IN PRESS PSYCHOLOGISCHE RUNDSCHAU. Psychologie der Verwandtschaft

PSYCHOLOGIE DER VERWANDTSCHAFT   IN PRESS – PSYCHOLOGISCHE RUNDSCHAU Psychologie der Verwandtschaft Franz J. Neyer1 und Frieder R. Lang2 1 2 Frie...
Author: Nele Lehmann
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PSYCHOLOGIE DER VERWANDTSCHAFT  

IN PRESS – PSYCHOLOGISCHE RUNDSCHAU Psychologie der Verwandtschaft

Franz J. Neyer1 und Frieder R. Lang2

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Friedrich-Schiller-Universität Jena

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Autorenhinweis: Dieses Arbeit wurde mit Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Franz J. Neyer (NE 633/6) und Frieder R. Lang (LA 1002/2) gefördert.

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Kurzusammenfassung Verwandtschaftsbeziehungen stellen neben Partner- und Kooperationsbeziehungen einen zentralen Kontext der individuellen und sozialen Entwicklung dar und sind in der Psychologie bislang nicht ausreichend gewürdigt worden. In Soziobiologie und Evolutionspsychologie wird Verwandtschaft primär unter dem Aspekt der inklusiven Fitness betrachtet und in Bezug auf das Altruismusproblem erörtert. Basierend auf deren Annahmen wird in diesem Beitrag Verwandtschaft als eine psychologische Kategorie verstanden, die durch den proximaten Mechanismus der Regulation emotionaler Nähe und den Verzicht auf die strikte Einhaltung der Reziprozitätsnorm konstruiert wird. Dadurch können auch Nichtverwandte als verwandtschaftsgleich oder wahlverwandt wahrgenommen werden. Es wird ein integratives Modell der psychologischen Verwandtschaft postuliert, das Verwandtschaft nicht nur in Abgrenzung zu anderen Beziehungen definiert, sondern ebenso als Ergebnis eines aktiven Prozess der sozialen Beziehungsgestaltung erklärt. Abstract Title: The psychology of kinship. Kin relationships have been largely ignored in psychology, though they represent important contexts of individual and social development. Sociobiology and evolutionary psychology consider kinship mostly in terms of inclusive fitness and the emergence of altruism. Based on these perspectives kinship is conceptualized here as a psychological category that is construed through the regulation of emotional closeness and the attenuation of the reciprocity norm, thereby open up the chance that even genetically unrelated individuals may become kin by choice. The authors propose an integrative model of psychological kinship by delineating kin from other relationship systems and describing kinship as the result of proactive relationship regulation.

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Psychologie der Verwandtschaft Verwandtschaft spielt im sozialen Leben des Menschen eine herausragende Rolle. Ihre Bedeutung und Besonderheit beschäftigt zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen von der Biologie und Anthropologie bis hin zur Sprach- und Kulturwissenschaft sowie Soziologie und Rechtswissenschaft (Davis & Daly, 1997; Diewald, Sattler, Wendt & Lang, 2009; Hamilton, 1964; Lévi-Strauss, C., 1981; Schmidt, Guichard, Schuster & Trillmich, 2007). Umso überraschender ist, dass das Konzept der Verwandtschaft in der Psychologie weitgehend vernachlässigt wurde und erst in jüngerer Zeit, auch vor dem Hintergrund evolutionspsychologischer Theorien, verstärkt betrachtet wird (Daly, Salmon & Wilson, 1997). In allen Gesellschaften existieren zwar normative, juristische und sprachliche Differenzierungen zwischen verwandt und nicht verwandt, tatsächlich aber ist Verwandtschaft eine psychologische Kategorie, die das Ergebnis aktiver Beziehungsgestaltung ist. Damit berührt die Differenzierung zwischen verwandt und nicht verwandt den Kern des sozialen Miteinanders. In diesem Beitrag begründen wir die These, dass Verwandtschaft eine primär psychologische Kategorie darstellt und eine grundlegende Bedeutung für alle sozialen Beziehungen erfüllt, wobei diese Bedeutung sich vor allem in der Differenzierung von und Übertragung verwandtschaftlicher Prinzipien auf nicht-verwandtschaftliche Beziehungen zeigt. Im Folgenden diskutieren wir zunächst exemplarisch biologische, soziologische und evolutionspsychologische Überlegungen zur Erklärung des Verwandtschaftskonzepts. Ausgehend von diesen Überlegungen kommen wir zu der These, dass Verwandtschaft – in Abwesenheit objektivierbarer Außenkriterien – eine primär subjektiv erfahrbare Beziehungsqualität darstellt, deren Erleben auf grundlegenden psychologischen Mechanismen beruht. Wir zeigen auf, dass bisher bekannte psychologische Heuristiken wie insbesondere Propinquität (räumliche Nähe, Verfügbarkeit) und Ähnlichkeit nur unzureichend geeignet

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sind, die Unterscheidung zwischen Verwandten und Nicht-Verwandten zu erklären. In einem dritten und letzten Abschnitt stellen wir ein integratives Modell der psychologischen Verwandtschaft vor, nach dem die Konstruktion von Verwandtschaft primär über das Erleben emotionaler Nähe und eine Adaptation der Reziprozitätsregel erfolgt. Wir stellen die These auf, dass Verwandtschaft umso stärker erlebt wird, je enger man sich emotional verbunden fühlt und je stärker man bereit ist, auf Reziprozität zu verzichten. Dies impliziert, dass eine der bedeutsamsten kulturellen Leistungen des Menschen darin besteht, psychologische Verwandtschaftscharakteristika auch auf nicht reproduktionsrelevante Beziehungen mit Nicht-Verwandten (wie z.B. gleichgeschlechtliche Freundschaften) zu übertragen. Verwandtschaftskonzepte In allen menschlichen Gesellschaften und Kulturen werden verwandtschaftliche von anderen Beziehungen unterschieden. Diese Differenzierung zeigt sich universal auf der Ebene der Sprache, der Rechtsordnung wie auch in moralisch-ethischen Normen. Obwohl Verwandtschaft für das Zusammenleben der Menschen eine bedeutsame Rolle spielt, ist es eine offene Frage, wie das Konzept der Verwandtschaft in Abgrenzung zu anderen Beziehungssystemen erklärt werden kann. Inwiefern unterscheiden sich verwandtschaftliche von anderen Beziehungen? Zahlreiche Versuche der Klärung des Verwandtschaftskonzepts aus anthropologischer, biologischer, soziologischer, sprachlicher oder juristischer Perspektive verweisen in aller Regel auf die Ungenauigkeit, Unsicherheit und begrenzte Überprüfbarkeit von Verwandtschaft. In biologischer Hinsicht wird Verwandtschaft als Grad der genetischen Verwandtschaft definiert, welche die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, mit der zwei Individuen Allele am selben Genort aufgrund gemeinsamer Abstammung miteinander teilen.1 Genetische Verwandtschaft variiert dabei zwischen 100% für eineiige Zwillinge, 50% für Eltern, Kinder,

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Geschwister (einschließlich zweieiiger Zwillinge), 25% für Großeltern, Enkel, Neffen, Nichten, Onkel, Tanten, 12,5% für Cousins, Cousinen, 0% für Nichtverwandte einschließlich Partner und kann mit einem rationalskalierten Verwandtschaftskoeffizienten r beschrieben werden. Festzuhalten ist, dass es sich bei der genetischen Verwandtschaft um ein eher analytisches Konzept von theoretischer Bedeutung handelt, insofern sich komplexe genetische Verwandtschaftsverhältnisse nur mit sehr begrenzter Sicherheit bestimmen lassen. Selbst ein umfassender Abgleich eines DNA-Profils, bei dem Allele von 40 verschiedenen Gen-loci betrachtet werden, erlaubt letztlich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen darüber, ob zwei in nicht direkter Linie verwandte Personen überhaupt verwandt sind (Lewis, 2010). Gesicherte Aussagen über die genaue Art der Verwandtschaft zwischen verwandten Personen (z.B. Neffe-Onkel, Cousins, Opa-Enkel) sind dabei nur begrenzt möglich und erfordern den Einbezug der DNA weiterer Verwandter (Maguire & Woodward, 2008). In einer eindrucksvollen und aufwändigen Analyse der DNA aller Opfer des am 2. September 1998 über dem Atlantik abgestürzten Swiss Air Flugs 111 gelang es beispielsweise Leclair, Frégeau, Bowen und Fourney (2004), unter den Opfern der Flugzeugkatastrophe die Verwandten ersten und zweiten Grades mit einiger Sicherheit zu identifizieren, wobei allerdings auch die DNA Hinterbliebener einbezogen wurde. Verwandtschaft ist somit auch unter Berücksichtigung moderner molekulargenetischer Methoden keinesfalls eine leicht überprüfbare biologische Tatsache. Daraus folgt die psychologisch bedeutsame Einsicht, dass der genaue Grad einer genetischen Verwandtschaft in der Regel nur bestimmt werden kann, wenn die tatsächliche Abstammung der Personen bekannt ist. Auch in linguistisch-kulturanthropologischer Hinsicht ist Verwandtschaft keineswegs streng und präzise in allen Kulturen der Welt gleichermaßen definiert. Selbst wenn die semantische Kategorisierung in verwandte und nichtverwandte Beziehungspartner als eine alltagspsychologische Trivialität erscheinen mag, ist sie eine relativ rezente Innovation der

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kulturellen Evolution, die eng mit der Entwicklung von Sprache und Kultur zusammenhängt (Kronk & Gerky, 2007; Lévi-Strauss, 1981). Beispielsweise hat Jones (2004) kulturübergreifend Verwandtschaftsterminologien untersucht und konnte diese vier grundlegenden Schemata menschlicher Vergesellschaftung zuordnen: 1. Genealogische Distanz zwischen Verwandten; 2. Soziale Rangordnung (z.B. aufgrund des Alters); 3. Gruppenzugehörigkeit, und 4. Austausch oder Reziprozität (dies allerdings nur, wenn auch Schwiegerbeziehungen einbezogen wurden). Wir nehmen an, dass die kulturelle Variabilität von Verwandtschaftsterminologien im Kern auf fundamentale und kulturübergreifende Mechanismen der Beziehungsgestaltung zurückgeht, die sich aus soziobiologischen und evolutionspsychologischen Überlegungen ableiten lassen und grundlegend für eine Psychologie sozialer Beziehungen sind. Sprachliche Variationen der Differenzierung von verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen widerspiegeln demnach die spezifischen Lebensbedingungen und Anforderungen der jeweiligen Kultur. Auch in juristischer Hinsicht bestehen bei der Abgrenzung der Verwandtschaft von anderen Beziehungen Unschärfen und Ungenauigkeiten, die Spielraum für individuelle Deutungsmuster lassen. So berücksichtigt die rechtliche Verwandtschaftsdefinition neben dem Grad der Abstammung (§ 1589 BGB zum Begriff der Verwandtschaft: „Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten.“) auch die über Heirat, Adoption oder andere Regelungen erworbenen Verwandtschaftsverhältnisse (vgl. §1590 BGB Schwägerschaft, §1741 BGB Adoption). Nach dieser rechtlichen Definition kann Verwandtschaft als eine soziale Konstruktion verstanden werden, die zwar auf der biologischen Grundlage der gemeinsamen Abstammung beruht (Diewald et al., 2009), aber auch deren Übertragung auf andere Beziehungssysteme

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impliziert. Verwandtschaft wird einerseits streng juristisch abgegrenzt, zugleich ist aber Verwandtschaft keinesfalls eine nur zugeschriebene, sondern durchaus auch eine erworbene Eigenschaft von Beziehungen. Mit anthropologischen wie biologischen Verwandtschaftskonzepten meist eng verbunden ist schließlich auch der soziobiologische Ansatz, der sich der Funktionalität der Differenzierung zwischen Verwandten und Nicht-Verwandten für die genetische Reproduktion widmet. Danach kommt der Differenzierung zwischen Verwandten und Nichtverwandten eine wichtige adaptive Funktion zu, insofern sie den Vorfahren des Menschen und Frühformen der heutigen menschlichen Spezies – in deren jeweiligen Umwelten – in zweifacher Hinsicht Selektionsvorteile verschaffte und den Nachwuchs sicherte. Erstens diente sie der Inzestvermeidung (und somit der Sicherung von genetischer Vielfalt) und zweitens dem verwandtschaftlichen Altruismus oder Nepotismus (Park, Schaller & van Vugt, 2008). Da Inzest fatale Konsequenzen für die Fortpflanzung haben kann, war es adaptiv, Geschlechtsverkehr mit genetisch Verwandten zu vermeiden. Und weil darüber hinaus der Reproduktionserfolg eines Individuums nicht nur von seiner Fortpflanzung sondern auch der seiner Verwandten abhängig ist, war es sinnvoll, Verwandte zu unterstützen (Hamilton, 1964). In der Tat belegen zahlreiche Studien die enorme Bedeutung des verwandtschaftlichen Altruismus (Burnstein, Crandell & Kitayama, 1994; Jankowiak & Diderich, 2000). Inzestvermeidung und verwandtschaftlicher Altruismus können in allen sich sexuell reproduzierenden Spezies nachgewiesen werden, und in der Zoologie gibt es eine Fülle beeindruckender Beispiele für beide Verhaltensweisen (Hepper, 1991). Sie sind aus soziobiologischer Sicht extrem wichtig für den langfristigen Reproduktionserfolg des Einzelnen, der Gruppe und vielleicht sogar für das Überleben der Art.

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Die evolutionäre Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Verwandten und Nichtverwandten wird besonders deutlich am adaptiven Problem der Vaterschaftsicherheit, die bereits im römischen Recht konsequent berücksichtigt wurde („mater certissima, pater incertus“). Im Gegensatz zu Frauen können sich Männer ihrer Elternschaft niemals sicher sein, und tatsächlich liegen Schätzungen für die Prävalenz nichtbiologischer Kinder (resp. „Kuckuckskinder“) in westlichen Kulturen bei ca. 10% (Euler, 2004). Dieses adaptive Problem führt nicht nur zu einer größeren Variabilität in paternaler Investition (Geary, 2000), sondern erklärt zudem, dass Verwandte mütterlicherseits generell stärker als Verwandte väterlicherseits in die nächste Generation investieren. So leisten insbesondere Großmütter mütterlicherseits die meiste, Großväter väterlicherseits die geringste Unterstützung für ihre Enkel, während Großväter mütterlicherseits und Großmütter väterlicherseits vergleichbare mittelhohe Unterstützung geben (Coall & Hertwig, 2010; Euler & Weitzel, 1996). Aus evolutionspsychologischer Sicht wird die Differenzierung zwischen Verwandten und Nichtverwandten durch proximate psychologische Mechanismen umgesetzt. Diese sind automatisiert, reizbasiert und vor allem fehleranfällig und bilden die Basis höher strukturierter kognitiver Beziehungsrepräsentationen. Mit der Betrachtung dieser proximaten Mechanismen geht eine Psychologie der Verwandtschaft über die in der Soziobiologie übliche Verhandlung des verwandtschaftlichen Altruismus (in Abgrenzung zum reziproken Altruismus) und der Inzestvermeidung hinaus. Die Psychologie der Verwandtschaft steht dabei vor der Herausforderung, zumindest drei besondere Phänomene des Erlebens von Verwandtschaft integrativ zu erklären. Zum Einen geht es um die Unterscheidung von Verwandtschaft und Nicht-Verwandtschaft, zum Zweiten aber auch um die Differenzierung verschiedener Grade von Verwandtschaft (z.B. Cousins vs. Geschwister), und zum Dritten muss die Psychologie der Verwandtschaft auch erklären, wie es zu verwandtschaftsähnlichen Beziehungsqualitäten mit genetisch nicht-verwandten Personen kommen kann. Diese verschiedenen Phänomene

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wurden bislang in der Psychologie mittels basaler kognitiver Mechanismen erklärt, die sich vor allem auf die Propinquität und Ähnlichkeit von Beziehungspartnern bezogen. Im Folgenden diskutieren wir diese basalen kognitiven Heuristiken im Hinblick darauf, wie gut sie geeignet sind, die genannten Phänomene der Verwandtschaftsdifferenzierung zu erklären. Basale kognitive Heuristiken: Propinquität und Ähnlichkeit. Traditionell werden zwei Klassen von Reizen unterschieden, die auf eine Verwandtschaft hinweisen. Zum einen ist dies räumliche Nähe (Propinquität) und zum anderen Ähnlichkeit. Mit den Beobachtungen zur Prägung bei Stockenten haben bereits Oskar Heinroth und Konrad Lorenz gezeigt, dass die räumliche Nähe mit Vertrautheit und indirekt mit Verwandtschaft assoziiert wird (Lorenz, 1935). Dieser für viele Spezies replizierte Mechanismus – unabhängig davon ob er auf Imprinting oder assoziativem Lernen beruht – findet sich auch bei Menschen: Früh erfahrene räumliche Nähe erzeugt Vertrautheit, diese wird als Verwandtschaftshinweis interpretiert und fördert langfristig nepotistisches bzw. altruistisches Verhalten gegenüber Verwandten. Räumliche Nähe bzw. Propinquität bedingt allerdings auch andere Beziehungsqualitäten wie etwa freundschaftliche Gefühle zwischen Nichtverwandten (Back, Schmukle, & Egloff, 2008; Nahemow & Lawton, 1975) und ist somit kein Spezifikum von Verwandtschaft. Zugleich ist bekannt, dass langjährige räumliche Nähe auch der Inzestvermeidung dient. Westermarck (1891) beobachtete, dass Menschen die Bezugspersonen ihrer frühen Kindheit später nicht sexuell anziehend finden (Westermarck-Effekt). Dies gilt beispielsweise für Geschwister, die in der Regel auch dann keine sexuelle Anziehung füreinander empfinden, wenn sie als Adoptiv- oder Stiefgeschwister miteinander aufgewachsen sind und das Inzesttabu im Prinzip nicht gilt. Zwei natürliche Experimente belegen dies. Erstens haben Beobachtungen in israelischen Kibbuzen gezeigt, dass dort gemeinsam aufgewachsene,

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genetisch nichtverwandte Kinder später nicht heirateten, obschon hier kein Inzesttabu bestand (Sheper, 1983). Zweitens erzielten taiwanesische Sinupa-Ehen, in denen die spätere Braut bereits im ersten Lebensjahr in die Familie des späteren Bräutigams aufgenommen wurde, geringere Geburten- und höhere Scheidungsraten als andere Ehen (Wolf, 1995). Umgekehrt können getrennt aufgewachsene leibliche Geschwister sich sexuell anziehend finden, da sie in diesem Sinne keine „psychologischen Geschwister“ und damit nicht vor einer Verletzung des Inzesttabus geschützt sind. Sexuelle Aversion infolge von Propinquität stellt somit eine gravierende Ausnahme vom mere exposure effect (Zajonc, 2001) dar, die auf die Grenzen der Propinquität als zentralem Mechanismus der Verwandtschaftsdifferenzierung hinweist. Zudem ist bekannt, dass räumliche Nähe bzw. die damit assoziierte Vertrautheit auch in Beziehungen zwischen genetisch nichtverwandten Partnern sexuell aversiv wirken kann (sog. Coolidge-Effekt, vgl. Dewsbury, 1981). Propinquität mag zwar wesentlich dazu beitragen, dass ein Gefühl der Vertrautheit und damit auch emotionale Nähe zwischen Personen entstehen. Nicht erklärt wird hingegen, wie es dadurch zu den deutlichen Differenzierungen zwischen Nichtverwandtschaft und Verwandtschaft oder verschiedenen Verwandtschaftsgraden kommt. Genetische Verwandtschaft ist damit keine eindeutige soziale Kategorie. Menschen können den Grad der Verwandtschaft nicht ohne weiteres überprüfen und letztlich nur „psychologisch“ erschließen. So zeigten Lieberman, Tooby und Cosmides (2007), dass unter Geschwistern – neben der perinatalen Nähe zur leiblichen Mutter – die Dauer des Zusammenlebens der stärkste Prädiktor für Hilfeleistungen und sexuelle Aversion waren. Liebermann et al. vermuten, dass Menschen eine Art probabilistischer Heuristik verwenden, mit der sie bezogen auf eine beliebige Person einen sogenannten Verwandtschaftsindex berechnen. Allerdings beruht diese Art der Verrechnung wie oben aufgeführt meist auf

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ungenauen Parametern, ist unpräzise und bezogen auf die zugrundeliegenden psychologischen Prozesse nicht aufschlussreich. Eine zweite in der Psychologie häufig diskutierte kognitive Heuristik der Verwandtschaftsdifferenzierung bezieht sich auf den phänotypischen Ähnlichkeitsvergleich (bzw. phänotypisches Matching). Dass ähnliche Personen stärker dazu tendieren, sich gegenseitig als Bezugspersonen zu wählen, ist empirisch vielfach belegt, so dass die Rhetorik „Gleich zu gleich gesellt sich gern“ eher die Realität widerspiegelt als „Gegensätze ziehen sich an“. Das trifft beispielsweise für Freunde schon deshalb zu, weil sie sich in derselben Umwelt (Ausbildungsort, Freizeit usf.) aufhalten, und für Partner, weil sie in ähnlichen Segmenten des Partnermarktes (Soziale Schicht, Subkultur usf.) suchen. Bereits Fritz Heider (1958) hat dies im Lichte der Balancetheorie erklärt: es entspreche dem menschlichen Bedürfnis nach Konsistenz, sich ähnlichen Anderen anzuschließen bzw. Anderen ähnlich zu werden. Bezogen auf Verwandtschaftserkennung sind phänotypische Ähnlichkeitsvergleiche allerdings viel grundlegender. So werden in vielen Spezies und vermutlich auch von Menschen solche Ähnlichkeitsvergleiche bereits auf der Basis von Geruchswahrnehmungen vorgenommen, wie dies beispielhaft die Forschung zum sogenannten Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) belegt: Der MHC umfasst eine Gruppe von Genen, die für die immunologische Individualität wichtig sind. Menschen (wie Individuen anderer Säugetierarten) präferieren offensichtlich Sexualpartner mit unähnlichen bzw. inkompatiblen MHC, die mit einer größeren Wahrscheinlichkeit bei nichtverwandten Individuen vorkommen. Diese Inkompatibilität wird über Gerüche wahrgenommen. So zeigten GarverApgar und Mitarbeiter (2006) in einer Untersuchung an romantischen Paaren, dass die MHCÄhnlichkeit einerseits die sexuelle Responsivität der Partnerin senkt und andererseits ihre Tendenz fremdzugehen erhöht.

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Derartige Ähnlichkeitsvergleiche unterliegen offenbar keiner bewussten Kontrolle, sondern laufen automatisiert und spontan ab. Beispielsweise spielt die wahrgenommene Gesichtsähnlichkeit eine wichtige Rolle in der Vater-Kind-Beziehung, insbesondere bei Vorliegen von Vaterschaftsunsicherheit oder bei Bereitschaft ein Kind zu adoptieren, die nämlich dann stärker ausgeprägt ist, wenn das potenzielle Adoptivkind als ähnlicher wahrgenommen wird (Volk & Quinsey, 2002). An diesem Beispiel wird allerdings auch deutlich, dass der Kausalzusammenhang zwischen Ähnlichkeit und wahrgenommener Verwandtschaft unklar ist, denn das potenzielle Adoptivkind könnte als ähnlich wahrgenommen werden, weil die Adoptionsentscheidung schon gefallen ist. So weisen insgesamt viele Forschungsbefunde auf die Existenz subtiler Ähnlichkeitsheuristiken in sozialen Beziehungen mit Verwandten und Nichtverwandten hin. Wahrnehmung und Erleben von Ähnlichkeit in Verwandtschafts- oder anderen Beziehungen müssen keine objektive Grundlage haben und können das Ergebnis grundlegender psychologischer Mechanismen sein. So führen in Kleingruppen soziale oder Eigengruppenprojektion häufig dazu, dass Ähnlichkeit konstruiert wird (Mummendey & Wenzel, 1999, Robbins & Krueger, 2005). Analog dazu kann in engen sozialen Beziehungen die projizierte Ähnlichkeit die stärkste Komponente im Prozess des wechselseitigen Verstehens sein (Neyer, Banse & Asendorpf, 1999). Phänotypische Ähnlichkeit und Propinquität sind damit Beziehungsmerkmale, die unspezifisch für genetische Verwandtschaft sind und die technisch gesprochen auch zu Klassifikationsfehlern führen können. Beispielsweise können Adoptivkinder ihre leiblichen Eltern und Geschwister als fremd bzw. nichtverwandt erleben oder getrennt aufgewachsene Zwillinge sich zwar phänotypisch ähneln, aber nicht unbedingt als Geschwister anerkennen. Häufiger und psychologisch interessanter als solche falsch negativen Klassifikationen dürften

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jedoch falsch positive sein: Nichtverwandte Personen werden als (wahl-)verwandt betrachtet, beispielsweise enge Freunde, Adoptivkinder oder romantische Partner. Propinquität und Ähnlichkeit taugen somit nicht, um die Unterscheidung verwandtschaftlicher von anderen Beziehungen umfassend zu erklären. Dementsprechend werden in der Literatur Propinquität und Ähnlichkeit sowohl als Cues für genetische Verwandtschaft als auch als Cues für Kooperativität bzw. Kooperationsbereitschaft zwischen genetisch Nichtverwandten beschrieben (vgl. Wrzus, 2008). Unbeantwortet bleibt dabei die zentrale Frage, unter welchen Bedingungen die Wahrnehmung von Propinquität und Ähnlichkeit Verwandtschaft oder Nichtverwandtschaft indizieren sollen. Schließlich können wahrgenommene Propinquität und Ähnlichkeit sowohl zu einer Annäherung (z.B. Hilfsbereitschaft) als auch zu einer Vermeidung (z.B. sexuelle Aversion) gegenüber Beziehungspartnern führen (Park & Schaller, 2005). Für das Verständnis der Differenzierung von Verwandtschaft und Nichtverwandtschaft erscheint es deshalb wichtig zu erklären, welche sozialen Situationen (Intimität, Austausch, Kooperation, Sexualität) vermieden oder angestrebt werden. Aus motivationspsychologischer Sicht ist bekannt, dass Annäherungs- wie Vermeidungsverhalten in aller Regel von Emotionen (z.B. Furcht vor Ablehnung, Hoffnung auf Wertschätzung) begleitet werden (Heckhausen & Heckhausen, 2006). Die Annahme liegt daher nahe, dass Emotionen die entscheidenden proximaten Mechanismen der Verwandtschaftsdifferenzierung darstellen. Hierzu zählen wir einerseits den Umgang mit emotionaler Nähe, zum anderen sind Emotionen beteiligt, wenn es um die Bewertung von Ergebnissen des sozialen Austauschs geht. So gilt in Verwandtschaftsbeziehungen eine aufgeschobene Reziprozität, aufgrund derer einseitige Hilfeleistungen auch über längere Zeiträume nicht beziehungsauflösend wirken (Wentowski, 1981). Diese Überlegungen münden in ein integratives Modell der psychologischen Verwandtschaft, das wir im Folgenden darstellen.

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Ein integratives Modell psychologischer Verwandtschaft Wir gehen davon aus, dass psychologische Verwandtschaft durch das Herstellen von emotionaler Nähe und einer Adaptation der Reziprozitätsregel charakterisiert werden kann. Mit dem Verzicht auf strikte Einhaltung der Reziprozitätsregel ist auch eine Bedingung formuliert, unter der Beziehungen zwischen genetisch Nichtverwandten als verwandtschaftsgleich oder wahlverwandt wahrgenommen werden können. Emotionale Nähe verweist dabei auf eine Beziehungsqualität, die durch kontinuierliche Beziehungsgestaltung hergestellt wird und als ein Gefühl von Verwandtschaft definiert werden kann (Lang, Wagner & Neyer, 2009; Neyer, Wrzus, Wagner & Lang, 2011). So besteht beispielsweise bei Erwachsenen in allen Altersgruppen ein starker Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ausprägungen genetischer Verwandtschaft (d.h. 50%, 25%, 12,5%, 0%) und dem Ausmaß der erlebten emotionalen Nähe (Neyer & Lang, 2003, 2004). 2 Bislang ist uns kein anderes strukturelles Beziehungsmerkmal bekannt, dass ähnlich stark – d.h. mit einer Korrelation von r = .50 – mit emotionaler Nähe assoziiert ist. Wir nehmen an, dass dieser Effekt kulturübergreifend gültig ist, eine entsprechende Korrelation von r = .59 fand beispielsweise Hullmann (2005) an einer Stichprobe im Senegal. Wir leiten daraus die Hypothese ab, dass emotionale Nähe nicht nur eine Begleiterscheinung ist, sondern selbst als eine psychologische Verwandtschaftsheuristik betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: Gefühlte Verwandtschaft kann operational als emotionale Nähe definiert werden. Proximat gedacht bedeutet dies, dass Verwandte sich nicht deshalb unterstützen, weil sie genetisch verwandt sind, sondern weil sie sich nah fühlen. Dies erlaubt es, beispielsweise auch Partner und enge Freunde als „wahlverwandt“ zu betrachten, obwohl sie genetisch nicht verwandt sind. Partner werden nach unserem bisherigen Wissen in allen Kulturen als Teil der Verwandtschaft betrachtet, vermutlich weil

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aus einer Partnerschaft gemeinsame Kinder hervorgehen können und die Aufrechterhaltung der Partnerschaft für diese überlebenswichtig sein kann (Daly, Salmon & Wilson, 1997). Aus Sicht der Bindungstheorie wurde aus diesem Grund argumentiert, dass zwischen romantischen Partnern ähnliche Bindungsbeziehungen bestehen wie zwischen Mutter und Kind – allerdings mit dem subtilen, aber theoretisch bedeutsamen Unterschied, dass zwischen Partnern gleichzeitig ein hohes Maß an Symmetrie, Kooperation und Reziprozität erforderlich ist, ohne dass sich eine sicherheitsspendende Bindungsbeziehung gar nicht etablieren kann (Ainsworth, 1989). Darüber hinaus können zu besten Freunden emotional bedeutsamere Verbindungen unterhalten werden als zu Mitgliedern der Kernfamilie. Beispielsweise fungieren im Jugendalter Freundinnen und Freunde häufig als Vorbild für spätere Partnerbeziehungen und sind mitunter wichtiger als Eltern und Geschwister (Furman, Simon, Shaffer & Bouchey, 2002). Freundschaften im mittleren und höheren Erwachsenenalter können ebenfalls Bindungsqualität besitzen und verwandtschaftliche Beziehungsverhältnisse „simulieren“ (Allen, Blieszner, & Roberto, 2011; Blieszner & Roberto, 2004). Reziprozität ist eine Beziehungsqualität, die durch kontinuierliche Interdependenz und Austauschprozesse hergestellt und als wahrgenommene Fairness und Ausgewogenheit definiert wird (Lang & Neyer, 2008; Lang, Wagner & Neyer, 2009). Im Unterschied zu Beziehungen zwischen genetisch Nichtverwandten (resp. Kooperationsbeziehungen) gilt für Verwandtschaftsbeziehungen, dass wahrgenommene Reziprozität eine nachgeordnete Rolle spielt, insofern diese in der Regel auch dann aufrecht erhalten werden, wenn die Reziprozitätsregel verletzt wird (Ikkink & van Tilburg, 1998). Zwar gilt die Reziprozitätsregel in allen Beziehungen mehr oder weniger stark, aber Beziehungen mit Verwandten können Ungleichgewichte tolerieren, während Beziehungen mit Nichtverwandten dies nicht können und in der Regel dann beendet werden. Dies impliziert, dass eine verringerte Wachsamkeit im

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Hinblick auf die Einhaltung der Reziprozität durchaus kennzeichnend für Verwandtschaft ist. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies in intergenerationalen Beziehungen, etwa zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern (Wrzus, Wagner, Baumert, Neyer & Lang, 2011), sowie in der Tatsache, dass die Stabilität von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen im menschlichen Lebensverlauf außergewöhnlich hoch ist (Wrzus, Hänel, Wagner & Neyer, in Druck). Aus diesen Überlegungen leiten wir ein Entwicklungsmodell verwandtschaftlicher Beziehungen ab, welches von der fundamentalen Unterscheidung zwischen genetischer und nichtgenetischer Verwandtschaft ausgeht und Bedingungen formuliert, unter denen das Entstehen psychologischer Verwandtschaft möglich ist. Die Pfade zwischen den Variablen stellen empirisch prüfbare probabilistische Zusammenhänge dar, die die Entstehung psychologischer Verwandtschaft im zeitlichen Verlauf erklären. Das Modell sagt vorher, dass in Beziehungen zwischen genetisch verwandten Personen – vermittelt über Propinquität oder Ähnlichkeit – emotionale Nähe entstehen kann und damit das Erleben psychologischer Verwandtschaft ermöglicht, während zwischen genetisch Nichtverwandten – wiederum vermittelt über Propinquität oder Ähnlichkeit – ebenfalls Beziehungen entstehen können und unter der Bedingung der Einhaltung der Reziprozitätsregel aufrechterhalten werden. Wird auf die Einhaltung der Reziprozitätsregel verzichtet, können diese Beziehungen die emotionale Qualität von Verwandtschaftsbeziehungen annehmen. Abbildung 1 Beispielsweise ist das Entstehen emotionaler Nähe und damit psychologischer Verwandtschaft zwischen leiblichen Geschwistern (mit einem Verwandtschaftsgrad von 100% im Fall eineiiger Zwillinge, sonst 50%) sehr wahrscheinlich, während derselbe Pfad im Fall von Halb- (25%), Stief- oder Adoptivgeschwistern (0%) aufgrund schwächerer oder gar

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keiner genetischen Verwandtschaft und spezifischer Kontextbedingungen (z.B. Zeitpunkt des Eintritts in die Zielfamilie) weniger wahrscheinlich ist (Neyer, 2002; Neyer & Lang, 2003). Bei Nichtvorliegen von genetischer Verwandtschaft (0%), z.B. bei gleichaltrigen Peers in einer Schulklasse, wird stattdessen eher eine reziproke Tauschbeziehung etabliert, die zunächst nur dann stabil sein kann, wenn die Reziprozitätsregel eingehalten wird. Werden solche Beziehungen auch bei Außerachtlassung dieser Regel noch fortgeführt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich – vermittelt über die Erfahrung emotionaler Nähe – die Wahrnehmung psychologischer Verwandtschaft einstellt. Mit anderen Worten ist die kontinuierliche Reziprozitätserfahrung eine notwendige Bedingung dafür, dass solche Beziehungen überhaupt mittelfristig stabil werden können und damit die Chance erhalten, Verwandtschaftsbeziehungen im psychologischen Sinne zu werden. Wie ferner aus dem Modell hervorgeht, gelten für die Entstehung von emotionaler Nähe oder wahrgenommener Reziprozität dieselben vermittelnden Cues, nämlich Propinquität und Ähnlichkeit (vgl., Wrzus, 2008). Dazu muss angemerkt werden, dass Propinquität und Ähnlichkeit (z.B. im Hinblick auf Kompetenzen oder Gestaltmerkmale) durchaus situationsabhängig fluktuieren können. Annahmen über deren Wirkungen in der Verwandtschaftserkennung oder der Wahrnehmung von Reziprozität gehen aber meist implizit davon aus, dass es sich um zeitlich stabile Merkmale handelt. Tatsächlich sind dies aber Beziehungsmerkmale, die von individuellen Handlungs- und Wertdispositionen abhängen und deswegen nicht stabil sein müssen. Bislang ist noch ungeklärt, inwieweit der veränderte Umgang mit Reziprozität in verwandtschaftlichen Beziehungen eventuell auch ein emotional vermittelter Prozess ist. Erste Befunde verweisen darauf, dass beispielsweise negative Austauschprozesse in verwandtschaftlichen Beziehungen, nicht aber in anderen Beziehungen, die emotionale Nähe langfristig intensivieren können (Fung, Yeung, Li & Lang, 2009). Insbesondere zeigen die

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Ergebnisse von Fung et al., dass die Bereitschaft, nach negativen Beziehungserfahrungen eine Verwandtschaftsbeziehung dennoch fortzuführen oder sogar zu intensivieren, einen weiteren Mechanismus der Verwandtschaftsdifferenzierung darstellt. Diese Ergebnisse stehen keineswegs im Widerspruch zur Theorie des verwandtschaftlichen Altruismus, denn auch soziobiologisch betrachtet können ressourcenbezogene Konflikte zwischen Verwandten adaptiv sein, indem sie deren Beziehungen stabilisieren (Trivers, 1974). Gleichwohl zeigt sich an dieser Stelle auch die Kehrseite emotionaler Verbundenheit: Inter- und intragenerationale Verwandtschaftskonflikte können durchaus schwerwiegend sein, wenn übliche Mechanismen der Kontrolle fairen und reziproken Austauschs nicht greifen. Verwandtschaft wirkt sich auch auf die allgemeine Wahrnehmung von Reziprozität in anderen Beziehungen aus. In Kontexten mit stabilen und verlässlichen Verwandtschaftsbeziehungen sind Menschen weniger wachsam, wenn gegen die Reziprozität verstoßen wird, als in Kontexten, in denen verwandtschaftliche Beziehungen wenig stabil sind. In unseren Untersuchungen stellte sich beispielsweise heraus, dass es von den familialen Lebensumständen abhängt, ob jemand auch dann noch bereit ist, mit einer unbekannten Person eine feste Geldsumme gerecht aufzuteilen, wenn sich die andere Person nichtkooperativ verhält. In traditionellen Familienverhältnissen mit leiblichen Kindern lebende Paare zeigten in dieser Studie eine größere Robustheit gegen Verletzungen der Reziprozitätsregel als Paare, die in einer Patchwork-Familien lebten (Lang, Wagner & Neyer, 2009). Abgrenzung verwandtschaftlicher von anderen Beziehungssystemen. Verwandtschaftsbeziehungen im psychologischen Sinne lassen sich aufgrund unseres Modells von Partnerschaftsbeziehungen einerseits und andererseits von Kooperationsbeziehungen, d.h. Beziehungen mit im psychologischen Sinne Nichtverwandten, abgrenzen. Jedes dieser Beziehungssysteme ist soziobiologisch gesehen aus einem distinkten Selektionsdruck

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hervorgegangen, d.h. aus der Notwendigkeit in Verwandte, bi-parentalen Nachwuchs oder Kooperationen mit nichtgenetisch Verwandten zu investieren. Diesen rein ultimaten Mechanismen lassen sich aus psychologischer Sicht die proximaten Prozesse der Näheregulation und Reziprozitätsaushandlung zuordnen. Aus diesen evolutionspsychologisch informierten Überlegungen lassen sich klare Vorhersagen für die Differenzierung zwischen Verwandtschafts-, Partnerschafts- und Kooperationsbeziehungen ableiten. Das Erleben emotionaler Nähe indiziert demnach primär Verwandtschaftsbeziehungen und das Erleben von Reziprozität primär Kooperationsbeziehungen, während Partnerbeziehungen sich durch hohe Ausprägungen in beiden Qualitäten auszeichnen. Ähnliche Differenzierungen zwischen Beziehungen aufgrund verschiedener Beziehungsqualitäten wurden von Fiske (1992), Bugental (2000) oder Brown und Brown (2006) vorgenommen. Unser Ansatz unterscheidet sich im Wesentlichen darin, dass er – wie im Folgenden ausgeführt – bereits ansatzweise empirisch fundiert ist. Die angenommene Differenzierung zwischen Beziehungen konnten wir empirisch an mehreren unabhängigen und altersheterogenen Stichproben bestätigen (Neyer et al., 2011). Tatsächlich waren Verwandtschaftsbeziehungen wie erwartet stärker durch Nähe und Kooperationsbeziehungen stärker durch wahrgenommene Reziprozität charakterisiert, während Partnerbeziehungen durch beide Qualitäten gleichermaßen gekennzeichnet waren. Abbildung 2 Die besondere Qualität der Partnerbeziehungen führen wir darauf zurück, dass sie zumindest in unserer Kultur gleichzeitig Bindungs- und Austauschbeziehungen sind. Dies wird zum einen durch bindungstheoretische Überlegungen unterstützt, nach denen im Unterschied zur Eltern-Kind-Bindung die Partnerbindung auch auf Reziprozität beruht (Ainsworth, 1989). Zum anderen belegen viele Studien die Annahmen von

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Interdependenztheorien, nach denen Qualität und Stabilität von Partnerschaften auf der Basis von Austauschprozessen gut vorhergesagt werden können (Rusbult & Arriaga, 1997). Partnerschaftliche Liebe sowie Sexualität werden alltagspsychologisch häufig als definierende Merkmale von Partnerschaftsbeziehungen angeführt. Aus unserer Sicht kann partnerschaftliche Liebe als das Resultat des kontinuierlichen Austausches romantischer Emotionen und von Sexualität betrachtet werden, aus der wiederum psychologische Verwandtschaft entstehen kann. Dieser Entwicklungsprozess lässt sich mithilfe unseres Modells folgendermaßen skizzieren: Nichtgenetische Verwandtschaft -> Reziprozität (Austausch von Sexualität und romantischen Emotionen) -> Adaptation der Reziprozitätsnorm -> emotionale Nähe (partnerschaftliche Liebe) -> Psychologische Verwandtschaft. Wie man leicht erkennt, sollten dabei Sexualität auf der einen und Liebe auf der anderen Seite nicht gleichgesetzt werden. Sexualität an sich ist keine notwendige Bedingung für partnerschaftliche Liebe, da beide auf unabhängigen Verhaltenssystemen beruhen (Diamond, 2003). Unsere Studien zeigen weiterhin, dass der Partner unter Umständen völlig ununterscheidbar von Verwandten ist, d.h. als „wahlverwandt“ oder verwandtschaftsgleich wahrgenommen werden kann. Insbesondere beobachteten wir, dass dieser Status eintritt, wenn gemeinsame Kinder vorhanden oder erwünscht sind, unabhängig davon, ob beide Partner in einer traditionellen oder einer Stief- bzw. Patchwork-Familie leben, während der Partner eher den Status einer Kooperationsbeziehung behält, wenn keine Kinder gewünscht sind (Neyer et al, 2011). Die Differenzierung zwischen Beziehungen im Lebensverlauf ist nicht in Stein gemeißelt, sondern besitzt eine hohe Flexibilität. Dies zeigt sich beispielhaft in Freundschaftsbeziehungen. Freundschaften sind Beziehungen, die eine besondere Position im

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Geflecht der Beziehungsgestaltung einnehmen. Sie sind offensichtlich keine (genetischen) Verwandtschafts-, keine Partner- und keine reinen Kooperationsbeziehungen, bei denen es ausschließlich um ausgewogene Tauschbilanzen geht (Blieszner & Roberto, 2004). Ungeachtet ihrer Vielfalt besteht jedoch eine Charakteristik besonders intensiver Freundschaften darin, dass ihr Kooperationscharakter langfristig „kultiviert“ wird und möglicherweise auf die strikte Einhaltung er Reziprozitätsnorm verzichtet werden kann, so dass ich jene Nähe einstellt, die für Verwandtschaft charakteristisch ist (Hruschka, 2010, Lang & Neyer, 2008). Auf analoge Weise kann der Verwandtschaftsstatus in Partnerschaften als Resultat von reziproken Austauschprozessen verstanden werden. Tatsächlich hat beispielsweise die Bindungsforschung gezeigt, dass das partnerschaftliche Bindungssystem erst nach einer durchschnittlichen Beziehungsdauer von etwa 2 Jahren etabliert wird, also erst nachdem reziproke Aushandlungsprozesse der Beziehung ein stabiles Fundament gegeben haben (Fraley & Shaver, 2000). Die Dynamik dieser Beziehungsgestaltung führt zu dem alltagspsychologischen und kulturellen Phänomen der sogenannten Wahlverwandtschaft. Bislang ist empirisch noch ungeklärt, welche genauen Umwelt- oder Beziehungsbedingungen die Transformation von Kooperationen in eine Wahlverwandtschaft fördern. Unsere Hypothese ist, dass dies – wie in Abbildung 1 gezeigt – über die kontinuierliche und kumulierte Erfahrung von Reziprozität geschieht. Wir argumentieren, dass Freundschaften und Partnerschaften zu quasiverwandtschaftlichen Beziehungen werden können, in denen ein hohes Ausmaß an erlebter emotionaler Nähe besteht und wie in anderen Verwandtschaftsbeziehungen auf die strikte Befolgung der Reziprozitätsregel weniger geachtet wird oder sogar ganz verzichtet werden kann. Die Differenzierung zwischen Beziehungen darf nicht nur im Lichte der soziobiologisch verstandenen Selektionsvorteile betrachtet werden. Proximat betrachtet ist

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gerade die Flexibilität der Beziehungsgestaltung ein Phänomen, das als psychologische Anpassungsleistung verstanden werden kann und unter Umständen sogar das Wohlbefinden erhöhen kann. Freundschaften können eine vergleichbare emotionale Qualität wie die Beziehungen zu nahen Verwandten besitzen. Darüber hinaus stehen sie in Wechselwirkung mit Verwandtschaftsbeziehungen, indem sie diese nicht nur ergänzen, sondern auch kompensieren können (und umgekehrt), etwa wenn diese nicht zufrieden stellend, konfliktbeladen oder nicht ausreichend bzw. gar nicht vorhanden sind. Solche Wechselwirkungen konnten wir in unseren Untersuchungen beobachten und weiterhin nachweisen, dass sie mit einer erhöhten Lebenszufriedenheit einhergehen (Wrzus, Wagner & Neyer, in Druck). Historische, Kontext- und Persönlichkeitseinflüsse. Werden in (post)modernen Gesellschaften diese Mechanismen der Abgrenzung von Verwandtschaft zu anderen Beziehungen außer Kraft gesetzt, da Beziehungen beliebig eingegangen und gelöst werden können und aus Verwandten Fremde und aus Fremden Freunde werden können? Selbst wenn die soziale Konstruktion von Verwandtschaft durchaus säkularen Trends unterworfen ist (z.B. durch zunehmende Deinstitutionalisierung von Verwandtschaftssystemen und Isolierung der Kernfamilie, vgl. Diewald et al., 2009), wurde vielfach gezeigt, dass die subtile Unterscheidung zwischen Verwandten und Nichtverwandten weiterhin besteht (vgl. Wrzus et al., in Druck). Beispielsweise haben wir in unseren Studien ebenfalls zeigen können, dass die Beziehungsqualität in Stief- und Patchwork-Familien zwar generell vergleichbar mit der in anderen Familienformen ist. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern bleiben aber durch die verschiedenen Verwandtschaftsgrade determiniert, so dass im Durchschnitt die psychologische Differenzierung zwischen Stief- und biologischen Eltern bzw. Geschwistern fortbesteht (Neyer et al., 2011; Wrzus, 2008). Allerdings gilt auch hier, dass diese wahrgenommenen Unterschiede erodieren können, wenn in diesen

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Beziehungen weniger auf Reziprozität geachtet und mehr Nähe hergestellt wird. So zeigte sich beispielhaft in unseren altersvergleichenden Studien, dass die Beziehungsqualitäten älterer Menschen in der Regel stärker durch emotionale Nähe geprägt sind als bei jungen Erwachsenen (Lang, 2000; Lang & Carstensen, 1994). Individuelle Unterschiede in der Verwandtschaftsdifferenzierung können schließlich auf die Persönlichkeit, unterschiedliche Beziehungshistorien und soziale Kontexte zurückgehen. Es werden auch Geschlechtsunterschiede diskutiert. So sollte Verwandtschaft für Frauen eine bedeutsamere Kategorie darstellten als für Männer, was soziobiologisch damit begründet wird, dass Frauen mehr in Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses investieren müssen, dabei stärker auf Verwandte angewiesen sind und gleichzeitig Inzest vermeiden müssen. Tatsächlich zeigen unsere Befunde, dass Frauen allgemein eine stärkere psychologische Verwandtschaftsorientierung besitzen (Neyer & Lang, 2003, 2004). Deshalb könnte auch angenommen werden, dass Frauen stärker als Männer dazu tendieren, nahe stehende Bezugspersonen, wie langjährige Freundinnen und Freunde, als verwandtschaftsgleich oder -ähnlich wahrzunehmen (Ackerman, Kenrick & Schaller, 2007). Das familiäre und ökologische Umfeld könnte nach einer Überlegung von Park et al. (2008) ebenfalls die Psychologie der Verwandtschaft beeinflussen. Leben Menschen z.B. in engmaschigen Verwandtschaftsverhältnissen oder in ländlichen Regionen, haben sie in der Regel häufiger Gelegenheit mit genetisch Verwandten zu kommunizieren. Wegen dieser höheren Basisrate für verwandtschaftliche Interaktionen könnten sie auch stärker geneigt sein, „falschpositive Treffer“ zu erzielen und etwa langjährige Nachbarn, Vereinsmitglieder oder Freunde gelegentlich zum engeren Kreis der Wahlverwandten zu zählen. Damit könnte auch die sprichwörtliche Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden erklärt werden, die auf dem Lande stärker ausgeprägt ist als in der Stadt. Darüber hinaus haben demografische Trends Auswirkungen auf Verwandtschaftssysteme. So führen höhere Lebenserwartung und

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sinkende Fertilitätsraten zu einem relativen Anstieg vertikaler gegenüber horizontalen Verwandtschaftsverhältnissen („Bohnenstangenfamilien“) und dazu, dass Großeltern, Eltern und Enkel mehr Lebenszeit denn je miteinander teilen können (Coall & Hertwig, 2010; Diewald et al., 2009). Die Frage, ob die Tendenz Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft zu pflegen abhängig von stabilen und konsistenten Persönlichkeitseigenschaften ist, kann derzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. In unseren Studien haben wir solche Zusammenhänge bislang kaum gefunden, auch wenn sich vereinzelt zeigte, dass sozial verträgliche Personen ihre verwandtschaftlichen Beziehungen stärker pflegten (Neyer & Lang, 2003). In einer weiteren Studie verglichen wir ungewollt kinderlose Frauen mit motiviert kinderlosen Frauen im Alter von ca. Ende 30 im Hinblick auf ihre elternschaftbezogenen Motive und Netzwerkmerkmale. Während der unerfüllte Kinderwunsch stark durch den Wunsch nach Nähe und emotionaler Akzeptanz gekennzeichnet war, wurde der Wunsch kinderlos zu bleiben meist durch antizipierte Beeinträchtigungen begründet. Im Einklang mit diesen Erwartungen unterschieden sich beide Gruppen in der Art ihrer Netzwerkgestaltung: Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch zeigten eine vergleichsweise höhere Tendenz, auch zu nichtverwandten Personen starke emotionale Beziehungen zu pflegen, während die Beziehungen der motiviert kinderlosen Frauen stärker auf dem Reziprozitätsprinzip basierten (Wagner, Wrzus, Neyer & Lang, 2011). Dieser Befund illustriert, dass beziehungsrelevante Persönlichkeitsmerkmale im Hinblick auf Kinderwunschmotive eine starke Entsprechung in der Nutzung beziehungsregulativer Mechanismen (hier: Nähe vs. Reziprozitätsorientierung) haben. Schlussfolgerungen

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Verwandtschaft ist eine fundamentale psychologische Kategorie, die jedoch nicht in Stein gemeißelt ist. So kann sie einerseits Partner- und Freundschaftsbeziehungen einschließen und andererseits dysfunktionale Verwandtschaftsbeziehungen ausschließen. Zwar gilt als verwandt, wer emotional nahe steht. Emotionale Nähe oder wahrgenommene Verwandtschaft resultiert nach unseren Überlegungen jedoch aus unterschiedlichen Kontexterfahrungen. Generell gilt für Beziehungen mit genetisch Verwandten, dass sie über die Erfahrung emotionaler Verbundenheit den Status von Verwandten im psychologischen Sinne erhalten. Beziehungen zu genetisch Nichtverwandten (einschließlich Partner, Freunde u.a.) können über die wiederholte und stabile Erfahrung von Reziprozität oder mit anderen Worten: durch die Aushandlung von Reziprozität, den Status von „Wahlverwandten“ erzielen, wobei die Erwartung von Reziprozität zunehmend weniger normativ wird. Verwandtschaft ist demnach eine psychologische Kategorie, die nicht arbiträr hergestellt werden kann, sondern auf dem Zusammenspiel von Nähe- und Reziprozitätserleben beruht. Auch aus evolutionspsychologischer Sicht ist diese Art der Beziehungsgestaltung keineswegs ein Nebenprodukt derjenigen Selektionsprozesse, die auf Verwandtenselektion, parentalem Investment oder reziproker Kooperation abzielen. Vielmehr führen die hier beschriebenen Mechanismen der Beziehungsgestaltung dazu, dass soziale Beziehungen auf vorhersagbare Weise entstehen und damit wichtige Funktionen für das Individuum und die Gesellschaft besitzen.

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Fußnoten: 1

Genetische Verwandtschaft ist dabei nicht zu verwechseln mit genetischer Ähnlichkeit, die

sich auf den Vergleich verschiedener Spezies oder zwischen genetisch nichtverwandten Personen wie z.B. Partner bezieht. 2

Operationalisiert werden kann dies durch einen Netzwerkansatz, bei dem

Untersuchungsteilnehmer intraindividuelle Vergleiche zwischen diversen Beziehungspartnern im Hinblick auf wahrgenommene emotionale Nähe vornehmen (Neyer & Lang, 2003, 2004). Diese Operationalisierung schließt zwar nicht aus, dass emotionale Nähe beziehungsspezifische Konnotationen haben kann (z. B. gegenüber Freunden, Kindern, Partner usf.). Die Replikation der Befundmuster über Altersgruppen und Studien hinweg belegt jedoch die Validität dieser intraindividuellen Vergleiche.

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Abbildung 1: Entwicklungsmodell psychologischer Verwandtschaft (Propinquität und Ähnlichkeit werden hier als mögliche vermittelnde psychologische Prozesse aufgeführt. Eine Bedingung für ihre Wirksamkeit ist ihre mittelfristige Stabilität.)

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Abbildung 2: Differenzierung zwischen Beziehungsystemen in Abhängigkeit von Nähe und Reziprozität (nach Neyer et al., 2011, Copyright Hogrefe Verlag).

Wahrgenommene Reziprozität (z-Werte)

1.5

Studie 2 Studie 1 1.0

0.5

Partner

Kooperationsbeziehungen

0.0

Verwandte

-0.5

-1.0

-1.5 -1.5

-1.0

-0.5

0.0

0.5

Emotionale Nähe (z-Werte)

1.0

1.5