Reclam. Joachim Dyck Gottfried Benn: Requiem. Gottfried Benn: Requiem Es gibt keine Hoffnung jenseits des Nichts. Von Joachim Dyck

Reclam Joachim Dyck Gottfried Benn: Requiem Gottfried Benn: Requiem Es gibt keine Hoffnung jenseits des Nichts Von Joachim Dyck Gottfried Benn: »Req...
Author: Adolph Kraus
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Joachim Dyck Gottfried Benn: Requiem Gottfried Benn: Requiem Es gibt keine Hoffnung jenseits des Nichts Von Joachim Dyck

Gottfried Benn: »Requiem« Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber kreuzweis. Nah, nackt, und dennoch ohne Qual. Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber gebären nun ihr allerletztes Mal. Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden. Und Gottes Tempel und des Teufels Stall nun Brust an Brust auf eines Kübels Boden begrinsen Golgatha und Sündenfall. Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten: Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib. Ich sah, von zweien, die dereinst sich hurten, lag es da, wie aus einem Mutterleib. (StA 1,13; Abdruck mit Genehmigung des Klett-Cotta Verlags.)

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© 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.



Joachim Dyck Gottfried Benn: Requiem

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Es gibt keine Hoffnung jenseits des Nichts Die Sammlung von neun Gedichten, die unter dem Titel Morgue und andere Gedichte als 21. lyrisches Flugblatt im März 1912 in Berlin-Wilmersdorf erschien, machte Benn in den kleinen Zirkeln rebellischer junger Literaten bekannt, die sich in den Großstädten gebildet hatten, in München oder Prag. Und natürlich in Berlin, wo die beiden wichtigsten expressionistischen Zeitschriften, Die Aktion und Der Sturm, erschienen. Wenn sich die bürgerliche Tagespresse und die konservativeren Literaturzeitschriften der Broschüre überhaupt annahmen, drückten sie ihre Ablehnung aus. Sie warfen dem Dichter Unmoral und mangelndes Formgefühl vor, bescheinigten ihm »ekelhafte Lust am Häßlichen, Unflätigen, an schamlosen Offenheiten« (Hanns Wegener, 1912, in: Hohendahl, S. 98) und verwarfen die »Bilder von einer Scheußlichkeit ohnegleichen« (Hans von Weber, 1912, in: Hohendahl, S. 91). Leser mit »ängstlichem Nervensystem« wurden gewarnt (Emil Faktor, 1912, in: Hohendahl, S. 92). Den gleich gesinnten, jungen Expressionisten kamen diese Gedichte im Kampf gegen den provinziellen Zuschnitt der deutschen Lyrik jedoch zupass. Der Protest des bürgerlichen Lagers war erwartet und als Bestätigung der eigenen Haltung erwünscht. Da Benns Gedichte 1912 »in das Spannungsfeld der literarischen Fronten gerieten, wurde ihr ästhetischer Eigenwert allerdings meist nicht befragt. Gegner wie Befürworter beschränken sich vorwiegend auf die Darstellung und Kritik der antitraditionalistischen Elemente« (Hohendahl, S. 27). Und selbst der Expressionist Ernst Stadler, der nicht in einen apologetischen Ton verfiel, sondern durchaus unvoreingenommen die Bedeutung der Morgue als Beispiel eines neuen Stils würdigte, kommt in der Bestimmung der ästhetischen Neuerung nicht über Begriffe wie »unheimliche Schärfe und Sachlichkeit«, »Realität und Tatsachenwucht« hinaus (Ernst Stadler, 1912, in: Hohendahl, S. 96).

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Aus der Realitätsnähe, die Stadler schätzt, wird Benn ansonsten ein Strick gedreht: »Zuviel Photographie« (Wolfgang Martens, 1912, in: Hohendahl, S. 90) oder »schreiender Naturalismus« (Hanns Wegener, 1912, in: Hohendahl, S. 98). Noch 1932 bescheinigt Peter Hamecher der Morgue »naturalistische Wiedergaben, ohne Kunstwillen niedergeschrieben« (Hamecher, in: Hohendahl, S. 158), und spricht von den »frühen medizinisch-naturalistischen Gedichten«. In der Literaturwissenschaft leben diese Klischees bis heute fort. Da ist etwa von der »detailbesessenen Realität« der Gedichte die Rede (Ridley, S. 35), von ihrem »kalt-wissenschaftlichen Jargon« (Best, S. 67) oder von der »Demonstration grausiger Sektionsbefunde« (Buddecke, S. 273). Solche Urteile wiederholen eine Irrtum: Sie stammen von Germanisten, denen die Obduktionserfahrung fremd ist, die nie ein ärztliches Protokoll, offenbar nicht einmal die Gedichte Wort für Wort gelesen haben. Soll man die Zeile: »Den Schädel auf. Die Brust entzwei« etwa als Sektionsbericht lesen oder als »naturalistische Szenerie des Leichenkellers und der zerstörerischen Arbeit des Pathologen, die nach Regeln der Beschreibung aufgebaut ist« (Reininger, S. 36)?1 Allenfalls ließe sich sagen, dass selbst die Sprache von Obduktionsberichten gelegentlich auf Metaphern zurückgreifen muss oder dass der verblose Telegrammstil dieses Gedichtes an die verblosen Kurznotate eines solchen Protokolls erinnert. Der 25-jährige Medizinstudent Benn hätte über das Wirklichkeitsverständnis seiner germanistischen Interpreten eher gelächelt. Denn schließlich sind Sektionen keine Metzeleien und Gedichte keine Berichte. Notizen über eine Obduktion bleiben umgangssprachlich, in Stichworten werden die Befunde auf dem vorgedruckten Formblatt eingetragen. Am 6. November 1912, also nur Monate nach Erscheinen der Morgue, obduziert Benn die Leiche des 41-jährigen Kaufmanns Richard W., der einen Tag vorher gestorben war.2 »Männliche Leiche in sehr heruntergekommenem Ernährungszustand. Nur Haut und Knochen. Fettpolster verschwunden. Muskulatur

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schwach, schlaff«, trägt Benn unter der Obduktionsnummer 705 in die Rubrik »Äußeres und Extremitäten« des Formulars ein. Im Abschnitt »Brusthöhle« wird die »ausgedehnte Verwachsung der Pleurablätter« vermerkt: Die Lungenoberfläche, soweit nicht verwachsen, glatt und spiegelnd. Schnittfläche: in beiden Oberlappen zahlreiche Kavernen bis zur Größe eines Hühnereis. Die Wände sind z. T. starr; schmierig belegt, zerklüftet. Durch die größeren Höhlen ziehen vielfach weißliche Stränge (Bronchien). In den Unterlappen verstreut reichlich käsige Herde, dazwischen jedoch lufthaltiges Gewebe. Bronchien: Schleimhaut etwas gerötet, mit Schleim bedeckt. Im Kehlkopf am Ansatz von beiden Stimmbändern ein pfennigstückgroßes, weit in die Tiefe gehendes Geschwür. Für die »Bauchhöhle« hält Benn die »normale Farbe u. Konsistenz des Darminhalts« fest, entdeckt »im Dünndarm zahlreiche tuberkulöse Geschwüre«, die sich »bis unmittelbar in die Muskulatur des Sphincter externus« (äußerer Afterschließmuskel) hinziehen. Leber und Nieren sind ohne Befund. An den Geschlechtsorganen ist, bis auf die »verkästen Samenblasen«, nichts zu entdecken, auch die Kolumne »Kopf und Rückenmark« enthält nur die Buchstaben »o. B.« (ohne Befund). Die anatomische Diagnose auf dem Deckblatt lautet zusammenfassend: »Chron.[isch] ulceröse Lungentuberkulose. Tuberkulose des Kehlkopfes, des Darms, der Samenblasen. Magensenkung und Erweiterung.« Gerade das Gedicht Requiem ist ein gutes Beispiel für die ausgeklügelte ästhetische Architektur, in der der Seziersaal als Ort des Geschehens gar nicht erwähnt wird, da Benn mit den Gedichten der Morgue in keinem Fall eine mimetische Absicht verfolgt. Im Gegenteil. »Wirklichkeitszertrümmerung« ist das Stichwort für die

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expressionistische Ästhetik, die Kurt Pinthus 1915 programmatisch der älteren Dichtung gegenüberstellt: Einer früheren Generation bedeutete Abschilderung, Analyse und Erkenntnis der Wirklichkeit Aufgabe und Ziel der Kunst. [. . .] Die Wirklichkeit vom Umriß ihrer Erscheinung zu befreien, uns selbst von ihr zu befreien, sie zu überwinden nicht mit ihren eigenen Mitteln, nicht indem wir ihr entfliehen, sondern, sie umso inbrünstiger umfassend, durch des Geistes Bohrkraft, Beweglichkeit, Klärungssehnsucht, durch des Gefühls Intensität und Explosivkraft sie besiegen und beherrschen, das ist der gemeinsamste Wille der jüngsten Dichtung.3 Diese Auffassung wird programmatisch von Rudolf Kayser 1918 wiederholt: »Darin offenbart sich ja die neue Kunst: daß sie die empirische Wirklichkeit der geistigen unterwirft, allen Lärm und Schein der Erde den Ideen unterstellt, die nur unserem Willen entstammen.«4 Und Benn selbst charakterisiert den expressionistischen als den »antinaturalistischen« Stil (StA 4,80). Die konservative Literaturkritik lässt sich daher als aufgeregte Abwehr einer literarischen Moderne verstehen, die gar nichts mehr mit der gewohnten Lyrik der Liliencron, Falke, Dehmel oder Schaukal zu tun haben wollte. Aber auch die Germanistik, die bei der Morgue immer noch von einer »konzisen, prägnanten Darstellung, der extrem häßlichen Sektionswirklichkeit« spricht, von der »puren Faktizität, der präzisen Aussage, der exakten Beobachtung, der sachlichen Phänomenbeschreibung« (A. R. Meyer, S. 190 ff.), kann von einem griffigen Klischee nicht lassen, obwohl die Ästhetik und Metaphorik dieser Gedichte, gemessen an den täglichen Schreckensbildern des Fernsehens, dem heutigen Leser eher unverständlich und fremd, wenn nicht gar harmlos vorkommen müssen.

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