Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Pdagogik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die „Disziplin“ Pdagogik und Erziehungswissenschaft 2.2 Was ist eine Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Pdagogische Grundbegriffe und wissenschaftliches Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Pdagogische Wissensformen . . . . . . . . . . . . .

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3 Der Grundbegriff Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Erziehung – erzhlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Problemgestalten von Erziehung . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Bestimmungen von Erziehung . . . . . . . . . . 3.2.2 Begriffsgeschichtliche Verortungen von Erziehung 3.2.3 Anthropologische Entwrfe von Erziehung . . . . 3.2.4 Erziehung und Macht . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Jean-Jacques Rousseau – Natrliche Erziehung . . . . . . . 4.1 Naturrecht und Naturzustand . . . . . . . . . . . . . 4.2 Grundlagen der negativen und natrlichen Erziehung 4.3 Ziele und Praktiken der Erziehung . . . . . . . . . . 4.4 Die Erzieher des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Phasen der Erziehung und ihre Aufgaben . . . .

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5 Immanuel Kant – Erziehung ber die Generationen 5.1 Mndigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Fortschritt und Aufklrung . . . . . . . . . . 5.3 Die Anlage zum Guten . . . . . . . . . . . . 5.4 Erziehungsaufgaben und -praktiken . . . . .

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6 Johann Friedrich Herbart – Erziehung als sthetische Darstellung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erziehung zur Sittlichkeit . . . . . . . . . . . 6.2 sthetische Notwendigkeit . . . . . . . . . . 6.3 Erziehender Unterricht . . . . . . . . . . . . 6.4 Pdagogik als Wissenschaft . . . . . . . . . .

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7 Der Grundbegriff Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Bildung – erzhlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Problemgestalten von Bildung . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Bestimmungen von Bildung . . . . . . . . . . 7.2.2 Begriffsgeschichtliche Verortungen von Bildung 7.2.3 Bildungs- und Kompetenzbegriff . . . . . . . .

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Inhalt

8 Platon – Bildung als Erkenntnis . . . . . . . 8.1 Das Hhlengleichnis . . . . . . . . . 8.2 Die Idee des Guten . . . . . . . . . . 8.3 Die Seele und die Anamnesislehre . . 8.4 Das Symposion: Eros als Bildungstrieb

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9 Wilhelm von Humboldt – Bildung als Selbstzweck des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Proportionierliche Krftebildung . . . . . . . . 9.2 Bildung als Wechselwirkung von Ich und Welt . 9.3 Bildung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Bildung und Staat – das Bildungswesen . . . .

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10 Theodor W. Adorno – Dialektik der Bildung 10.1 Dialektik der Aufklrung . . . . . . . 10.2 Theorie der Halbbildung . . . . . . . 10.3 Kritik der Kulturindustrie . . . . . . . 10.4 Bildung als kritische Selbstreflexion .

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11 Der Grundbegriff Sozialisation . . . . . . . . . . . 11.1 Sozialisation – erzhlt . . . . . . . . . . . . . 11.2 Problemgestalten von Sozialisation . . . . . . 11.2.1 Bestimmungen von Sozialisation . . . 11.2.2 Phasen und Instanzen der Sozialisation 11.2.3 Rollentheoretische Anstze . . . . . .

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12 mile Durkheim – Sozialisation als Vergesellschaftung und soziale Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Soziologische Tatbestnde . . . . . . . . . . . 12.2 Mechanische und organische Solidaritt . . . . 12.3 Soziale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Moralitt und aufgeklrte Zustimmung . . . . . 12.5 Erziehung als methodische Sozialisation . . . .

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13 Pierre Bourdieu – Sozialisation und Habitus 13.1 Sozialer Raum und Macht . . . . . . . 13.2 Kapitalformen . . . . . . . . . . . . . 13.3 Geschmack und Lebensstil . . . . . . 13.4 Habitus . . . . . . . . . . . . . . . .

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14 Ernst Cassirer – Symbolische Formen . . . 14.1 Animal symbolicum . . . . . . . . 14.2 Symbolische Formen . . . . . . . . 14.3 Erziehung, Bildung und Sozialisation

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister

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Literatur

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5 Immanuel Kant – Erziehung ber die Generationen Die Pdagogik Immanuel Kants (1724–1804) markiert einen zentralen Punkt in der Reflexion ber Erziehung. Das Wesen des Menschen zeigt sich nach Kant in der Mndigkeit und im rechten Gebrauch seiner Freiheit als Subjekt des moralischen Gesetzes und er stellt die Erziehungstheorie vor die Aufgabe, die menschliche Freiheit als Autonomie zur Entfaltung kommen zu lassen. „Eines der grßten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fhigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen knne. Denn Zwang ist ntig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zgling gewhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn zugleich anfhren, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß frh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fhlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren und zu erwerben, um unabhngig zu sein, kennen zu lernen.“ (KANT 1803/62005, S. 711.) Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung

Fr Kant sind sowohl die Mndigkeit des Menschen als auch die Aufklrung der Menschheit zentrale Ziele der Erziehung. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es drei erzieherischer Praktiken, nmlich Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung. Diese drei Praktiken machen fr Kant den Kern der Erziehung aus. Zudem bindet sein Denkmodell die Erziehung an den Generationengedanken und die Lebenszeit des Einzelnen an einen geschichtlichen Verlauf von Kultur und Gesellschaft. Die Generationen werden zu erzieherischen Momenten geschichtlich-kontinuierlicher Prozesse. Als bergeordneten Aspekt seiner Erziehungstheorie nennt Kant die Moralisierung und beschreibt sie als die hchste Aufgabe fr den Menschen.

5.1 Mndigkeit

Aufklrung

Ausgangspunkt fr die pdagogische Auseinandersetzung mit Mndigkeit ist Kants Aufsatz: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?“ aus dem Jahre 1784. Hier bestimmt er exemplarisch, was Mndigkeit bedeutet, wobei seine Definition von Mndigkeit – begriffsgeschichtlich betrachtet – an ein tradiertes Verstndnis anknpft. Mndigkeit ist, auch heute noch, ein Rechtsbegriff. Abgeleitet vom althochdeutschen Wort (die) „Munt“, das den Schutz durch den Hausherren bezeichnet, ist unter Mndigkeit der rechtliche Beginn eines Lebens frei von der Herrschaft, aber auch dem Schutze des Vormundes – in der Regel des Vaters – zu verstehen. Kant bertrgt diese Vorstellung von Mndigkeit auf die Aufklrung des Menschen und ordnet sie einem geschichtlichen und bildungsphilosophischen Kontext unter:

Mndigkeit „Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklrung.“ (KANT 1783/62005, S. 53)

Nach Kant beschreibt Aufklrung den Weg aus der Unmndigkeit, die sich darin ußert, dass der Mensch nicht selbst denkt, nicht hinterfragt und nicht ber Grnde und Mglichkeiten des eigenen Handelns reflektiert. Stattdessen lsst er sich vorschreiben, was er wissen kann, tun soll und hoffen darf. Da er die Mglichkeit hat, mndig zu sein, diese aber nicht nutzt, ist seine Unmndigkeit selbstverschuldet. Unmndiges Leben entspricht einem Leben unter Vormundschaft. Auch das erzieherische Verhltnis ist zunchst eine vormundschaftliche Leitung der Zglinge. Insofern liegt Unmndigkeit also im Wesen der Erziehung selbst. Kants Vorwurf richtet sich gegen die, die mndig sein knnten, aber es nicht sind. Sie werden regiert und regieren sich nicht selbst, sie fhren nicht ihr Leben, sondern lassen sich fhren. Wie aber werden Menschen in Unmndigkeit gehalten? Effektive Instrumente der Sicherung der Unmndigkeit sind die Androhung des Verlustes jener Geborgenheit und Sicherheit, die durch die Vormundschaft gewhrleistet wird sowie Hinweise auf die Risiken einer eigenstndigen Lebensfhrung. Da unmndige Menschen besser regiert und gelenkt werden knnen, wendet sich Kant gegen jede Autoritt, die die Freiheit des Menschen und seine mndige Lebensfhrung einschrnken oder gar verhindern will. Kant appelliert daher an den Mut des eigenen Verstandesgebrauchs. „Habe Mut“ heißt, sich auf die eigenen geistigen Krfte zu besinnen und danach zu handeln – auch gegen Autoritten und gegen vorgegebene Denkmuster und -ordnungen. Ein Kennzeichen der Mndigkeit ist das Selbstdenken, welches das Maß jeder Erziehung sein muss, die einen Anspruch auf Mndigkeit stellt.

selbstverschuldete Unmndigkeit

Anspruch auf Mndigkeit

„Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklrung. Dazu gehrt nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklrung in Kenntnisse setzen, da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermgens ist, und fter der, so an Kenntnissen beraus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklrt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauches zu machen?“ (KANT 1786/62005, S. 283)

Die Aufklrung ist bei Kant nicht von der Freiheit des Menschen zu trennen. Auch Kants berlegungen zur Erziehung des Menschen sind von dem Gedanken der Freiheit durchzogen, sowohl hinsichtlich der Entwicklung als auch mit Blick auf das Zusammenleben und das Handeln der Menschen. Freiheit ist Sinn und Maß erzieherischen Handelns: „Hier muß man folgendes beachten: 1) daß man das Kind, von der ersten Kindheit an, in allen Stcken frei sein lasse (ausgenommen in den Dingen, wo es sich

Aufklrung

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Immanuel Kant selbst schadet, z. E. wenn es nach einem blanken Messer greift), wenn es nur nicht auf die Art geschieht, daß es anderer Freiheit im Wege ist, z. E. wenn es schreiet, oder auf eine allzulaute Art lustig ist, so beschwert es andere schon. 2) Muß man ihm zeigen, daß es seine Zwecke nicht anders erreichen knne, als nur dadurch, daß es andere ihre Zwecke auch erreichen lasse, z. E. daß man ihm kein Vergngen mache, wenn es nicht tut, was man will, daß es lernen soll etc. 3) Muß man ihm beweisen, daß man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit fhrt, daß man es kultiviere, damit es einst frei sein knne, d. h. nicht von der Vorsorge anderer abhngen drfe. Dieses letzte ist das spteste.“ (KANT 1803/62005, S. 711)

Bei Kant ist die menschliche Freiheit Grundlage fr das Verstndnis von Erziehung. Der aufzulegende Zwang in der Erziehung ist mit der Freiheit aufs engste verbunden. Er legitimiert sich also nicht aus sich selbst heraus, sondern nur vor dem Hintergrund des Ziels, dass der Mensch frei sein und in den Antrieben seines Wollens die sinnlich-empirische Welt bersteigen kann.

5.2 Fortschritt und Aufklrung Die Vorstellung von einer Erziehung zur Mndigkeit und Aufklrung ist bei Kant in einen grßeren Rahmen eingebettet. Erziehung ist eine wichtige Voraussetzung, um die Anlagen des Menschen zu entfalten. Dabei geht Kant davon aus, dass die Menschen grundstzlich mndig oder aufgeklrt werden knnen. Dieser Gedanke Kants steht im Kontext des zu erwartenden Fortschritts der Menschheit hin zu einem staatlichen Rechtszustand, wobei ein solcher Rechtszustand die grßtmgliche individuelle Freiheit eines jeden durch Gesetze gewhrleistet. Das heißt, Erziehung leistet auch einen Beitrag zur Befrderung eines solchen Zustandes, der in der Entwicklung der Gattung angelegt ist. „Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu tun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie tut es selbst, wir mgen wollen oder nicht […].“ (KANT 1795/62005, S. 223)

Generationenmodell

Kant legitimiert damit das erzieherische Handeln vor dem Hintergrund seiner teleologischen Geschichtsphilosophie und versucht zu zeigen, dass die Natur den Menschen gerade so geschaffen hat, dass Fortschritt und Aufklrung fr ihn erreichbar sind, ja, dass er gar nicht anders kann, als diesen Zustand zu erreichen. Hierzu entwickelt er eine bis in die Gegenwart hinein bedeutsame Vorstellung von Generation. Die Ausprgung der Vernunft in ihrer Vollkommenheit ist fr Kant nur mit Blick auf die gesamte Menschheit mglich. Das heißt, jede Generation ist beteiligt am Bau eines Hauses, das einst fertig sein wird und fr die Idee eines aufgeklrten Zustands der Menschheit steht. In seiner ersten geschichtsphilosophischen Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte der Menschheit in weltbrgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 verdeutlicht Kant seine berlegung zum Generationenmodell und versucht, eine Naturabsicht zu begrnden, die einen Plan der Geschichte fr den Menschen nahelegt.

Fortschritt und Aufklrung

Ausgangspunkt seiner berlegungen ist die Vorstellung, dass die Natur (als natura naturans) eine zweckmßige Absicht mit ihren Geschpfen verfolgt und alle Naturanlagen eines Geschpfes – also auch des Menschen – dazu bestimmt sind, sich vollstndig und zweckmßig zu entwickeln. Beim Menschen richtet sich die vollstndige Entwicklung der Naturanlagen insbesondere auf die Vernunft.

natura naturans

„Am Menschen (als dem einzigen vernnftigen Geschpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollstndig entwickeln. Die Vernunft in einem Geschpfe ist ein Vermgen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Krfte weit ber den Naturinstinkt zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwrfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinktmßig, sondern bedarf Versuche, bung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmhlich fortzuschreiten. Daher wrde ein jeder Mensch unmßig lange leben mssen, um zu lernen, wie er von allen Naturanlagen einen vollstndigen Gebrauch machen solle; oder, wenn die Natur die Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklrung berliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollstndig angemessen ist.“ (KANT 1784/62005, S. 35)

Die Hherentwicklung der Gattung ist an Aufklrung und Mndigkeit gebunden. Dabei soll der Mensch alles, was seiner Vervollkommnung dienlich ist, aus sich selbst hervorbringen, und das setzt Erziehung voraus. Erziehung steht somit im Kontext eines sukzessiven Fortschrittsgedankens. Jede Generation hat ihre Kinder im Geiste der Aufklrung zur Mndigkeit zu erziehen, auch wenn die vorangehenden Generationen einen Fortschritt antreiben, von dem sie selbst keinen Nutzen haben werden (vgl. KANT 1784/62005, S. 37).

Vervollkommnung der Menschheit

„Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigne Bemhung, nach und nach von selbst herausbringen. Eine Generation erzieht die andere.“ (KANT 1803/62005, S. 697)

Mit der Annahme der Zweckmßigkeit der Natur wird das Ziel der Natur fr den Menschen gesetzt: die vollstndige Entwicklung seiner Vernunft. Diese jedoch kann nur in Abhngigkeit vom Fortschritt der Gattung zu einem weltbrgerlichen Zustand gedacht werden. Der Fortschrittsgedanke bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung vom rohen Naturzustand hin zu einem Zustand der Freiheit und ist im Sinne Kants auf die politische Gerechtigkeit gerichtet. In der Folge wird die Denkfigur der Erziehung ber die Generationen Bestandteil der Systematik der wissenschaftlichen Pdagogik. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher macht im Anschluss an Immanuel Kant die Frage „Was will die ltere Generation mit der jngeren?“ zum Kernproblem der Erziehung (SCHLEIERMACHER 1826/2000, S. 9). Und auch Richard Hnigswald (1875–1947) nimmt das Motiv Kants auf, wenn er Erziehung als die berlieferung von Kulturwerten von einer Generation an die ihr nachkommenden durch die Vermittlung und Zustimmung der ihr zeitlich unmittelbar nchsten bestimmt (vgl. HNIGSWALD 1995, S. 120).

Fortschrittsgedanke

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Immanuel Kant

5.3 Die Anlage zum Guten

Menschwerdung durch Erziehung

In seiner Vorlesung „ber Pdagogik“, die lediglich als Mitschrift berliefert ist, betont Kant, der Mensch sei das einzige Geschpf, das erzogen werden msse, um die ihm gegebenen Naturanlagen zu entfalten. Der Mensch wird erst durch Erziehung zum Menschen (vgl. KANT 1803/62005, S. 697–701). Es ist notwendig, dass er ber die Entwicklung seiner Anlagen aus der rohen Natur heraustritt. Diese Anlagen sind Bedingungen der Mglichkeit einer Realisierung des Guten und folgerichtig als „Anlagen des Guten“ auf das moralisch Gute hin ausgerichtet. „Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll, und spricht, so zu sagen, zum Menschen: ,Gehe in die Welt‘, – so etwa knnte der Schpfer den Menschen anreden! – ,ich habe dich ausgerstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir kmmt es zu, sie zu entwickeln, und so hngt dein eignes Glck und Unglck von dir selbst ab.‘“ (Ebd., S. 702)

Anlage fr die „Tierheit“

Anlage fr die „Menschheit“

Anlage fr die „Persnlichkeit“

Die erste Klasse der Anlage zum Guten ist die Anlage fr die „Tierheit“: Sie betrachtet den Menschen ausschließlich als ein Lebewesen, das sich selbst erhlt, sich fortpflanzt und mit anderen zusammen lebt. Der Mensch muss berlebensfhig sein, andernfalls ist die Frage nach einer guten Lebensfhrung erst gar nicht zu stellen. Die zweite Anlage ist die Anlage fr die „Menschheit“. Sie nimmt den Menschen als ein kulturell-soziales Wesen in den Blick, das „sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen“ sucht (KANT 1793/62005, S. 674). Diese Fhigkeit zu Kultur und Zivilisierung schließt den Gebrauch der menschlichen Vernunft ein. Der Mensch ist also nicht nur ein lebensfhiges, sondern auch ein vernunftbegabtes Wesen. Damit aber ist er noch kein moralisches Wesen. Von den Anlagen fr die Tierheit und die Menschheit kann Moralitt nicht erwartet werden. Hier wird die Anlage fr die „Persnlichkeit“ zentral: „Die Anlage fr die Persnlichkeit ist die Empfnglichkeit der Achtung fr das moralische Gesetz, als einer fr sich hinreichenden Triebfeder der Willkr. Die Empfnglichkeit der bloßen Achtung fr das moralische Gesetz in uns wre das moralische Gefhl, welches fr sich noch nicht einen Zweck der Naturanlage ausmacht, sondern nur, sofern es Triebfeder der Willkr ist.“ (Ebd., S. 674)

Autonomie des Menschen

Die fr die moralische Bildung wichtigste Anlage der Persnlichkeit besteht in ihrer Empfnglichkeit fr die Achtung des moralischen Gesetzes. Sie ist eine Art Gefhl fr den Stellenwert des Guten. So gesehen meint Achtung hier eben nicht nur „das moralische Gesetz achten“, sondern auch, „auf das moralische Gesetz achten“. Die Anlage zum Guten verdeutlicht, dass der Mensch das Gute fr sich selbst whlen muss, denn die moralische Bildung kann nur ein Werk seiner Freiheit sein, insofern ist sie in Abgrenzung zur Erziehung wichtig. Von einer moralischen Bildung kann erst gesprochen werden, wenn das moralische Gesetz, der so genannte kategorische Imperativ alleiniges Motiv des Handelns und der Lebensfhrung ist. Moralitt gehrt also letztlich zum Bereich der Bildung und kann nicht durch erzieherische Praktiken „hergestellt“ werden; der Mensch muss sich selbst moralisch bilden (vgl. hierzu auch Kap. 6). Dahingehend ist mit der Moral auch der Blick auf die Autonomie des Menschen verbunden. Eine