In Deutschland ankommen. Alltag in der Einwanderungsgesellschaft

In Deutschland ankommen. Alltag in der Einwanderungsgesellschaft Abschlussveröffentlichung des DGB-Bezirks Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt im ...
Author: Gretel Kaiser
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In Deutschland ankommen. Alltag in der Einwanderungsgesellschaft Abschlussveröffentlichung des DGB-Bezirks Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt im Rahmen des Projekts AZF II (Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge)

Impressum

Das Projekt „AFZ II – Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge“ ist Teil des XENOS-Sonderprogramms „ESF-Bundesprogramm zur arbeitsmarktlichen Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit Zugang zum Arbeitsmarkt“ und wird gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds.

Abschlussveröffentlichung des Deutschen Gewerkschaftsbundes Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt im Rahmen des Projekts AZF II (Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge) Herausgeber: Deutscher Gewerkschaftsbund Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt Projekt AZF II (Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge) Verantwortlich: Hartmut Tölle Konzept: Kerstin Märländer Otto-Brenner-Straße 7 30159 Hannover Tel.: 0511-12601-68 E-Mail: [email protected] www.niedersachsen.dgb.de AutorInnen: Kerstin Märländer Tanja Pantazis Joschka Gatzlaff Franziska Rein Sigmar Walbrecht Redaktion: Kerstin Märländer Mitarbeit: Franziska Rein Satz u. Layout: design und distribution – www.d-welt.de Titelfoto: Lena Schliemann Druck: AktivDruck & Verlag GmbH Oktober 2013

Gefördert durch:

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DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt, AZF II

Inhaltsverzeichnis

Vorwort.................................................................................................................................................4

Einleitung: Das Projekt AZF II..................................................................................................................5

Ankommen in Deutschland.....................................................................................................................6

Chancen und Probleme des Kulturbegriffs...............................................................................................12

Hindernisse und Widersprüche: Der beschwerliche Weg in den Arbeitsmarkt............................................21

Fazit und Ausblick..................................................................................................................................27

AutorInnenverzeichnis............................................................................................................................29

In Deutschland ankommen

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser, im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik sind immer wieder Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen, um hier zu arbeiten und zu leben. Aktuell hat jede bzw. jeder Fünfte von uns einen Migrationshintergrund im engeren Sinne, so dass Deutschland längst als Einwanderungsland gesehen werden muss. Diese Vielfalt bereichert unser Zusammenleben und bildet ein starkes Fundament für die gesellschaftliche, aber auch wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Neben Chancen sind mit der Zuwanderung gleichzeitig Aufgaben verbunden, die wir gemeinsam lösen müssen. Menschen, die zu uns kommen, wollen willkommen geheißen, eingebunden und integriert werden, ebenso wie wir das in anderen Ländern erwarten würden. Die Etablierung einer umfassenden Willkommenskultur in Deutschland ist vor diesem Hintergrund nicht nur geboten, sondern ein zentraler Baustein einer weltoffenen und toleranten Gemeinschaft. Was dabei gebraucht wird, ist ein gesteigertes Verständnis der Menschen untereinander unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Hintergrunds. Eine Förderung der interkulturellen Kompetenz auf allen Ebenen ist dabei unabdingbar. Auf dem Weg hin zu einer weltoffenen Gesellschaft haben wir noch viel zu tun. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte sind nach wie vor mit Ausgrenzung, Abwertungen und offenem Rassismus konfrontiert. Politische Veränderungen, wie beispielsweise eine Liberalisierung des Aufenthaltsrechts, können strukturelle Benachteiligungen mindern. Allerdings sind es auch die Situationen des Alltags in Behörden und Organisationen, bei denen der Hebel angesetzt werden muss.

bedarf. Die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge in Deutschland oftmals leben, müssen dringend verbessert werden. Die Menschen kommen zumeist mit der Erwartung zu uns, für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen zu dürfen. Diese Möglichkeit wird ihnen kaum gegeben. Das Projekt hat hier in den vergangenen Jahren auf Basis einer breiten Partnerschaft eine wichtige Arbeit im Sinne der interkulturellen Kompetenz geleistet, bei der die Hindernisse beim Zugang der geflüchteten Menschen zu Arbeit und Ausbildung abgeschwächt wurden. Zentrale Ergebnisse sind in der vorliegenden Broschüre zusammengefasst. Nach Lektüre der folgenden Seiten wird deutlich, dass wir diesen erfolgversprechenden Weg weitergehen müssen. Eine Verlängerung des Projekts und seiner Aktivitäten wäre daher von großem Nutzen. Hannover, Oktober 2013 Hartmut Tölle Vorsitzender des DGB-Bezirks Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt

Mit dem Projekt AZF II (Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge) wurde eine Personengruppe in den Fokus gerückt, die unserer besonderen Unterstützung 4

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Einleitung: Das Projekt AZF II

Kerstin Märländer

Das Projekt AZF II (Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge), im Rahmen dessen die vorliegende Broschüre entstand, war von November 2010 bis Dezember 2013 beim DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt angesiedelt. Dieses Projekt wurde durch das „ESF-Bundesprogramm Bleibeberechtigte und Flüchtlinge II“ vom Europäischen Sozialfonds und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und hatte zum Ziel, Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus in Arbeit und Ausbildung zu vermitteln. Neben dem DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen –Sachsen-Anhalt gehörten der Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V., die Handwerkskammer Hannover Projekt und Servicegesellschaft mbH, der Bund Türkisch-Europäischer Unternehmer e. V., kargah e. V. Hannover, die Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen Mitte gGmbH und die Volkshochschule Celle zu den operativen Projektpartnern. Der Zusammenschluss dieser Organisationen zum Netzwerk AZF II ermöglichte eine an den individuellen Bedürfnissen der ProjektteilnehmerInnen orientierte Förderung, Qualifizierung und Vermittlung. Der Schwerpunkt der Projekttätigkeit des DGB lag in der Durchführung von Seminaren zum Thema „Interkulturelle Kompetenz“ für Behörden, insbesondere Jobcenter und Ausländerbehörden, sowie für gewerkschaftlich Aktive im Projektgebiet. Diese dienten der Sensibilisierung für die Situation von Geflüchteten und der Hinterfragung eigener Deutungsmuster und vermeintlicher Selbstverständlichkeiten. Den MitarbeiterInnen von Behörden sowie den GewerkschafterInnen wurde die Gelegenheit gegeben, sich über den Inhalt und die Bedeutung von Kultur Gedanken zu machen und sich vor diesem Hintergrund über ihre alltägliche Praxis auszutauschen bzw. diese kritisch zu hinterfragen. Dabei ging es unter anderem immer um die Frage, inwiefern Kultur als Erklärungsmuster für als befremdlich empfundenes oder sogar unverständliches Verhalten geeignet

ist und welche Konsequenzen aus der jeweiligen Antwort praktisch zu ziehen sind. Mit diesem Seminarthema befanden wir uns inmitten eines nahezu allgegenwärtigen Diskurses um Migration, Integration und eben Kultur, wobei letztere häufig in Erklärungsmustern zu finden ist, die das individuelle Verhalten auf die Herkunft einer Person zurückführen. Trotz dieser problematischen Verknüpfung, die dazu führt, dass Menschen bestimmte (kulturelle) Stereotype aufgrund ihrer Herkunft, „Ethnie“ oder Religion zugeschrieben werden, beharrten oftmals gerade Menschen mit Migrationsgeschichte auf kulturellen Deutungsmustern und forderten eine Befassung der Mehrheitsgesellschaft mit (anderen) Kulturen ein. Neben der berechtigten Kritik an kulturalistischem Rassismus scheint also ebenfalls ein Bedürfnis zu bestehen, die eigenen Fremdheitserfahrungen für Menschen ohne Migrationsgeschichte erfahrbar zu machen. In dieser Broschüre wollen wir uns näher mit dem Deutungsmuster Kultur befassen und Antworten auf die Fragen suchen, welche Ausschlusserfahrungen Menschen machen, die z. B. als Geflüchtete neu nach Deutschland kommen, welche Probleme Konzepte, die von verschiedenen Kulturkreisen ausgehen, mit sich bringen und welche Potentiale der Kulturbegriff in sich birgt. Da die Situation von Geflüchteten nicht nur und nicht maßgeblich von vermeintlich kulturellen Missverständnissen und Zuschreibungen, sondern von struktureller Ausgrenzung und institutionellem Rassismus geprägt ist, darf eine Sicht auf die Ausgrenzungserfahrungen, die Geflüchtete am Arbeitsmarkt machen, nicht fehlen.

In Deutschland ankommen

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Ankommen in Deutschland Tanja Pantazis

Ankommen in Deutschland – Auf dem Weg zur Willkommenskultur Ob es gelingt, in einer neuen Umgebung anzukommen und sich eine neue Existenz aufzubauen, hängt sowohl von endogenen als auch exogenen Faktoren ab. Sich auf eine neue Situation einzulassen, aber auch in dieser Situation willkommen geheißen und begleitet zu werden, stellen Grundvoraussetzungen dar, um ein Ankommen in einer neuen Umgebung zu ermöglichen.

Dennoch können bei einer Situation in einem interkulturellen Kontext durch empfundene Fremdheitsgefühle Angst, Unsicherheit und Irritationen hervorgerufen werden. Erst die Bewusstwerdung und die Überwindung eigens empfundener Fremdheitsgefühle können uns in die Lage versetzen, Willkommenskultur zu leben. Aus diesem Grund bedarf es grundsätzlicher Überlegungen, was Fremdheit in einer interpersonalen Beziehung bedeutet.

Management“ ist angesiedelt beim VIA Bayern – Verband für Interkulturelle Arbeit e.V. und unterstützt die lokalen Netzwerke bei der Umsetzung von Diversity Management (DiM). Es handelt sich hierbei weniger um einen Raum als um einen

Eine Annährung an den Begriff der Fremdheit

„Willkommenskultur braucht Haltung“ heißt es in DEIN NEUES LEBEN einem 2013 verfassten Arbeitspapier der IntegraIch kannte nur eine Welt tion durch Qualifikation IQ-Fachstelle „Diversity Bis der Fremde in meinem Haus erschien Management(1)“. Es gilt „Menschen in ihrer ganzen Vielfalt des Alters, Geschlechts, ethnischer, Ich kannte nur eine Sprache kultureller oder sozialer Herkunft, körperlicher und Bis der Fremde in meinem Haus erschien psychischer Befähigung, religiöser Zugehörigkeit In seinen Augen sah ich und sexueller Orientierung  wertzuschätzen (IQEin anderes Bild von mir Fachstelle „Diversity Management“ 2013:14). Die (Luc Degla – Dein neues Leben) gegenseitige Wertschätzung sowie eine Sensibilität gegenüber Ungleichbehandlung und Barrieren Wer kennt es nicht, aufgrund eines Wohnort-, gehören zu den Grundelementen, um eine Willkom- Arbeits- oder Schulwechsels mit einer neuen Ummenskultur ausbilden zu können. gebung konfrontiert zu sein? Man selbst findet sich in Situationen wieder, in denen man sich allein „Auf der Ebene interpersonaler Beziehungen in und unverstanden fühlt, Situationen, in denen man Zweipersonen- oder Kleingruppeninteraktion heißt sprachlos oder irritiert ist, weil bestimmte HandWillkommenskultur, die prinzipielle Offenheit und lungsweisen unverständlich bleiben. Bereitschaft, Kommunikation aufzunehmen, Beziehungen „auf Augenhöhe“ einzugehen, Hilfe oder Was bedeutet eigentlich Fremdheit? Was macht das Unterstützung anzubieten und natürlich, nicht zu Gefühl der Fremdheit mit mir? diskriminieren“ (Heckmann 2012:3). Um jedoch eine Beziehung „auf Augenhöhe“ eingehen zu In dem obigen Gedicht „MEIN NEUES LEBEN“ von können, bedarf es bei einer Zweipersoneninterak- Luc Degla ist bereits eine Facette des Begriffs Fremdtion beiderseitig auch des Wissens um mögliche heit genannt: Selbstbild – Fremdbild. Das Fremde Gemeinsamkeiten und Differenzen. wird in Abgrenzung zum Eigenen definiert. Unsere Erst mit Hilfe dieses Wissens und einer selbstreflek- Beziehung zum Anderen entscheidet darüber, wie tierten Haltung kann auch das eigene kulturelle „fern“ oder „fremd“ es für uns ist (Bolten 2013). Es Selbst begriffen werden (Roth 2011). bleibt jedoch festzuhalten, dass wir im Moment der Abgrenzung nicht nur das andere, sondern gleich6

Die IQ-Fachstelle „Diversity

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Prozessbegriff: Interkulturen entstehen dann, wenn Beteiligte aus konzeptuell unterschiedlichen Lebenswelten A und B miteinander agieren bzw. kommunizieren.(Bolten 2013)

zeitig auch uns selbst definieren. Stenger (1998) 2.1). Außerdem soll veranschaulicht werden, wie setzt genau hier an und beschreibt den Begriff der schnell eigens erlernte Regelsysteme als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden und oft Fremdheit als Exklusionsverhältnis. unhinterfragt bleiben, wodurch es zu seiner Störung „Mit der Bestimmung als Exklusionsverhältnis ist der Kommunikation kommen kann (Kapitel 2.2). Fremdheit mithin keine ‚Eigenschaft’, die einer Sache, einer Person oder einem Sachverhalt zu eigen Soziale Fremdheit – Mein Name ist, sondern meint stets die Qualität einer Erfahrung macht mich fremd von einer Sache, einer Person oder einem Sachverhalt. Die Aussage, dass einer Person ein Sachverhalt In der Ausländerbehörde fremd sei, ist daher eine Aussage über die Person in ihrer Beziehung zu jenem Sachverhalt, sagt Aufruf durch die Sprechanlage: „Herr Nikitidis aber nichts über diesen Sachverhalt aus“ (Stenger bitte“. 1998:22). Herr Nikitidis reagiert nicht. Eine Frau kommt in den Warteraum. Dieses Exklusionsverhältnis kann entweder dadurch „Herr Nikitidis, ja, Sie sind gemeint, kommen Sie entstehen, dass Personen und Gruppen die Position bitte“. von Fremden zugewiesen wird. In diesem Fall wird in Anlehnung an Stenger (1998) von sozialer Fremd- Warum hat Herr Nikitidis nicht reagiert? Ist er vielheit gesprochen. Handelt es sich um Wissens- und leicht schwerhörig oder könnte es einen anderen Sinnstrukturen, die nicht der eigenen Wirklichkeits- Grund geben, warum er sich nicht angesprochen ordnung zugerechnet werden können, wird der fühlt? Begriff kulturelle Fremdheit verwandt. Die Gründe seines Nichtreagierens können ganz Der Begriff der Fremdheit stellt ein Exklusionsver- unterschiedlich sein, dennoch könnte ein Grund hältnis dar, wobei die Exklusion selbst eine pragma- auch in der für ihn fremd klingenden Aussprache tische Relevanz erhalten muss, „das heißt, eine Irri- des Sprechers liegen, die sich darin begründen lässt, tation von Erwartungen hervorrufen oder dauerhaft dass sich Buchstaben und/oder Betonungen von ein Handlungs- bzw. Orientierungsproblem markie- den Klanggewohnheiten des Herrn Nikitidis unterren“ (Stenger 1998:22). Auf der praktischen Ebene scheiden. bedeutet es, dass Fremdheit in dem Moment auftritt, in dem eigens ausgeführte Handlungsroutinen wie Daraus lässt sich folgern, dass Fremdheit immer das Ausstrecken des Arms bei der Begrüßung bei der auch die Abgrenzung zur Gewohnheit darstellt, eine Gesprächspartnerin/dem Gesprächspartner Irritatio- Abweichung von einer für sich selbst definierten nen auslösen oder ein effektives Handeln aufgrund „Normalität“. Das heißt, dass nicht nur die Sprache unterschiedlicher Regelsysteme nicht möglich ist. an sich (Semantik, Syntax) ein Fremdheitsmoment Im Folgenden soll es anhand ausgewählter Beispiele für Herrn Nikitidis darstellt, sondern auch der Klang darum gehen, aufzuzeigen, wie schnell und oft auch der Sprache. Wenn ergänzend ein Kommentar wie unbewusst durch flüchtige Floskeln in einer Inter- „Ihr Name ist aber schwer auszusprechen“ hinzuaktion Fremdheit markiert wird, die wiederum in kommt, wird zugleich sozial markiert, dass die für Gefühlen der Ausgrenzung münden können (Kapitel Herrn Nikitidis gewohnheitsmäßige Lautabfolge für In Deutschland ankommen

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die Beraterin/den Berater fremd erscheint und damit außerhalb der Normvorstellung steht. Durch diese Äußerung findet eine Abgrenzung statt, und bei Herrn Nikitidis kann die ihm gegenüber verbalisierte Abgrenzungsäußerung in einem Gefühl der NichtZugehörigkeit münden. Ungeachtet dessen, dass es vermutlich menschlich unmöglich ist, alle Sprachen dieser Erde zu beherrschen, stellt sich im Hinblick auf eine gelebte Willkommenskultur die Frage, wie der Umgang mit eigens wahrgenommener Fremdheit aussehen kann. Da gerade der Name auch einen Teil der eigenen Identität ausmacht, ist er für alle von uns von besonderer Bedeutung. Neugier und Interesse an einer für Herrn Nikitidis gewohnten Aussprache des Namens könnten ein erster Grundstein des Willkommenheißens sein. Im Zusammenhang mit einem fremd klingenden Namen, der sich in das eigene Lautsystem nur schwer einordnen lässt, fällt dann auch schon mal die Frage: „Ist das jetzt ein weiblicher oder ein männlicher Name?“ „Welcher der Namen ist der Vorname, welcher der Nachname?“ Diese Fragen haben durchaus ihre Berechtigung, so bestehen zum Beispiel vietnamesische Namen in der Regel aus drei Teilen. Zuerst wird der Familienname, dann der sogenannte Mittelname und zuletzt der Vorname angegeben und im Gegensatz zum Deutschen wird bei einer formellen Anrede die Anredeform „Sehr geehrte Frau/Sehr geehrter Herr“ + Vorname benutzt. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass sich für eine vietnamesischsprachige Person, der die abweichende Abfolge der Vor- und Nachnamen nicht bewusst ist und für die das Lautsystem fremd klingt, ähnliche Fragen im Hinblick auf den Namen auftun können. Reichen in diesem Fall reine Namensschilder an der Tür aus oder stellt es nicht auch für diese Person eine Erleichterung dar, wenn sie zu dem für 8

sie fremd klingenden Namen Mandy Müller ein Foto sieht? Viele Menschen aus dem asiatischen Raum legen sich – oft schon in ihrer Schulzeit – einen englischen Namen zu, um einer Person mit einem anderen Lautsystem die Aussprache ihres Namens zu erleichtern.

Kulturelle Fremdheit – Alter  ≠  Alter Während bei der Begrifflichkeit der sozialen Fremdheit der Fokus auf Personen und/oder Gruppen liegt, stehen bei der kulturellen Fremdheit Wissens- und Sinnstrukturen im Vordergrund, die nicht der eigenen Wirklichkeitsordnung zugerechnet werden können und aus diesem Grund nicht auf Anhieb verständlich sind. In der Ausländerbehörde „Frau 가 , wie alt sind Sie denn?“ „Ich bin 26 Jahre.“ „Nee, da müssen sie sich verrechnet haben. In ihrem Pass steht doch, dass Sie 1981 geboren sind. Von 1981 bis 2006 macht 25 Jahre.“ Wie lassen sich die beiden unterschiedlichen Altersangaben begründen? Hat sich Frau 가 tatsächlich verrechnet oder spielen andere Gründe eine Rolle, warum es zu diesen beiden unterschiedlichen Aussagen kommt? Beide Personen haben eine für sich logische Rechnung aufgestellt, dennoch ergeben sich Differenzen zwischen ihren Aussagen. Für beide ist in diesem Moment nicht ersichtlich, wodurch sich diese Abweichung begründen lässt, da sie gewohnheitsmäßig ein für sie altbewährtes System angewandt haben, das sie generationsübergreifend kennen. In Korea ist ein Neugeborenes bereits ein Jahr alt, wenn es auf die Welt kommt, das heißt die Schwangerschaft wird zeitlich zur Berechnung des Alters mit einbezogen

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(Cho 2011). In Deutschland hingegen ist ein Neugeborenes mit der Geburt Null Jahre alt. Während in Korea das Kind beim Jahreswechsel ein Jahr älter wird, erfolgt dies in Deutschland am Geburtstag. Was für einen selbst eine Selbstverständlichkeit darstellt, kann für eine andere Person Irritationen hervorrufen, weil es sich mit den eigenen Erfahrungen von Alltagsnormalität nicht deckt. Bei der kulturellen Fremdheit handelt es sich um Wissensund Sinnstrukturen, die sich nicht einfach durch genaues Beobachten erschließen lassen. Implizites Wissen sind die in einer Gesellschaft/Gruppe fest verankerten Selbstverständlichkeiten, die durch Rituale – zum Beispiel in Deutschland das Feiern des Geburtstages/in Griechenland das Feiern des Namenstages – gelebt werden. Es sind gerade diese gesellschaftlich tradierten Rituale, die für eine Außenstehende/einen Außenstehenden nur schwer zu entschlüsseln sind. Handlungsansätze im Umgang mit Fremdheit Wenn eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe stattfinden soll, ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass jede Person kulturell geprägt ist und bestimmte unhinterfragte Selbstverständlichkeiten im täglichen Umgang pflegt, die für eine andere Person unverständlich sein können. So kann das Begrüßungsritual des Händeschüttelns – das in früheren Zeiten signalisierte „ich trage keine Waffe bei mir“ – für die eine Person als Nähe und Warmherzigkeit empfunden werden und für die andere als Distanz und Kühle.

dass die eigene kulturelle Prägung bewusst wahrgenommen wird und bereits selbst reflektiert wurde (affektive Ebene). Eine weitere Voraussetzung stellt das Wissen über die Funktion von Kultur und die unterschiedlichen kulturbedingten Denk- und Verhaltensweisen dar (kognitive Ebene). Erst wenn sowohl auf der kognitiven als auch auf der affektiven Ebene das Thema Interkulturalität verinnerlicht worden ist, können interkulturelle Techniken – wie zum Beispiel eine multiperspektivische Herangehensweise – erlernt und angewendet werden (behaviourable Ebene) (Gundlach 2010). Im konkreten Einzelfall bedeutet dies: – zu überlegen, welche Sachverhalte als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden; – zu hinterfragen, ob diese Sachverhalte als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden können; – nachzudenken, welcher zusätzlicher Informationen es bedarf, um den Sachverhalt besser zu verstehen. Beispiel Bei einer Person, die sehr familienorientiert geprägt ist und für die Verwandtschaftsbeziehungen ein wichtiges soziales Netzwerk darstellen, wird die Begrifflichkeit Familie möglicherweise eine ganz andere Assoziation hervorrufen als bei einer Person, die eine sehr individualisierte Sozialisation erfahren hat. Bereits die sprachliche Vielfalt von Verwandtschaftsbeziehungen kann ein mögliches Indiz dafür sein, dass der Begriff „Familie“ weitaus mehr beinhaltet als die Kernfamilie aus Mutter, Vater, Kind. So gibt es im Türkischen ein differenziertes Sprachsystem, um Verwandtschaftsbeziehungen unterscheiden zu können. Hierbei wird die Großmutter mütterlicherseits anneanne (die Mutter der Mutter) und die Großmutter väterlicherseits babaanne (die Mutter des Vaters) bezeichnet.

Um mit Situationen in interkulturellen Kontexten umgehen zu können, bedarf es einer Sensibilität und des Wissens darüber, wodurch sich mögliche Kulturunterschiede begründen lassen. Unter Sensibilität soll hierbei die Fähigkeit verstanden werden, Unterschiede in der Wahrnehmung eines Sach- Auf der einen Seite ist es wichtig, sich in einer inverhaltes entdecken zu können. Dies setzt voraus, terkulturellen Gesprächssituation bewusst zu sein, In Deutschland ankommen

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dass es ein unterschiedliches Verständnis von Familie geben könnte. Auf der anderen Seite bedarf es der Achtsamkeit im Umgang mit Zuschreibungen. Um diesen endogen stattfinden Abwägungsprozess zu erleichtern, ist die Technik des aktiven Zuhörens erforderlich. Beim aktiven Zuhören wird der Versuch unternommen, selbst kleinste Informationseinheiten aufzunehmen und diese für die Feststellung, ob und wenn ja, welches Differenzverhältnis besteht, heranzuziehen.

Fazit Anhand einzelner Beispiele sollte verdeutlicht werden, dass der Begriff der Fremdheit ganz unterschiedliche Dimensionen besitzt und in einer Gesprächssituation ganz individuell geschaut werden muss, in welcher Situation und warum eine bestimmte Person oder Gruppe als fremd wahrgenommen wird. Sich seiner eigenen Stereotypen bewusst zu sein und möglichst offen in ein Gespräch zu gehen, stellen Grundvoraussetzungen dar, um erfolgreich kommunizieren zu können.

Zeitverständnisse handelt und die interagierenden Personen beiderseitig ihr eigenes Regelsystem als Selbstverständlichkeit voraussetzen, können Missverständnisse und Fremdheitsgefühle entstehen. Das Gefühl der Fremdheit zuzulassen, aber gleichzeitig auch zu überlegen, welcher Dinge es bedarf, um von einer Fremdheit in eine Vertrautheit übergehen zu können, sind wesentliche Schritte des interkulturellen Lernens. Die Bewusstwerdung eigener kultureller Prägung und das Wissen um die Existenz und Bedeutung von möglichen Differenzen stellen Grundelemente der Willkommenskultur dar und ermöglichen ein „Ankommen“ in Deutschland. Genauso kann aber interkulturelles Lernen auch heißen, kulturalistische Erklärungsmuster kritisch zu hinterfragen und so stereotype Zuschreibungen zu vermeiden.

Die eigens wahrgenommene Fremdheit als Lernchance zu begreifen und die Konfrontation des Eigenen mit dem empfundenen Fremden als motivierend für das Kennenlernen anderer Denk- und Handlungswelten zu sehen (Roth 2011), sollte für In einer interkulturellen Gesprächssituation können die Ausbildung einer Willkommenskultur und eine gegenüber Personen Momente der Fremdheit auf- darüber hinausgehenden Anerkennungskultur als grund des unterschiedlichen Alters, Geschlechts, wesentliche Grundlage gelten. ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft, körperlicher und psychischer Befähigung, religiöser Zugehörigkeit und sexueller Orientierung entstehen. Sinn- und Wissensstrukturen können als fremd wahrgenommen werden, weil sie der eigenen Wirklichkeitsordnung nicht entsprechen und auf den ersten Blick keine Erklärungsansätze zu finden sind. Wenn ich nicht weiß, dass es in einem Land kein zentrales Melderegister gibt und die Geburten auf den Stand des Mondes zurückgeführt werden, tritt erst einmal Irritation auf, wenn auf die Frage „Wann sind Sie geboren?“, die Antwort lautet: „In der Zeit des zunehmenden Mondes.“ Da es sich hierbei um ein internalisiertes Regelsystem im Hinblick auf 10

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Literatur

Zeitschrift für Soziologie, Jg. 27, Heft 1, S. 18-38. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Antonio, Peter/Bolten, Jürgen (2013): Interkulturelle Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden Kompetenz von A bis Z. Stichworte zum Interkultu- I, Frankfurt/M., S.16-65. Eingesehen unter: http:// rellen Lernen. Eingesehen unter: http://www.ikkom- www.merzbach.de/VoortrekkingUtopia/Datos/ texto/Waldenfels_Topographie.pdf. petenz.thueringen.de/a_bis_z/. Bolten, Jürgen (2007): Interkulturelle Kompetenz. Erfurt. Eingesehen unter: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-20394/ interkulturellekompetenz.pdf. Cho, Yong-hee (2011): Le calcul de l’âge à la coréenne : un casse-tête pour les Occidentaux. In: Culture Coréenne 한국문화, Nummer 83, Herbst/ Winter 2011, S. 13-15. Degla, Luc (2009): Dein neues Leben. Ein Erfahrungsbericht von Luc Degla. Wolfsburg. Gundlach, Helga (2010): Interkulturelle Fortbildungen im Rahmen der Interkulturellen Öffnung. In: DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Interkulturelle Öffnung und Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Ein Leitfaden. S. 21-29. Heckmann, Friedrich (2012): Willkommenskultur was ist das, und wie kann sie entstehen und entwickelt werden? In: Europäisches forum für migrationsstudien (Hrsg.), Ausgabe 7. Eingesehen unter: http://www.efms.uni-bamberg.de/pdf/efms% 20paper%202012_7.pdf. IQ-Fachstelle Diversity Management (2013): Willkommenskultur (und Anerkennungskultur): Hintergrund, Diskussion und Handlungsempfehlungen. Eingesehen unter: http://www.vielfalt-gestalten. de/images/Arbeitspapiere/FS_DiM_ Arbeitspapier_ Willkommen_2013.pdf. Roth, Juliana (2011): Kulturelle Fremdheit. In: Roth, Juliana/Köck, Christoph (Hrsg.), Culture Communication Skills. Interkulturelle Kompetenz. Handbuch für die Erwachsenenbildung. München. S. 26-36. Stenger, Horst (1998): Soziale und kulturelle Fremdheit – Zur Differenzierung von Fremdheitserfahrungen am Beispiel ostdeutscher Wissenschaftler. In: In Deutschland ankommen

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Chancen und Probleme des Kulturbegriffs Joschka Gatzlaff, Franziska Rein

Einleitung

die nicht in der Lage ist, sich zu wandeln. In der Rassismusforschung wird dieser Gegenstand u.a. als Kulturalismus oder auch als Ethnopluralismus bezeichnet. Insbesondere der französische Soziologe Ètienne Balibar spricht in diesem Zusammenhang von einem „Rassismus ohne Rasse“ (Balibar u. Wallerstein 1990, S.28). Um zu verstehen, warum dies Hervorzuheben sind hierbei in den letzten Jahren problematisch ist, muss allerdings ein wenig weiter besonders Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft ausgeholt werden. sich ab“, in dem er eine Unvereinbarkeit zwischen der vermeintlich muslimischen und deutschen Kultur Diese Form von Rassismus ist dadurch gekennzeichbeschwört oder die Rede des ehemaligen Bundes- net, dass er zeitlich in die Epoche der Entkolonialipräsidenten Christian Wulff zum 20. Jahrestag der sierung fällt, also in die Zeit, in der die alten euroWiedervereinigung in der er die Zugehörigkeit des päischen Kolonien staatsrechtlich unabhängig von ihren jeweiligen „Mutterländern“ wurden und sich Islams zu Deutschland betonte. die Migration dementsprechend veränderte. Zeitlich Entweder werden kulturelle Unterschiede dort ne- geschah dies nach dem zweiten Weltkrieg, also ab gativ, als ursächlich für gesellschaftliche Konflikte, 1945. Immigrierten vorher noch die EuropäerInnen oder positiv, als den eigenen Horizont erweiternde in ihre jeweiligen Kolonien, fand die Migration nun Eigenschaften, wahrgenommen und verstanden. umgekehrt statt. Die auf allen Ebenen heruntergeBesonders der erste Punkt bietet dabei große An- wirtschafteten, aber nun unabhängigen Kolonien konnten keine funktionierende Wirtschaft aufbauen knüpfungspunkte für neo-nazistische Parteien. und dementsprechend schlecht war die LebenssituWas bei all der Auseinandersetzung über Vor- und ation vor Ort. Nachteile von kultureller Vielfalt und den jeweils geforderten Konsequenzen auffällt, ist, dass sich Auch der beginnende Ost-West Konflikt zwischen abseits wissenschaftlicher Auseinandersetzung so der UdSSR und der USA führte dazu, dass in vielen gut wie nicht damit beschäftigt wird, was Kultur ehemaligen Kolonien Kriege ausbrachen. Dadurch entstand die Situation, dass viele Menschen in die eigentlich ist oder auch nicht ist. ehemaligen europäischen Mutter- bzw. Vaterländer Da die Klärung dieses Inhaltes jedoch grundlegend in ein vermeintlich besseres Leben flüchteten. für die weitere Auseinandersetzung ist, soll in diesem Beitrag Kultur als Begriff näher betrachtet Deutschland stellte dabei, zumindest bei den Grünund seine Probleme aber auch Chancen aufgezeigt den für die Migration, eine Ausnahme dar, da die Kolonien alle nach dem ersten Weltkrieg abgetreten werden. werden mussten. Allerdings wurden Arbeitskräfte für die florierende Wirtschaft gebraucht, die deshalb Probleme speziell aus südeuropäischen Ländern angeworben Besonders problematisch erscheint es, wenn der wurden. Zeitgleich erlebte besonders die westliche Begriff Kultur so verwendet wird, dass er eine ho- Welt eine Welle von sozialen Bewegungen wie zum mogene, geschlossene Gemeinschaft kennzeichnet, Beispiel in den USA die Bürgerrechtsbewegung und In jeder Integrationsdebatte seit der Wiedervereinigung stößt man über kurz oder lang auf die Auseinandersetzung, inwiefern die jeweils als fremd wahrgenommenen Kulturen zu der eigenen, als deutsche wahrgenommenen Kultur passen oder auch nicht.

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in Deutschland ab 1968 die StudentInnenproteste. Die dadurch vollzogene Modernisierung und Aufklärung der Gesellschaft (und speziell in Deutschland die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit) zeigten auf, dass der biologische Rassismus nicht mehr zeitgemäß war. Auch die moralische Schwierigkeit, nach Auschwitz besonders in Deutschland rassistische Argumentationen zu benutzen, spielte dabei eine wesentliche Rolle. Auch die UNESCO verneinte 1978 in der „Erklärung über ‚Rassen‘ und rassistische Vorurteile“ die Existenz von „Rassen“ und deren biologische Herleitung (Vereinte Nationen 1980, S.67ff). All diese Faktoren verhinderten zwar nicht, dass sich weiterhin biologisch begründete rassistische Ressentiments speziell in politisch rechten Kreisen hielten, aber sie vermieden, dass diese in der breiten Öffentlichkeit formuliert und anerkannt wurden. Wenn Balibar nun von Rassismus ohne Rasse spricht, meint er einen „Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich ‚beschränkt’, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten“(Balibar u. Wallerstein 1990, S.28). Erst auf den zweiten Blick wird dabei klar, warum auch diese, sich meist auf die (nationale) Kultur beziehende Art von Ausgrenzung auch eine Form von Rassismus ist. Auch hier findet eine Konstruktion von verschiedenen Rassen statt, nur nicht mehr aufgrund primär biologischer Merkmale sondern aufgrund der Kultur, die in diesem Fall naturalisiert und allmächtig ist. Sie kann also eben so wenig „abgeschüttelt“ werden, wie vorher die Abstammung beim biologisch begründeten Rassismus. Individuen werden dabei nicht wahrgenommen und die Differenzen innerhalb eines scheinbar geschlossenen nationalen kulturellen Kreises ausgeblendet. Unter diesen Voraussetzungen kann dann von Kulturalis-

mus/Ethnopluralismus gesprochen werden. Auch die Bezugnahme, dass die Kulturen genau dort ihren Ursprung haben, wo sich die jeweiligen Nationalstaaten befinden (z.B. „die russische Kultur“), ist ein weiteres Indiz für die „Seelenverwandtschaft“ von Kultur und Rasse. Beide beziehen sich in ihrer Argumentation stark auf das Konstrukt der Nation bzw. den Ein- und Ausschluss von Menschen innerhalb und außerhalb dieser vermeintlichen Gemeinschaft. Durch die konstruierte Schädlichkeit und Unvereinbarkeit der einen mit der anderen Kultur findet dabei zudem eine eindeutige Wertung statt. In der Rassismusforschung wird davon ausgegangen, dass diese beiden Faktoren, also der Ein- und Ausschluss zusammen mit einer Aufwertung der Eigengruppe (z.B. die „Deutschen“) und gleichzeitigen Abwertung der Fremdgruppe (z.B. die „Russen“), die Anforderungen erfüllen, um von Rassismus sprechen zu können. Eine ausführliche Darstellung dieser Definition eines ideologischen Rassismusbegriffes findet sich beim englischen Rassismusforscher Robert Miles in seinem Buch „Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffes“. Dieser kulturell begründete Rassismus ist dabei keine neue Form des Rassismus, sondern stellt nur seine aktuellere Ausprägung dar. Durch die Festlegung der MigrantInnen auf ihre nationale Herkunftskultur, die trotz allen Austausches mit der Mehrheitsgesellschaft irgendwie ihnen inne zu wohnen scheint, besteht die Gefahr, dass andere einflussreiche Sozialisationsmerkmale wie zum Beispiel Geschlecht, materieller Status und gesellschaftliche Position unter dem Deckmantel der Kultur verschwinden. Unter solch einer Sichtweise kann es dann leicht passieren, dass sich soziale Konflikte nach außen hin als scheinbar kulturelle Konflikte offenbaren, die in der logischen Schlussfolgerung von Rassismus In Deutschland ankommen

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dann entweder mit der bedingungslosen Assimilation (die sich z.B. in Forderungen wie „Die MigrantInnen sollen sich gefälligst anpassen“ wiederfindet) oder aber mit der Elimination (z.B. durch Ausweisung oder Unterdrückung) der jeweiligen Minderheit gelöst werden können. Letzteres geschah beispielsweise in Berlin-Hellersdorf, wo es im Spätsommer 2013 zu rassistischen Übergriffen und Anfeindungen seitens der deutschen Mehrheitsbevölkerung gegenüber Flüchtlingen eines neu eingerichteten AsylbewerberInnenheims kam. Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn scheinbare kulturelle Differenzen als Ursachen für Rassismus herhalten müssen. Die interkulturelle Pädagogik zum Beispiel beschreibt ihre Ziele so, dass sie eine Befähigung zum interkulturellen Verstehen sowie die Befähigung zum interkulturellen Dialog fördern will. Die negative Formulierung dieser Ziele wäre demnach, dass (soziale) Konflikte mit vermeintlichen Verständigungsproblemen zwischen den Kulturen erklärt werden könnten. Diese Ansicht findet sich allerdings nicht nur dort wieder, sondern wurde übernommen und besitzt heute einen so breiten Einfluss, dass z.B. die überwiegende Mehrzahl der staatlichen Publikationen (dabei ist es egal ob auf kommunaler, Länder-, oder Bundesebene) auf diesen Zielen aufbaut. Es stellt sich also die Frage, inwiefern ein Zusammenhang von wirklich vorhandenen/erfahrbaren kulturellen Unterschieden und Konflikten auf der einen und rechter Aktivität oder wissenschaftlich messbaren Einstellung auf der anderen Seite besteht. Ein Blick auf die Statistik hilft, dieser Frage nachzugehen. Das Statistische Bundesamt stellt in „Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2011“ fest, dass in den neuen Bundesländern der Anteil von „Deutschen mit Migrationshintergrund“ und von „Ausländerinnen und 14

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Schleswig - Holstein Mecklenburg-Vorpommern Hamburg Bremen Brandenburg Niedersachsen

Berlin Sachsen Anhalt

Nordrhein-Westfalen Thüringen

Sachsen

Hessen

Reinland - Pfalz

Saarland

Bayern Baden-Württemberg

Unter 5

5 bis unter 7,5

7,5 bis unter 10

10 bis unter 12,5

12,5 bis unter 15

15 und mehr

Abb.1: Anteil der Deutschen mit Migrationshintergund (Statistisches Bundesamt 2012: 18)

Schleswig - Holstein Mecklenburg-Vorpommern Hamburg Bremen Brandenburg Niedersachsen

Berlin

Sachsen Anhalt

Nordrhein-Westfalen

Hessen

Thüringen

Sachsen

Laut dem Verfassungsschutzbericht 2011 ist aber auffällig, dass, wenn man die Straftaten mit „rechtsextremem“ Hintergrund pro 100.000 Einwohner betrachtet, auf den ersten sechs Rängen nur die neuen Bundesländer liegen (Verfassungsschutzbericht 2011, S.42). Auch rechte Wahlerfolge auf Landesebene gibt es zum momentanen Zeitpunkt nur in Ostdeutschland.

Reinland - Pfalz

Saarland

Bayern Baden-Württemberg

Unter 2,5

2,5 bis unter 5

5 bis unter 7,5

7,5 bis unter 10

10 bis unter 12,5

12,5 und mehr

Abb.2: Anteil der AusländerInnen (Statistisches Bundesamt 2012: 17)

Ausländern“ am niedrigsten ist. So liegt die Zahl bei den „Deutschen mit Migrationshintergrund“ in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg unter 5,0%, bis auf Brandenburg und in Teilen Sachsens meistens sogar nur bei 2,5 %. In den alten Bundesländern liegt der Wert dagegen mindestens über 5 %, in vielen Bundesländern wie Baden-Württemberg, NordrheinWestfalen, Bremen, Hamburg und Hessen sogar insgesamt oder zu großen Teilen über 12,5 % und mehr (siehe Abb. 1). Bei den „Ausländerinnen und Ausländern“ lässt sich dabei eine ähnliche Tendenz feststellen (siehe Abb. 2).

Die „Die Mitte im Umbruch“– Studie der FriedrichEbert-Stiftung zeigt zudem auf, dass rassistische Einstellungen in Ostdeutschland bedeutend höher sind als in Westdeutschland. Daraus lässt sich folgern, dass rassistische Einstellungen nicht auf wirklich erfahrenen Konflikten, sondern auf rein spekulativen, also angenommenen Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen beruhen. Nicht nur die Ergebnisse der „Die Mitte im Umbruch“-Studie zeigen dabei auf, dass es einen empirischen Zusammenhang zwischen der individuellen ökonomischen Situation und der Zunahme von rassistischen Einstellungen gibt (Decker et al. 2012, S.54f). Auch Albert Scherr schreibt dazu bereits 2003: „Diesbezüglich ist es meines Erachtens plausibel davon auszugehen, dass eine durch die krisenhafte gesellschaftliche Veränderungsdynamik, auf die Stichworte wie Globalisierung, postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft, In Deutschland ankommen

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soziale Spaltung und strukturelle Massenarbeitslosigkeit sowie Wissens- und Informationsgesellschaft hinweisen, bedingte gesellschaftliche Verunsicherung der Vision geordneter Verhältnisse Attraktivität verschafft, in der die eigene Lebenspraxis vor Veränderungszumutungen und Infragestellungen geschützt ist und in der die eigene soziale Identität und Position (als Mann/Frau, als ArbeiterIn, als Deutsche/r usw.) Anerkennung und Wertschätzung begründet“(Scherr 2003, S.49). Wenn sich diese Verunsicherung dann noch innerhalb eines nationalstaatlichen Gesellschaftsmodells ausprägt, welches aufgrund der Einteilung in StaatsbürgerInnen und AusländerInnen mit einhergehender Benachteiligung durch dazugehörige Asylgesetzgebung sowie auf rassistischen Strukturen aufbaut, wird ersichtlich, dass es höchst problematisch ist, die eigentlichen Ursachen für Rassismus in einem Konflikt zwischen Kulturen zu suchen. Der Rassismusforscher Robert Miles ergänzt dazu: „Insofern der Rassismus ein aktiver Versuch ist, eine spezifische Verbindung ökonomischer und politischer Beziehungen zu verstehen, diese Beziehungen daher seine Ursachen sind, sollten Strategien zur Bekämpfung von Rassismus sich weniger ausschließlich darauf konzentrieren, diejenigen, die rassistisch argumentieren, davon zu überzeugen, daß sie ‚Unrecht’ haben, sondern mehr darauf, diese spezifischen Verhältnisse zu verändern“ (Miles 1989, S.361). Allerdings kann sich dieser Konflikt auch aufgrund der medialen politischen Öffentlichkeit nach außen hin sehr schnell als kultureller Konflikt manifestieren. Wenn über Wirtschaftsflüchtlinge, ArbeitsmigrantInnen oder Deutschenfeindlichkeit geredet wird, wird Kultur schnell zum scheinbar alles verbindendem Element und Störfaktor.

Chancen Wie oben zu sehen ist, bietet der Kulturbegriff problematische Fallstricke, die es zu berücksichtigen gilt. Eine allgemein anerkannte Definition gibt es, wie so häufig in den Sozialwissenschaften, nicht. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird unter Kultur häufig einfach eine besondere Lebensweise einer Gruppe verstanden, wie zum Beispiel die Gruppe der Punker, der Kleingartenvereinsmitglieder, TheaterfestivalbesucherInnen oder AnhängerInnen einer bestimmten Kochkultur. So gibt es in jeder dieser Kulturen bestimmte Regeln, mit denen sich von anderen abgegrenzt wird. Für die Punker beispielsweise ist eine Abgrenzung durch einen anderen Kleidungsstil wichtig, ein Kleingartenverein grenzt sich mit seiner Kultur meist durch sehr genaue Regeln der Gartengestaltung, aber auch mit einer ganz bestimmten Art, miteinander umzugehen, von anderen Menschen ab. Kultur beschreibt hier etwas sozial konstruiertes, also erst durch die Interaktion von Menschen hergestelltes und deshalb veränderbares. Kultur ist so nicht ungebrochen und verschiedene Lebensweisen sind nicht klar voneinander getrennt, sondern sie überschneiden und überlagern sich. Eine Person kann beispielsweise Kleingartenvereinsmitglied und TheaterfestivalbesucherIn gleichzeitig sein. Zu diesen selbstausgesuchten Gruppen (seinen/ihren Musikgeschmack oder seine/ihre Hobbys z. B. kann man sich aussuchen) kommen auch nicht selbst ausgesuchte Gruppen, in die man gesellschaftlich eingeordnet wird und die bestimmte Lebensweisen nach sich ziehen, wie Mann- bzw. Frausein oder etwa die (soziale) Herkunft. Das ist ein Begriff von Kultur, wie er meistens in den Kulturwissenschaften verwendet wird. Kultur meint in diesem Verständnis so etwas wie eine „Landkarte von Bedeutung“ (Clarke et al.

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1979, S.41), die „die Bedeutungen, Werte und Ideen, wie sie in den Institutionen, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Glaubenssystemen, in Sitten und Bräuchen, im Gebrauch der Objekte und im materiellen Leben verkörpert sind“ (Clarke et al. 1979, S.41) vermittelt. Beeinflusst wird diese Landkarte durch unsere Einbettung in gesellschaftliche Verhältnisse, wobei diese Kultur die Menschen nicht komplett determiniert und die Individuen nicht nur Vertreter ihrer Kultur sind, sondern selbstständige Subjekte. Dieser Kulturbegriff stellt dabei keine homogenen Gruppen her, sondern zeigt Brüche und Konflikte auf. Besucht man beispielsweise ein Theaterfestival, fällt schnell auf, wie vielfältig das Publikum dort ist. Die Gruppe der TheaterfestivalbesucherInnen ist durchzogen von gesellschaftlichen Konfliktlinien wie Mann/Frau, Arm/Reich, Schwarz/Weiß und so weiter, es befinden sich sowohl Punker als auch Kleingartenvereinsmitglieder unter ihnen. Genau dasselbe trifft auch auf alle anderen kulturellen Gruppen wie etwa auch auf MigrantInnen aus demselben Herkunftsland zu. Auch hier gibt es gesellschaftliche Konfliktlinien und sehr vielfältige kulturelle Prägungen der Individuen. Hergestellt wird diese Kultur einmal durch Fremdzuschreibungen, die von einer Gruppe dann als eigene Kultur angenommen werden, oder aus einem internen Aushandlungsprozess um gemeinsame Deutungsmuster und Regeln. Meistens ist die Herstellung von Kultur dabei kein bewusster Prozess. Menschen werden so als handelnde Individuen gesehen, die in strukturelle Herrschaftssysteme und verschiedene Kultursysteme eingebunden und nicht einfach nur VertreterInnen einer Kultur sind. Durch die Offenlegung der sozialen Konstitution unserer Gesellschaft werden Ungleichheiten, Unterdrückung und Ausschluss sichtbarer, die von Menschen bewusst wie unbewusst (zum Beispiel durch Kultur) re-

produziert werden. Ein Beispiel für die unbewusste Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen durch Kultur können wir regelmäßig betrachten, wenn Frauen der Weg in Führungspositionen verweigert wird. Nicht unbedingt ein direkter, bewusster und gewollter Ausschluss von Frauen findet statt. Frauen haben aber oft durch ihre Sozialisation eine andere „Landkarte der Bedeutungen“ bzw. Kultur erlernt als Männer und so beherrschen sie teilweise wichtige Codes der Führungsebene nicht. Das führt häufig zu dem Eindruck, Frauen wären nicht qualifiziert für diese Positionen, und ein Aufstieg bleibt ihnen verwehrt. Ähnliches gilt oft auch für Menschen, die aus einer ArbeiterInnenfamilie kommen und daher andere Deutungsmuster und Handlungsroutinen erlernt haben. Teilweise handelt es sich hier nur um vermeintliche Kulturunterschiede, die einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden, wie etwa die Vorstellung, alle Muslima würden Kopftuch tragen, teilweise handelt es sich um tatsächliche kulturelle Unterschiede, die durch die ständige Zuschreibung internalisiert und dadurch wahr werden. So halten sich viele Frauen auch für ungeeignet, Führungspositionen in Politik und Wirtschaft einzunehmen. Über Kultur kann also Ausschluss von Ressourcen und Chancen stattfinden, ohne dass dies von den AkteurInnen so gewollt ist. Genau diese Erkenntnis ist die Chance eines konstruktivistischen Kulturbegriffs. Über diesen Ansatz wird ein kulturalistischer Blickwinkel überwunden, Menschen als Individuen mit Stärken und Schwächen gesehen und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse (wie Rassismus, Sexismus, Kapitalismus usw.) werden nicht unter dem Deckmantel der Kultur unsichtbar, sondern können thematisiert werden. Aus diesem Kulturverständnis ergeben sich bestimmte Handlungsstrategien für interkulturelle Situationen – und damit eigentlich für jede Form menschlicher Interaktion. Es geht dabei darum, eigene Deutungsmuster hinsichtlich kulturalistischer In Deutschland ankommen

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Schemata zu hinterfragen, in konkreten Situationen die individuelle Person zu sehen und Informationen über sie zu erfragen, anstatt von unbewusst vorhandenen Zuschreibungen auszugehen. Das heißt auch, nicht immer intuitiv zu handeln, sondern vorher die eigenen Zuschreibungen zu reflektieren. Ein konkretes Beispiel dafür ist, eine schwarze Person nicht sofort zu fragen, woher sie den EIGENTLICH kommt, sondern vorher festzustellen, dass diese Frage aus der falschen Zuschreibung entspringt, Menschen aus Deutschland können nur weiß sein und schwarze Menschen können nicht in Deutschland geboren worden sein. Es geht also darum, sich bewusstzumachen, woher ich welches vermeintliche Wissen über andere Kulturen oder Gruppen von Menschen habe und dieses Wissen auf kulturalisierende oder einfach falsche Zuschreibungen zu überprüfen, um so nicht immer wieder das kulturell Andere und damit Fremdheit herzustellen.

Literatur Beiträge aus Sammelbänden: Clarke, John, Stuart Hall, Tony Jefferson, und Brian Roberts. 1979. Subkulturen, Kulturen und Klasse. In Jugendkultur als Widerstand. Milieu, Rituale, Provokationen, Hrsg. Axel Honneth, Rolf Lindner und Rainer Paris, 39-131. Frankfurt a.M.: Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft. Scherr, Albert. 2003. Interkulturelle Pädagogik – (k) eine angemessene Reaktion auf Rechtsextremismus?. In Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge, Hrsg. Wolfram Stender, Georg Rhode und Thomas Weber, 42-55. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.

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Sammelbände: Melzer, Ralf (Hrsg.). 2012. Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH. Monographien: Balibar, Etienne, und Immanuel Wallerstein. 1990. Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg/Berlin: Argument Verlag. Miles, Robert. 1999. Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffes. Hamburg/ Berlin: Argument Verlag. Zeitschriftenartikel: Miles, Robert. 1989. Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 1989: 353-368. Internetquellen: Vereinte Nationen. 1980. Erklärung über „Rassen“ und rassistische Vorurteile. http://www.unesco.de/ erklaerung_rassist_vorurteile.html. Zugegriffen: 20.08.2013. Kaas, Leo, und Cristian Manger. 2010. Ethnic Discrimination in Germany`s Labour Market: A Field Experiment. http://ftp.iza.org/dp4741.pdf. Zugegriffen: 15.08.2013. Bundesministerium des Inneren. 2013. Verfassungsschutzbericht 2011. http://www.verfassungsschutz. de/download/vsbericht-2011.pdf. Zugegriffen: 10.08.2013. Statistisches Bundesamt. 2012. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2011. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/ Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/ Migrationshintergrund201022011ZugeZuZugeZujjdddZuge7004.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 16.08.2013.

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Hindernisse und Widersprüche: Der beschwerliche Weg in den Arbeitsmarkt Sigmar Walbrecht

Menschen, die als Asylsuchende nach Deutschland kommen, unterliegen verschiedenen rechtlichen Beschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, hinzu kommen weitere faktische Hürden, die eine Arbeitsaufnahme für Flüchtlinge erschweren. So lange es keine Anerkennung als Flüchtling nach Art. 16a des Grundgesetzes oder nach der Genfer Flüchtlingskonvention gibt oder ein sog. subsidiärer Schutzgrund vorliegt, also bei Abschiebung eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht, befinden sich Asylsuchende in einer äußerst unsicheren Aufenthaltssituation. Dies gilt namentlich für Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die schließlich „ausreisepflichtig“ sind und somit lediglich eine sog. Duldung erhalten. Über ihnen schwebt ständig das Damoklesschwert der Abschiebung. Flüchtlinge mit prekärem Aufenthalt befinden sich im Widerspruch zwischen sozialer Isolation und Arbeitsmarktbeschränkungen einerseits und andererseits der Notwendigkeit, den eigenständigen Lebensunterhalt erwirtschaften zu müssen, um eine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis zu haben. Einige Aufenthaltstitel können nur über den Nachweis eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses oder einer aktuell laufenden Ausbildung erlangt werden. So waren die gesetzlichen Altfallregelungen der Vergangenheit, die langjährig geduldeten Flüchtlingen die Aussicht auf einen Aufenthaltstitel einräumten, weniger von humanitären Grundgedanken als vielmehr vom Nützlichkeitsaspekt getragen. Nur solchen Flüchtlingen sollte der Aufenthalt erlaubt werden, die auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sind. Auch der im Juni 2011 eingeführte § 25a des Aufenthaltsgesetzes stellt Jugendlichen und jungen Erwachsenen nur eine Aufenthaltserlaubnis in Aussicht, wenn sie voraussichtlich dauerhaft ihren Lebensunterhalt sichern können, also eine gerade Schullaufbahn aufweisen und möglichst eine Ausbildung machen

oder zumindest perspektivisch Arbeit haben, die ihnen zu 100% den Lebensunterhalt sichert. Das ist fraglos eine Verbesserung und eröffnet gerade jungen Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, neue Chancen. Vor dem Hintergrund der besonderen Lebenssituation von Flüchtlingen und der Einschränkungen, denen sie unterliegen, sind die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Bleiberechtsregelung oftmals trotzdem schwer zu erfüllen. Humanitäre Gesichtspunkte finden dabei keine Berücksichtigung. Insbesondere in der ersten Phase ihres Aufenthalts in Deutschland unterliegen viele Flüchtlinge einem eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und erhalten bei der Vermittlung und Förderung durch die Arbeitsverwaltung nur geringe Unterstützung. Darüber hinaus unterliegen sie noch weiteren Sondergesetzen, die eine gesellschaftliche Isolation befördern. Unter diesen Umständen ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder einer Ausbildung erheblich erschwert. Das Recht auf Arbeit ist jedoch ein Menschenrecht. Auch wenn dieses Recht nach Ansicht des Autors mitunter zum Zwang zur Arbeit verkehrt wird, hat es seine Berechtigung: Über die Erwerbsarbeit erwirbt man sich gesellschaftliches Ansehen und eine soziale Stellung. Der Stellenwert der Arbeit ist in unserer Gesellschaft dermaßen hoch, dass das Selbstwertgefühl der meisten Menschen davon abhängt, ob und was sie arbeiten. Letztlich bedeutet Erwerbsarbeit aber vor allem eine – wenn auch leider nicht selten prekäre – materielle Absicherung und ein gewisses Maß an Selbständigkeit. Dies bleibt Flüchtlingen verwehrt, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Wenn Flüchtlinge einer Erwerbsarbeit nachgehen oder eine betriebliche Ausbildung oder auch nur ein Praktikum machen wollen, müssen sie einige Hürden überwinden: Während des Asylverfahrens unterliegen AsylbewerberInnen anfänglich einem In Deutschland ankommen

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grundsätzlichen Arbeitsverbot. In der Vergangenheit bestand dieses Verbot im ersten Jahr des Aufenthalts. Nachdem eine EU-Richtlinie nun gesetzlich umgesetzt werden muss, beträgt diese Wartefrist zukünftig neun Monate. Für Menschen mit einer Duldung, also abgelehnte AsylbewerberInnen, die nach dem Willen der Behörden ausreisepflichtig sind, gilt allerdings nach wie vor ein generelles Arbeitsverbot im gesamten ersten Jahr des Aufenthalts in Deutschland. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist jedoch auch nach der „Wartezeit“ bis zur Vollendung des vierten Jahres des Aufenthalts eingeschränkt: Wer eine Beschäftigung aufnehmen möchte muss für die Stelle, auf die er/sie sich bewirbt, bei der Ausländerbehörde eine Beschäftigungserlaubnis beantragen. Im Rahmen der sogenannten „Vorrangprüfung“ stellt die Arbeitsagentur auf der Grundlage der ihr vorliegenden Personaldaten von Arbeitssuchenden dann fest, ob ein/e deutsche/r oder andere/r bevorrechtigte/r ArbeitnehmerIn den Arbeitsplatz besetzen könnte. Die Arbeitsagentur hat zwei Wochen für die Prüfung Zeit. Sollte sie die Frist überschreiten, gilt neuerdings die Beschäftigungserlaubnis als erteilt. Dies ist zwar eine nicht unerhebliche Verbesserung im bürokratischen Ablauf – mussten doch viele Flüchtlinge und ArbeitgeberInnen früher oft etliche Wochen auf eine Antwort warten – ändert aber kaum etwas an der Tatsache, dass die allermeisten Anträge abgelehnt werden. Die Flüchtlinge fungieren so oftmals unfreiwillig als Job-Scouts, die Arbeitsplätze aufspüren, aber in den meisten Fällen nicht selber besetzen dürfen. Wer sich bei einem Arbeitgeber mit einer Duldung oder Aufenthaltsgestattung vorstellt, in der sich der Eintrag befindet „Beschäftigung nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde erlaubt“ oder ähnliche Formulierungen, hat schlechte Chancen eine Stelle zu bekommen. Nur wenige ArbeitgeberInnen lassen 20

sich auf die Auseinandersetzung mit den bürokratischen Hürden ein. Oftmals wird der Eintrag in der Duldung oder Aufenthaltsgestattung nach der „Wartezeit“ nicht automatisch durch die Ausländerbehörde geändert, so dass dort weiterhin eine Formulierung wie „Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ zu lesen ist, obgleich eine Beschäftigung mit Zustimmung der Arbeitsagentur eben doch gestattet werden kann. Nach vier Jahren Aufenthalt haben dann endlich Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung (AsylbewerberInnen, deren Asylantrag noch nicht entschieden ist) oder mit einer Duldung einen uneingeschränkten Zugang zu unselbständiger Erwerbsarbeit. Dies allerdings auch nur dann, wenn die Ausländerbehörde ihnen nicht vorwirft, gegen ihre Mitwirkungspflichten zu verstoßen oder die eigene Identität zu verschleiern. Ein weiteres Problem ist die in der Regel kurze Gültigkeitsdauer von Aufenthaltsgestattung oder Duldung. Aufenthaltsgestattungen dürfen per Gesetz maximal für sechs Monate ausgestellt werden, bei Duldungen gibt es theoretisch keine gesetzliche Begrenzung der Frist, nichts desto trotz stellen die Ausländerbehörden Duldungen zumeist für drei Monate, selten für sechs Monate aus. Zuweilen werden Duldungen auch nur für jeweils einen Monat verlängert, um Personen unter Druck zu setzen, das Land zu verlassen. Vielen ArbeitgeberInnen ist eine Beschäftigung von ArbeitnehmerInnen, die nur kurzfristig gültige Papiere haben, zu unsicher. Eine restriktive Arbeitsmarktpolitik gegenüber Flüchtlingen war in der Vergangenheit oftmals auch von dem Bestreben bestimmt, durch eine unattraktive Ausgestaltung des Flüchtlingsalltags die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland zu senken. So brachte der Asylkompromiss von 1993 neben der hinlänglich bekannten drastischen Einschränkung

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des Asylrechts und einer Kürzung von Sozialleis- ALG II-EmpfängerInnen – in den Wohnheimen oder tungen auch eine verschärfte Beschränkung des Lagern oder anderweitig bei den Kommunen oder Zugangs zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge mit sich. gemeinnützigen Trägern verrichtet und mit 1,05 Euro pro Stunde entlohnt. Zur Untätigkeit verdammt Das Asylverfahrensgesetz, das im Rahmen des und materiell in prekärer Situation sind diese ArAsylkompromisses reformiert wurde, legte fest, dass beitsgelegenheiten für viele Flüchtlinge ein kleiner Asylsuchende in den ersten drei Jahren nicht arbei- Lichtblick in der Eintönigkeit des Alltags. Da die ten durften. 1997 verfügte die Bundesregierung Betroffenen dazu verpflichtet werden, können diese sogar ein unbefristetes Arbeitsverbot für alle neu „Arbeitsgelegenheiten“ aber gleichzeitig Züge von Zwangsarbeit annehmen. Eine Ablehnung dieser eingereisten Flüchtlinge. Arbeiten führt zur Kürzung der ohnehin kargen LeisMittlerweile findet – nicht zuletzt wegen eines tungen. Der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt wird befürchteten Mangels an Arbeitskräften – teil- aber oftmals weiterhin verweigert. Ein taktierender weise ein Umdenken statt. So konnten in den Umgang der Ausländerbehörden mit „Arbeitsgelevergangenen Jahren einige Verbesserungen beim genheiten“ und Beschäftigungserlaubnissen, die Arbeitsmarktzugang erreicht werden. Wie oben als Lock- oder Druckmittel gegenüber Flüchtlingen bereits erwähnt, gilt das generelle Arbeitsverbot eingesetzt werden, die zur Ausreise genötigt werfür Menschen im Asylverfahren „nur“ noch für die den sollen, kommt nach Auffassung des Autors nicht ersten neun Monate und für Menschen mit Duldung selten vor. im ersten Jahr des Aufenthaltes. Anfang 2009 trat bereits eine gesetzliche Erleichterungen für gedul- Viele Arbeitsverhältnisse, die Flüchtlinge eingehen, dete Flüchtlinge in Kraft, die seit dem 1. Juli 2013 sind schlecht bezahlt und überdies zumeist befrisnun auch für Menschen im Asylverfahren, also mit tet. Nicht selten ist eine Zeitarbeitsfirma die einzige einer Aufenthaltsgestattung, gilt: Nach vier Jahren Möglichkeit, den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finAufenthalt können sie nun eine Beschäftigungser- den. Eine Weiterqualifizierung findet oft nicht statt, laubnis ohne Vorrangprüfung erhalten, und wer eine vielmehr besteht durch die erzwungene langjährige Ausbildung machen will, kann dies auch mit einer Untätigkeit die Gefahr der Dequalifizierung und soDuldung bereits nach einem Jahr bzw. mit einer mit das Risiko, den Anschluss auf dem Arbeitsmarkt Aufenthaltsgestattung bereits nach neun Monaten langfristig zu verlieren. Die eigenen, aus dem HerAufenthalt ohne Vorrangprüfung. Geduldete mit kunftsland mitgebrachten Qualifikationen werden mindestens vier Jahren Aufenthaltszeit haben seit entweder nicht nachgefragt oder nicht anerkannt, dem 01.01.2009 überdies Möglichkeiten, Bafög so dass eine Erwerbsarbeit in dem Bereich des bisoder Berufsausbildungsbeihilfe zur Finanzierung her Erlernten nur selten zustande kommt. Zwar gibt es seit 01.04.2012 das Anerkennungsgesetz, das von Studium oder Ausbildung zu bekommen. ein Verfahren zur Anerkennung im Ausland erworTrotz der bestehenden Arbeitsverbote bzw. -be- bener Qualifikationen garantiert, allerdings haben schränkungen sind nach dem Asylbewerberleis- Flüchtlinge oftmals das Problem, entsprechende tungsgesetz für geduldete Flüchtlinge oder jene im Zertifikate aus ihrem Herkunftsland beizubringen. Asylverfahren weiterhin sogenannte „Arbeitsgele- Zudem sind häufig zusätzliche Qualifikationen in genheiten“ vorgesehen. Diese Arbeitsgelegenheiten Deutschland notwendig, um eine Gleichwertigkeit werden – vergleichbar den sog. Ein-Euro-Jobs für mit einem deutschen Abschluss bescheinigt zu In Deutschland ankommen

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bekommen. So lange ein Flüchtling jedoch nicht Leistungsempfänger des Jobcenters oder der Arbeitsagentur ist, sind die Chancen gering, dass sie oder er eine Qualifikation finanziert bekommt. Eine besondere Problematik ergibt sich für Jugendliche, denen die Beschäftigungserlaubnis versagt wird. Sie haben keine Möglichkeit, eine betriebliche Ausbildung zu beginnen. Zukunftsperspektiven werden ihnen damit oftmals verbaut. Dabei wäre eine Ausbildung nach Abschluss der Schule für ihren weiteren Lebensweg besonders wichtig, unabhängig davon, ob sie dauerhaft in Deutschland bleiben können oder eines Tages doch in ein anderes Land müssen. Obwohl händeringend junge Arbeitskräfte zur Sicherung der Renten gesucht werden und Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, werden diese jungen Menschen, die hier aufgewachsen sind und die Schulen durchlaufen haben, vom Ausbildungsund Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Sie empfinden das perspektivlose Leben oft als sinnlos und müssen zusehen, wie sie wertvolle Zeit verlieren. Es geht ihnen – wie die Erfahrungen aus den ESF-Projekten zeigen – keineswegs darum, „in die Sozialsysteme einzuwandern“. Sie wollen vielmehr in der Regel arbeiten oder eine Ausbildung machen, um sich eine Perspektive aufbauen zu können. Zwar gibt es im Bereich der Verhängung von Arbeitsverboten Erleichterungen bzw. weniger restriktive Formulierungen, die eine Sippenhaftung ausschließen, die Abschaffung der gesetzlichen Regelung, die ein Arbeitsverbot durch die Ausländerbehörde ermöglicht, konnte politisch bisher jedoch nicht durchgesetzt werden.

einmal, dass es in den vergangenen Jahren erfreuliche gesetzliche Veränderungen gab, die Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung eine betriebliche Ausbildung leichter möglich machen: Seit 2009 dürfen Geduldete, die sich seit einem Jahr in Deutschland aufhalten, ohne Vorrangprüfung eine betriebliche Ausbildung beginnen. Seit dem 1. Juli 2013 sind endlich auch Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung gegenüber denen mit einer Duldung nicht mehr benachteiligt. Sie dürfen nun bereits nach neun Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung ohne Zustimmung durch die Arbeitsagentur beginnen (siehe oben). Für eine schulische Ausbildung ist übrigens weder eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde noch die Zustimmung der Arbeitsagentur nötig.

Flüchtlinge werden häufig in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, die sich nicht selten weit außerhalb in Industriegebieten oder im Wald befinden. Durch die oft sehr weiten Entfernungen zu den nächsten Stadtzentren wird der Kontakt zu anderen Bewohnern erschwert, viele Flüchtlinge leben so fast vollkommen isoliert von der Außenwelt. Öffentliche Verkehrsmittel sind für sie schwer finanzierbar, da sie Leistungen erhalten, die unter dem ALG II-Satz bzw. SGB XII-Leistungen liegen.

Diese Erleichterungen beim Zugang zu einer Ausbildung werden jedoch konterkariert durch Beschränkungen bei der Förderung von Ausbildungen. Berufsausbildungsbeihilfe oder eine BAföG-Förderung kommt i.d.R. nur in Betracht, wenn man sich bereits mindestens vier Jahre in Deutschland aufhält. Da die Ausbildungsvergütung in der Regel nicht zum Lebensunterhalt reicht und eine schulische Ausbildung überhaupt kein Einkommen bringt, müssen weiterhin (ergänzend) Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen werden. Das wiederum erschwert einen nicht selten notwendigen Umzug in die Nähe des Ausbildungsortes, da die Zustimmung der Ausländerbehörde zum Wohnsitzwechsel von der (weitgehend) vollständigen Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht wird. Kann der Wohnort nicht gewechselt werden, können manchmal die Ausbildungsstätten verkehrstechnisch nicht erreicht werden.

Grundsätzlich kann die sog. Residenzpflicht auch Auch diejenigen, denen rechtlich eine Ausbildung sonst die Arbeitsaufnahme verhindern. Auch wenn möglich ist, scheitern nicht selten an anderen Pro- die Residenzpflicht bereits unter Innenminister blemen. Festgehalten werden muss hier zunächst Schünemann in Niedersachsen gelockert wurde und 22

Wohnheime

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Selbst alltägliche Erledigungen wie Einkaufen und Arztbesuche werden so erschwert. In den Gemeinschaftsunterkünften

leben

ganze Familien in einem Zimmer, oft müssen bis zu 5 sich vollkommen fremde Personen ein Zimmer teilen. In diesem Zimmer wird geschlafen, gegessen, gespielt, die Kinder machen dort ihre Hausaufgaben, und ein Großteil der Freizeitbeschäftigungen findet dort statt. Die Enge und der ständige Lärm, die so in vielen Gemeinschaftsunterkünften vorherrschen, bedeuten Stress für alle BewohnerInnen und führen zu Spannungen unter ihnen. Vor dem Hintergrund, dass viele Flüchtlinge durch ihre Erlebnisse im Herkunftsland psychisch stark belastet sind, verschlechtert sich ihre Situation in den Wohnheimen oftmals weiter.

Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung sich nunmehr in Niedersachsen und Bremen frei bewegen dürfen, kann es bei der Arbeitsaufnahme Probleme geben, wenn der Arbeitsplatz in einem anderen Bundesland liegt. Dann ist nämlich für die Fahrten in die anderen Bundesländer eine Genehmigung der Ausländerbehörde von Nöten. Muss gar der Wohnort gewechselt werden, erschwert die Wohnsitzauflage die Arbeitsaufnahme. Vielen Flüchtlingen – allen voran denen mit Duldung oder mit Aufenthaltsgestattung – wird ein Wohnort zugewiesen, den sie nicht ohne weiteres verändern dürfen. Ein Umzug in der Hoffnung, andernorts bessere Chancen zu haben, einen Arbeitsplatz zu finden, ist nicht möglich. Ein Umzug kommt nur mit Zustimmung der Ausländerbehörden in Betracht, und die wird i.d.R. nur erteilt, wenn der Lebensunterhalt gesichert ist. Ein bürokratischer Akt, der manches Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis zunichte macht. Es liegt auf der Hand, dass es einfacher ist, in Ballungsräumen eine Arbeit zu finden als auf dem „flachen Land“. Bekanntlich kommen viele Arbeitsverhältnisse durch persönliche Beziehungen zustande. Diese Beziehungen können Flüchtlinge durch die weitreichende soziale Isolation gar nicht erst aufbauen. Beschränkte Sozialleistungen über das Asylbewerberleistungsgesetz, die Unterbringung in Lagern bzw. Gemeinschaftsunterkünften, Wohnsitzauflagen und die Beschränkung der Freizügigkeit führen zu einem weit reichenden gesellschaftlichen Ausschluss. Oftmals befinden sich die Aufnahmeeinrichtungen und Wohnheime, in die Flüchtlinge eingewiesen werden, in strukturschwachen Regionen und in isolierter Lage. Eine weitere Problematik, die im Laufe der Tätigkeit des Projektes „AZF II – Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge“ immer deutlicher zu Tage getreten ist, sind die Schwierigkeiten für junge erwachsene

Flüchtlinge, die volljährig und damit nicht mehr schulpflichtig sind. Sie haben kaum eine Möglichkeit, zur Schule zu gehen und einen deutschen Schulabschluss nachzuholen, um so auch ihre Chancen auf eine Ausbildung zu verbessern. Hier müssen Möglichkeiten geschaffen werden, die den jungen Flüchtlingen einen Anspruch auf einen Schulbesuch einräumen. Ein Blick auf Bayern könnte da hilfreich sein. Hier wird in Modellprojekten jungen Erwachsenen der Schulbesuch bis zum 25. Lebensjahr garantiert. Die hier beschriebenen Hürden auf dem Weg in den Arbeitsmarkt betreffen eine große Zahl von Flüchtlingen. Auch wenn es in den letzten Jahren mehrere Erleichterungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt gab, so reichen sie noch lange nicht aus, um einer vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe von Flüchtlingen näher zu kommen, zumal sie sich vor allem an volkswirtschaftlichem Interesse – also einem sich vermeintlich abzeichnenden Mangel an Arbeitskräften – orientieren und weniger an humanitären Absichten. So sah die letzte gesetzliche Altfallregelung aus dem Jahr 2007 für langjährig geduldete Menschen vor, dass eine Aufenthaltserlaubnis nur erhalten konnte, wer perspektivisch den Lebensunterhalt dauerhaft durch eigene Erwerbsarbeit sichern kann und zukünftig auch keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen wird. Ähnlich wird eine stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung gestaltet sein, die seit einiger Zeit in der Diskussion ist und zu der bereits Anträge im Bundestag vorliegen. Auch die kursierenden Gesetzentwürfe verlangen eine zumindest überwiegend vollständige Sicherung des Lebensunterhalts. Wer jedoch jahrelang kaum eine Chance hatte zu arbeiten, wird auch zukünftig Probleme haben, eine qualifizierte, ausreichend entlohnte Arbeit zu finden.

In Deutschland ankommen

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Fazit und Ausblick Kerstin Märländer

Die Befassung mit der Situation des neu in Deutschland Ankommens sowie mit der Vorstellung verschiedener auf Herkunft zurückzuführender Kulturen hat eine ambivalente Situation offenbart, in der es unmöglich scheint, einfache Handlungsempfehlungen zu geben. Einerseits ist der Erfahrung neu nach Deutschland gekommener Menschen Rechnung zu tragen, die vieles, auch jenseits von Sprache, als unverständlich und fremd empfinden. Durch fehlendes kollektives Wissen z. B. im Umgang mit Behörden oder in der alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktion entstehen Missverständnisse und Ausschlüsse, die sich für die Betroffenen negativ auswirken können. Hier kann die Information der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere derjenigen AkteurInnen, die beruflich mit MigrantInnen zu tun haben, über die Besonderheiten der Einwanderungssituation und die Spezifik der eigenen Gesellschaft und ihrer Regeln Abhilfe schaffen. Eine Anerkennung dieser Fremdheitssituation und die Berücksichtigung dieser in den eigenen Handlungsroutinen erleichtert neu in Deutschland angekommenen Menschen den Zugang zu Informationen und sozialen Kontakten. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die Selbstverständlichkeit der vertrauten Regeln und Handlungsmuster kritisch zu hinterfragen und sich auf die Vorstellung einzulassen, dass diese anderen völlig unbekannt sein und anderenorts andere, ebenfalls sinnvolle Regeln gelten können. Wird allerdings von der Herkunft einer Person auf eine bestimmte kulturelle Zugehörigkeit oder gar Andersartigkeit (gemessenen an einer gedachten eigenen Kultur) geschlossen, enthält diese Vorstellung den Charakter eines rassistischen Stereotyps. So kann es mit dem Deutungsmuster Kultur zu Zuschreibungen kommen, die von der Individualität einer Person absehen und die Vorstellung homogener kultureller Gruppen etablieren, die im schlimmsten Fall als ungleichwertig betrachtet werden und deren Vermischung als Gefahr empfunden wird. Aber auch schon die oft als unproblematisch wahrgenommene Vorstellung bestimmter voneinander abgrenzbarer Kulturkreise beruht auf einer Einordnung von Menschen nach Herkunft, „Ethnie“ oder Religion,

die mit bestimmten Zuschreibungen an deren Persönlichkeit und deren Verhaltensmuster verbunden ist, und enthält somit Elemente rassistischen Denkens. Nicht hinter jeder Verwendung des Begriffes Kultur stehen kulturrassistische bzw. kulturalistische Ideen. Vielmehr kann der Blick auf Kultur verstanden als Lebensweise einer Gruppe eine Perspektive auf die Konstitution von Herrschaftsverhältnissen sowie deren Kritik eröffnen, wie in der Broschüre aufgezeigt wird. Wie aber umgehen mit kulturalistischen Deutungsmustern, die jeder und jede zuweilen im Kopf hat und die unser Verhalten im Kontakt mit anderen beeinflussen? Hier hilft, sich eben diese gedanklichen Muster in der konkreten Situation bewusst zu machen und diese kritisch zu hinterfragen: Kann das Verhalten, dass ich auf einen kulturellen Unterschied zurückführe, auch andere Ursachen haben? Vielleicht ist es möglich, diese zu erfragen, was nicht immer der Fall sein wird. Zumindest ist jedoch der Rückschluss von einer (vermuteten) Herkunft, „Ethnie“ oder Religion auf eine bestimmte kulturelle Prägung zu vermeiden. Bei aller Reflexion über die Vermeidung von Zuschreibungen und die Möglichkeiten, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ohne die Fremdheitssituation neu in Deutschland Angekommener zu ignorieren, darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Chancen, einen gesicherten Aufenthaltsstatus und Zugang zu Arbeit und Ausbildung zu erlangen, maßgeblich durch gesetzliche Grundlagen bestimmt bzw. eingeschränkt werden. Wie in dieser Broschüre ausführlich dargestellt bestehen für geflüchtete Personen zahlreiche Hindernisse beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung, die nicht durch informiertere oder wertschätzendere Kommunikation ohne rassistische Zuschreibungen aufgelöst werden können, sondern struktureller Veränderungen bedürfen.

In Deutschland ankommen

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Die konkreten Bedingungen einer Weiterförderung sind momentan noch nicht bekannt. Es besteht die Gefahr, dass die mühsam aufgebauten Unterstützungsstrukturen zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten ersatzlos wegbrechen. Auch wenn diese Projekte an der strukturellen Ausgrenzung Geflüchteter nichts Wesentliches zu ändern vermochten, stellten sie doch im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, die Geflüchtete zur Aufnahme von Arbeit und Ausbildung haben, einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration dar. Zugehörigkeit wird in modernen Gesellschaften in hohem Maße über Arbeit hergestellt. Menschen mit Fluchterfahrung bei der Qualifizierung und Arbeitsaufnahme zu unterstützen, trägt dieser Erkenntnis Rechnung.

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DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt, AZF II

AutorInnenverzeichnis

Joschka Gatzlaff ist studierter Sozialarbeiter (B.A.). Seine Abschlussarbeit befasste sich mit dem Thema „Für Demokratie Courage zeigen! Möglichkeiten und Grenzen interkultureller und antirassistischer Bildungsarbeit“. Er ist Seminarleiter in der politischen Jugendbildungsarbeit mit den Schwerpunkten Antirassismus, Antisemitismus und Demokratiebildung. Er hält dazu Vorträge und leitet Qualifizierungseminare für Teamer_innen an.

Sigmar Walbrecht ist seit 2003 Mitarbeiter in der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. und dort derzeit u.a. im ESF-Bleiberechtsprojekt AZF II – Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge beschäftigt. In diesem Zusammenhang berät und informiert er zu Fragen des Arbeitsmarktzugangs für Flüchtlinge und damit in Verbindung stehenden aufenthaltsrechtlichen und sozialrechtlichen Problemen.

Kerstin Märländer ist als Projektkoordinatorin beim DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt im Projekt AZF II tätig. Sie ist Politikwissenschaftlerin M. A. mit den Arbeitsschwerpunkten Intersektionalität, Politische Theorie und Diskursanalyse und derzeit Lehrbeauftragte der TU Braunschweig. Tanja Pantazis ist Politikwissenschaftlerin und „Interkulturelle Trainerin“ (Xpert CCS). Sie war DAAD-Stipendiatin und lehrte ein Jahr  an der Gazi Üniversitesi und der Ankara Üniversitesi in Ankara. Derzeitig arbeitet sie als freie Mitarbeiterin bei einem vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) geförderten Projekt „Sexualerziehung Interkulturell“ (SexI) und ist Lehrbeauftragte für das Thema „Interkulturelle Sexualerziehung“ an der Ostfalia – Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel.  Seit März 2013 koordiniert sie das an das Selbsthilfe-Büro Niedersachsen angegliederte Projekt „Selbsthilfe und Integration in Niedersachsen“. Franziska Rein studiert an der TU Braunschweig Sozialwissenschaften und ist aktiv in der (gewerkschaftlichen) Jugendbildungsarbeit und in der Jugendverbandsarbeit. Dort arbeitet sie mit den Schwerpunkten Antirassismus, Geschlecht und materialistische Gesellschaftsanalyse.

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