Michael Ansel: Gottfried Benn, Vorlesung im SoSe 08 (Folien VI XI)

Michael Ansel: Gottfried Benn, Vorlesung im SoSe 08 (Folien VI–XI) 6. Stunde – 27. Mai 2008 Lyrik der 20er Jahre „Chaos – Zeiten und Zonen / Bluffend...
10 downloads 0 Views 5MB Size
Michael Ansel: Gottfried Benn, Vorlesung im SoSe 08 (Folien VI–XI)

6. Stunde – 27. Mai 2008 Lyrik der 20er Jahre „Chaos – Zeiten und Zonen / Bluffende Mimikry“ Chaos – (1923)

Gedichtebände der 20er Jahre: § § § §

GB: Schutt, Berlin-Wilmersdorf: Alfred Richa rd Meyer [Februar] 1924 GB: Betäubung. Fünf neue Gedichte, ebd. [September] 1925 GB: Spaltung. Neue Gedichte, ebd. [November] 1925 GB: Gesammelte Gedichte, Berlin: Verlag Die Schmiede [Mai] 1927

Benn: Chaos – Chaos – Zeiten und Zonen Bluffende Mimikry, Großer Run der Äonen In die Stunde des Nie – Marmor Milets, Travertine Hippokratischer Schein, Leichenkolombine, Die Tauben fliegen ein. Ebenbild, inferniertes Erweichungsparasit; Formen-onduliertes Lachhaft und sodomit; Lobe –: die Hirne stümmeln Leck im Sursumscharnier, Den Herrn –: die Hirne lümmeln Leichenwachs, Adipocir. Bruch. Gonorrhoische Schwarten Machen das Weltgericht: Waterloo: Bonaparten Paßte der Sattel nicht – Fraß, Suff, Gifte und Gase –: Wer kennte Gottes Ziel Anders als: Ausgang der Blase Erectil?

2 Fatum. Flamingohähne Geta am Darm commod, Anderweit Tierschutzmäcene Kommt, ersticht ihn beim Kot – Fraß, Suff, Seuchen und Stänke Um das Modder-Modell – A bas die Kränke Individuell. Keine Flucht. Kein Rauschen Chaos. Brüchiger Mann. Fraß, Suff, Gase tauschen Ihm was Lebendes an Mit im Run der Äonen In die Stunde des Nie Durch der Zeiten und Zonen Leere Melancholie. (GWE I, S. 150 f.)

Lektüreempfehlungen: § GB: Epilog und Lyrisches Ich, in: GWE II, S. 269 –277 § Georg Jäger: [Art.] Montage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band II, hg. von Harald Fricke, Berlin und New York: de Gruyter 2000, S. 631–633

3

7. Stunde – 03. Juni 2008 Elitäre Kunstprogrammatik I „Das Leben währet vierundzwanzig Stunden und, wenn es hoch kommt, war es eine Kongestion!“ Epilog und Lyrisches Ich (1927)

Gottfried Benn liest, Literarische Welt vom 18. März 1927

Benn: Epilog und lyrisches Ich [...] daß ich mich nicht mehr für einen Einzelfall interessieren konnte. [...] Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, woran ich litt. Von psychiatrischen Lehrbüchern aus, in denen ich suchte, kam ich zu modernen psycholo gischen Arbeiten, zum Teil sehr merkwürdigen, namentlich der französischen Schule; ich vertiefte mich in die Schilderungen des Zustandes, der als Depersonalisation oder als Entfremdung der Wahrnehmungswelt bezeichnet wird, ich begann, das Ich zu erkennen als ein Gebilde, das [...] zu einem Zustande strebte, in dem nichts mehr von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte, sondern in dem alles, was die Zivilisation unter Führung der Schulmedizin anrüchig gemacht hatte als Nervenschwäche, Ermüdbarkeit, Psychasthenie, die tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit zugab zwischen dem Menschen und der Welt. (GWE II, S. 270 f.) Man lebt vor sich hin sein Leben, das Leben der Ba nalitäten und Ermüdbarkeiten, in einem Landreich an kühlen und schattenvollen Stunden, chronolo gisch in einer Denkepoche, die ihr

4 flaches mythenentleertes Milieu induktiv peripheriert, in einem Beruf kapitalistischopportunistischen Kalibers, man lebt zwischen Antennen, Chloriden, Dieselmotoren, man lebt in Berlin. Die Jahre der Jugend sind vorbei, der illusionären Hyperbolik, erloschen das Fieber der individuellen Dithyrambie. Im Wachen, im Schlafen, in den horizontalen wie vertikalen Lagen, bei den Vorgängen der Ernährung wie den Tastvorstellungen der Fingerbeere unablässig die Ermattung vor der personellen Psychologie. (GWE II, S. 273) Einige Jahre später. Neue Arbeiten, neue Versuche des lyrischen Ich. Digestive Prozesse, heuristische Kongestionen, transitorische monistische Hypertonien zur Entstehung des Gedichts. Ein Ich, mythenmonoman, religiös faszinär [...] Ein neues ICH, das die Götter erlebt: substantivistisch suggestiv. Es gibt im Meer lebend Organismen des unteren zoologischen Systems bedeckt mit Flimmerhaaren. Flimmerhaar ist das animale Sinnesorgan vor der Differenzierung in gesonderte sensuelle Energien, das allgemeine Tastorgan, die Beziehung [...] zur Umwelt des Meers. Von solchen Flimmerhaaren bedeckt stelle man sich einen Menschen vor nicht nur am Gehirn, sondern über den Organismus ganz total. Ihre Funktion ist eine spezifische, ihre Reizbemerkung scharf isoliert: sie gilt dem Wort, ganz besonders dem Substantivum, weniger dem Adjektiv, kaum der verbalen Figur. Sie gilt der Chiffre, ihrem gedruckten Bild, der schwarzen Letter, ihr allein. (GWE III, S. 272 f.) Nun ist solche Stunde, manchmal ist es dann nicht weit. Bei der Lektüre eines, nein zahlloser Bücher durcheinander, Verwirrungen von Ären, Pelemele von Stoffen und Aspekten, Eröffnung weiter typologischer Schichten: entrückter strömender Beginn. Nun eine Müdigkeit aus schweren Nächten, Nachgiebigkeit des Strukturellen oft von Nutzen, für die große Stunde unbedingt. Nun nähern sich vielleicht schon Worte, Worte durcheinander [...] Da wäre vielleicht eine Befreundung für Blau, welch Glück, welch reines Erlebnis! [...] Nun kann man ja den Himmel von Sansibar über den Blüten der Bougainville und das Meer der Syrten in sein Herz beschwören, man denke dies ewige und schöne Wort! Nicht umsonst sage ich Blau. Es ist das Süd wort schlechthin, der Exponent des „ligurischen Komplexes“, von enormem „Wallungswert“, das Hauptmittel zur „Zusammenhangsdurchstoßung“, nach der die Selbstentzündung beginnt, das „tödliche Fanal“, auf das sie zuströmen die fernen Reiche, um sich einzufügen in die Ordnung jener „fahlen Hyperämie“ [...] Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug!“ (GWE III, S. 273 f.) Ach, nie genug dieses einen Erlebnisses: das Leben währet vierundzwanzig Stunden und, wenn es hoch kommt, war es eine Kongestion! Ach immer wieder in diese Glut, in die Grade der plazentaren Räume, in die Vorstufe der Meere des Urgesichts: Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich! Regressions tendenzen mit Hilfe des Worts, heuristische Schwächezustände durch Substantive – das ist der Grundvorgang, der alles interpretiert [...] Schwer erklärbare Macht des Wortes, das löst und fügt. Fremdartige Macht der Stunde, aus der Gebilde drängen unter der formfordernden Gewalt des Nichts. Transzendente Realität der Strophe voll von Untergang und voll von Wiederkehr: die Hinfälligkeit des Individuellen und das kosmologische Sein, in ihr verklärt sich ihre Antithese, sie trägt die Meere und die Höhe der Nacht und macht die Schöpfung zum stygischen Traum: „Niemals und immer.“ (GWE III, S. 274 f.)

5 Lektüreempfehlungen: § §

GB: Zur Problematik des Dichterischen, in: GWE III, S. 83–96 Ehrsam, Thomas: Spiel ohne Spieler. Gottfried Benns Essay „Zur Problematik des Dichterischen“. Kommentar und Interpretation, Zürich und München: Artemis 1986

6

8. Stunde – 10. Juni 2008 Elitäre Kunstprogrammatik II „Es gibt nur den Einsamen und seine Bilder“ Zur Problematik des Dichterischen (1930)

Benn: Zur Problematik des Dichterischen Wo soll dann der Dichter sich befinden, jede neue Bulle des wissenschaftlichen Ordens erst studieren, feststellen, was die Haute Couture diese Saison liefert, euklidische Muster oder akausale Dessous, oder genügt er schon seiner Charge, wenn er einstimmt in das allgemeine Gejodel über die Größe der Zeit und den Komfort der Zivilisation? (GWE II, S. 87) Alle diese Schichten sind festgelegt auf eine grundsätzlich optimistische, technischmelioristische Weltanschauung, die die Übel für prinzipiell institutionsbedingt und korrigierbar hält und daher mit Sinn und Recht eine Kunst verlangt, die ihrer Gesinnung entgegenkommt, ihre Tendenzen aufnimmt, ihnen im wörtlichen Sinn die Ze it vor der Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Hoffnungen vertreibt. Eine grundsätzlich pragmatische und positive Einstellung, die übrigens merkwürdigerweise nicht im entferntesten politisch oder sozial begründet oder begrenzt ist, im Gegenteil, je höher im Augenblick die Geistigen stehen, um so mehr bemerkt man an ihnen Äußerungen von einer erklärten Neigung zur Freudigkeit und Helle, einer überraschenden Bejahung des Lebens, eines unerwarteten Glaubens an Erkenntnis, eine Jugendlichkeit, bereit alle Schwarzseher zu verbannen, dem berühmten Chtonischen das Rationale als höhere Ordnung entgegenzuhalten und, was dunkel ist, abzulehnen als faulen Zauber, Demagogie und Pessimismus, der die Flöte bläst. (GWE III, S. 84) Das Ich ist eine späte Stimmung der Natur und sogar ein flüchtige, Innen und Außen erst spät geschieden [...] Das Ich gehört nicht zu den überwältigend kla ren und primären Tatsachen, mit denen die Menschheit begann, es gehört zu den bedingten Tatsächlichkeiten, die Geschichte haben, es tritt hinzu, es tritt auf innerhalb eines Früheren, dessen Analyse fortführt von jeder Entwicklungsvorstellung. (GWE III, S. S. 92) Der Dichter und seine Zeit, die beliebte Formulierung – welche Harmlosigkeit, welche glatte Sicherheit in Bereichen, in denen alles fragwürdig ist! […] Ist der Künstler nicht vielleicht a priori geschichtlich unwirksam, rein seelisch phänomenal, muß man ihn nicht vielleicht allen historischen Kategorien entrücken, der Macht und ihrer Entfaltung, dem Gesellschaftlichen und Forensischen, den Begriffen der Entwicklung und des Fortschritts als einer rein naturalistischen Vorstellungsmethode, einer Sphäre rein empirisch, augenscheinlich, undialektisch, einer Kausalität von Fall zu Fall? (GWE III, S. 87 f.) Daß dem zu dienen oder den Weg zu bereiten niemals die Aufgabe und Berufung des großen Mannes, des Dichters sein kann, daß seine Größe vielmehr gerade darin besteht, daß er keine sozialen Voraussetzungen findet, daß eine Kluft besteht, daß er die Kluft bedeutet gegenüber diesem Zivilisationsschotter, substantiell gar nicht mehr äußerungsfähigen Typen, analytisch applanierten Psychen, hedonisierten Genitalien, Flucht in die Neurose: happy end. Daß er dies

7 alles hinter sich läßt, die Perspektive seiner Herkunft und Verant wortung weiter rückt bis dahin, wo die logischen Systeme ganz vergehen. (GWE III, S. 91) Das Ich ist eine späte Stimmung der Natur. Hier aber nähern sich Komplexe ohne Nützlichkeit und ohne Geschichte, tief nihilistisch in der Spannung einer dunklen Lust. Nun aus dem Zeitalter mit allen groben Wuchten der Gewalten, Opportunitätspsychologie dornenkränzig um die Schläfe, zwischen Schöpfungskronen, die die Industrie beliefern, humanitären Idealen bis zur Zwangsneurose, Sexualbetrieben wie auf lauter Madonnen – in seinen Qualen reißt das Ich es nieder, mit seinen Tränen ruft es die alte Flut, winkt dem Mund, der aus der Hand lebt, greift zum Messer und tanzt auf seiner Schneide, beschwört die Mischwesen vom Tartarus gezeugt –: zurück, o Wort: einst Brunstruf in die Weite; herab, o Ich, zum Beischlaf mit dem All, heran zu mir, Ihr Heerschar der Gebannten: Visionen, Räusche, Völkerschaft der Frühe. (GWE III, S. 93) Es gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr Zum Clan erlöst. Vorbei die mystische Partizipation, durch die saughaft und getränkeartig die Wirklichkeit genommen und in Träumen und Ekstasen abgegeben wurde, aber ewig die Erinnerung an ihre Totalisation. Es gibt nur ihn: in Wiederholungszwängen unter dem individuell verhängten Gesetz des Werdens im Spiele der Notwendigkeit dient er diesem immanenten Traum. Seine sozialen Voraussetzungen kümmern ihn nicht: unter Menschen ist er als Mensch unmöglich, das sagt Nietzsche von Heraklit, also Gelächter über sein Leben. (GWE III, S. 96)

Lektüreempfehlungen: § §

GB: Der Sänger, in: GWE I, S. 180 Katharina Grätz: Dionysos in der Staatsbibliothek. Gottfried Benns ekstatische Poetologie der Spätzeit, in: Olaf Hildebrandt (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln u.a.: Böhlau 2003, S. 243–259

8

9. Stunde – 17. Juni 2008 Die physiologische Theorie der Kunstproduktion „Neurogene Leier / fahle Hyperämien / Blutdruckschleier / mittels Coffein“ Der Sänger (1925)

Benn: Der Sänger Keime, Begriffsgenesen, Broadways, Azimuth, Turf- und Nebelwesen mischt der Sänger im Blut, immer in Gestaltung, immer dem Worte zu nach Vergessen der Spaltung zwischen ich und du. neurogene Leier, fahle Hyperämien, Blutdruckschleier mittels Coffein, keiner kann ermessen dies: dem einen zu, ewig dem Vergessen zwischen ich und du. einstmals sang der Sänger über die Lerchen lieb, heute ist er Zersprenger mittels Gehirnprinzip, stündlich webt er im Ganzen drängend zum Traum des Gedichts seine schweren Substanzen selten und langsam ins Nichts. (GWE I, S. 180 u. 533)

/ Wenn es einst der Sänger / dualistisch trieb, …

Lektüreempfehlungen: § §

GB: Rede auf Heinrich Mann, in: GWE III, S. 431–437 GB: Nach dem Nihilismus, in: GWE III, S. 223–231

9

10. Stunde – 24. Juni 2008 Hinwendung zur Artistik „… bildend zu züchten eine für Deutschland ganz neue Moral und Metaphysik der Form“ Rede auf Heinrich Mann (1931) Nach dem Nihilismus (1932)

Die neuen Mitglieder der Dichtersektion, Karikatur von Bendikt Fred Dolbin in der Literarischen Welt, Anfang Februar 1932

Benn: Rede auf Heinrich Mann Die Kunst in Deutschland, immer nur 18. Jahrhundert: Vorstufe der Wissenschaft, Erkenntnismöglichkeit zweiten Ra nges, niedere sinnliche Anschauung des reinen Begriffs. Hier ist man ja nicht für Formen, für Konturen, für Plastizität, hier muß ja alles fließen [...] (GWE III, S. 431 f.) Da kamen um 1900 die Brüder Mann und phospho reszierten. Lehrten einer literarischen Generation das Gefährliche, das Rauschnahe, den Verfall, der notorisch zu den Dingen der Kunst gehörte, brachten aus ihrem gemischten Blut […] die Kunst als die hohe geistige Korruption, zu fühlen, was keiner fühlte, die erst zu erfindenden Verfeinerungen, brachten – Sie sind vorbereitet auf das Wort – brachten die Artistik, ein für Deutschland nie wieder zum Erlöschen zu bringendes Phänomen. Ahnen hatten sie hierzulande nur einen, der aber geistig geschlagen war und nichts galt: Nietzsche [...], das tragische Evangelium: „die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit“, das finden wir in dessen Theorie – und ihre Verwirklichung im Werk einige Jahrzehnte später in der Art dessen, den wir heute feiern.

10 Der Einbruch der Artistik, die neue Kunst! (GWE III, S. 432)

Benn: Rede auf Heinrich Mann / Epilog und Lyrisches Ich Die Allgemeinheit hatte den Zusammenhang noch nicht erfühlt zwischen dem europäischen Nihilismus und der dionysischen Gestaltung, der skeptischen Relativierung und dem artistischen Mysterium, zwischen dem Verklärten, Verschwärmten, Schwammigen des deutschen Geistes und dieser Oberflächlichkeit aus Tiefe, diesem Olymp des Scheins. (GWE III, S. 433) Fremdartige Macht der Stunde, aus der Gebilde drängen unter der formfordernden Gewalt des Nichts. (GWE III, S. 275)

Benn: Rede auf Heinrich Mann Könnte sich nicht vielleicht an ihnen ein Volk zur Klarheit erziehen, an dem Goldenen und Kalten, das um die Dinge liegt, die sich vollendet haben, könnte nicht ein Volk beginnen, zu diesem Positivismus der erarbeiteten, harten und absoluten Dinge aufzublicken mehr als zu jenem Positivismus der anonymen Wahrheit, des amorphen Wissens, der fluktuierenden Formeln der wissenschaftlichen Relativität, könnte dann nicht ein perspektivistisch so verändertes Volk, dachte wohl Nietzsche, auch die Kunst anders sehe n, so, wie er sie sah: als die letzte Transcendenz des großen europäischen Nihilismus, die artistische, die dionysische Kunst, die vielleicht auch sinnlos ist wie der Raum und die Zeit, und das Gedachte und das Ungedachte und doch allein von jenem Reflex der Immortalität, der über versunkene n Metropolen und zerfallenen Imperien von einer Vase oder einem geretteten Vers aus der Form sich hebt, unantastbar und vollendet. (GWE III, S. 435) Das Letzte also war die Kunst. Die neue Kunst, die Artistik, die nachnietzschesche Epoche, wo immer sie groß wurde, wurde es erkämpft aus der Antithese aus Rausch und Zucht. Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust. Hierüber hat uns nichts herausgeführt, keine politische, keine mythische, keine rassische, keine kollektive Ideologie. (GWE III, S. 435)

Benn: Nach dem Nihilismus Haben wir noch die Kraft, so fragt sich der Verfasser, dem wissenschaftlich determinierenden Weltbild gegenüber ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten, haben wir noch die Kraft, nicht aus ökonomischen Chiliasmen und politischen Mytho logemen, sondern aus der Macht des alten abend ländischen Denkens heraus die materialistisch- mechanische Formwelt zu durchstoßen und aus einer sich selbst setzenden Idealität und in einem sich selbst zügelnden Maß die Bilder tieferer Welten zu entwerfen?

11 Also konstruktiver Geist als betontes und bewußtes Prinzip weitgehender Befreiung von jedem Materialismus, psychologischer, deszendenztheoretischer, physikalischer, ganz zu schweigen soziologischer Art –, konstruktiver Geist als der eigentliche anthropologische Stil, als die eigentliche Hominidensubstanz. (GWE III, S. 223) Das zweite Datum ist das Jahr 1859, das Erscheinen der Darwinsche n Theorie. In die Zeiten rassenhafter Hausse, in das unentwirrbare Konglomerat von riesenhafter Vermehrung des Geschlechts, Eingreifen Wallstreets in den Kapitalmarkt, Kolonisationsduschen, Trieb- und Luxussteigerung ganzer Kontinente, Wirtschaftsaufstieg wucherungsbereiter Stände, Gründerklemmen, Kaiserreichproklamationen und -débacles fiel diese Theorie von der Ertüchtigung der tierischen Rasse und vom Lohn des Starken für Kampf und Sieg. Aus diesen beiden Daten bekam Europa den neuen Schwung, aus ihnen entstand der neue menschliche Typ, der materialistisch organisierte Gebrauchstyp, der Montagetyp, optimistisch und flachschichtig, jeder Vorstellung einer menschlichen Schicksalhaftigkeit cynisch entwachsen, möglichst wenig Leid für den einzelnen und möglichst viel Behaglichkeit für alle, so hatte ja Comte das neue Zeitalter philosophisch begrüßt. Es begann das Zeitalter, dessen Lehre dahin ging, der Mensch sei gut. (GWE III, S. 225 f.) Der Mensch ist gut, sein Wesen rational, und alle seine Leiden sind hygienisch und sozial bekämpfbar, dies einerseits und andererseits die Schöpfung sei der Wissenschaft zugänglich, aus diesen beiden Ideen kam die Auflösung aller alten Bindungen, die Zerstörung der Substanz, die Nivellierung aller Werte, aus ihnen die innere Lage, die jene Atmosphäre schuf, in der wir alle lebten, von der wir alle bis zur Bitterkeit und bis zur Neige tranken: Nihilismus. (GWE III, S. 227) Wir setzen also heute den Geist nicht in die Gesundheit des Biologischen ein, nicht in die Aufstiegslinie des Positivismus, sehen ihn allerdings auch nicht in einer ewig schmachtenden Tragödie mit dem Leben, sondern setzen ihn als dem Leben übergeordnet ein, ihm konstruktiv überlegen, als formendes und formales Prinzip: Steigerung und Verdichtung – das scheint sein Gesetz zu sein. Aus dieser gänzlich transzendenten Einstellung ergibt sich dann vielleicht eine Überwindung, nämlich eine artistische Ausnutzung des Nihilismus, sie könnte lehren, ihn dialektisch, d. h. provokant zu sehen. Alle die verlorenen Werte verloren sein zu lassen, alle die ausgesungenen Motive der theistischen Epoche ausgesungen sein zu lassen und alle Wucht des nihilistischen Gefühls, alle Tragik des nihilistischen Erlebnisses in die formalen und konstruktiven Kräfte des Geistes zu legen, bildend zu züchten eine für Deutschland ganz neue Moral und Metaphysik der Form. (GWE III, S. 229 f.) „Eine antimetaphysische Weltanschauung, gut – aber dann eine artistische“ (vgl. „Rede auf H. Mann“), dies Wort aus dem „Willen zur Macht“ bekäme dann einen wahrhaft finalen Sinn. Es bekäme dann für den Deutschen den Charakter eines ganz ungeheuren Ernstes, als Hinweis auf einen letzten Ausweg aus seinen Wertverlusten, seinen Süchten, Räuschen, wüsten Rätseln: das Ziel, der Glaube, die Überwindung hieße dann: das Gesetz der Form. Es bekäme dann für ihn den Charakter einer volkhaften Verpflichtung. (GWE III, S. 231

12 Lektüreempfehlungen: § §

GB: Antwort an die literarischen Emigranten, in: GWE II, S. 295–302 Michael Ansel: Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. Gottfried Benns Publikationsverhalten in den Jahren 1933 bis 1936, in: Gottfried Benn – Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, hg. von Matías Martínez, Göttingen: Wallstein 2007, S. 35–70

13

11. Stunde – 1. Juli 2008 Der Sündenfall des Intellektuellen „Die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten“ Antwort an die literarischen Emigranten (1933) Züchtung [I] (1933)

Loyalitätserklärung Benns für die Dichtersektion, März 1933

Benn: Antwort an die literarischen Emigranten Nur die, die durch die Spannungen der letzten Monate hindurchgegangen sind, die von Stunde zu Stunde, von Zeitung zu Zeitung, von Umzug zu Umzug, von Rundfunkübertragung zu Rundfunkübertragung alles dies fortlaufend aus unmittelbarer Nähe miterlebten, Tag und Nacht mit ihm range n, selbst die, die das alles nicht jubelnd begrüßten, sondern es mehr erlitten, mit diesen allen kann man reden, aber mit den Flüchtlingen, die ins Ausland reisten, kann man es nicht. Diese haben nämlich die Gelegenheit versäumt, den ihnen so fremden Begriff des Volkes nicht gedanklich, sondern erlebnismäßig, nicht abstrakt, sondern in gedrungener Natur in sich wachsen zu fühlen, haben es versäumt, den auch in Ihrem Brief wieder so herabsetzend und hochmütig gebrauchten Begriff „das Nationale“ in seiner realen Bewegung, in seinen echten überzeugenden Ausdrücken als Erscheinung wahrzunehmen, haben es versäumt, die Geschichte form- und bilderbeladen bei ihrer vielleicht tragischen, aber jedenfalls schicksalbestimmten Arbeit zu sehen. (GWE II, S. 295) Seien Sie auch fest überzeugt, daß die Eroberung der Arbeiterschaft durch die neue Macht weiterschreiten wird, denn die Volksgemeinschaft in Deutschland ist kein leerer Wahn, und

14 der erste Mai war kein getarnter kapitalistischer Trick, er war höchst eindrucksvoll, er war echt: die Arbeit trug plötzlich nicht mehr ihren Makel als Joch, ihren Strafcharakter als proletarisches Leid, den sie die letzten Jahrzehnte trug, sondern sie stand da als Grundlage einer neu sich bildenden, die Stände auflösenden Gemeinschaft, es ist kein Zweifel, für keinen, der es sah, dies Jahr 1933 hat vielem, das seit Jahrzehnten an Sozialismen in der europäischen Luft lag, ein neues festes Gesicht gegeben und einen Teil der Menschenrechte neu proklamiert. (GWE II, S. 300) [Die Geschichte] hat ja keine andere Methode, sie hat ja keinen anderen Stil, als an ihren Wendepunk ten einen neue n menschlichen Typ aus dem unerschöpflichen Schoß der Rasse zu schicken, der sich durchkämpfen muß, der die Idee seiner Generation und seiner Art in den Stoff der Zeit bauen muß, nicht weichend, handelnd und leidend, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt. Natürlich ist diese Auffassung der Geschichte nicht aufklärerisch und nicht humanistisch, sondern metaphysisch, und meine Auffassung vom Menschen ist es noch mehr. (GWE II, S. 297) Verstehen Sie doch endlich dort an Ihrem lateinischen Meer, daß es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, die man in der bekannten dialektischen Manier verdrehen und zerreden könnte, sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten. Allerdings ist die Auffassung vom Wesen des Menschen, die dieser Züchtungsidee zugrunde liegt, dahingehend, daß er zwar vernünftig sei, aber vor allem ist er mythisch und tief. (GWE II, S. 297) Da sitzen sie also in ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates, dessen Glaube einzig, dessen Ernst erschütternd, dessen innere und äußere Lage so schwer ist, daß es Iliaden und Äneiden bedürfte, um sein Schicksal zu erzählen. (GWE II, S. 298)

Benn: Züchtung [I] Führer ist nicht der Inbegriff der Macht, ist überhaupt nicht als Terrorprinzip gedacht, sondern als höchstes geistiges Prinzip gesehen. Führer: das ist das Schöpferische, in ihm sammeln sich die Verant wortung, die Gefahr und die Entscheidung, auch das ganze Irrationale des ja erst durch ihn sichtbar werdenden geschichtlichen Willens, ferner die ungeheure Bedrohung, ohne die er nicht zu denken ist, denn er kommt ja nicht als Muster, sondern als Ausnahme, er beruft sich selbst, man kann natürlich auch sagen, er wird berufen. (GWE III, S. 237) Eine geschichtliche Verwandlung wird immer eine anthropologische Verwandlung sein. In der Tat, jede politische Entscheidung, die heute fällt, ist eine Entscheidung anthropologischer und existentieller Art. Hier beginnt eine Trennung von Zeitaltern, die die Substanz berührt. (GWE III, S. 238) Ich trete nun nicht für Wiederholung dieser Maßnahmen ein, in dieser Frage hat allein die exakte Rassenforschung und Psychopathologie das Wort, aber es scheint mir doch sehr bemerkenswert, ja fast sensationell, darüber nachzudenken, daß ohne diese ungeheuerlichen

15 Maßnahmen eugenischer Art, an denen bisher von keiner Seite Kritik geübt wurde, zwei Religionen, welche den größten Teil der bewohnten Erde beherrschen, das Christentum und der Islamismus, also der Monotheismus an sich, voraussichtlich gar nicht zur Entfaltung gekommen wären. Mir scheint also aus diesen Tatsachen, die bisher gar nicht öffentlich beachtet wurden, hervorzugehen, daß Rassenzüchtung uralt ist, heimisch in allen Geschichtskreisen, daß sie keineswegs von vornherein ein Volk moralisch belastet. (GWE III, S. 241) Ein Jahrhundert großer Schlachten wird beginnen, Heere und Phalangen von Titanen, die Promethiden reißen sich von den Felsen, keine der Parzen wird ihr Spinnen unterbrechen, um auf uns herunterzusehen. Ein Jahrhundert voll Vernichtung steht schon da, der Donner wird sich mit dem Meer, Feuer mit der Erde sich begatten, so unerbittlich werden die Endgeschlechter der weißen Rasse aneinanderge hen. Also gibt es nur eins: Gehirne muß man züchten, große Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit Eckzähnen, Gebiß aus Donnerkeil. Verbrecherisch, wer den neuen Menschen träume risch sieht, ihn in die Zukunft schwärmt, statt ihn zu hämmern; kämpfen muß er können. (GWE III, S. 242)

Lektüreempfehlungen: § § §

GB: Rede auf Stefan George, in: GWE III, S. 479–490 GB: Gedichte, in: GWE I, S. 300 Gottfried Benn: Monolog, in: Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ,Verdeckten Schreibweise' im „Dritten Reich“, München: Fink 1999, S. 562–570

Suggest Documents