Judith Gruber-Rizy Der Mann im Goldrahmen. Roman

Judith Gruber-Rizy Der Mann im Goldrahmen Roman 3 J eden Tag ein Foto. Ich werde jeden Tag um halb zehn Uhr am Vormittag ein Foto machen. Ein Jah...
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Judith Gruber-Rizy

Der Mann im Goldrahmen Roman

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eden Tag ein Foto. Ich werde jeden Tag um halb zehn Uhr am Vormittag ein Foto machen. Ein Jahr lang. Aus dem Kabinettfenster hinaus auf den Kirschbaum, das Garten­häuschen, auf den Kirchturm. Der kleine Apfelbaum rechts neben dem Kirschbaum, dahinter das Haus mit dem Dach­fenster, und zwei Tannen umrahmen den Blick. Jeden Tag ein Foto. Der Fotoapparat ist auf dem Stativ so aufgestellt, dass ich das Fenster problemlos öffnen kann. Festgeklebt das Stativ am Holzboden. Ein Jahr lang werde ich den Fotoapparat nicht herunternehmen, ein Jahr lang werde ich jedes der täglichen Fotos vom selben Standort in derselben Einstellung aufnehmen. Ein Jahr lang jeden Tag Kirschbaum, Gartenhäuschen, Kirchturm. 365 Fotos. Ausgearbeitet auf 20 mal 30 Zenti­ meter ergibt das eine Fotofläche von 21,9 Quadratmetern. Reiht man ein Foto im Querformat an das andere, erhält man eine Länge von 109,5 Metern. Nach einem Jahr werde ich also an 109,5 Metern Kirschbaum, Gartenhaus, Kirchturm, Apfelbaum, Haus mit Dachfenster, zwei Tannen entlanggehen können. Vom Frühsommer über den Sommer, den Herbst, den Winter, den Frühling. Vom 1. Mai bis zum 30. April. Ein Jahr auf 109,5 Meter gebannt. Überschaubar also, begrenzt. Entschieden muss nur werden, ob dieses eine Jahr von links nach rechts verlaufen soll, oder von rechts nach links. Doch

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diese Entscheidung muss ich noch nicht jetzt fällen. Damit kann ich mir Zeit lassen. Ich werde viel Zeit haben in diesem Jahr. Sehr viel Zeit. Zeit zum Erinnern, zum Nachdenken über so vieles und über mich, über mein Leben, über Versäumtes und nicht Geleb­tes. Ohne Fluchtmöglichkeiten in Museen, zu Ausstel­ lungen, in Kon­zerte, ins Theater, zu Treffen mit Freunden und Be­kannten. Ohne David vor allem. David wird mir am meisten fehlen. Das weiß ich schon jetzt. Aber David würde mir auch zu Hause fehlen, denn wäre ich nicht für ein Jahr hier heraufgezogen, dann hätte er sich bereits eine Wohnung oder ein Zimmer in einer Wohn­ gemeinschaft gesucht und wäre ausgezogen. Ob hier oder daheim, ich wäre also auf jeden Fall allein und damit allem preisgegeben. Etwas verrückt sei mein Fotoprojekt, hat David gemeint. Ein ganzes Jahr lang da oben sein zu müssen, nur um jeden Tag ein einziges Foto zu machen. Und er wälzte Pläne, wie er mit einer Zeituhr am Fotoapparat oder überhaupt mit einer Art Überwachungskamera zum selben Ergebnis kommen könnte. Und wer öffnet das Fenster?, fragte ich ihn. Unnötig, fand er, wir stellen die Kamera direkt an die Fensterscheibe. Regentropfen oder angelaufene Scheiben würden die Bilder nur noch interessanter machen, meinte er. Natürlich weiß ich, dass er im Prinzip recht hat – nur für die Fotos wäre es unnötig, tatsächlich ein Jahr lang heroben zu wohnen. Aber genau das will ich. Ein Jahr lang hier in diesem Ort, in der

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Einsamkeit dieser Wohnung mit Blick auf Kirsch­baum und Kirchturm. Das Gartenhäuschen blende ich meist aus, wenn ich an dieses Bild denke. Ein Jahr lang hier woh­nen, hier leben, hier arbeiten, erinnern, nachdenken, mich mir selbst ausliefern, ohne Ablenkungen. Das Foto jeden Morgen ist nur der äußere Zwang, den ich mir auferlege, um tatsächlich so lange auszuhalten. Sonst würde ich viel­leicht schon nach einigen Wochen finden, dass es reicht, und wieder nach Hause fahren wollen. Oder ich würde immer wieder wichtige Anlässe finden, die mich zurück nach W. zwingen. Um diese Ablenkungen auszuschalten, muss ich jeden Tag das Foto machen, selber, eigenhändig. Darf es keiner Zeitschaltuhr oder Überwachungskamera überlassen. Muss selber jeden Tag rechtzeitig aufstehen, ins Kabinett gehen, das Fenster öffnen, die Kamera einschalten und mit dem Fernauslöser, um die Kamera nur ja nicht zu bewegen, dieses eine Foto machen. Ein Jahr hindurch. Jeden Tag. Ich kann genau sagen, wann ich mich für die Durch­füh­ rung dieses Projektes entschieden habe. Und dennoch war es ein langer Prozess, der sich, wenn ich es recht überlege, über viele Jahre hingezogen hat. Immer wieder tauchte die Idee auf, eine Landschaft über längere Zeit hinweg zu beobachten und die Veränderungen auf Fotos festzuhalten. Das erste Mal in die Tat umgesetzt habe ich dies ansatz­ weise, als gegenüber unserer Wohnung in W. ein niedriges, altes Haus abgerissen und ein neues, hohes, mächtiges Haus gebaut wurde. Damals ging David in den Kindergarten. Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass man uns ein hohes Haus vor

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die Nase setzen und ich vom Schlafzimmer aus bald keinen weiten Blick mehr auf den Sonnenaufgang haben würde. Ich bekam davon Albträume, fühlte mich eingeengt und hatte das Gefühl, dieser Neubau würde mir die Luft abschnüren. Also fotografierte ich vom Schlafzimmerfenster aus den weiten Blick zu jeder Tageszeit, um mich später noch daran aufrichten zu können. Merkwürdig ist, dass ich mir diese Fotos nie mehr angeschaut habe. Ich habe sie in meinem Archiv abgelegt und seither nicht mehr in die Hand ge­ nommen. Dann habe ich den Abriss des alten Hauses fotografiert, selbst durch den dichten Staub hindurch. Damals, an jenem Frühsommernachmittag, bevor ich mit David zum Kinder­ garten­-Sommerfest ging. Und schließlich habe ich den Bau des neuen Hauses dokumentiert. Die Einengung des weiten Blicks. Mit jedem Stockwerk wurde es im Schlafzimmer dunkler. Keine Sonne mehr, die am frühen Morgen ins Bett herein scheint, kein Blick mehr auf den Himmel, sondern auf ein graues Dach mit großen Dachfenstern. Hier heroben habe ich noch den weiten Blick, von jedem Zimmer aus. Das ist ein wesentlicher Grund, warum ich mich hier wohlfühle. Der Kirschbaum engt den Blick nicht ein, der Kirchturm ist weit weg, das Gartenhäuschen so niedrig, dass ich von meiner Wohnung im ersten Stock darauf hinabschauen kann. Links sehe ich die Hügelkette, weit hinauf grüne Wiesen, oben den dunkelgrünen Wald. Alles Nadelbäume, Fichten vor allem, daher auch im Winter ein grüner Ausblick.

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Jetzt blüht der Kirschbaum. Das Weiß der Blüten ist beeindruckend, weil der Baum alt und groß ist. Ein großer weißer Fleck, der den Kirchturm fast schon verdeckt, nur die Spitze des Turms mit einer goldenen Kugel und einem goldenen Kreuz darauf ist noch gut zu sehen. Noch nie habe ich den Kirschbaum in Blüte gesehen. Ich war also nie Ende April oder Anfang Mai hier heroben. Es ist fast sommerlich warm, und seit ich hier bin, scheint jeden Tag die Sonne. Nur die Nächte sind kalt. Das ist hier immer so, selbst im Hochsommer. Ich wache am Morgen zeitig auf, weil die Sonne ins Schlafzimmer scheint. Vom Bett aus sehe ich nur blauen Himmel. So viel blauen Himmel, dass ich mich jeden Morgen frage, wann er mich langweilen wird. Mit dem blauen Himmel kann ich nicht reden. Er weckt nur Sehn­ süchte in mir. Nicht nach dem Süden oder nach dem Sommer. Sondern nach Menschen, nach einem Menschen, mit dem ich über den herrlichen, zartblauen Himmel am frühen Morgen reden möchte. Um 9 Uhr 25 läutet der Wecker, damit ich nicht vergesse mein Foto zu machen. Da bin ich schon lange wach und habe bereits gefrühstückt. Ich gehe ins Kabinett, öffne das Fen­ster und mache die Kamera bereit. Punkt 9 Uhr 30­drü­ cke ich auf den Auslöser. Kirschbaum, Kirchturm, Garten­­­ häuschen, Tannen. In der Wiese unter und neben dem Kirschbaum einige Hühner, alle rotbraun und voll­kom­men durchschnittlich. Kein Hahn zwischen den Hennen, das ist angenehm, denn so weckt mich im Morgengrauen kein

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Krähen. Zu Mittag sitzen die Hühner in kleinen Mulden neben dem Gartenhäuschen und dösen in der Sonne. Es ist so warm, dass ich mich nach dem Mittagessen auf den Balkon setze, um Kaffee zu trinken und zu lesen. Der Balkon geht auf die andere Seite des Hauses hinaus, nach Südosten, Kirschbaum und Kirchturm sehe ich Richtung Nordwesten. So habe ich am Morgen herrliches Licht zum Fotografieren. Am Abend sehe ich auf dieser Seite den Sonnenuntergang. Noch geht die Sonne links hinter der Hügelkette unter. Im Sommer wird sie näher beim Kirschbaum untergehen, zwi­ schen drei großen Bäumen im Hintergrund gleich links vom Kirschbaum. Ausgerechnet ein Kirschbaum. Er hat mich schon immer fasziniert, seit ich das erste Mal hier heroben in dieser Woh­ nung war. Schon damals war der Kirschbaum groß und alt. Und David war noch so klein. Sein größtes Ver­gnügen war es, die Hühner unter dem Kirschbaum hinter dem Holzzaun mit Salatblättern oder altem Brot zu füttern. Dazu musste ich ihn hochheben, oder er warf die Brotstücke zwischen den Zaunlatten hindurch. Damals fühlte ich mich nicht einsam. Ich sah mich auf einer Art von Lebenshöhepunkt. Mit David im Kindergartenalter, ohne Vorstellung davon, dass er irgendwann einmal groß und erwachsen sein würde. Ich war beruflich voller hochfliegender Pläne und versehen mit mittelgroßen Erfolgen, die vielver­ sprechend waren. Und einem Mann, der zwar abseits von meinem Leben mit David, aber doch irgendwie auch immer wieder vorhanden war, und dessen Gesellschaft mir damals

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noch angenehm war. Im Sommer bevor David in die Schule kam, freute ich mich darüber, wenn dieser Mann für einige Tage oder ein Wochenende zu Besuch herauf kam. Im Som­ mer nach Davids erstem Schuljahr freute ich mich nicht mehr über seine Besuche. Da hatte ich längst das Gefühl, dieser Mann würde mein Leben zu sehr einschränken. Vor al­lem aber brauchte ich niemanden, der mir ständig sagte, was richtig und was falsch für mich wäre. Aus dieser Phase war ich längst herausgewachsen. Ich bin hier nicht allein. Ich habe Nachbarn, ich habe Telefon und ich habe Internet. Der Großteil der Mails, die ich erhalte, sind Einladungen zu Veranstaltungen in W., zu denen ich nicht gehen werde, weil ich hier heroben bleibe, um mein tägliches Foto zu machen. Und ich habe meine Erinnerungen. Du wirst es nicht aushalten da oben, sagte David im Winter. Ein paar Wochen vielleicht, oder den Sommer über, aber nicht ein ganzes Jahr. David schüttelte den Kopf. Nicht ein ganzes Jahr. Doch, sagte ich, ich werde das aushalten, das wird kein Problem sein, ich weiß mich zu beschäftigen, mir ist noch nie langweilig geworden. Außerdem ist mir das Le­­ben in einem kleinen Ort nicht fremd. Da lachte David und schüt­telte noch einmal den Kopf. Großstadtkind, sagt­e ich. Ich muss allein sein, dachte ich, aber das sagte ich Da­­vid nicht. Nie habe ich ernsthaft überlegt, aus der Großstadt wieder zurück in die Provinz zu ziehen. Ich bin zum Studium in die Stadt gezogen, ohne zurückzuschauen, ohne den geringsten

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Wunsch danach, später wieder zurückzukehren. Ich wollte immer nur weg von zu Hause, weg aus der Kleinstadt, weg aus der Provinz, weg von den Menschen dort. Auch weg von meiner Familie. Kurzbesuche daheim ja, aber keinesfalls eine Rückkehr auf Dauer. Meine Kindheit und Jugend in der Provinz Vergangenheit sein zu lassen, das war mein Ziel. Und dieses Ziel habe ich erreicht, es war ganz leicht. Erst mit David kam die Sehnsucht nach dem Sommer auf dem Land. Und diese Sehnsucht habe ich mir erfüllt. Spon­ tan, ohne langes Zögern, und ohne Diskussionen mit dem Mann im Hintergrund. Ihn habe ich in diese Entscheidung nicht ein­bezogen, ich habe getan, was ich tun wollte, für mich und für David. Und wir haben jeden einzelnen Som­ mer während Davids gesamter Schulzeit hier heroben ge­ nossen.

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ch mache jeden Tag mein Foto. Der Kirschbaum ist inner­ halb weniger Tage zu einem weißen Ball aufgeblüht, wurde schwer und verdeckt fast den gesamten Kirchturm. Jetzt ist das Weiß nicht mehr so dominant, Grün mischte sich von heute auf morgen darunter, durchbricht das Weiß und ver­ deckt nun auch einen Teil des Gartenhäuschens. Die Äste hängen schwer herab, als würde der Baum dem Boden zu­streben wollen, um Kontakt mit den Hühnern zu be­ kommen. Der Mann im Hintergrund ist irgendwann so sehr in den Hintergrund gerückt, dass er aus meinem Blickfeld ver­ schwand. Ich habe es erst begriffen, als es unwiderruf­lich war, aber ich habe es nicht wirklich bedauert. Ich habe dieses Verschwinden einfach zur Kenntnis genommen. Er hat keine Lücke hinterlassen, obwohl ich mich manchmal fragte, ob ich sein Verschwinden nicht verhindern hätte sollen. Aber hätte ich es auch gekonnt? Ich habe es vor allem nicht ernst­ haft gewollt. Und David hat nicht einmal nach ihm gefragt. Warum ich nicht lieber eine große Reise unternehmen wolle, fragte mich Clara. Nach Indien oder Südamerika, viel­leicht nach Afrika oder in die Südsee. Ich hätte doch immer von großen Reisen geträumt, sagte Clara. Ich mache eine große Reise, antwortete ich. Ich reise hinauf in diesen kleinen Ort, bleibe ein ganzes Jahr dort und kehre dann wieder nach W. zurück, dorthin, wo ich zu Hause bin. Es ist also eine Reise. Aber doch nur knapp 300 Kilometer,

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meinte Clara, und an einen Ort, den ich doch längst in- und auswendig kennen müsse, nachdem ich so viele Sommer-, Weihnachts- und Osterferien dort verbracht hätte. Das spielt keine Rolle, erwiderte ich, für mich ist es eine Reise in eine andere Welt, in ein fremdes Land, in ein fremdes Leben. Ein Jahr allein und ohne eigentliche Verpflichtungen, außer der, einmal am Tag ein Foto zu machen. Von einem Kirschbaum, warf Clara ein, von einem einzigen Kirschbaum, du könntest Palmen fotografieren, Dschungel, Eisberge, Vulkane, Atolle, Städte – und du willst dich mit einem einzigen Kirschbaum und einem davon fast gänzlich verdeckten Kirchturm zufriedengeben. Ja, sagte ich, genau das will ich. Die Hinter­ gründe kann ich nie­mandem sagen, auch Clara nicht. Ich könnte auch hier bleiben, für immer. Nicht mehr nach W. zurückkehren nach diesem Jahr. Nur mehr fallweise, für ein paar Tage. Um ins Theater zu gehen, in eine Ausstellung, um vielleicht diese oder jene Bekannte zu treffen, ein wenig durch die Stadt zu bummeln und zu wissen, dass ich morgen oder übermorgen schon wieder in die Ruhe dieses kleinen Ortes zurückkehren werde. Mit Blick auf den Kirschbaum und den fast verdeckten Kirchturm, mit der Morgensonne im Schlafzimmer, den sternenklaren Nächten. Ja, das könnte ich, aber ich bin nicht sicher, ob ich es will. Vielleicht will ich es am Ende dieses Jahres, wenn ich 365 Fotos gemacht habe. Ich könnte bleiben, das würde neue Perspektiven für mein Leben eröffnen. Aber brauche ich wirklich neue Perspektiven für mein Leben? Suche ich nach Neuem? Um ehrlich zu sein, nein.

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Ich bin im Prinzip keineswegs unzufrieden mit meinem Leben. Nur ein wenig aus dem Lot geraten, erdrückt von Er­ in­nerungen, von Selbstvorwürfen geplagt, verunsichert viel­ leicht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich eine grund­ sätzliche Änderung meines Lebens herbeiwünsche. Zwei Tage bevor ich heraufgezogen bin, war ich in W. allein im Konzert. Es war ein wunderschönes Klavierkonzert, Liszt, Béla Bartók, Ravel, Messiaen. Fast ein wenig zu glatt für mich, weil mich sonst sperrigere Werke interessieren. Aber an jenem Abend saß ich völlig hingerissen und beglückt in dem großen, schönen Konzertsaal, genoss einfach und dachte mir, dass ich sehr wohl noch glücklich sein kann. Aus meinem Bauch stieg tatsächlich ein warmes, sanftes Glücksgefühl her­ auf bis in den Kopf. Ein solches Gefühl von Zufriedenheit und, ja, Seligkeit. Und ich überlegte, wie ich dieses Gefühl mitnehmen könnte in mir, wie ich es bewahren könnte, um wieder leichter zu werden. So ein Konzertglück, dachte ich, wird mir in diesem Jahr fehlen. Und als ich dann nach dem Konzert das erste Mal nach längerer Zeit wieder beschwingt und voller Zufriedenheit zur U-Bahn ging, kam ich an einem Straßenspektakel auf dem großen Platz vor einer Kirche vor­ bei, Trommeln, Gesang, wilde Masken, Feuergarben. Ich blieb stehen, schaute und hörte zu, eingezwängt in eine große Zuschauermenge. Ich wusste, dass ich so etwas nur hier, in der Großstadt er­ leben konnte, nicht draußen auf dem Land, in der Provinz, in der Kleinststadt. Wo die Menschen mit den Hühnern schlafen gehen und um Mitternacht in keinem Haus mehr

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Licht brennt, nur meine Fenster noch hell erleuchtet sind. Was würde mich dort herausreißen und beschwingt machen können? So fragte ich mich zwei Tage vor meiner Abreise hier herauf, ob ich es denn wirklich ertragen könne. Ich habe es dir doch gesagt, das hältst du nicht aus, gerade du nicht, sagte David, als ich daheim mit ihm darüber sprach. Doch, antwortete ich, doch, jetzt ziehe ich es durch, jetzt kann ich nicht mehr zurück, ich kann dieses Projekt nicht mehr ein­ fach sang- und klanglos absagen. In jener Nacht stand ich in meinem Atelier vor den be­ reits gepackten Koffern, Taschen und Kartons, das erste Mal wirklich im Zweifel, ob es der richtige Weg wäre. Ich hätte in diesem Moment am liebsten alles wieder ausgepackt und weggeräumt, um in mein normales, gewohntes, eingefahrenes Leben zurückzukehren. Aber das war nicht mehr möglich. Ich wusste, dass ich es nicht machen würde, nicht machen konnte. Und ich sagte mir, es sind doch nicht einmal 300 Kilometer, nur drei Stunden Autofahrt, ein Katzensprung eigentlich, jederzeit kann ich für einen Tag nach W. zurückkehren, am Morgen nach dem Foto ins Auto steigen, nach W. fahren und entweder am späten Abend oder gar erst am nächsten Morgen sehr zeitig zurückfahren. Alles kein Problem, ich reise ja nicht ans Ende der Welt, nicht nach Patagonien oder Tas­­manien, nicht nach Grönland oder auf die MarquesasInseln. Nur in eine gepflegte, nette Kleinststadt mit knapp zwei­­tausend Einwohnern, allem Komfort, Geschäften, ei­­­­­­­­­nem guten Bäcker, einem guten Fleischhauer, zwei Supermär­k­­­­ten,

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Ärzten, Apotheke, Friseur, Banken, drei Gasthäusern und einer Kon­ditorei. Mit regelmäßiger Autobusverbindung in die nur vier­zig Kilo­meter entfernte nächste größere Stadt, die Landes­­haupt­stadt. Zwar etwas müh­sam den Berg hinab, eine kur­ven­­­reiche, teilweise un­über­sicht­liche Straße, aber selbst im Win­ter gut geräumt. Problemlos also alles. Ich packte die Koffer, Taschen und Kartons nicht mehr aus. Aber ich holte CDs mit Musik von Liszt, Ravel, Bartók, Messiaen und Xenakis aus dem Regal und verstaute sie in einem Karton. Ich legte sie zu Mussorgskis Eine Nacht auf dem kahlen Berge. In der Nacht hat es heftig geregnet und die weißen Blüten­ blätter des Kirschbaums haben braune Ränder be­kommen. Der Baum schaut dadurch schmutzig aus, zerzaust und hat alles Feine, frühlingshaft Sanfte verloren. Die Lieb­­lichkeit ist verschwunden. Ich hole die Mussorgski-CD her­aus und höre mir Eine Nacht auf dem kahlen Berge dreimal hintereinander an. Dann ist es halb zehn und ich mache mein tägliches Foto. Vom geöffneten Fenster tropft Regenwasser hinab auf den Holzboden. Beim Aufwischen bin ich David dankbar dafür, dass er das Stativ so gut mit Klebestreifen am Boden fixiert hat. Sonst hätte ich es jetzt sicher verschoben. Zu Pfingsten wird David heraufkommen, und ich freue mich jetzt schon darauf. Das tägliche Foto um halb zehn Uhr am Vormittag ver­ pflichtet mich dazu, aufzustehen und nicht bis Mittag zu schlafen und dafür die Nacht zum Tag zu machen. Die

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