wir lernen, die auftauchenden Informationen für gute Entschei­ dungen zu nützen.» (Reinertsen 2009, S. 9). Ein solches Lernen erlaubt es uns, laufend auf aktuelle Herausforderungen zu re­ agieren und Veränderungsmanagement mit einem hohen Maß an Agilität zu verbinden. Dafür stellt das evolutionäre Change Management mit Kanban sechs Kernpraktiken zur Verfügung: • Die Visualisierung von Arbeit • Die Einschränkung paralleler Tätigkeiten durch das soge­ nannte Work-in-Progress aka WIP-Limits • Die Konzentration auf das Management von Arbeitsflüssen • Die explizite Vereinbarung von Prozessregeln • Die Etablierung angemessener Feedback-Schleifen • Die gemeinschaftliche Durchführung von Verbesserungen

Erste Umsetzungsschritte Wie wurden die Prinzipen und Praktiken des evolutionären Change Managements nun in der UNO-Abteilung konkret ein­ gesetzt? Und inwiefern haben sie geholfen, die Arbeitssitua­ tion zu verbessern? Bereits auf der ersten Klausur des neu ge­ schaffenen Führungsteams, das die Steuerungsverantwortung bewusst auf mehrere Schultern verteilt, werden die aktuellen Tätigkeiten und Prozesse visualisiert. Dabei folgt man vor allem zwei wesentlichen Fragen: Woran arbeiten wir derzeit? Und

Abbildung 1

Grundstruktur der UNO-Kanban-Boards

5 Input Features 8

4 Analyse In Arbeit

Fertig

4 Entwicklung In Arbeit

2 Test

Fertig

Fertig

Change Requests 2

Bugs 3

Support 2

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In Arbeit

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in welchem Stadium befindet sich die jeweilige Arbeit? Die Vi­sualisierung aller laufenden Arbeiten entlang der Wertschöp­ fungskette ergibt auf einer 2x4 Meter großen Wand eine beein­ druckende Post-It Wolke, die in einer ersten Retrospektive ana­ lysiert wird. Die Transparenz über die bislang weitgehend un­ sichtbare Wissensarbeit ist ein enormer Verbesserungsschritt. Es wird klar, dass die Menge der laufenden und anstehenden Tätigkeiten mit den bestehenden Ressourcen niemals bewäl­ tigt werden kann. Das für viele IT-Systeme typische Miss­ver­ hält­nis zwischen der Fülle an Anforderungen und der vorhan­ denen Leistungsfähigkeit ist nunmehr augenfällig. Der Fokus verlagerte sich von Einzeltätigkeiten auf das Gesamtsystem UNO, das die Aufgabe hat, Kundenanforderungen möglichst effizient zur Auslieferung zu bringen. Bei der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den am Board visualisierten Tätig­ keiten werden bald Aufgaben identifiziert, die ersatzlos gestri­ chen werden können, da sie in der Zwischenzeit und im Ge­ samtzusammenhang keinen Nutzen mehr bringen. Zum einen wird dadurch eine unmittelbare Entlastung der gesamten Ab­ teilung erreicht, zum anderen stellt sich eine neue Klarheit über die zentralen UNO-Aufgaben ein. Die schwierige Aufgabe, in einem komplexen, hoch arbeitsteiligen Umfeld die Übersicht zu behalten, die bisher in der Verantwortung des Produktver­ antwortlichen lag, kann nun als gemeinsame Aufgabe des Füh­ rungsteams sehr effizient erfüllt werden. Dieser schnelle Erfolg bestätigt die initialen Erwartungen an Kanban: Die Einführung ist ohne eine große Veränderung der

bestehenden Organisationsstruktur und mit überschaubarem Aufwand möglich. Zudem zeigen sich schon nach kurzer Zeit positive Auswirkungen auf den Betrieb, was einen deutlichen Motivationsschub des Teams zur Folge hat. Nun geht es um die Verwirklichung des weit größeren Vorha­ bens: nämlich mit Hilfe von Kanban eine kulturelle Verände­ rung in Richtung kontinuierlicher Verbesserung in Gang zu setzen. Alle laufenden Arbeiten sollen transparent gehalten, Probleme möglichst frühzeitig sichtbar und Lösungen rasch umgesetzt werden. Und dadurch, dass die offene Kommunika­ tion im Team ins Zentrum rückt, entsteht eine ganzheitlichere Sicht auf den Output von UNO.

Auseinandersetzung mit den Kanban-Boards Im Mai 2012 wird die große Arbeitswolke entsprechend der UNO-Struktur auf vier Boards aufgeteilt. Abbildung 1 zeigt die Skizze eines solchen Boards. Zu sehen sind horizontal die ein­ zelnen Prozessschritte von der Anforderung (Input) über die verschiedenen Arbeitsphasen (Analyse-Entwicklung-Test) bis zur Fertigstellung (Output). Jeder Prozessschritt ist zudem in eine Phase «In Arbeit» und eine Phase «Fertig» gegliedert, wo­ bei letztere signalisiert, dass eine Arbeit in den nächsten Ar­ beitsschritt weitergezogen (gepullt) werden kann. Die kleinen grauen Vierecke sind sogenannte Blockaden, die verdeutlichen, dass hier ein Problem aufgetaucht ist und an dieser Arbeit nicht weitergearbeitet werden kann. Vertikal ist das Board wie­ derum in sogenannte Schwimmbahnen unterteilt, die jeweils

Tabelle 1

Kommunikationsstruktur Was?

Wer?

Regular Standup Alle (oder Delegierte)

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Wie?

Wozu?

Wöchentlich, max. 15 Minuten vor dem Board

regelmäßige Koordination

Anschlussmeeting ausgewählte Experten so kurz wie möglich

Lösung spezifischer Probleme/ Blockaden

Nachschubmeeting

Anforderer und KAM

regelmäßig

Koordination des Inputs

Releaseplanung

Anforderer & Experten

monatlich

Koordination des Outputs

Retrospektive Alle (oder Delegierte)

1 bis 2 Mal pro Quartal, 1 bis 3 Stunden, wechslende Foki und Methoden

gemeinsamer Aussenblick

Operations Review Anforderer & Gäste

1 Stunde ZDF — Zahlen, Daten, Fakten

Leistungen und Verbesserungen demonstrieren

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einem eigenen Arbeitstypus gewidmet sind (Features, Change Requests, Bugs, Support). Die jeweiligen Zahlen in den einzel­ nen Bereichen sind sogenannte Work-in-Progress (WIP) Li­ mits, die zwei essentielle Funktionen erfüllen: Erstens verhin­ dern sie, dass mehr Arbeit ins System gepusht wird als dieses verarbeiten kann – was sowohl die hinlänglich bekannten Stau- und Stress-Phänomene als auch lange Durchlaufzeiten verhin­dert. Und zweitens begrenzen sie das chronische Task­ swit­ching, also das zeit- wie fehlerintensive Hin- und Her­sprin­ ­gen zwischen verschiedenen Arbeiten, und sorgen für einen klaren Fokus. Im Mai wird darüber hinaus eine neue Organisations- und Kommunikationsstruktur eingeführt (siehe Tabelle 1). Im Juni verknüpft das UNO-Team die physischen Signalkarten auf den Boards mit dem elektronischen Ticket-System Jira und führt regelmäßige Releases ein.

Kritische Zwischenreflexion Als sich die beiden Autoren dieses Artikels vier Monate nach dem Start der Initiative im «Kanban Change Leadership Trai­ ning» kennen lernen, zeigt sich der UNO-Leiter trotz der ers­ ten erfolgreichen Schritte skeptisch: Ist die Veränderung wirk­ lich an der Basis angekommen? Hat das Führungsteam die richtigen Dinge verändert? Stimmt der Weg zu einer Kultur kontinuierlicher Verbesserung? Bei näherer Betrachtung ver­ stärkt sich das Gefühl, dass noch viel mehr möglich wäre und entscheidende Kanban Prinzipien vernachlässigt wurden. Vor allem der kritische Blick auf die Change- und LeadershipAspekte zeigt die Schattenseiten eines hemdsärmeligen Kan­ ban-Einsatzes. So wurden weder alle für UNO relevanten Stake­ holder des evolutionären Change Managements identifiziert noch angemessen involviert. Selbst für die Mitarbeitenden, die Kanban im Einsatz haben, gab es bis dato keine eingehen­ dere Schulung. Hinzu kommt die selbstkritische Frage nach der tatsächlichen Stärke des Führungsteams, nicht zuletzt hin­­­sichtlich des gemeinsamen Leadership-Verständnisses. Die Ver­­änderungen entstanden bisher vorwiegend Top-Down. Das Kan­banprinzip «Führung auf allen Ebenen» machte den Ab­ teilungsleiter deshalb besonders neugierig, da er viel Last auf seinen Schultern spürte.

Unterstützung von außen und Arbeit am Veränderungs- und Führungsverständnis Bereits bei der Verabschiedung am Ende des Trainings bekun­ det der Abteilungsleiter von UNO sein Interesse, den externen Berater in sein Team einzuladen und vor Ort weitere Entwick­ lungsschritte auszuarbeiten. Diese Einladung folgt der Über­ zeugung, dass es nicht nur Kanban, sondern auch ein gestärk­ tes Veränderungs- und Führungsverständnis braucht, um eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung zu schaffen. Kan­banMechaniken sind eben nicht genug. Für eine nachhaltige Kai­

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zen-Kultur muss der technische, latent mechanistische Ansatz um soziale Aspekte wie Veränderungsdynamik, Führungspraxis oder Zusammenarbeit erweitert werden (Leopold & Kalten­ ecker 2013). Die Verbindung von evolutionärem Change und systemi­ scher Organisationsberatung bestimmt unseren SBB-Einsatz. Da bislang noch keine strukturierte Retrospektive stattgefun­ den hat, verständigen wir uns darauf, mit einer differenzierten Bestandsaufnahme der Ist-Situation nach einem halben Jahr Kanban-Einsatz zu beginnen. Im Sinne eines bewussten Inne­ haltens sollen die vorhandenen Stärken gewürdigt und weitere Engpässe identifiziert werden. Auf Basis dieses gemeinsamen Lernprozesses sollen punktgenaue Coaching- und Trainings­ maßnahmen die weitere Verbesserungsarbeit unterstützen. Bestandsaufnahme Die Bestandsaufnahme wird in zwei Teilschritten vorgenom­ men: im Rahmen eines Personal Coachings mit dem Abtei­ lungsleiter sowie in einem größeren Workshop, an dem das ge­­ samte Team beteiligt war. Ziel ist es, ein möglichst genaues Bild der derzeitigen Arbeitssituation zu zeichnen und dabei mögli­ che Unterschiede zwischen der Sichtweise der Führung und jener des Teams zu berücksichtigen. Der Leitfaden für die­­se Bilanz ist freilich der gleiche: Was ist in diesem Jahr eigentlich

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alles passiert? Was davon lief gut? Was nicht? Welche Ursachen sehen wir dafür? Und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Die wichtigsten Antworten werden auf Karten visualisiert und in Form eines Retrospektive-Boards verdichtet. Als positiv werden vor allem die Transparenz, die Stärkung des Testbereichs, die verbindliche und strukturierte Terminplanung sowie die Verbesserung des Release-Prozesses festgehalten. Als problematisch sieht man die Synchronisierung der einzel­ nen Boards, die Durchgängigkeit des Arbeitsflusses, die Klä­ rung von Prozessregeln und das Abholen des ganzen Teams. Im Anschluss erkundet das Team im Rahmen eines World Café die Ursachen der wichtigsten Probleme und arbeitet Lösungsideen aus, die direkt auf den Boards durchgespielt werden. Dadurch wird konkretisiert, wie sich bestimmte Ver­ bes­se­­rungs­­vorschläge auf den jeweiligen Arbeitsfluss auswir­ ken. Zugleich wird damit eine gute Gelegenheit für weiteren Wissensaustausch und die Klärung offener Fragen geschaffen.

Dass die Teammit­glieder die bestehenden Probleme offenle­ gen und diskutieren, stärkt die neue Kultur der Transparenz und der ge­meinsamen Lösungsorientierung. Professionell mo­­­ deriert, schafft die Retro­spektive eine angstfreie Atmosphäre, in der kon­zentriert an Verbesserungsmaßnahmen gearbeitet werden kann.

Weiterentwicklung Insgesamt ergeben sich aus der gemeinsamen Bestandsaufnah­ me zahlreiche weitere Verbesserungsimpulse, die konsequent umgesetzt werden. Auf der Basis der durch gezieltes Trai­ning erweiterten Wissensbasis werden in den darauf folgenden Mo­ naten Serviceklassen und Qualitätskriterien spezifiziert. Ers­ te­­res zielt auf eine bessere Filterung von Arbeiten nach Ge­ schäftsrisiken, Letzteres auf die Erhöhung von Qualität mittels transparenter Kriterien. Gemeinsame Prozessregeln sichern strin­gente Arbeitsflüsse von der Anforderung über das UNO-

Abbildung 2

Kanban Boards und Meeting-Organisation

UNO Kanban Boards Retrospektive (30T) Kunde

KAM Board

Change Board

Releaseplanung (30T)

UNO Haupt Board Lieferobjekt UNO-Koord (7T)

Analyse Board

Entwicklung Test Board Standup (7T)

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Standup (7T)

Datenmanagement Board Standup (7T)

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Hauptboard und die einzelnen Spezialisten-Boards bis hin zum fertigen Lieferobjekt (vgl. Abbildung 2, Pfeile). Darüber hinaus wird eine klare Struktur für die im Betrieb notwendigen Mee­ tings festgelegt (dunkelgraue Boxen). Jedes Meeting hat einen klaren Fokus (von der UNO-Gesamtkoordination bis zur Re­ leaseplanung), eine maximale Dauer (zwischen 15 Minuten für die Standups und 90 Minuten für die Retrospektiven) sowie eine festgelegte Frequenz (wöchentliche Standups, monatli­ che Releaseplanungen und Retrospektiven). Wie in vielen anderen Kanban-Systemen werden auch bei UNO die regelmäßigen Retrospektiven zum Motor der konti­ nuierlichen Verbesserung. Sowohl auf Team- wie auf Führungs­ ebene wird jeweils Bilanz über die vergangenen Wochen gezo­ gen und eine Auswahl weiterer Verbesserungsschritte festgelegt. Auch Spezial-Retrospektiven mit nur einem Themenfokus kom­ men sehr erfolgreich zum Einsatz. Durch all diese Maßnahmen werden die Arbeitsabläufe nach­­vollziehbar gestaltet und die Koordinationskosten mini­ miert. Dass im Laufe des Jahres auch die anderen Führungs­ kräfte am Kanban Change Leadership-Training teilnehmen, stärkt die gemeinsame Wissensbasis im Leitungsteam und die Führung auf allen Ebenen. Die kontinuierliche Verbesserung wird für den Abteilungsleiter zunehmend zum Selbstläufer, die Initiativen kommen aus dem Team. Die zunehmende Rou­ tine im Betrieb und im gesamten Team erlaubt es schließlich, die Aufmerksamkeit stärker nach außen zu richten. Durch in­ formellen Austausch, aber ebenso durch strukturierte ERFAVorträge zum Erfahrungsaustausch innerhalb der SBB sowie Präsentationen auf Fachkonferenzen werden die UNO-Erfah­ rungen einem weiteren Kreis zur Verfügung gestellt. Bereits im April 2013 startet ein Nachbar-Team von UNO ebenfalls mit Kanban. Weitere Teams und Abteilungen in der SBB werden auf Kanban aufmerksam, im Juli kommt es sogar zu «Hausbe­ suchen» durch den CIO und die interne Unternehmensent­ wicklung. Per 1.1.2014 wurde Kanban in den offiziellen Metho­ denkatalog der SBB aufgenommen und soll damit gezielt ge­ fördert und verbreitet werden.

Lessons learned aus dem Kanban Einsatz Im Rückblick auf fast zwei Jahre Kanban kann das UNO-Team eine durchwegs positive Bilanz ziehen. Pointiert ausgedrückt hat Kanban hier vor allem Folgendes bewirkt: • Schnelle Erfolge: Die vielbeschworenen «quick wins» zeigen sich bereits nach kurzer Zeit, weitere kleine Verbesserungs­ maßnahmen, die einen positiven Effekt auf den Arbeits­all­ tag haben, halten die Motivation aller Beteiligten hoch. • Verbesserte Steuerung: Die Transparenz ermöglicht eine bessere Steuerung und Kommunikation mit allen Stakehol­ dern, inner- und außerhalb von UNO. Zudem bringt das wertorientierte Prinzip «stop starting, start finishing» eine deutliche Steigerung von Durchsatz und Qualität mit sich.

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• Gelebte Agilität: Konstantes Anpassen an sich ändernde Rahmenbedingungen gehört zum normalen Veränderungs­ pro­zess. Das Ausmaß an Verbesserungen, die in den letzten zwei Jahren umgesetzt wurden, ist für alle Beteiligten bein­ druckend. • Kulturelle Veränderung: Im Laufe des UNO-Betriebs mit Kan­ ban werden die Mitarbeitenden von Betroffenen zu Han­ delnden, die sich selbst als aktive Change Agents erleben. Probleme kommen schneller auf den Tisch und werden dank erhöhter Transparenz nicht nur rascher, sondern auch effi­ zienter gelöst.

«Die Mitarbeitenden werden von Betroffenen zu Handelnden, die sich selbst als aktive Change Agents erleben.» Im Rückblick treten indes auch einige Fallen und Hindernisse klarer hervor. Die vermutlich größte Falle lag ausgerechnet in der Niedrigschwelligkeit des evolutionären Veränderungsan­ satzes. Dass die Kanban-Prinzipien und -Praktiken rasch zu ver­stehen und relativ leicht anzuwenden sind, brachte auch die UNO-Leitung dazu, die professionelle Gestaltung des Ver­ änderungsprozesses zu vernachlässigen. Hier schlägt zudem die spezielle Berufskultur von IT-Experten durch, die Kanban gerne auf ein rein technisches System verkürzen. Das Unter­ nehmen wird als maschinenartiges Gebilde wahrgenommen, dessen Veränderung vor allem den Einsatz der richtigen Me­ chaniken verlangt. Wie sich nach einigen Monaten zeigte, führt Kanban jedoch keineswegs automatisch zu einer nachhaltigen Verbesserungs­ kultur. Das Vernachlässigen der relevanten Stakeholder, insbe­ sondere der eigenen Kernteams, rächte sich, indem der Ver­än­ derungsprozess deutlich ins Stocken geriet. Strohfeuern gleich, waren die schnellen Erfolge bald einmal abgebrannt und noch kein kontinuierlicher Wandel in Sicht. Besonders hinderlich war in dieser Hinsicht, dass anfänglich weder ein inhaltliches noch ein prozessuales Lernen gefördert wurden. Zum einen gab es eben nur eine recht oberflächliche Einführung in die Funktionsweisen eines Kanban-Systems – das mach­te viele Mit­ arbeitende für weitere Verbesserungspotenziale gleichsam blind und trieb eine schrittweise Regression in alte Verhaltensformen voran. Zum anderen gab es lange Zeit keine gemeinsame Ref­ le­xion dieses Verhaltens. In der gemeinsamen Jahresbilanz, die wir im Dezember 2013 wieder vor Ort durchführten, waren es bezeichnender Weise genau diese beiden Bereiche, die als die kraftvollsten Treiber positiver Veränderung gesehen wurden. In allen Kernberei­ chen, aber auch in der Gesamtkoordination trugen die regel­ mäßigen Retrospektiven am stärksten zur Verbesserung der Prozesse wie der Zusammenarbeit bei. Zudem konnten durch

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maßgeschneiderte Schulungen auf Team- wie auf Führungs­ ebene vorhandene Wissensdefizite ausgeglichen werden. Auf diese Weise konnte die Führungsarbeit immer mehr von der Leitungshierarchie abgelöst und gleichsam zum Teamsport werden, in dem alle UNO-Mitglieder wichtige Verbesserungs­ impulse liefern und auch selbstständig umsetzen (vgl. Plat­ form for Agile Management 2013). Als ermutigend wurde allerdings nicht nur die Erweiterung des technischen Handwerkszeugs erlebt. Vielmehr war es ne­ ben der zunehmenden Sicherheit im Umgang mit Kanban die wach­sende Vertrauensbasis zwischen den Teammitgliedern, die Ver­besserung mehr und mehr zu Jedermanns Sache mach­ te. Beim Lokalaugenschein Ende letzten Jahres beeindruckten vor allem die methodische Souveränität, die Freude an Ar­beits­ erleich­terung und die beeindruckende Kreativität in der Ge­ staltung des eigenen Systems. All das hätte zweifellos schon früher stattfinden und das Ri­ siko des zunehmenden Versandens minimieren können. Dass sich das UNO-Führungsteam, allen voran die Leitung, diese Schwächen eingestehen konnte, trug dennoch das Seinige zum derzeitigen Stimmungs- und Leistungshoch bei. Denn ein Selbstverständnis, das Fehler nicht nur zulässt, sondern als Motor von Reflexion und Lernen sieht, darf zweifellos als eines der Herzstücke einer Kultur kontinuierlicher Verbesse­ rung gesetzt werden.

Literatur

• Anderson, D. (2011). Kanban. Evolutionäres Change Management für IT-Organisationen. dpunkt. • Burrows, M. (2013). Kanban’s service orientation agenda. http://www.infoq.com/articles/kanban-agenda-part2-serviceorientation • Kaltenecker, S. & Leopold, K. (2012). So gelingt die Kanban-Einführung, in: ProjektMagazin Ausgabe 14. https://www.projektmagazin.de/ artikel/so-gelingt-die-kanban-einfuehrung_1072605 • Kaltenecker, S. & Myllerup, B. (2011). Agile and Systemic Coaching. http://www.scrumalliance.org/articles/354-agile--systemic-coaching 2011.

Michael Beyer Abteilungsleiter Unified Network Objects bei den Schweizerischen Bundesbahnen AG, Bern Kontakt: [email protected]

• Kniberg, H. (2011). Lean from the trenches. Managing large-scale projects with Kanban. Pragmatic Bookshelf. • Larman, C. & Vodde, B. (2008). Scaling lean & agile development. Thinking and organizational tools for large-scale scrum. Addison Wesley. • Leopold, K. & Kaltenecker, S. (2013). Kanban in der IT. Eine Kultur kontinuierlicher Verbesserung schaffen. Hanser. • Liker, J. (2012). The toyota way to lean leadership, Mcgraw-Hill Professional.

Siegfried Kaltenecker Geschäftsführender Gesellschafter der Loop Organisationsberatung GmbH, Wien Kontakt: [email protected]

• Platform for Agile Management (2013). Evolutionary change management and leadership with kanban. http://p-a-m.org/2013/11/ evolutionary-change-and-leadership-with-kanban/ • Reinertsen, D. (2009). Flow. The principles of product development flow: Second generation lean product development, Celeritas Publishing. • Ries, E. (2011). The lean startup. How constant innovation creates radically successful businesses. Penguin Books. • Rising, L. & Manns, M. A. (2005). Fearless change: Patterns for introducing new ideas: Introducing patterns into organizations. Addison-Wesley Longman.

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