Im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine

D I DA K T I K In der Musik sorgt die Fermate für eine verzögernde Pause aller Instrumente. Sie wird mit einem Punkt im Zentrum eines nach unten geöf...
Author: Reinhold Kohl
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In der Musik sorgt die Fermate für eine verzögernde Pause aller Instrumente. Sie wird mit einem Punkt im Zentrum eines nach unten geöffneten Halbkreises dargestellt. "Fermate" passt daher sowohl inhaltlich als auch formal als Titel dieses Fotos. Mein Dank gilt dem Fotoclub UNIFOK Jena sowie der Gaszentrale Unterwellenborn.

Im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine

Akt und Technik Neben Motor und Sport gehören Erotik und Technik zu den klassischen Interessensgebieten des Mannes. Kein Wunder also, dass diese Themen nicht nur Dauerbrenner in vielen Lifestyle-Magazinen sind, sondern auch in der Fotografie als eigenständige Disziplinen eine große Rolle spielen. Claus Rose, Fotodesigner aus Jena, gibt Anregungen, wie sich Aktfotografien mit Motiven aus Industrie und Technik kombinieren lassen.

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ALS KLASSISCHES MOTIV der bildenden Kunst ist der Akt auch in der Fotografie seit jeher fest verankert. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden handkolorierte Daguerreotypien mehr oder minder bekleideter Damen angefertigt. Natürlich war die damalige Aktfotografie eng an die zeitgenössische Malerei angelehnt. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein beschränkte sie sich auf Darstellungen im Atelier des Künstlers oder in der Natur und war den Konventionen der klassischen Ideale und ihrer akademischen Posen verpflichtet. Vielleicht ist die zunehmende Toleranz von Nacktheit in unserer Mediengesellschaft ein Grund dafür, dass die heutige Aktfotografie mehr und mehr den Mut hat, mit lebensechten Darstellungen in diversen erdenklichen Kulissen des modernen Alltags zu experimentieren. Der Begriff „on location“ gehört zum Standardvokabular jedes Fotografen und steht für die Fotografie an einem Drehort außerhalb des abgeschlossenen Studios. Formale und inhaltliche Bezüge Wenn Sie noch wenig Erfahrung in der Fotografie von Modellen on location haben, bieten sich Abbruchhäuser oder leer stehende Industriegelände an, welche für die Öffentlichkeit weitestgehend abgeschirmt sind. Hier haben Sie die nötige Ruhe, ungestört zu arbeiten, was vor allem dem ungeübten Modell mehr Sicherheit gibt. Großer Beliebtheit erfreuen sich beispielsweise vermoderte, leere Räume mit Fensterlicht. Als Motivation für Akt in diesen Locations wird meist der Kontrast von hart und weich oder von alt und jung zwischen Kulisse und Modell angegeben, auch wenn diese Absicht oft nur wie ein guter Geist über der Fotosession wacht, der im Bild nicht direkt in Erscheinung treten will. Viele Fotos würden nämlich beim Austausch der morbiden Kulisse gegen intakte Nutzungsräume oder private Wohnräume nicht an Wirkung verlieren. Wenn Sie tatsächlich auf Kontraste als Teil der Bildwirkung Wert legen, sollten Sie sich trauen, ins Detail zu gehen und Strukturen bzw. Oberflächen gezielt heraus zu arbeiten. In morbiden Häusern können abbröckelnde Wände, Risse oder Bruchglas auf Verfall hinweisen und dem ma-

kellosen Gesicht oder Körper in der Blüte seiner Jugend entgegen gestellt werden. Die Vergänglichkeit des Materials wird im Verständnis des Bildbetrachters auf die Vergänglichkeit des menschlichen Seins projiziert. Somit entsteht im Bild nicht nur ein formaler, sondern auch ein inhaltlicher Bezug des Modells zur Umgebung. Die Beziehung zueinander ist neben fototechnischen Aspekten für die Qualität der Aufnahme maßgebend. Auf Streifzügen im Internet begegnen einem oft Fotos, auf denen die Modelle im Vordergrund posieren, während die Hintergrundkulisse in

Wie im Bild gegenüber ist auch hier der Hell-Dunkel-Kontrast augenfällig. Durch die geöffnete Beinhaltung fügt sich das Modell formal in die Kulisse ein.

Modell: http://marionheinzelmann.de

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Beliebigkeit verfällt, so als wären Kulissenschieber nach dem Zufallsprinzip am Werk, während Fotograf und Modell die Welt um sich herum vergessen lassen. Ein inhaltlicher Bezug ließe sich beispielsweise erzielen, wenn das Modell mit Teilen der Kulisse agiert (S. 26, 27). Ein formaler Bezug entsteht neben den oben erwähnten Arten des Kontrasts auch durch den Gegensatz zwischen groß und klein (S. 27), zwischen dunkel und hell (S. 22, 23), zwischen robust und zierlich (S. 22, S. 24 oben) oder zwischen Formen, Flächen, Linien oder Farben. In analoger Weise bringen Harmonien Modell und Kulisse in Bezug, beispielsweise, wenn sich Formen oder Linien, die sich aus der Anatomie oder Haltung des Modells ergeben, in der Kulisse wiederholen (S. 23, 24 unten). Man beachte, dass die Haltung des Modells nicht nur formale Größen wie die Anordnung von Linien und Formen, sondern auch inhaltliche Komponenten eines Bildes beeinflussen kann. Ein Beispiel finden Sie in den beiden Abbildungen links (Mitte, unten). Mit dem ausrangierten, alten Kettenfahrzeug assoziierten wir russisches Kriegsgerät und wählten deshalb russische Bildtitel. Das Modell nimmt im oberen der beiden Bilder eine aktive, geöffnete Haltung mit raffiniertem Blickkontakt zum Betrachter ein. Wir nannten dieses Foto „Dewtschonka“, was für ein freches, junges Mädchen steht. Die Linienführung der Gliedmaßen ist aus fotografischer Sicht vergleichsweise chaotisch, aber aus männlicher Sicht reizvoll. Sie passt zu den weißen Sprühmustern in der rechten oberen Bildecke. Dagegen ist das Modell im Bild unten passiv und in sich ruhend dargestellt, so als ob es gerade eine Pause an der Maschine einlegt. Der zugehörige Titel lautet „Bolschaja Peremena“, zu Deutsch „große Pause“. Hier empfand ich die weißen Sprühmuster als störend und retuschierte sie mittels Photoshop. Ein formaler Bezug des Modells zur Maschine wird über die Rundung des Rückens hergestellt, der zum

Alte, verrostete Gerätschaften sind in Verbindung mit jungen, schönen Mädchen motivisch sehr reizvoll. Versuchen Sie aber stets, eine interessante Verbindung im Arrangement zu schaffen.

Modell: http://[email protected]

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darunter liegenden Rad passt. Arme und Unterschenkel führen die diagonale Verstrebung in der linken oberen Bildecke fort. Vielleicht werden Sie einwenden, dass sich in derart detailreichen Hintergründen immer Elemente finden lassen, die man als Wiederholung von Formen oder Linien des Modells entdecken kann. Industrielle Technik und Maschinen mit hohem Detailreichtum sind tatsächlich für formalästhetische Zugänge des Bildaufbaus besonders dankbar. Begreifen Sie das als Chance, die eigene Bildsprache aufzuwerten und Ihrem Publikum Stationen einer Entdeckungsreise vorzugeben. Wahl der Kulisse Oft werden Bilder aus dem Bereich der Mode-, Werbe- oder Erotikfotografie mit Architektur oder Technik angereichert, ohne einen inhaltlichen Zusammenhang zu zeigen. Es geht darum, den Aufmerksamkeitswert zu steigern, also einen mäßigen Inhalt durch weitere Hingucker aufzupeppen. Der Hintergrund wird zum Beiwerk, ohne Bestandteil der Bildaussage zu sein. In der Werbung erzeugt die Kulisse bisweilen eine Atmosphäre, die das beworbene Produkt sinnvoll ergänzt. Oft degradiert aber die Darstellung zu platter Ef-

fekthascherei und ist schon allein deshalb von Kunst eindeutig abzugrenzen. Speziell im Zusammenhang mit Technik nahmen die bekannten Werke des Meisterfotografen Günter Blum (1949-1997) eine Vorreiterrolle im Schaffen von Kunstfotografien ein. Er setzte Visionen in Bildwelten voller Sinnlichkeit und expressiver Körpersprache um und ist bis heute oft kopiert, aber kaum je erreicht worden. Seine aufwändig gebauten Kulissen erinnern an die Stummfilmzeit, und

Auch in der Porträt- und Modefotografie lassen sich sinnvolle Bezüge zwischen Modell und Kulisse herstellen. Achten Sie auf Harmonie von Kleidung und Umfeld.

Modelle: http://[email protected] http://[email protected]

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bedarf es nicht zwingend großer Visionen und selbst entworfener Bühnen. Halten Sie aber die Augen nach möglichen Kulissen und Requisiten offen und nehmen Sie sich die Zeit, örtliche Gegebenheiten auf sich wirken zu lassen, bis in Ihren Fantasien Bildideen reifen. Neben großen Maschinenhallen (S. 22, 27) können auch Details (S. 23), einzelne Gerätschaften (S. 24), Graffiti-Wände (S. 26 oben) oder sogar an der Location vorgefundene Schrottteile (S. 25 rechts, S. 26 unten) inspirieren. Metaphorik

Dieses Graffiti erinnerte mich an eine Tankstelle der Comic- oder Science-Fiction-Welt, vielleicht um mittels einer Laserkanone Energien aufzutanken. So entstand die Idee zum Bild „Sex Machine“. Die Crossentwicklung des Diafilms sorgt für die surreale Farbgebung. Für die Bewegung im „Bicycle Race“ wurde die Kamera geschwenkt und auf den zweiten Vorhang geblitzt.

Modell: http://[email protected]

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seine Modelle erscheinen darin wie kühne und kühle Amazonen der Industriegesellschaft, stark, selbstbewusst, herausfordernd. Blum verkörpert das Ideal im Bereich erotischer Phantasmen mit technischen Accessoires. Besonders faszinierend ist die Ganzheitlichkeit von inhaltlicher, formaler und technischer Perfektion. Dieses Niveau selbst zu erreichen, ist schwierig, aber es gibt auch für Amateurfotografen mit Fantasie Wege, zu überzeugenden Arbeiten zu gelangen. Ich selbst bin ein Anhänger von Bildgeschichten in dem Sinne, dass eine einzelne, unabhängige Aufnahme in der Fantasie des Betrachters den Impuls zu einer Geschichte mit Handlung gibt. Um solche Bilder zu erstellen,

Geschichten zu erzählen, ist nicht das einzig mögliche Ziel von Aktfotografen. Ganz im Gegenteil, die meisten Bilder entstehen vielmehr in der Absicht, Schönheit und erotische Ausstrahlung des Modells zu vermitteln. In Kombination mit Technik kann man aber auch einen Schritt weiter gehen und versuchen, philosophische Sichtweisen auf unsere Existenz zu finden. Bis Platon wurde Technik als Fähigkeit verstanden, mit einer Sache umgehen zu können. Ab der Renaissance übernahm Technik immer mehr Funktionen des Menschen. Die Industrialisierung leitete einen Prozess des Übergangs von der Handarbeit zur Fabrikarbeit ein, die sich auf Maschinen stützte. Der Arbeitswissenschaftler Frederick Taylor (1856-1915) betrachtete den Menschen selbst als eine Art Maschine. Er entwarf eine Methode, die über präzise Anleitungen, hohe Arbeitsteilung und materielle Anreize die Produktion steigern sollte. Doch die Monotonie am Fließband führte zu sinkendem Interesse der Arbeiter an Firma wie Produkt, zu Qualitätsmängeln und zu hohem Krankenstand. Nach einer Epoche der Humanisierung durch Mitsprache und Teamarbeit sprechen Soziologen im heutigen Zeitalter der Globalisierung und der stärkeren Orientierung am Kapitalmarkt von einer „Retaylorisierung“, wenn mit Blick auf schnellere und billigere Produktion Einschnitte bei den Arbeitsbedingungen angesichts drohender Arbeitslosigkeit duldsam hingenommen werden. Es ist eine Aufgabe der Kunst, das weite Feld der Gefühle und Sorgen, aber auch der Perspektiven und Visionen zu thematisieren. Wie verhält sich der Mensch, symbolisiert durch seinen

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fragilen Körper, zum übermächtigen Apparat? Wird der Mensch in seiner leiblichen Funktion selbst zur Apparatur? Mehrfach wurden Fotografien erstellt, die den menschlichen Körper als kleines Rad in einem komplexen Getriebe zeigen. Andere Autoren montierten eine menschliche Figur als Uhrzeiger auf ein Ziffernblatt oder deuteten mit ihrem Schattenwurf wie auf einer Sonnenuhr Vergänglichkeit an. Mit der Abbildung auf dieser Seite finden Sie eine weitere Möglichkeit, die Dominanz des Menschen durch Technik auszudrücken. Abschließend eine kleine Sammlung weiterer Tipps und Anregungen: Wenn Sie in Ihren Bildern Geschichten erzählen, sollten Sie in Anlehnung an den Film überwiegend Querformat einsetzen. Ordnen Sie bildwichtige Flächen und Formen bewusst und harmonisch an, und achten Sie sowohl bei der Haltung des Modells als auch im Hintergrund auf die Konsistenz der Linien. Setzen Sie Kontraste in Farben bzw. Grauwerten ein, um die Aufmerksamkeitspunkte hervor zu heben. Wählen Sie so-

wohl die Perspektive als auch den Bildausschnitt so, dass Ihre Absicht ersichtlich wird und keine überflüssigen Details ablenken. Leiten Sie Ihr Modell überwiegend in ruhige Posen, denn techniklastige Kulissen neigen zu Unruhe. Achten Sie selbstverständlich auf passendes Licht. Seitenlicht hebt Maschinendetails besser hervor. Wählen Sie eine möglichst kleine Blende, um alle bildwichtigen Details in der Kulisse mit Schärfe zu versehen, und verzichten Sie auf Weichzeichner. Durch Langzeitbelichtungen können interessante Bewegungsstudien entstehen, sowohl des Modells bei ruhender Maschine als auch umgekehrt. Als Sondertechniken bieten sich Doppelbelichtungen oder Sandwiches an, aber auch Collagen und Montagen. Die Körnung des Films kann Visionen unterstreichen. Und lassen Sie Ihren Gefühlen freien Lauf, denn neben aller Technik darf die Sinnlichkeit nicht fehlen. Claus Rose

Dieses Bild ist bewusst nach Charlie Chaplins Klassiker „Moderne Zeiten“ benannt. Der Mensch ist entpersonifiziert und in den industriellen Produktionsablauf eingeschlossen. Das markanteste formale Stilmittel sind die extremen Größenverhältnisse, aber auch die Nacktheit, welche Schutzlosigkeit symbolisiert. Die Anordnung des Körpers im Goldenen Schnitt statt in der Bildmitte dezentralisiert den Menschen.

Alle Fotos: www.ClausRose.de

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