LEBEN & LIEBEN

Alles anders!

Keine Epoche ist so unter Vorurteilen verschüttet wie das Mittelalter. Die wohl unfairste Fehlannahme lautet: es habe keinen Fortschritt gegeben. Von EVA-MARIA SCHNURR

Gegen Ende des Mittelalters schuf Hans Memling dieses Bild der Passion Christi. Die Stadt Jerusalem ist dreidimensional dargestellt, die Zentralperspektive realistisch. Gemälde, ca. 1470

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m ein Vorurteil loszuwerden, könnte man das Straßburger Münster von beiden Seiten betrachten. Von hinten sieht die Kirche aus wie eine Trutzburg, erdenschwer die massiven Mauern, kurz die Türmchen, gedrungen die Fenster. Von vorne betrachtet scheint das Gotteshaus dagegen fast zu schweben, so entschlossen strebt es gen Himmel: Zierlich wachsen die Säulen nach oben, filigran schmücken Kapitelle und Fensterumrandungen die Fassade, leicht wie geklöppelte Spitze wirkt der rote Sandstein. Was aussieht, als habe jemand zwei völlig unterschiedliche Gebäude aneinandergespachtelt, ist die Verkörperung eines radikalen Wandels: Als der Chorraum der Kathedrale ab 1176 errichtet wurde, baute man noch im robusten Stil der Romanik; doch schon 1225 brachten neue Dombaumeister die kühne Architektur der Gotik in die Stadt am Rhein. Der Nordturm war mit seinen 142 Metern noch bis 1874 das höchste Gebäude der Welt. Damit ist das Straßburger Münster so etwas wie der steingewordene Gegenbeweis eines der hartnäckigsten Stereotype über das Mittelalter: das nämlich, es habe in den Jahren zwischen 500 und 1500 so gut wie keine Veränderungen und erst recht kein innovatives Denken gegeben, es sei eine statische, fast schon bleierne Zeit gewesen, in die erst Renaissance und Reformation Schwung gebracht hätten. Ein Gang um das Münster führt förmlich vor Augen: Das kann so nicht stimmen. Gäbe es so etwas wie ein Antidiskriminierungsgesetz für Epochen, das Mittelalter wäre unter den Nutznießern ganz vorn dabei. Über kaum einen Zeitabschnitt der Geschichte gibt es so viele Vorstellungen, die so daneben liegen: Die Menschen hielten die Erde für eine Scheibe – taten sie nicht (siehe Seite 64). Die Inquisition machte kurzen Prozess mit allen religiösen Abweichlern – ein ganz falsches Bild (siehe Seite 72). Man lebte in Großfamilien – ein Missverständnis (siehe Seite 30). Oder eben: Es hat sich nichts verändert. Stimmt natürlich auch nicht, wie schon der Blick auf die beiden Bauabschnitte des Straßburger Münsters zeigt.

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Doch die falschen Bilder über das Mittelalter halten sich hartnäckig, sind vielleicht sogar beständiger als Vorurteile über andere Epochen. Das grundlegende Problem dabei: Es ist kaum möglich, Geschichte objektiv und neutral einfach nur zu beschreiben. Stattdessen färben Erfahrungen von heute die Sicht auf frühere Zeiten, wie der Ägyptologe Jan Assmann schreibt: „Die Vergangenheit wird von der Gegenwart nicht einfach rezipiert. Die Vergangenheit wird von der Gegenwart rekonstruiert, modelliert und unter Umständen auch erfunden.“ Zwar gilt das für alle Zeitalter, doch für das Mittelalter kommt erschwerend hinzu, dass die Quellenlage äußerst dürftig ist. Vor allem über das Alltagsleben und die Befindlichkeiten der Menschen, darüber, wie sie dachten, woran sie glaubten, wie sie fühlten, ist wenig überliefert. Diese Lücken wurden schon bald nach Beginn der Neuzeit durch eine ordentliche Ladung Fantasie gestopft – und nicht selten auch durch Ideologie. Besonders wirkmächtig schnitzten Aufklärer des 17. und 18. sowie Romantiker des 19. Jahrhunderts am Image des „mittleren Zeitalters“. Den Aufgeklärten ging es darum, das Eigentümliche ihrer Gegenwart hervorzuheben, den Glauben an die Vernunft, die Skepsis gegenüber Vorgegebenem. Die Strahlkraft des Neuen wirkte umso mehr, je finsterer die Vergangenheit dahinter zurücktrat – die Mär vom irrationalen Mittelalter war geboren, einer Zeit, in der die Menschen von der Kirche oder von Feudalherren in Knechtschaft gehalten wurden und mehr oder weniger vor sich hin vegetierten. Die Romantiker griffen dieses Vorurteil auf, deuteten es allerdings genau gegenteilig, nämlich positiv. Sie selbst litten an den immer rasanteren gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen, sie sehnten sich zurück in eine Welt ohne Umbrüche, ohne die Zumutung ständiger Veränderung. Daraus entstand die Fantasie eines ganzheitlich-idyllischen Mittelalters, in dem jeder seinen festen Platz in der Gesellschaft hatte, in dem Mensch und Natur im Einklang standen und in dem über Jahrhunderte alles so gut wie gleich blieb.

Natürlich erfanden die MittelalterDeuter das alles nicht einfach aus dem Blauen heraus. Sie boten durchaus Quellen dafür auf: Chroniken, Urkunden, Rechtsbücher, zum Beispiel, oder auch Dichterwerke. Nur: Sie stellten Fragen aus ihrer eigenen Gegenwart an eine Zeit, in der diese Fragen noch gar keine oder eine völlig andere Rolle spielten. Die Menschen des Mittelalters stellten sie nicht, weil sie die Welt anders sahen, weil sie anders dachten, andere Vorstellungen und Werte hatten. Folglich findet sich dazu in den Quellen auch wenig – oder gar Missverständliches. Denn Fortschritt wurde erst im späten 17. Jahrhundert zum Leitwert einer Kultur, die sich aus den Fängen der Tradition befreien, selbst denken, voranschreiten wollte. Ein grundlegender Wertewandel hatte sich vollzogen: Neues, Modernes war nun positiv besetzt, Tradition dagegen galt als rückständig und verstaubt. Im Mittelalter war es genau umgekehrt: Althergebrachtes genoss höchste Autorität, nur das schon möglichst lang Bewährte galt als richtig und wahr. Das eigene Urteil zählte nichts, jenes uralter Kapazitäten alles. Der französische Philosoph Wilhelm von Conches brachte die Ansicht Anfang des 12. Jahrhunderts in einen Satz: „sumus relatores et expositores veterum, non inventores novorum“ – wir sind Vermittler und Erklärer des Alten, nicht Erfinder von Neuem. Die Schöpfung, so die Vorstellung der mittelalterlichen Denker, war nun einmal abgeschlossen, menschliche Kreativität konnte deshalb höchstens „Imitatio“ sein, also Nachahmung, und wer anderes behauptete, machte sich verwerflicher Eitelkeit schuldig: „Dass man abweichende Sitten, Absonderlichkeiten und Neuartiges in Lebensweise und Kleidung meiden soll“, mahnte etwa die später heiliggesprochene Nonne Hildegard von Bingen in ihrer Schrift „Wisse die Wege des Herrn“. Die Begriffe „Novitas“ und „inventor“, Neuigkeit und Erfinder also, waren bis mindestens zum Hochmittelalter eindeutig negativ besetzt. Deshalb versuchte man, Erfindungen oder neue Entwicklungen möglichst nicht als solche

Neuerungen waren verpönt, nur das möglichst lang Bewährte galt. Notfalls fälschte man Dokumente. 16

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S. 14-15: LUISA RICCIARINI/LEEMAGE/PICTURE ALLIANCE/DPA; BRIDGEMANART.COM (O.)

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Im frühen Mittelalter malte man Städte – hier Babylon – flächig und ohne Perspektive. Buchmalerei, 1047

mieren, es bedarf eigentlich nur der reformatio im Sinn einer Wiederherstellung alter, besserer Zustände“, erklärt der Historiker Winfried Schulze in einem Aufsatz. Logisch, dass man in einer Kultur mit diesen Werten lange suchen muss, bis man optimistische Reflexionen über so etwas wie Veränderungen oder Neuerungen findet – oder überhaupt explizite Berichte darüber. Es gab den Wandel, nur wurde er nicht groß zum Thema gemacht. Noch einmal ein Blick aufs Straßburger Münster: Zwischen der Architektur der Romanik und Gotik liegen nicht nur geschmackliche Welten, auch die Fähigkeiten der Kathedralen-Baumeister entwickelten sich enorm weiter. Es ist kein Zufall, dass die neue Mode der Gotik ausgerechnet am Übergang zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert aufkam. Heutige Historiker datieren rund um diese Zeit einen fundamentalen Umbruch nicht nur in der Kultur, sondern auch im Denken, Fühlen und Zusammenleben der Menschen. Wenig blieb, wie es gewesen war – und dennoch fasst man seit der Renaissance alles unter dem Epochenbegriff „Mittelalter“ zusammen. Schon im 11. Jahrhundert wuchs die herauszustellen, sondern, im Gegenteil, erstes kodifiziertes Gesetzbuch in deutauf ihre lange Tradition zu verweisen. scher Sprache verfasste, beteuerte, er Bevölkerung in Europa massiv – von „Als Neuerung zulässig ist nur das, was habe das Werk nicht selbst formuliert, etwa 46 Millionen um 1050 auf rund 61 überliefert ist“, lautet eines der päpstli- sondern lediglich Überliefertes der Vor- Millionen um 1200. Das Klima wurde chen Zitate aus der Spätantike, mit de- fahren gesammelt: „Dit recht hebbe ek milder, und die Ernten konnten immer nen man diese Anschauung begründete. selve nicht irdacht, ik hebbet van aldere mehr Menschen ernähren. Auch ErfinIm Zweifel fälschte man dafür Doku- an unsik gebracht, unse guden vorevaren.“ dungen und neue Techniken wie der Rämente. So datierte die Kirche 1215 die – Eine andere Strategie war es, für In- derpflug, die Dreifelderwirtschaft, die brandneue – Vorschrift der jährlichen novationen verharmlosende Begriffe Windmühle und die immer weiter verBeichte auf die Zeit des Papstes Siricius wie „Korrigieren“, „Reformieren“, „Ver- breitete vertikale Wassermühle erhöhzurück, der zwischen 384 und 399 auf bessern“ zu nutzen, um deutlich zu ma- ten den Ertrag und die Produktivität der dem Petrusstuhl saß, um ihr das entspre- chen, dass man ja eigentlich gar keine Wirtschaft. Die Gesellschaft organisierte sich zuchende „Es war immer schon so“-Ge- Neuerung im Sinn habe. „Eine Änderung wicht zu verleihen. Auch Eike von Rep- bestehender Verhältnisse lässt sich nur nehmend arbeitsteilig, unterschiedliche gow, der um 1230 den Sachsenspiegel als im Rückbezug auf alte Zustände legiti- Berufe entstanden: Ein eigener Bauern-

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stand entwickelte sich ebenso wie ein neuer Ritterstand, gebildet aus ursprünglich freien Adligen und ursprünglich unfreien Ministerialen; rund um die neuen Universitäten tauchte eine Gelehrtenschicht auf. Städte entstanden, sie brachten den Stadtbürger mit ganz neuen Bürgerrechten und auch spezialisierte Handwerker und Kaufleute hervor. Der Horizont der Menschen weitete sich mit den Reisen, die Händler, Pilger und Kreuzfahrer nun immer häufiger unternahmen. Und die Menschen begannen, sich für ihr eigenes Inneres zu interessieren, für ihre Gefühle und Gedankenregungen; so etwas wie ein Bewusstsein vom eigenen Selbst entwickelte sich. Damit noch nicht genug an Neuem: Auch die emotionale Liebe zu einem Partner oder einer Partnerin wurde jetzt erstmals seit der Antike wieder Thema, und sogar im Glauben strebten viele Menschen nach einer immer innigeren, ganz persönlichen Beziehung zu Gott. Und nicht zuletzt änderte sich die Weltwahrnehmung wohl ganz konkret: Gelehrte lasen in den Schriften des Aristoteles, dass Wissen nur durch die Wahrnehmung des Sichtbaren gewonnen werden könne, der Sehsinn wurde nun mehr geschätzt als in den Jahrhunderten zu-

500 – 1500 Mittelalter in Europa 486/87 Unter dem Merowinger Chlodwig I. entwickelt sich

das fränkische Reich zum Großreich. Der König lässt sich taufen und legt damit die Grundlage für ein christliches Europa.

500

754 Franken-

gründet das Kloster Montecassino und stellt die „Regula Benedicti“ auf. Diese wird Anfang des 9. Jahrhunderts zur allgemeingültigen Mönchsregel.

könig Pippin, Vater von Karl dem Großen, schmiedet ein Bündnis mit dem Papst.

600

Die globale Perspektive ab 552 Japan über-

nimmt den Buddhismus, der im 4. Jh. v. Chr. in Indien entstand und von dort nach China gelangte.

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530 Benedikt von Nursia

622 Mohammeds Auswan-

derung von Mekka nach Medina begründet den Islam. 732 stoppt Karl Martell in der Schlacht bei Tours und Poitiers den Vorstoß der Mauren ins Frankenreich.

700

800 An Weihnachten lässt sich Karl der Große in

Rom vom Papst zum Kaiser krönen.

800

um 900 In Zentralamerika zerfällt die Hochkultur der Maya aufgrund innerer Konflikte und Dürren. Sie hatte sich seit etwa 800 v. Chr. kontinuierlich entwickelt.

M. PIGNATELLI/BILDAGENTUR HUBER (U.L.); ULLSTEIN BILD / IMAGNO (M.L.); BIBLIOTHÈQUE NATIONALE DE FRANCE, PARIS (O.L.); INTERFOTO (U.R.); ULLSTEIN BILD / ACTION PRESS (M.R.)

Um 1400 haben die Stadtdarstellungen – wieder Babylon – schon räumliche Tiefe, aber noch keine Zentralperspektive. Buchmalerei, ca. 1400

955 Durch seinen Sieg über die Ungarn erwirbt sich der ostfränkische König Otto I. den Nimbus als Retter der Christenheit. Er erobert Italien und erneuert in der Tradition Karls das Kaisertum.

900 982 Die Wikin- um 1025 Das Byzantini-

ger besiedeln Grönland.

sche Kaiserreich erreicht seine größte Ausdehnung. Es umfasst nun Gebiete vom heutigen Bulgarien über Griechenland bis nach Syrien und Palästina.

vor, man guckte genauer hin, beobachtete die Natur, die Umwelt. Einige Forscher wie der österreichische Historiker Peter Dinzelbacher mutmaßen gar, nun habe sich ein neues dreidimensionales Denken entwickelt, weil der Blick sich erstmals systematisch in die Höhe gerichtet habe: Nicht nur, dass Adlige ihre Burgen vermehrt auf Bergvorsprüngen und Hügeln errichteten, auch die gotischen Kirchen mit ihren schwindelerregend hohen Spitzbögen und Decken seien ein Beleg dafür. erkten die Menschen, wie dramatisch ihre Welt und ihre Sicht darauf sich wandelte? Manches deutet darauf hin: So beschrieb man die soziale Wirklichkeit nicht mehr länger mit der Aufteilung in „Mönche, Kleriker, Laien“, der ein religiös fundiertes Schema zugrunde lag. Seit dem 11. Jahrhundert setzte sich stattdessen eine an arbeitsteiligen Funktionen orientierte Dreiteilung durch. Nun unterschied man zwischen Oratores, Bellatores, Laboratores, also Betenden, Kriegführenden und Arbeitenden, ein Hinweis, dass nun etwas anders war als vorher. Das vielleicht deutlichste Zeichen aber, dass die Zeitgenossen den Wandel wahrnahmen, war die allmähliche Aufwertung des bis dato extrem negativ belegten „Neuen“. Langsam aber sicher verloren Neuerungen ihren schlechten Ruf. Vor allem die moderne gotische Baukunst wurde durchaus als Innovation gefeiert. Auch Erfindungen – etwa jene der Brille oder der Uhr – wurden nun sogar in Predigten positiv gewürdigt.

M

Ab 1037 In der Recon-

1096 Im ersten Kreuzzug

quista erobern Ritter schrittweise bis 1236 den Süden der Iberischen Halbinsel von den Arabern zurück, die dort seit 711 geherrscht haben. Granada bleibt bis 1492 muslimisch.

ziehen Ritterheere aus Südfrankreich, der Normandie, Lothringen, Flandern und Süditalien ins Heilige Land, um Jerusalem von den „Ungläubigen“ zu befreien.

1000

1100

Gegen Ende des Mittelalters wurde „novus“, also „neu“, zeitweilig gar zu einem Modewort, sollte die Modernität derer ausdrücken, die ein solches Wort benutzten und sich damit vom Alten, Überkommenen abgrenzen wollten. Der grundlegende Mentalitäts- und Kulturwandel zeichnete sich ab, der den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markiert. So radikal war dieser Wandel, dass schon wenige Generationen später das Denken des Mittelalters seltsam fremd anmutete, ja rückständig. Nach vorn richtete sich jetzt der Blick der Menschen. Dort wartete eine ferne, bessere Zukunft, gestaltbar von Menschen, realisierbar auf Erden, so dachte man nun. Die Angst vor dem Weltende, die feste Überzeugung, ein besseres Leben nur im Jenseits erwarten zu können, den festgefügten göttlichen Heilsplan nicht durch eigene Kraft verändern zu können – all das hatte man bald vergessen. Doch ohne das Wissen um diese einst mächtige Weltanschauung, um die Konventionen, Spielregeln, ist es kaum mehr möglich, die Menschen des Mittelalters richtig zu verstehen: Die oft unausgesprochenen Normen waren – nicht anders als die heutigen – allgegenwärtig, prägten das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen fundamental. Historiker bemühen sich deshalb heute darum, den alten Denkmustern, Vor-

ab 1130 Nun

entwickeln sich Wappen als Kennzeichen für Ritterfamilien.

1200

stellungen und Weltbildern nahezukommen, die Fragen zu stellen, die sich die Zeitgenossen von damals stellten. Auch dies ist eine Interpretation der Geschichte, aber sie achtet die einstigen Befindlichkeiten, Werte und Vorstellungen. Das Bild, das auf diese Weise entsteht, ist komplexer, manchmal auch verwirrender als die scheinbar klaren, aber eben oft falschen Annahmen von früher. Und es macht nachdenklich. Denn wenn selbst scheinbar elementare Gefühle wie die romantische Liebe zu einem Partner, ein schlechtes Gewissen oder die Freude bei der Erfindung von etwas Neuem nicht naturgegeben, sondern historisch bedingt sind, wie man heute annimmt: Relativiert das nicht auch, was man selbst für gegeben und nicht veränderbar hält? Rüttelt es nicht an dem oft arg festen Rahmen des eigenen Weltbilds? Manchmal scheinen die Menschen des Mittelalters ganz vertraut und nah: In ihren Bildern etwa, die heute noch berühren, in vielen ihrer Schriften, deren erzählerische Wucht heute noch mitreißt, in ihren Bauwerken, die heute noch staunen lassen. Im nächsten Moment dagegen sind sie schockierend fremd und fern: in ihrem oft bizarr formalen Denken, in ihrem Glauben an Wunder und Magie, in ihrem scheinbar beschränkten Weltbild. Sie waren Personen mit ähnlichen Grundbedürfnissen wie die Heutigen, hatten Hunger und Durst, empfanden Freude und Angst, Lust und Leid. Doch die Fragen, die sie an die Welt stellten, waren oft andere als heute. Und auch ihre Antworten waren andere. Vielleicht erklärt genau das, warum die Epoche bis heute so fasziniert. n

1144 Die Abteikirche von Saint-Denis bauen die Handwerker erstmals im Stil der Gotik. Die Kathedralen der damit beginnenden Epoche erregen bis heute Bewunderung.

1300

ab 1181 Unter König Jaya-

ab 1196 Die Mongolen un-

um 1230 Das westafrika-

varmon VII. wird das Reich der Khmer (im heutigen Kambodscha) zum mächtigsten Staat Indochinas.

ter Dschingis Khan unterwerfen weite Gebiete der asiatischen Steppe. Ihr Herrschaftsgebiet reicht zeitweise von der Küste Chinas im Osten bis nach Polen im Westen sowie von Moskau im Norden bis Pakistan im Süden.

nische Großreich Mali zwischen dem heutigen Nigeria und dem Atlantik wird zu einem auch international wichtigen (Gold-)Handelsund Kulturzentrum. In Timbuktu entstehen bedeutende Bibliotheken und islamische Universitäten.

ab 1348 Eine Pestwelle

1483 In Spanien

rafft, ausgehend von italienischen Häfen, in wenigen Jahren ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin. Agrarpreise sinken und Fachkräfte fehlen.

wird das erste Papiergeld Europas ausgegeben, weil Metall für Münzen fehlt.

1400 1271 Die Juwelenhändler Niccolò, Maffeo und Marco Polo aus Venedig brechen zu einer Handelsreise nach China auf. Marco diktiert nach seiner Rückkehr 1295 den berühmt gewordenen Bericht.

1406 Der chinesische Kaiser Yongle lässt die Verbotene Stadt bauen.

1453 Die Osma-

nen erobern Konstantinopel. Damit endet die Geschichte des byzantinischen Kaiserreichs.

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