HERBST Alles wissen, alles begreifen

BÜCHER DER GEGENWART HERBST 2016 Von Christian Heidrich Alles wissen, alles begreifen I m Jahr 1667 wird Gottfried Wilhelm Leibniz an der Nürnberg...
Author: Gitta Roth
5 downloads 0 Views 1MB Size
BÜCHER DER GEGENWART HERBST 2016

Von Christian Heidrich

Alles wissen, alles begreifen

I

m Jahr 1667 wird Gottfried Wilhelm Leibniz an der Nürnberger Universität Altdorf zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert. Er ist erst zwanzig Jahre alt, doch wird ihm wegen der Vorzüglichkeit seiner Arbeit sogleich eine Professur angeboten. Der junge Gelehrte lehnt ab. Ihn zieht es an die Fürstenhöfe, wo er als Berater tätig sein möchte. Was nun folgt, ist freilich nicht die steile Karriere, sondern eine kaum endende Reihe von Plänen, Reisen und Ambitionen, die größtenteils scheitern und misslingen. Noch im September 1716, wenige Wochen vor seinem Tod, korrespondiert der Siebzigjährige mit dem kaiserlichen Hof in Wien, wohin er überzusiedeln hofft. Ein letzter kurioser Fehlschlag! Gleichwohl gehört der aus Leipzig stammende Gelehrte zu den Geistesriesen der europäischen Geschichte. Sein Biograf, der Journalist und Schriftsteller Eike Christian Hirsch, vermutet, Leibniz sei „der intelligenteste Mensch seiner Epoche gewesen, jedenfalls ungeheuer dazu begabt, für abstrakte Probleme eine theoretische Lösung zu finden“. In diesem Satz lässt sich die gedrängte Antwort auf jenes beunruhigende Lebensdrama finden, das der Autor auf gut 600 Seiten glänzend und höchst informativ entfaltet. Tatsächlich war Leibniz, der Verfasser der „Théodicée“ und quellenkundige Historiker, der Philosoph und Mitbegründer der Infinitesimalrechnung, der Erbauer einer Rechenmaschine und Wissenschaftsorganisator, „ungeheuer“ begabt. Zugleich war Leibniz eine verzettelte Persönlichkeit, die nicht selten den Blick für das Machbare verlor, die schon gar nicht für das raffinierte Spiel an den absolutistischen Fürstenhöfen taugte. Sein fast schon verzweifelter Versuch, sich selbst ein adliges „Von“ zuzulegen, erscheint als so bezeichnend wie deprimierend.

Eine faustische Persönlichkeit Leibniz steht an der Schwelle zur Moderne. Im Grunde ist er noch eine faustische Persönlichkeit in der Tradition von Leonardo da Vinci oder Giordano Bruno; ein Intellektueller, der „alles“ wissen möchte, der zugleich davon überzeugt ist, dass der Mensch kraft der Gabe der Vernunft dazu ausersehen ist, „alles“ zu begreifen. Auch der nur wenig später – etwa mit Immanuel Kant – einsetzende Bruch, der Zweifel an der Metaphysik, lag noch jenseits seiner Welt. Vielleicht hängt das mit der erstaunlichen Tatsache zusammen, dass sich Leibniz, wie Hirsch schreibt, „selbst entwarf “. Seine eigentliche Profession, die Jurisprudenz, übte er eher widerwillig aus. Als er sich in den Jahren 1672–1676 in den Metropolen Paris und London aufhielt, war er bereits ein Mathematiker und Erfinder. Wie aber wurde der Jurist zum Mathematiker? Wirklich „gelernt“ hatte Leibniz das nicht. Er las ein paar entsprechende Werke, und auch die eher flüchtig. „Das war typisch für ihn. Er konnte Lehrbücher nur eilig ansehen, ihm fehlte eben die Geduld. Hatte er jedoch etwas verstanden, so überbot er seine Vorlage manchmal ebenso schnell, wie er sie gelesen

Gottfried Wilhelm Leibniz wollte als ein „Beauftragter für das Ganze“ wirken – an der Schwelle zur Moderne. Eine Biografie anlässlich seines 300. Todestages erinnert an den Universalgelehrten. hatte.“ Leibniz war offensichtlich ein begnadeter Autodidakt, ein rastloses Genie. Dass diese Konstellation ihre Tücken hatte, zeigte sich bereits am Anfang seiner europäischen Karriere, als ihm ein englischer Mathematiker 1673 nachwies, dass seine „neue“ Formel zur Berechnung von Zahlenreihen keinesfalls neu sei, vielmehr bereits in der wissenschaftlichen Literatur publiziert war. Man kann davon ausgehen, dass es die fehlende Kenntnis der mathematischen Literatur war, die zu diesem Fehltritt führte. Gleichwohl warf diese kleine Begebenheit einen langen Schatten. Zunächst in jenem unerquicklichen, endlosen Streit mit Isaac Newton über die Autorenschaft der Infinitesimalrechnung (heute spricht man von Differential- und Integralrechnung), ein Streit, der in den folgenden Jahrhunderten gar zu einem Nationenwettkampf ausartete. Mittlerweile wissen wir, dass die beiden Denker unabhängig voneinander zu ihren maßgeblichen Entdeckungen gelangt sind. Doch konnten in der Hitze des Gefechts Leibniz’ „Jugendsünde“ und seine nicht selten nachlässigen Verteidigungsstrategien immer wieder ins Spiel gebracht werden. Womöglich lässt sich der peinliche Vorfall von 1673 auch in Verbindung bringen mit der späteren auffälligen Scheu des Denkers, Erarbeitetes zu publizieren. Die „Angst vor einer Blamage scheint ihn beherrscht zu haben“, stellt sein Biograf fest.

Leibniz hat zwar, folgt man der neuesten Forschung, an die 20 000 Briefe verschickt und etwa 200 000 Blätter beschrieben und überschrieben. Doch sein einziges eigenständiges, zu seinen Lebzeiten veröffentlichtes Buch blieben die „Essais de Théodicée“ (1710), ein so epochales wie häufig missverstandenes Werk, das auf logischen, ja „anwaltlichen“ Wegen nachzuweisen sucht, dass Gottes Schöpfung „die beste unter allen möglichen“ sei. Die „Théodicée“ bleibt ein philosophisch-theologischer Meilenstein, gerade weil der Leser ahnt, dass hier etwas Richtiges schmerzlich mit der Lebenserfahrung kollidiert.

Eine irenische Gestalt Die „Rechtfertigung Gottes“ verweist zugleich auf einen bestechenden Charakterzug ihres Verfassers. Wie es Hirsch eindrücklich herausarbeitet, war Leibniz eine versöhnliche, eine irenische Gestalt. „Der Standpunkt des anderen ist der richtige Blickwinkel in der Politik und noch mehr in der Moral“, so lautete sein erstaunlich moderner Leitspruch. Der liberale Lutheraner Leibniz, gegen Ende des katastrophalen Dreißigjährigen Krieges geboren, suchte diese Erkenntnis über Jahrzehnte hinweg in die Versöhnungsgespräche der Kirchen einzubringen. Ohne handfeste Ergebnisse, muss man wohl sagen. Für Leibniz selbst aber könnte die schöne Charakterisierung eines Bekannten einstehen: „Ich habe zwar

EDITORIAL

Klima – welches Klima? D er deutsche Bischofskonferenz-Vorsitzende, der Münchener Kardinal Reinhard Marx, erklärte neulich bei der Herbst-Vollversammlung, er sorge sich um das politische Klima in diesem Land. Papst Franziskus sorgt sich sogar um das Weltklima, weshalb er sich für seine Öko-Enzyklika von einem Klimaforscher beraten ließ. Wer aber sorgt sich um das religiöse Klima? Es gab schon einmal eine Zeit, als man sich um dieses Klima kirchlich zu wenig, ja fast gar nicht kümmerte. Bis Einzelne das bemerkten und feststellten, dass es höchste Zeit war für einen Klimawandel, um das Christliche zur

Nachfolge Jesu Christi zu retten – durch Reformen. Der für das Glaubensklima höchst gefährliche Reformstau sollte überwunden werden. Reformatoren heißen die, die dazu vor einem halben Jahrtausend die Initiative ergriffen, darunter zugunsten der deutschen Reformation Martin Luther: lesend, schreibend, aktivierend. Wer erkennt heute die religiösen Zeichen der Zeit, dass es wieder einmal an der Zeit ist für einen geistigen Klimawandel, auf dem Feld der Religion selber? Nicht schlecht wäre es, dafür erneut auf das geschriebene Wort zu achten, auf Literatur – und zu lesen. rö.

jezuweilen in seinen schrifften eine alzu große indifferenz in Glaubens- und Religionssachen war genommen, selbige jedoch für einen exceß der von den lieben Aposteln so hoch recommandirten sanfftmüthigkeit, jedermann zu gewinnen, gehalten.“

Der Gefangene von Hannover Der große, beständige Wunsch wollte nicht Wirklichkeit werden. An die bedeutenden Fürstenhäuser zog es ihn, zu den Königen, Kaisern und Zaren am liebsten. Dort wollte er beraten und vermitteln, als „Beauftragter für das Ganze“ dienen. Aber die Großen der damaligen Welt wollten ihn nicht haben. So nahm Leibniz 1676 das Angebot des Herzogs von Hannover an und blieb an diesem Hof – trotz vielfältigster „Fluchtversuche“! – vierzig Jahre lang bis zu seinem Lebensende. Für das Welfenhaus suchte er, Windmühlen für den Erzabbau im wasserarmen Harz zu entwerfen, eine umfangreiche Geschichte dieses alten Adelsgeschlechtes zu schreiben, die Bibliotheken zu leiten, Gutachten zur Erlangung der Kurwürde zu erstellen. Nicht zuletzt wurde er zu einem geschätzten Gesprächspartner, insbesondere bei den Hofdamen, die ihn, wie die in Brandenburg verheiratete Kurfürstin und spätere Königin Sophie Charlotte (1668–1705), durch ihr fortwährendes, skeptisches Nachfragen zur Abfassung der „Théodicée“ bewegten. Wichtige Erfolge wechselten sich mit schmerzlichen Niederlagen ab, die permanenten Pläne und Neuansätze wurden häufig nur angerissen. „So steht er vor uns als ein ewig strebender Mensch, der zur schöpferischen Muße nicht finden kann.“ Pünktlich zum 300. Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz legt Eike Christian Hirsch eine revidierte Fassung seiner bereits 2000 erschienenen Biografie vor. Es ist ein riesiger Weg, den der Autor und mit ihm der Leser abschreitet. Natürlich lässt sich fragen, ob jedes geschilderte Detail und jede ausgezogene Querverbindung notwendig sind. Andererseits wird der Leser mit einem höchst lehrreichen und unterhaltsamen Panorama des Lebens und Denkens im 17.  Jahrhundert belohnt. Er entdeckt, dass uns die „barocke“ Epoche mit ihrer streng hierarchischen Gesellschaft und mit mancherlei Aberglauben fernsteht und uns befremdet. Er kann aber auch feststellen, dass unsere erstrangigen Fragen in Wissenschaft, Metaphysik, Konfession und Moral auch die Fragen von Leibniz und seinen Zeitgenossen waren, dass ihre Antworten und Lebensweisen, so zeitgebunden sie auch waren, heute noch verblüffen und inspirieren. Als einen „Visionär der Wahrheit“ und „Lehrer der Menschheit“ bezeichnet Hirsch seinen Helden. Nach der Lektüre dieser beglückenden Biografie kann der Leser in dieses Urteil einstimmen, gerade weil sich der Autor nicht scheut, neben dem Universalgenie Leibniz das fehlbare, ängstliche und auch eitle Menschenkind zu präsentieren. Eike Christian Hirsch Der berühmte Herr Leibniz Eine Biographie (Verlag C. H. Beck, München, überarbeitete Neuauflage 2016, 659 S. mit 60 s/w-Abb. und acht Farbabb. auf Tafeln, 29,95 €)

470 Bibel

Nr. 43 / 2016 BÜCHER CIG

Der wahrere Jesus

Der Reformator Paulus Eine neue Auslegung des Römerbriefs bereichert – nicht nur – die biblische Forschung.

D

er Römerbrief wird oft als „Testament des Paulus“ bezeichnet. Zum einen gilt er unter den unumstritten echten Paulusbriefen gewöhnlich als das letzte erhaltene Dokument, zum anderen ist er theologisch grundsätzlicher als die sonstigen Gemeindebriefe angelegt. Dies wird von Gerd Theißen und Petra von Gemünden besonders profiliert. Sie verstehen den Römerbrief als (letztlich gescheitertes) „Reformprogramm für das antike Judentum“. Diese Sicht verbinden sie mit den Hauptströmungen der Paulusdeutung: Geht es in der Rechtfertigungstheologie in erster Linie um das Gottesverhältnis des Einzelnen? Oder zielt sie auf die Öffnung des Gottesvolkes für alle Menschen? Diese Gegenüberstellung wollen die Autoren überwinden, für sie kennzeichnen beide Perspektiven die Theologie des Paulus. Da für ihn alle Menschen an Gottes Gebot scheitern, hat der Blick auf den Einzelnen in seiner Stellung vor Gott einen Zug ins Universale: Alle sind auf die Gnade angewiesen, die sozialen Schranken zwischen Juden und Heiden aus verschiedenen Kulturen sind hinfällig. Umgekehrt verlangt eine solche soziale Integration, die im Menschen vorhandene Abneigung gegen das Fremde zu überwinden, und führt die Notwendigkeit einer umfassend erneuerten Existenz vor Augen. Um dieses Ineinander aufzuzeigen, wird der Römerbrief unter verschiedenen Fragestellungen mehrfach durchgegangen. Eine „textimmanente Lektüre“ klärt den Gedankengang, eine „historische Lektüre“ verortet den Brief in seiner geschichtlichen Situation hinsichtlich der Absender wie der Adressaten. Dabei wird in neuer Form die These verteidigt, ein Exemplar des Briefes sei ursprünglich nach Ephesus gegangen. Methodisch innovativ schließt sich eine „bildsemantische Lektüre“ an. Sie unter-

sucht nicht nur die bildhaften Ausdrücke für Gott und für den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott, sondern bedenkt auch deren Abfolge im Verlauf des Briefes: von Bildern aus dem öffentlichen Leben (Gott als König, Richter, Priester) über solche, die dem antiken Hauswesen entnommen sind (Sklave, Ehefrau, Sohn), bis hin zu Berufsrollen (Gott als Töpfer und Gärtner). Eine „theologische Lektüre“ erhebt vier Heilskonzepte, die im Römerbrief nacheinander zum Tragen kommen: Heil durch Werke, durch Glauben, durch Verwandlung der Existenz und durch Erwählung. Letztlich aber werden alle Heilsvorstellungen durch Gottes Gnade und universalen Heilswillen durchkreuzt. Eine „sozialgeschichtliche Lektüre“ sieht im Römerbrief das Dokument einer Bewegung aus der Unterschicht, die aus dem Judentum stammt und sich im Lauf der Zeit universalisiert hat als „überregionale Parallelbewegung zur damals entstehenden neuen, schmalen Oberschicht im Imperium Romanum“. Eine „psychologische Lektüre“ deutet den Brief als persönliches Bekenntnis des Paulus im Hinblick auf seine Vergangenheit, auf sein inneres Erleben (Röm 7) wie auch auf die Furcht vor dem, was ihm in Jerusalem bevorsteht. Das Buch, in erster Linie an ein Fachpublikum gerichtet, bietet mit den verschiedenen Lektüren des Römerbriefs eine Deutung der paulinischen Theologie von großer systematischer Kraft. Es ist keine Floskel: Dieser Beitrag wird die Paulusforschung bereichern, und man kann sich auf die Diskussion freuen, die er auslösen wird, gerade weil er Gräben in der Paulusdeutung überwinden will. Gerd Häfner Gerd Theißen, Petra von Gemünden Der Römerbrief Rechenschaft eines Reformators (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, 560 S. mit 2 Abb. und 20 Tabellen, 40 €)

D

ie Suche nach dem vermeintlich „wahreren Jesus“, der nicht durch spätere christologische Überhöhung verzerrt worden sei, fesselt die historisch-kritische Bibelwissenschaft spätestens seit der Aufklärung. Albert Schweizer konnte den Nachweis führen, dass diese Suche gerade dann ins Leere läuft, wenn sie die neutestamentlichen Zeugnisse der Erinnerung an Jesus ausklammert, anstatt sie zu integrieren. Klaus Wengst bewegt sich auf solchen Denkpfaden, wenn er eine Spurensuche unternimmt, die bewusst bei der Darstellung der Evangelien ansetzt. Er hebt hervor, dass die Evangelisten keine historisch-protokollarischen Berichte bieten wollen. Unter dem Stichwort „Legendarisches Erzählen“ soll gezeigt werden, wie sehr der in den Evangelien als wirkend und leidend dargestellte und durch eben diese Darstellungen zur Wirkung kommende Jesus der echte sei. Jeder der vier Evangelisten wolle auf je eigene Weise zeigen, wer Jesus wirklich ist, indem seine Geschichte als eine Geschichte des Mitseins Gottes erzählt werde. Wer mehr über Jesus in Erfahrung bringen will, bleibt auf das Zeugnis der kanonischen Evangelien verwiesen, die es als

einzig relevante Zeugnisse zu verstehen gilt. Wengsts Jesus-Porträt konzentriert sich darum auf die Jesus-Darstellungen nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes und beleuchtet deren Grundlinien und Hintergründe. Das Schlusskapitel führt ein in die Theologie des einen Evangeliums in Anbetracht der vier Evangelien und formuliert ein starkes Plädoyer für eine verantwortungsvolle Auslegung. Die Frage nach der Anschlussfähigkeit dieser Zeugnisse für heutiges Christsein rundet die Spurensuche ab und lädt zum Weiterdenken ein. Anregungen bietet dieses grundsolide und lehrreiche Buch zuhauf. Die bibelwissenschaftliche Diskussion wird überdies aber noch zu prüfen haben, ob die Rede von den „legendarischen Erzählungen“ nicht doch zu anfällig für Missverständnisse ist. Neueste exegetische Ansätze setzen auf die Leistungsfähigkeit einer anderen Kategorie: die der Erinnerung! Robert Vorholt Klaus Wengst Mirjams Sohn – Gottes Gesalbter Mit den vier Evangelisten Jesus entdecken (Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, 654 S., 39,99 €)

Jesus – Lehrer unter Schülern

G

ehört Glaube zur Bildung? Gehört Bildung zum Glauben?“ Die Leitfragen des Neutestamentlers Thomas Söding zielen nicht nur in die Mitte des Selbstverständnisses des Christentums, sondern sind längst Gegenstand des gesellschaftlichen wie innerkirchlichen Diskurses. Kann der Glaube auch einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten? Darauf geht Söding aus neutestamentlicher Perspektive ein. Gegen den das Christentum seit den Anfängen begleitenden Vorwurf der Bildungsfeindlichkeit erinnert er an die dem Glauben eigene revolutionäre Kraft, zu der auch „eine Re-

volution der Bildung“ gehört: das Einstehen für das Recht auf „Bildung für alle“. Zwischen Glaube und Bildung besteht eine „gegenseitige Wechselbeziehung“. Söding zeigt Jesus als Lehrer inmitten von Schülern. Die Gleichnisse und die Bergpredigt sind Beispiele für seine Lehre. Daraus ergeben sich theologische Folgerungen für den Gottesbegriff. Matthias Mühl Thomas Söding Das Christentum als Bildungsreligion Der Impuls des Neuen Testaments (Verlag Herder, Freiburg 2016, 304 S., 24,99 €)

Ein wunderbarer Geschenkband! Bis 31.12.2016 zum Einführungspreis: € (D) 29,– Danach: € (D) 35,– NEU

THEODOR KETTMANN / JOHANNES WÜBBE (HG.)

ZeitGeist?! Heutige Lebenswelten als heilsame Provokation für Theologie und Kirche Mit Beiträgen von Karl Lehmann, Reinhard Marx, Margit Eckholt u. a. 192 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-7917-2830-8 € (D) 19,95/ auch als eBook

NEU

NEU

ACHIM BUCKENMAIER

JULIA KNOP / JAN LOFFELD (HG.)

Lehramt der Bischofskonferenzen?

Ganz familiär

Anregungen für eine Revision Historische, juristische und dogmatische Aspekte. 88 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-7917-2833-9 €(D) 16,95 / auch als eBook

Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte Mit einem ausführlichen Kommentar zum päpstlichen Schreiben Amoris laetitia! 152 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-7917-2773-8 € (D) 19,95 / auch als eBook

576 Seiten durchgehend farbig bebildert, Hardcover mit Lesebändchen ISBN 978-3-7917-2829-2

NEU

NEU

WOLFGANG VOGL

Meisterwerke der christlichen Kunst zu den Schriftlesungen der Sonntage und Hochfeste Lesejahr A Der Autor erschließt die biblischen Texte mit Hilfe von beeindruckenden Werken der christlichen Kunst – ein besonderes Buch für alle Christen! www.verlag-pustet.de Telefon 0941 / 92022-0 Telefax 0941 / 92022-330 [email protected]

CIG BÜCHER Nr. 43 / 2016

Leben 471

Philosophischer Seelsorger ange Jahre hat Wilhelm Schmid immer wieder als „philosophischer Seelsorger“ gearbeitet. Seine Erfahrungen sind nicht nur für Ärzte und Pfleger anregend. Herausgefordert und beschenkt dürften sich vor allem die fühlen, die – im kirchlichen Dienst – im Bereich der Krankenseelsorge tätig sind. Mit ihnen weiß sich Schmid verbunden, stellt aber fest: „Theologen … wird ein Gespräch über das Leben abseits von Glaubensfragen häufig zu Unrecht nicht zugetraut.“ Der Krankenhauspfarrer, mit dem Schmid „geradezu herzliche … Begegnungen“ hat, findet das „zwar bedauerlich“, aber er „trauert alten Zeiten nicht nach, da die Religion allzu lange mit Bevormundung einherging. Ein Problem sei nur, dass mit dem Schwinden der religiösen Bindung bei vielen die Ratlosigkeit wachse.“ Schmid arbeitet eine kurze Geschichte der Seelsorge heraus. Diese wurzle in philosophischer Praxis. Sokrates habe sie verstanden als „Befähigung zur Sorge für sich selbst“. Das Gespräch erst bringe Menschen dazu, die eigene Existenz ernstzunehmen und sich zu fragen, wie sie sinnvoll und sinnstiftend zu gestalten ist. Die philosophische Schule der Stoa führte solche Überlegungen weiter. Erst daraufhin habe sich eine ausdrücklich christliche Seelsorge entfaltet. Schmid zitiert den Kirchenlehrer Chrysostomos (ca. 344–407): „Richte die ganze Sorge auf die Seele, auf dass in ihr die Sehnsucht nach dem Göttlichen entzündet werde!“, und führt aus: „Damit das zuverlässig geschieht, soll die Sorge um die Seelen zur Aufgabe der Kirchenvorsteher werden.

Das ist die Geburtsstunde der Seelsorge, die für die Geschichte des Christentums prägend wird.“ Die Spannung ist offensichtlich: Die Seelsorge arbeitet mit einer Botschaft, die sich selbst zwar als befreiend und erlösend versteht, aber von außen kommt und daher immer der Gefahr indoktrinierender Praxis erliegen kann. Klar, dass Schmid mit dem Philosophen, Juristen, Politiker und Begründer der Essayistik Michel de Montaigne (1533–1592) sympathisiert: Dieser „verändert die Seelsorge, sodass sie nun zu einer essayistischen, versuchenden wird. … Ein definitives Wissen, wie das Leben zu verstehen sei, hält Montaigne nicht für möglich.“ Schmid schließt ab: „In die christliche Praxis der Seelsorge findet diese Essayistik … keinen Eingang.“ Gemeint sind mit den französischen literarischen essais im Sinne Montaignes Versuche, sich vorantastende und herantastende Gedanken über die Natur des Menschen, sein Wesen, seine Existenz zu machen. Schmid weiß allerdings auch um die Spannungen, in denen christliche Seelsorger stehen, wenn sie sich auf diese urmenschlichen Fragen einlassen: „Die theologische Seelsorge … folgt nicht immer den kirchlichen Vorstellungen.“ Faktisch gebe es mit der philosophischen Seelsorge „größere Überschneidungen“. Arno Zahlauer

VERMÄCHTNIS DES

DEUTSCHEN PAPSTES

Wilhelm Schmid Das Leben verstehen Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers (Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 382 S., 22 €)

288 Seiten | € [D] 19,99

L

DAS

Wie soll ich leben?

I

n sieben Grundworten, beziehungsweise Wortpaaren, versucht der in Indien lebende Autor, Übersetzer und Journalist Martin Kämpchen, Antworten zu geben auf die Fragen: Wie soll ich leben? Wie lebe ich richtig? Was muss ich tun, um mein Leben zu erfüllen? Ein Grundwort „durchflutet und färbt“ alle anderen: Wahrhaftigkeit. Das Buch ist in einem persönlichen Stil verfasst. Es gibt Erfahrungen weiter, die den Autor getragen haben. Er schöpft aus seinem Beheimatetsein in der europäischen wie in der indischen Kultur und Geisteswelt. Die Kapitel Einfachheit – Glück und Wahrhaf-

tigkeit – Muße – Trauer und Versöhnung – Freundschaft – Dankbarkeit – Erinnern und Vergessen nennt er „sieben Schritte zur Lebenskunst“. Sie gehen mit einer Ausnahme (Freundschaft) zurück auf Vorträge. Alle Kapitel durchzieht die Frage, was Bestand hat. Nötig sei dafür die Überzeugung, dass es eine göttliche Gnade gibt. Jakob Paula

Benedikt XVI. im Gespräch mit Peter Seewald über sein Pontifi kat, seinen Rücktritt und sein Leben.

Martin Kämpchen Wahrhaftig sein 7 Schritte zur Lebenskunst (Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2016, 140 S., 14,99 €)

Die Mönche von Tibhirine, bekannt durch den Kinoerfolg »Von Menschen und Göttern«.

NEU

Der Seligsprechungssprechungsprozess ist eingeleitet.

Neu entbrennen: eine Sehnsucht vieler, die einmal von der Liebe Gottes angerührt worden sind. Christian de Chergé erschließt das Hohelied in einer Weise, dass das Feuer neu aufglimmen kann. 176 Seiten, ISBN 978-3-7346-1057-8, EUR 14,95 In jeder guten Buchhandlung oder direkt bei: VERLAG NEUE STADT

Münchener Str. 2, D-85667 Oberpframmern, Tel. 08093 2091 E-Mail: [email protected] www.neuestadt.com

© Sung-Hee Seewald

Christian de Chergé, Prior der Mönche von Tibhirine NEU ENTBRENNEN. Impulse aus dem Hohelied

472 Literaturbericht: Reformationsgedenken

Nr. 43 / 2016 BÜCHER CIG

Die vielen Facetten des Martin Luther 2017 jährt sich die Reformation zum 500. Mal. Evangelische wie katholische Autoren haben Martin Luther und seine Zeit neu gedeutet. Von Alexander Schwabe

D

ie Glorifizierung Martin Luthers glich zeitweise einer Fortsetzung der katholischen Heiligenverehrung, gegen die sich der Reformator doch gewandt hatte. Und es gab Zeiten – so auch heute –, in denen Luther mit Skepsis begegnet wurde. Johann Wolfgang von Goethe interessierte sich nur für Luthers Charakter, alles Übrige, sprich seine Theologie, qualifizierte der Dichter als einen „verworrenen Quark“. Schaut man auf die Fülle neuer Bücher, die zum 500. Jubiläum der Reformation 2017 dieser Tage erscheinen, so kann man sagen: Es gibt nicht nur neue, lohnende Biografien zu lesen, sondern etliche spannende Bücher, die verschiedene Aspekte lutherscher Theologie, seines Wirkens und dessen umwälzende geschichtliche Folgen beleuchten.

Luther, der Knappgefasste Von A wie Abendmahl bis Z wie Zwingli: Martin Thull (1) hat ein hilfreiches Vademekum mit 95 Stichworten zur Reformation zusammengestellt. Für Leser, die sich noch nicht ausführlich mit Luther beschäftigt haben und einen schnellen Überblick über Themen, Orte und Personen gewinnen wollen oder die während der Lektüre eines der gewichtigen LutherBücher rasch ein Stichwort nachschlagen wollen, ist das Büchlein eine ideale Ergänzung.

Luther, der Mensch Unter den Biografien sticht die von Lyndal Roper (2) heraus. Der in Oxford lehrenden Australierin gelingt es, den Menschen Luther in seiner ganzen Ambivalenz nahezubringen. Weder glorifiziert noch verunglimpft sie ihn noch zeichnet sie ein reduktionistisches Lutherbild, wie es in der Geschichte oft getan wurde. Sie zeigt seine Widersprüche auf,

ohne sie aufzulösen: seine Freimütigkeit und Risikobereitschaft, zugleich seine Zweifel und Depressionen, sein feines Sprachgefühl und seinen Sinn für die Musikalität des Wortes, zugleich seine Vorliebe für Fäkalrhetorik und seinen derben Humor. Luther wusste, was Glauben heißt, zeigte Mut und Standfestigkeit gegen die Tradition, den Papst, die gesamte Kirche, den Kaiser und das Reich sowie gegen innerreformatorische Abweichler und war von großer Überzeugungskraft. Zugleich war er oft verbohrt, polemisch, emotional sprunghaft und gegen manchen Freund rücksichtslos. Theologisch verkündete er – bei aller Unfreiheit des Willens – die Freiheit des Christen, zugleich hielt er letztlich immer zur Obrigkeit, wenn es darum ging, aus der erlangten Glaubensfreiheit politische Konsequenzen zu ziehen. Die Religionshistorikerin Roper, die in den siebziger und achtziger Jahren bei Heiko Oberman, dem Leiter des Instituts für Spätmittelalter und Reformation in Tübingen, studiert hat, setzt mit ihrer Biografie die Tradition psychoanalytischer Studien fort, wie sie Erik Erikson („Der junge Mann Luther“) und Erich Fromm (in: „Die Furcht vor der Freiheit“) vorgelegt haben. Ausgehend vom problematischen Verhältnis zu seinem Vater zeichnet sie die innere Entwicklung Luthers nach. „Die Heftigkeit in der Auseinandersetzung mit seinem Vater bereitete Luther zweifellos darauf vor, den Papst mit solch gewaltiger Energie anzugreifen. Der Kampf mit dem Vater versetzte ihn auch in die Lage, so überzeugend von der Freiheit eines Christen zu schreiben … Das erklärt vielleicht, warum Luther solch widersprüchliche Positionen hinsichtlich seiner Freiheit und Autorität vereinen konnte.“ Selten nur psychologisiert Roper über die Maßen: wenn sie das Ende seiner Verstopfungen, unter denen Luther während seiner Zeit des Versteckens auf der Wartburg litt, auf die „Lösung, die er in der Beziehung zu seinem Vater gefunden hatte“, zurückführt. Ein ganzes Kapitel widmet die Autorin dem Thema Hochzeit und Sinnesfreuden.

Zu einem von Luthers großen Widersprüchen gehöre es, dass er unter allen Denkern einige der frauenfeindlichsten Äußerungen machte und trotzdem ganz fortschrittlich forderte, dass ehelicher Sex für Frauen und Männer gleichermaßen lustvoll sein solle. Lyndal Roper hat ein besonderes Augenmerk auf Luthers Verhalten gegenüber Freunden wie Gegnern gelegt und gibt wohlbegründete Einblicke in dessen Gefühlswelt. Die historischen, politischen wie wirtschaftlichen Umstände kommen dabei nicht zu kurz. Immer wieder gelingt es ihr, Parallelen zwischen Luthers Theologie und seinem Leben als Privatperson zu ziehen, etwa wenn sie zeigt, wie Luthers Verständnis der Eucharistie als Realpräsenz Christi übereinstimmt mit seinem eindrucksvoll ungezwungenen Verhältnis zur Körperlichkeit. Auch wenn Roper urteilt: „Luther war nicht ‚modern‘“, sein Denken erscheine uns heute fremdartig und sei in für uns unpassenden Begriffen formuliert – ihre Biografie zu lesen lohnt sich.

Luther, der Lehrer Auf seine Art herausragend ist Reinhard Schwarz’ (3) Buch. Es rückt Luthers Theologie ins Zentrum und sei vor allem theologisch Interessierten oder Geschulten empfohlen. Der emeritierte Münchner Kirchengeschichtler geht strikt an Luthers Texten entlang. Im Vorwort schreibt Schwarz, Luthers Theologie lasse sich nicht in traditionell dogmatischer Art abhandeln. Sein Mitstreiter Philipp Melanchthon orientierte sich zwar in seinen Loci communes an den klassischen Themen der Theologie: Schöpfungslehre, Christologie, Lehre von der Kirche usw. Doch so lasse sich nicht wiedergeben, „was der Theologie Luthers ihre innere Geschlossenheit verleiht“: die Rechtfertigungslehre, die Doppelerkenntnis der Sünde und der Gnade, von Gottesfurcht und Gottvertrauen. Dieses Zentrum bestimme, was Luthers Theologie ausmacht: dass sie fest in der Heiligen Schrift verankert, stets auf religiöse Erfahrung bezogen und immer durch ein Geflecht von Relationen und Unterschei-

LITERATURANGABEN (1) Martin Thull Luther für Einsteiger Die Reformation in 95 Stichworten (Bonifatius Verlag, Paderborn 2016, 107 S., 9,90 €)

(5) Joachim Köhler Luther! Biografie eines Befreiten (Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, 405 S., 22,90 €)

(9) Walter Kasper Martin Luther Eine ökumenische Perspektive (Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2016, 93 S., 8 €)

(2) Lyndal Roper Der Mensch Martin Luther Die Biografie (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 729 S., 28 €)

(6) Volker Reinhardt Luther, der Ketzer Rom und die Reformation (Verlag C. H. Beck, München, 1. und 2. Auflage 2016, 352 S. mit 24 Abb., 24,95 €)

(3) Reinhard Schwarz Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (Mohr Siebeck, Tübingen, 2. Auflage 2016, 544 S., 39 €)

(7) Volker Leppin Die fremde Reformation Luthers mystische Wurzeln (Verlag C. H. Beck, München 2016, 247 S. mit 13 Abb., 21,95 €)

(11) Thomas Kaufmann Erlöste und Verdammte Eine Geschichte der Reformation (Verlag C. H. Beck, München 2016, 508 S. mit 103 Abb., davon 58 in Farbe, 26,95 €)

(4) Sabine Appel König Heinz und Junker Jörg Heinrich VIII. gegen Luther gegen Rom (Theiss Verlag, Darmstadt 2016, 316 S. mit 24 s /w-Abb., Bibliogr. und Reg., 22,95 €)

(8) Christine Eichel Deutschland, Lutherland Warum uns die Reformation bis heute prägt (Karl Blessing Verlag, München 2015, 256 S., 19,99 €)

(12) Tillmann Bendikowski Der deutsche Glaubenskrieg Martin Luther, der Papst und die Folgen (Bertelsmann Verlag, München 2016, 380 S., 24,99 €)

(10) Daniela Blum Der katholische Luther Prägungen – Begegnungen – Rezeptionen (Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, 221 S., 24,90 €)

dungen, vor allem zwischen Gesetz und Evangelium, strukturiert ist. Nach jahrzehntelanger Quellen- und Forschungsarbeit lässt Schwarz Luther umfassend und detailliert zu Wort kommen. Doch kommt er verstehensgeschichtlich nicht über ihn hinaus. Er bietet keine Übersetzung von Luthers Denken für den modernen Leser, wenig setzt er sich mit ihm von einem wie auch immer gearteten heutigen Standpunkt her auseinander. Schwarz bleibt der Sprache Luthers und der daraus hervorgehenden theologischen Fachsprache verhaftet. Wer sich darauf einlassen will, wird auf eine Fundgrube lutherischen Denkens stoßen.

Luther, der Bremser Weitaus gefälliger kommt das Buch von Sabine Appel (4) daher. Die Sachbuchautorin nimmt sich der Reformation aus der Sicht des englischen Königshauses an. Der TudorSpross Heinrich VIII., neun Jahre nach Luther geboren und ein Jahr nach ihm gestorben, griff – zusammen mit Thomas Morus, seinem später geköpften Lordkanzler und Autor des Romans „Utopia“ – in jungen Jahren die Thesen des deutschen Reformators in einer Streitschrift an und verteidigte die römische Kirche. Der Papst verlieh ihm dafür den Titel „Defensor Fidei“ (Verteidiger des Glaubens). Appel zeigt, wie katholisch der Mann, der mit Rom dann wegen seiner sechs Ehen brach und die anglikanische Staatskirche errichtete, bis zum Schluss blieb und wie wenig Sympathie er theologisch und politisch Luther und den ihn unterstützenden Fürsten entgegenbrachte. Die Themen sind in Appels Buch etwas sprunghaft gesetzt. Im ersten Kapitel bringt sie neben Luthers Tod die Wiedertäufer unter, seinen Hass auf die Juden, seine Haltung zu den Türken, Reformbewegungen des Mittelalters von den Franziskanern bis zu Jan Hus und John Wyclif. Es fehlt bisweilen eine innere Logik. Gleichwohl legt sie einen gut lesbaren Text vor, der ab und an ins Gazettenhafte geht. Im starken Schlusskapitel „Heinrich und Luther zwischen Tradition und Moderne“ stößt sie Luther als „Heros der Neuzeit“ vom Sockel und schildert ihn im Unterschied zu den Humanisten und späteren Aufklärern eher als einen geistesgeschichtlichen Bremser.

Luther, der Missverstandene Gelungen ist die mit vielen saloppen und amüsanten Formulierungen gespickte Luther-Biografie von Joachim Köhler (5). Das Ausrufezeichen im Titel „Luther!“ ist Programm. Im Vorwort nennt der Autor Gründe, warum man heute über den Reformator die Nase rümpfe (zu derb, zu spießig, zu fanatisch, autoritätsgläubig, politisch unkorrekt usw.), um dann eine Verteidigung zu schreiben, denn das „ablehnende Bild“, das man heute von Luther zeichne, stimme nicht: „Nicht Fakten folgt es, sondern ideologischen Deutungsmustern.“ Luther sei nicht „von gestern“, vor fünfhundert Jahren habe er „Fragen beantwortet, denen wir uns heute wieder stellen müssen“. Das in drei Teile gegliederte Buch thematisiert die bedrückenden Jahre des jungen Luther, dann die reformatorische Entdeckung und schließlich die Sicherung und den Aus-

CIG BÜCHER Nr. 43 / 2016

bau der reformatorischen Errungenschaft. Köhler hat eine flotte, journalistische Schreibe. Er schaut auf Luther auch mit einem philosophischen Blick und bietet gewinnbringende Ausflüge zum mittelalterlichen Nominalismus (Wilhelm von Ockham), zur Scholastik und in die Mystik und zieht auch Linien zu Descartes oder zur Psychologie Freuds. Entschieden verteidigt Köhler zwei zentrale und wissenschaftlich umstrittene Auftritte Luthers mit durchaus guten Gründen: Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche von Wittenberg und Luthers Worte vor dem Kaiser und den versammelten Fürsten auf dem Reichstag in Worms 1521: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“

Luther, der Ketzer Wer eine andere Lesart des Konflikts zwischen Luther und Rom will, greife zu dem Werk von Volker Reinhardt (6). Er bricht die protestantisch dominierte Forschung auf und beurteilt die Reformation unter Auswertung bisher vernachlässigter Quellen aus der Sicht der italienischen Gegenseite (der Umschlagtext „Geheimakte Luther – Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah“ ist dabei überzogen). Der in Fribourg lehrende Professor scheint geradezu erbost zu sein angesichts gängiger Reformationsdarstellungen, „die der Selbstinszenierung Luthers sehr nahe“ kommen. Der römischen Seite bleibe nur „die undankbare Rolle des arroganten Möchtegern-Lehrmeisters“. Die theologische und kulturelle Position Roms schrumpfe unter diesem Blickwinkel grotesk. Reinhardt bietet ein ausgewogeneres Bild an als Resultat einer „gleichberechtigten Simultanerzählung“, indem er etwa die Berichte über Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag und dessen Deutungen von evangelischer wie katholischer Seite gegenüberstellt. Zweitens sieht er in dem Konflikt in erster Linie nicht ein theologisches, auch nicht vornehmlich ein politisches Problem, sondern in der Hauptsache ein kulturelles, ein Problem verschiedener Mentalitäten. In den Augen der Römer saßen nördlich der Alpen unzufriedene und ungehobelte Deutsche, aufgewiegelt von Luther, dem hässlichen Deutschen, wohingegen das Renaissance-Papsttum Hort des Humanismus, verfeinerter Sitten und der veredelten Sprache gewesen sei. Im Epilog zieht Reinhardt das Fazit: Die theologischen Differenzen seien bis heute nicht die entscheidenden kirchentrennenden Faktoren (die Rechtfertigungslehre sei schon damals nicht verstanden worden), es seien nach wie vor Mentalitätsunterschiede zwischen Nord- und Südeuropäern. Nach den „Demokratisierungswellen des 20. und 21. Jahrhunderts“, die alle zu Gleichen gemacht habe, spiele die Prädestinationslehre nicht einmal auf protestantischer Seite mehr eine Rolle, genauso wenig wie Luthers anthropologischer Pessimismus noch geteilt werde angesichts des heutigen „sozialpolitischen Aktionismus“ und eines pädagogisch geforderten und humanistisch geprägten positiven Menschenbildes.

Luther, der Mystiker Volker Leppin (7) gehört in der Riege aktueller Luther-Autoren zu den Desillusionisten. „Dass Luther als Mensch des Mittelalters aufwuchs, daran zu denken fällt nicht leicht, wenn er immer wieder als Begründer der Neuzeit beschworen wird, erst recht im

Literaturbericht: Reformationsgedenken 473

Vorfeld des Reformationsjubiläums. Es feiert sich leichter, wenn der Glanz eines Jubiläums auf einen verkappten Zeitgenossen fällt, als wenn man sich mühsam mit einem fernen Fremden auseinandersetzen muss“, schreibt der Tübinger Kirchenhistoriker in der Einleitung seines Buches: „Doch es hilft nichts: Luther ist uns Heutigen fremd.“ Leppin zeigt, wie sehr der Reformator dem Mittelalter verhaftet war. Insbesondere der Mystik, einer religiösen Richtung, die mit dem Protestantismus meist überkreuz lag. Luthers Zieh- und Beichtvater Johann von Staupitz war ein Repräsentant der stark von Meister Eckhard und Johannes Tauler beeinflussten Devotio moderna, einer Frömmigkeitsrichtung, die auf Verinnerlichung und eine existenzielle Aneignung von Glaubensinhalten abzielte. Diese Abwendung von der scholastischen, vor allem auf Logik und Abstraktion beruhenden, diskursiven Art, Theologie zu treiben, hin zu einer auf Erfahrung basierenden, ganzheitlicheren Theologie ist für Luther wesentlich. Luther selbst brachte in jungen Jahren gleich zwei Mal die mystische Erbauungsschrift „Theologia deutsch“ heraus. Während dieser Zeit vollzog Luthers Denken eine „worttheologische Wende“, wie Leppin im zentralen fünften Kapitel schreibt. Die Wende nach innen, zur religiösen Erfahrung hin, wurde ergänzt durch den humanistischen Zug, sich den ursprünglichen Quellen, sprich der Bibel, zuzuwenden. Zur Innerlichkeit kam das äußere Wort dazu, zumal das Heil allein darin, nämlich in Christus, also extra nos, außerhalb unserer selbst, lag: „Die Transformation der Mystik hin zur reformatorischen Theologie“ hatte begonnen.

Luther, der Nachhaltige Wer es weniger theologisch mag, dafür aber mit halboriginellen Thesen für den Kaffeetratsch munitioniert sein will, ist bei der Berliner Publizistin Christine Eichel (8) richtig. Warum sind die Deutschen fleißig, lesebegeistert, sparsam, engagiert, untertänig usw.? Klar, wegen Luther! Ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, unzureichend in der historischen Herleitung ihrer Beobachtung und sehr assoziativ beschreibt die Autorin, welche mentalitätsgeschichtlichen Folgen der Reformation sie für das Deutschsein heute sieht, dabei teils amüsant, teils sogar inspirierend und immer treffsicher auf Klischee-Kurs.

Luther, der Franziskus-Flüsterer Walter Kasper (9) hat ein Büchlein herausgegeben, in dem der früher für die Förderung der Einheit der Christen zuständige Kurienkardinal versucht, Luther für die Ökumene zu verhaften, obgleich er dem Reformator ausdrücklich bescheinigt, kein „Ökumeniker“ zu sein. Das katholische und das evangelische Kirchen-, Sakraments- und Amtsverständnis sind nach wie vor nicht vereinbar. Kasper beklagt, dass „der Schwung der Ökumene des 20. Jahrhunderts inzwischen erlahmt“ sei, „der Rückzug in den Konfessionalismus wäre jedoch eine Katastrophe“. Daher sei die Ökumene neu herausgefordert angesichts einer „säkularen Ökumene“, der die konfessionellen Unterschiede gleichgültig seien und die das Christentum aus dem öffentlichen Bereich zurückdrängen möchte. Der Ökumeniker Kasper schöpft Hoffnung bei den obersten Autoritäten beider Kirchen: bei Martin Luther und bei Papst

Franziskus. Das neue Kirchenverständnis von Franziskus komme der Ökumene entgegen: eine Volk-Gottes-Ekklesiologie und die synodale Struktur der Kirche. Auch gehe der Papst in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ vom Evangelium aus (und nicht von Glaubenssätzen) und fordere nicht nur eine Bekehrung des einzelnen Christen, sondern auch des Episkopats und des Primats. „Damit steht unausgesprochen das ursprüngliche Grundanliegen Luthers, das Evangelium von der Gnade und Barmherzigkeit und der Ruf zu Umkehr und Erneuerung, im Mittelpunkt.“ Auf protestantischer Seite sei an den „reifen Luther“ zu erinnern und dessen „grundsätzliche Offenheit für den historischen Episkopat“. Auch seien die „mystischen Aspekte Luthers“ ernstzunehmen, die Gesprächsmöglichkeiten eröffnen könnten.

Luther, der Katholik War Luther katholisch – und die katholische Kirche seiner Zeit war es nicht? Was ist überhaupt katholisch? Die Tübinger Wissenschaftlerin Daniela Blum (10) verfolgt einen interessanten Ansatz, indem sie „den Reichtum, die Verhängnisse und die Bandbreite“ der Beziehung Luthers zu Katholiken aus verschiedenen Epochen aufzeigt. In der Reihe prägender Köpfe von Luthers Beichtvater Johann von Staupitz über den Mystiker Johannes Tauler, den Ordensgründer Bernhard von Clairvaux, den Kirchenlehrer Thomas von Aquin (in dem Kapitel ein sehr schöner Abschnitt zur Frage: Was meint eigentlich Rechtfertigung?) zurück bis zum Kirchenvater Augustinus vermisst man den Nominalisten Wilhelm von Ockham, den Hauptvertreter der Via moderna, dem auch Luther über Staupitz anfänglich anhing. Als Widersacher Luthers begegnen in Blums Buch der Ablassprediger Johannes Tetzel, der Ablassverfechter Silvester Prierias, der päpstliche Gesandte Thomas von Cajetan, der Luther in Augsburg im Namen des Papstes aufforderte, zu widerrufen, und der Ingolstädter Theologe Johannes Eck, der Luther während der Leipziger Disputation schlecht aussehen ließ. Im dritten Teil stellt Blum vier katholische Theologen vor, die für die Lutherrezeption auf katholischer Seite prägend waren: Luthers Zeitgenossen und erbitterte Gegner Johannes Cochlaeus, Ignaz Döllinger, den Kirchenrechtler aus dem 18. Jahrhundert, den Vatikanarchivar Heinrich Denifle, der Anfang des 20. Jahrhunderts der auf evangelischer Seite boomenden Lutherforschung Schönfärberei vorwarf, und den 2014 gestorbenen Otto Hermann Pesch, dessen „Hinführung zu Luther“ von 1982 gerade in einer vierten erweiterten Neuauflage mit einem Vorwort von Volker Leppin erschienen ist. In seiner Doktorarbeit verglich Pesch Luther akribisch mit dessen größtem theologischem Opponenten: dem Scholastiker Thomas von Aquin. Die beiden unterscheiden sich laut Pesch zwar grundlegend in ihrer Art, Theologie zu treiben – Luthers existenzieller Ansatz stand der „sapientialen Theologie“ des Aquinaten entgegen –, doch bezüglich des zentralen reformatorischen Anliegens, der Rechtfertigungslehre, unterschieden sie sich in der Sache nicht. Pesch, der später als katholischer Theologe an der Universität Hamburg einen evangelischen Lehrstuhl bekommen sollte, ging so weit zu fordern, die katholische Theologie dürfe

Luther nicht „kampflos“ der evangelischen Theologie überlassen. Wer einen größeren historischen Überblick gewinnen will, sei auf die folgenden zwei lesenswerten Bücher hingewiesen.

Luther, der Geschichtsmächtige Der Göttinger Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann (11) legt eine Geschichte der Reformation vor, in der Luther nur eines von sechs Kapiteln einnimmt. Bei Kaufmann ist viel über die ökonomischen Verhältnisse um 1500 zu erfahren, über die ständische Gesellschaft, die Revolution des Buchdrucks usw. Er wirft dann einen Blick auf die Auswirkungen des lutherschen Kampfes auf Europa: die Entwicklung in der Schweiz unter Johannes Calvin, in Italien, Frankreich und Spanien, im lutherischen Nordeuropa, im anglikanischen England und auf die schottische Reformation unter John Knox. Er untersucht die Transformation des römischen Katholizismus auf dem Konzil von Trient und fragt dann: Welche Bedeutung hat die Reformation für die Aufklärung und die Französische Revolution? Bis hin zu der Frage, wie die Reformation in der DDR und in der BRD bis 1990 rezipiert wurde. Laut Kaufmann war die Reformation nur durch eine einzigartige historische Konstellation möglich, etwa durch die antirömischen Affekte vieler deutscher Fürsten, einen expansionistischen Kaiser, die Endzeitängste angesichts der Türkengefahr, die Massenmedien und die zunehmende Vernetzung von Kaufleuten und Universitäten. Dies alles erinnert an das überragende Werk des Profanhistorikers Heinz Schilling: „Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs“ von 2012. Kaufmann und Schilling sehen in Luther nicht den Heros, der nach traditionell protestantisch geprägtem Geschichtsverständnis die Reformation als eigene, revolutionäre Geschichtsepoche begründete, sondern ordnen ihn ein in eine breit angelegte europäische Phase der Reformbemühungen zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert.

Luther, der Spalter Tillman Bendikowski (12) beschreibt den Dauerkonflikt zwischen Katholiken und Protestanten im religiös tief gespaltenen Deutschland als Resultat der Reformation: vom Dreißigjährigen Krieg über die geteilte Gesellschaft im Kaiserreich (Kulturkampf) bis hin zu säkularen Heilsversprechen in Form von Sozialismus und Nationalsozialismus. Spannend zu lesen sind die Feindseligkeiten zwischen Vertretern beider Konfessionen nach Gründung der Bundesrepublik. Für die Katholiken blieben die Evangelischen bis tief ins 20. Jahrhundert hinein Sektierer, Ungläubige, Ketzer. Umgekehrt waren die Katholiken für die Protestanten abergläubische Papisten und Relikte aus dem Mittelalter. Bendikowski zeigt, wie dieser Grundkonflikt Alltag und Politik tief geprägt hat und wie es selbst innerhalb der Konfessionen immer wieder zu Fremdheitserfahrungen kam, wenn etwa im katholischen Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg befürchtet wurde, dass der Zuzug von sudetendeutschen Katholiken den Einzug des „religiösen Bolschewismus“ in die konservativ-ländlichen Gemeinden bedeutete. Oder wenn Vertriebene aus den östlichen altpreußischen Provinzialkirchen in reformierte oder unierte Landeskirchen integriert werden mussten.

474 Geschichte

Nr. 43 / 2016 BÜCHER CIG

Der Diplomat der Reformation Ein Mann des Geistes, ein Mann der Bildung, aber vielfach vergessen: Philipp Melanchthon

D

ie deutschen Protestanten lieben ihren Martin Luther. Doch ohne den aus Bretten stammenden Wittenberger Philipp Melanchthon wäre die Reformation steckengeblieben. Oder sie hätte sich bis zur Bedeutungslosigkeit zersplittert. Zum Gedenkjahr hat der Theologe und Philologe Heinz Scheible, Gründer der Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, seine in den neunziger Jahren erschienene Biografie überarbeitet und ergänzt. Das Standardwerk veranschaulicht vor allem anhand Melanchthons immensen Briefwechsels die reformatorischen Auswirkungen auf Politik und Religion über ein halbes Jahrhundert hinweg. Scheible erzählt von Melanchthons Studienweg, beschreibt seine bildungsreformerische Tätigkeit an der Universität Wittenberg und – beratend – in weiteren Städten, seine unermüdlichen gutachterlichen Aktivitäten für Religionsgespräche und Reichstage, um wenigstens ein Minimum an Verständigung zu erreichen, was selbst innerevangelisch oft nicht gelang. Es war ein mühseliges Unternehmen, auseinanderdriftende Ansichten zwischen „Rechts-“ und „Linksauslegern“ Luthers zu sammeln, auf ein halbwegs akzeptiertes Fundament zu stellen, verbunden mit viel Frustration(stoleranz), Beleidigungen

und Angriffen von verschiedensten Seiten. Scheible erwähnt sehr viele Namen, oft nur kursorisch, um daran den Kommunikationsfleiß sowie die rege innerdeutsche Reisetätigkeit Melanchthons kenntlich zu machen. Die mit dem Kurfürsten abgestimmten Initiativen, womöglich doch zu einer Einigung mit den katholischen Reichsständen, dem Kaiser und dem Papst zu kommen – in der Hoffnung auf ein Konzil –, blieben letztlich erfolglos. Die Reise der evangelischen Delegation nach Trient war 1552 bereits in Nürnberg wegen kriegerischer Aktivitäten der Fürsten beendet. Melanchthon hat in unzähligen Anläufen stets von Neuem begonnen, das reformatorische Programm aus den biblischen Quellen zu erläutern, Positionen zu klären, Kompromisse vorzuschlagen, manchmal bis zur Preisgabe eigener Einsichten, etwa bei der Confessio Augustana von 1530, der grundlegenden Bekenntnisschrift der lutherischen Kirchen. Das verwickelte ihn in Widersprüche, brachte ihm den Vorwurf der Leisetreterei, ja des Verrats ein. Scheible erwähnt Luthers Unmut über Melanchthon, aber auch Melanchthons Ärger über Luther, was „zwischen den Zeilen“ in einem Brief formuliert ist und von scharfmacherischen Gegnern Melanchthons ausgeschlachtet wurde. Er war ein Hochgelehrter der universalen Art, aber auch eine tragische Gestalt, ein Mann, der um der Einigung willen hinter manches zurücktrat, was er selber zur Erneuerung des Glaubens bevorzugte.

Schwert Gideons

Die innerreformatorischen Spaltungen und Abspaltungen – etwa Zwingli in Zürich, die Wiedertäufer, die schwärmerische Bauernkriegsbewegung eines Thomas Müntzer – haben ihm schwer zu schaffen gemacht, ihn um der Ordnung willen sogar die Todesstrafe bejahen lassen. Das Buch zeigt, welches geistige Gravitationszentrum in Wittenberg entstanden war. Mit den anderen – katholischen – Gravitationszentren im Habsburgerreich und in Rom fand es nicht zusammen. Was hätte daraus reformkatholisch schon vor der Aufklärung entstehen können! Leider beschreibt der Autor kaum den inneren, spirituellen Weg Melanchthons. Dessen Theologie bleibt in dem Buch blass, eher summarisch gegen Schluss zusammengefasst. Melanchthon war als Diplomat der Reformation ein – wie man heute sagen würde – Networker. Ein Epigone Luthers war er jedenfalls nicht. Mit mehr Melanchthon und weniger Luther hätte das evangelische Anliegen mehr gewinnen können. Nicht ohne Grund haben katholische Gelehrte um Melanchthon geworben. Selbst die kontroversesten Diskutierenden auf katholischer Seite haben ihn geachtet. Das Jahr des Reformationsgedenkens sollte den Bildungsmenschen Melanchthon nicht unterschlagen. Johannes Röser

M

Heinz Scheible Melanchthon Vermittler der Reformation. Eine Biographie (Verlag C. H. Beck, München 2016, 445 S., mit 25 Abb., 28 €)

Siegfried Bräuer, Günter Vogler Thomas Müntzer Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie (Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, 542 S. mit zahlreichen Abb., 58 €)

it Siegfried Bräuer und Günter Vogler begeben sich ein Theologe und ein Historiker auf den Weg, das Leben des 1489 in Stolberg / Harz geborenen Seelsorgers und Mitstreiters im Bauernkrieg Thomas Müntzer darzustellen und Stereotype quellenkritisch zu überprüfen. Auch wenn es kaum möglich erscheint, Müntzers individuelle Seite zu beschreiben, steht außer Frage, dass er Theologie studiert hatte, ehe er 1513 zum Priester geweiht wurde. In dieser Existenzform fand er sich bald in der Position, Proteste der „kleinen Leute“, für ihn das eigentliche Gottesvolk, aufzunehmen und zum Streiter für ein endzeitliches Reich des Herrn schon auf Erden zu werden. „Nach Luther hat Gott die sündigen Menschen allein aus Gnade erlöst, während Müntzer der Auffassung ist, wer der Gnade Gottes gewiss sein wolle, müsse dem ‚bitteren Christus‘ folgen.“ Das brachte Müntzer in Konflikt mit Luther, der die Landesherrn nach tumultartigen Auseinandersetzungen mit Aufständischen dazu aufrief, „wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ vorzugehen. Bei Frankenhausen sammelte Müntzer, der sich jetzt „Schwert Gideons“ nannte, 1525 sein Bauernkriegsheer. Der „Endkampf “ kostete 5000 Anhängern das Leben; Müntzer wurde hingerichtet. Thomas Brose

Kann der Islam reformiert werden? Bereits in 5. Auflage! Themen dieses Streitgesprächs sind Gewalt und Friedfertigkeit im Islam, die Rolle Mohammeds und die Herausforderung des sogenannten Islamischen Staats. Überzeugen die neuen Ansätze islamischer Theologie über Gott und den Menschen? Und welche Rolle werden Muslime in Zukunft in der deutschen Gesellschaft spielen können? Zwei prominente Publizisten diskutieren, ohne einander zu schonen, über den Weg des Islam in die Zukunft. Ein Muss für jeden, der die aktuelle Debatte um den Islam und unsere Gesellschaft verfolgt.

Im Dialog über Glauben und Unglauben 2DHSDM[&DATMCDM LHS2BGTSYTLRBGK@F b6)Ub>$@ (2!-ææææ

In allen Buchhandlungen oder unter www.herder.de

Anselm Grün und Tomáš Halík erörtern, ausgehend von ihren eigenen Gotteserfahrungen, die Facetten des Glaubens und Unglaubens. Denn Fragen gehören dazu, wenn man sich ein eigenes Bild von Gott machen will. Anselm Grün, Tomáš Halík, Winfried Nonhoff (Hg.) Gott los werden? Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen 206 Seiten, € 19,99, ISBN 978-3-7365-0030-3

www.vier-tuerme-verlag.de

CIG BÜCHER Nr. 43 / 2016

Glauben 475

Welt im Glauben

M

Wie ein „Bild“-Journalist glaubt

Zweifel reinigt

an darf sich durch den Untertitel nicht täuschen lassen: Das neue Buch von Rolf Bauerdick ist alles andere als eine systematische „Verteidigung“ des Glaubens, wie man sie aus der Theologie kennt. Vielmehr geht der Journalist, Fotograf und Roman-Autor – CIG-Lesern von vielen Bild-Reportagen her gut bekannt – als neugieriger und kundiger Beobachter und Beschreiber an sein Thema heran. Früher hätte man vielleicht gesagt: als Flaneur. Dass er darin ein Meister ist, beweist Bauerdick seit dreißig Jahren. So lange schon fährt er in die Welt und hält fest, was er sieht. Dafür hat er viele Preise erhalten. Auch in dieses Buch haben Reportage-Reisen Einzug gehalten, etwa zu den „Müllmenschen“ in Mexiko, zu Pfingstlern in den Appalachen oder zu einem Exorzisten in Rumänien. Zudem erzählt Bauerdick von seiner Glaubensgeschichte. All das gipfelt in essayistischen Beiträgen über das Wesen von Religion. Das Ganze hat Substanz, schließlich hat der Autor Theologie studiert. In jedem Fall ist es sprachlich brillant, und es gibt viele geistreiche Bezüge, die quer zum Mainstream stehen. Deshalb wird der Leser auch über manche Selbstverliebtheit und einen stellenweise religiös konservativen Zungenschlag gern hinwegsehen. Stephan Langer

I

Rolf Bauerdick Wenn Gott verschwindet, verschwindet der Mensch Eine Verteidigung des Glaubens (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016, 334 S., 19,99 €)

Anselm Grün, Tomáš Halík, Winfried Nonhoff Gott los werden? Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen (Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2016, 206 S., 19,99 €)

ch glaube. Hilf meinem Unglauben!“ Der Ruf aus der Tiefe des Zweifels im neunten Kapitel des Markusevangeliums steht gerade nicht für eine scharfe Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Er steht für die eigenen Zweifel derer, die sich um die Nachfolge Christi mühen. Glaube und Unglaube wohnen in jedem Christen. Der Benediktiner Anselm Grün und der Prager Theologe, Religionssoziologe und Priester Tomáš Halík sehen den Atheismus nicht als Gottlosigkeit im Sinne einer Ablehnung Gottes, sondern als Ablehnung einer bestimmten Vorstellung von Gott. Das Gottesbild ist so vielgestaltig wie das Leben, wie die einzelnen Lebensgeschichten. Die Begegnung mit dem Atheismus in der Gestalt von Gleichgültigkeit, Desinteresse, schlichter Unkenntnis oder Ablehnung, Aggressivität und Fanatismus muss darum auch immer eine persönliche sein. Grün, aus einer katholisch geprägten Familie stammend, und Halík, unter der „Staatsreligion des Atheismus“ in der Tschechoslowakei aufgewachsen, greifen auf ihre je eigene Lebens- und Glaubensgeschichte zurück. Wer die eigene Gottverlassenheit kennt und annimmt, kann jenseits erzwungener Apologetik die reinigende Wirkung des Zweifels erkennen. Christina Herzog

A

ls Mitglied der „Bild“-Chefredaktion hat Daniel Böcking Aufsehen erregt mit seinem eindrucksvollen Bekenntnis, Christ zu sein. Der Autor leugnet nicht, dass seine Gottesbeziehung anfangs eine untergeordnete Rolle spielte. Zudem habe er sich seinen Gott und dessen Gebote so zusammengeschnitzt, dass sie ihn stets rechtfertigten. Er, der sein Leben als durchweg gelungen und erfolgreich bezeichnet, beginnt nach einem Gespräch mit seiner Frau sowie der Konfrontation mit Leid und Tod, über sich sowie die Bedeutung des Gebets nachzudenken. Fortan macht sich Böcking auf die Suche nach Menschen, mit denen er über den Glauben reden kann. Von diesen fühlt er sich in seinem Glaubensweg immer mehr getragen. Neben dem ständigen Austausch wird für ihn die Bibel immer bedeutsamer.

Der Leser wird hineingenommen in den Wunsch, das Leben auf Gott und seine Botschaft auszurichten. Ein Prozess, der dem Autor nicht immer gelingt. Für den einen oder anderen Leser mag es an einigen Stellen ein wenig zu euphorisch sein, insgesamt allerdings ist es ein interessanter und gut zu lesender Beitrag einer sehr persönlichen Glaubensgeschichte. Zudem ist es ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass sich die Gottesbeziehung allein im Gespräch, im Austausch mit anderen festigen und entwickeln kann. Martina Ahmann Daniel Böcking Ein bisschen Glauben gibt es nicht Wie Gott mein Leben umkrempelt (Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, 223 S., 17,99 €)

Tonkunst existenziell

M

usik wird oft nur oberflächlich gehört. Das ist typisch für eine Zivilisation, die Technologie und Ökonomie über das Künstlerische stellt. Der tiefere Grund dafür mag in der Aufspaltung der das Leben tragenden Pole liegen: Affekt und Intellekt, Gefühl und Verstand, Ton und Sprache. Der Komponist Hans Zender versucht, die scheinbaren Gegensätze zu verbinden, ausgedrückt etwa mit dem Begriff „das Erhabene“ (Kant) oder „Logos“ (Joh 1), was dem Dasein tieferen Sinn verleiht. Dazu ist eine Auswahl von Ta-

gebucheinträgen, Gesprächen und Essays zusammengestellt. Sie beschreiben die E-Musik in der „Metamoderne“ und durchdringen ihr Wesen philosophisch und theologisch. Wenn die Tonkunst existenziell Wertvolles vermitteln soll, muss man sich um ihr Verständnis bemühen. Es lohnt sich. Eckhard Jaschinski Hans Zender Denken hören – Hören denken Musik als eine Grunderfahrung des Lebens (Verlag Karl Alber, Freiburg 2016, 160 S., 20 €)

Umkehr nicht predigen, sondern leben »Seit ich Jehuda Bacon begegnet bin, lebe ich anders, mein Leben ist heller geworden.«

Umkehr nicht nur predigen, sondern leben: das ist die Botschaft des Bestsellerautors Martin Werlen. Leben, was wir sagen, was wir beten, was wir feiern. Umkehr hat weder was mit liberal noch mit konservativ zu tun, wie viele meinen und damit Umkehr gerade verhindern. Umkehr hat zu tun mit dem Wesentlichen unseres Glaubens: mit Glaubwürdigkeit.

Manfred Lütz

192 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag € 19,99 / SFr 26.90 / € [A] 20,60 ISBN 978-3-451-37556-9

Neu in allen Buchhandlungen oder unter www.herder.de

192 Seiten / geb. mit Schutzumschlag € 16,99 (D) € 17,50 (A) / CHF* 22,90 ISBN 978-3-579-07089-6

Erleben Sie Jehuda Bacon im Gespräch mit Manfred Lütz – hier geht es zum Trailer

Auch als E-Book erhältlich GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

www.gtvh.de

476 Gesellschaft

Nr. 43 / 2016 BÜCHER CIG

Psychologen

M

In Ehrfurcht belebt

Historiker

an kann dieses Buch entweder als Nachschlagewerk benutzen oder mit ihm die Entwicklung psychologischer Einsichten verfolgen. Helmut E. Lück wählte eine chronologische Anordnung, um deutlich werden zu lassen, welche Verbindungen zwischen den Psychologen bestehen, wie sie Forschungsergebnisse aufnahmen und weiterentwickelten. So kann man verfolgen, wie die Psychologie aus der Philosophie heraus zu einem gewichtigen Zweig am Baum humanwissenschaftlichen Denkens wuchs. Jedes Kapitel bietet eine kurze Biografie und eine knappe Darstellung des wissenschaftlichen Lebenswerks. Manchmal gelingt es dem Autor, die Verbindung zwischen Leben und Werk eindrucksvoll sichtbar zu machen, etwa bei Erik H. Erikson. Dessen zentrale Frage nach der Identität ist seiner lebenslangen Suche nach der eigenen Identität zu verdanken. Bemerkenswert ist der große Anteil jüdischer Persönlichkeiten. Der Leser erfährt auch interessante Einzelheiten, die nicht so bekannt sind, zum Beispiel dass der Schriftsteller Günter Anders ein Sohn von William Stern war. Lück nennt in jedem Kapitel weiterführende Literatur, die man in dem umfangreichen Verzeichnis am Schluss des Buches aufgelistet findet. Helmut Jaschke

D

Helmut E. Lück Die psychologische Hintertreppe Die bedeutenden Psychologinnen und Psychologen in Leben und Werk (Verlag Herder, Freiburg 2016, 448 S., 24,99 €)

Jörg Ernesti, Gregor Wurst (Hg.) Kirchengeschichte im Porträt Katholische Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts (Verlag Herder, Freiburg 2016, 314 S., 34,99 €)

er vorliegende Sammelband erläutert Kirchengeschichte anhand derer, die sie beschreiben. Denn die Blicke der Forscher führen bei der Geschichtsschreibung wesentlich Regie. Ausgewählt worden sind 22 Personen von Ludwig Pastor, geboren Mitte des 19. Jahrhunderts, bis Erwin Gatz und Karl Suso Frank, beide geboren 1933, und Norbert Brox, geboren 1935; außerdem Spezialisten unterschiedlicher Epochen und Themen. Fünf Franzosen (Aubert, Chenu, Daniélou, Madec und Marrou) werden vorgestellt und zwei Italiener (Alberigo und Martina). Dabei ist interessant, wer wo gelesen wird, Martina übersetzt Aubert, Jedin gewinnt Aubert als Autor, aber Martinas grundlegende Arbeit über Papst Pius IX. ist nicht ins Deutsche übersetzt. In ihr wird Pius IX. in seine Zeit eingeordnet, so dass man viel über das Italien des 19. Jahrhunderts und seinen Katholizismus erfährt. Einer solchen Geschichtsschreibung voraus liegt die Auffassung, dass die Biografie keines Menschen angemessen geschrieben werden kann, ohne auf die Kräfte einzugehen, die ihn beeinflussten, seien es ideelle oder institutionelle. Wie im realen Leben diktiert der Verdacht die Detektivarbeit. Einblicke gewährt das vorliegende Buch. Barbara Henze

D

ie Ehrfurcht hat nicht gerade einen guten Ruf. Sie steht für Kleinhalten und Ducken, für Unmündigkeit, Verängstigung und blinden Gehorsam. Allzu oft wurde mit dem Zwang zur Ehrfurcht Schindluder getrieben: in der Kirche, in Diktaturen, in autoritären Strukturen jeder Art. Der Religionspädagoge Anton A. Bucher bricht eine Lanze für eine scheinbar altmodische Haltung. Ehrfurcht sei nicht Erniedrigung, sondern Erhebung des Einzelnen und stärke damit die Seele und die Lebenskraft. Immerhin schrieb kein Geringerer als Albert Einstein: „Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.“ Ehrfurcht lässt sich in Naturerlebnissen erfahren, beim Einlassen auf Kunst, Musik

oder im Erleben Gottes. Viele Künstler haben Momente der Ehrfurcht. Sie kann ein Gefühl der Ergriffenheit sein, der Unendlichkeit, der Erhabenheit und Ewigkeit, der Freiheit, des Respekts. Dabei ist sie mehr ein erfüllendes Gefühl als ein Gedanke, zwar auch ein Stück Furcht, die aber nicht lähmt, sondern anregt zu schweigen und zu staunen. Bucher durchleuchtet die Facetten der Ehrfurcht. Er macht vor allem deutlich, dass Menschsein ohne Ehrfurcht ein tragisch blutleeres Dasein bedeutet. Elena A. Griepentrog Anton A. Bucher Ehrfurcht Psychologie einer Stärke (Patmos Verlag, Ostfildern 2016, 159 S., 16,99 €)

Wie Moral entsteht

A

usgehend von Beobachtungen an Menschenaffen und Kleinkindern und anhand sozialpsychologischer Studien erklärt der Verhaltensforscher und Anthropologe Michael Tomasello, wie sich Moral seit dem Frühmenschen entwickelt haben könnte. Moral bedeutet kooperatives Verhalten. So handeln zwar auch andere Primaten, Menschen jedoch in einzigartiger Weise. Der Verfasser unterscheidet zwei Entwicklungsstufen. Die erste ist jene der Kleinstgruppe (Eltern/Kind), gekennzeichnet durch Mitgefühl. Auf der zweiten Stufe tritt altruistisches Verhalten mit zunehmen-

der Gruppengröße zurück. Kooperation wird nunmehr bestimmt durch (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Dazu stellt die Gruppe Regeln auf, deren Verletzung geahndet wird. Menschenkinder lernen die Regeln über ihre Bezugspersonen. Beobachtungen an Ein- bis Dreijährigen legen nahe, dass es auch eine biologische Veranlagung zu moralischem Handeln gibt. Norbert Jachertz Michael Tomasello Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral (Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 282 S., 32 €)

Das Sachbuch zum mittelalterlichen

Ablasswesen Hier werden die tief sitzenden Vorurteile rund um den historischen Ablass auf den Prüfstand gestellt und der Leser mitgenommen auf eine Entdeckungsreise in das Management des Jenseits im Diesseits. Der Band zeichnet die Entstehung von Ablass und Ablasswesen im Hochmittelalter sowie die Blütezeit in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit nach und zeigt auf, wie ein aus dem Ruder gelaufenes Ablasswesen eine der Ursachen für die Reformation wurde und dennoch in der katholischen Kirche bis in die Gegenwart überdauerte.

Christiane Laudage Das Geschäft mit der Sünde Ablass und Ablasswesen im Mittelalter 352 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag € 24,99 SFr 32.50 / € [A] 25,70 ISBN 978-3-451-31598-5

Neu in allen Buchhandlungen oder unter www.herder.de

478 Bücher der Gegenwart

Nr. 43 / 2016 CIG

Jesuiten: Glaube und Macht Verehrt und geschmäht, gefördert und verboten – die Gesellschaft Jesu in Geschichte und Gegenwart.

D

er Historiker Markus Friedrich erzählt die facettenreiche Geschichte des Jesuitenordens sehr lebendig. Viele biografische Episoden einzelner Jesuiten verwebt er in vier Hauptkapiteln zu einem Ganzen. Diese handeln vom Innenleben des Ordens und seinen Strukturen, von seinem Verhältnis zu den Kirchen (in konfessioneller Spaltung) und zu den Gläubigen, von den Jesuiten „in der Welt“ und ihren weltumspannenden Aktivitäten. Ein fünftes Kapitel ist der „Welt ohne Societas Iesu“ gewidmet – der Phase der Anfeindung, der Aufhebung und des Neubeginns. Der Epilog beleuchtet kurz den Orden in der Moderne. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahrhunderten der Ausbreitung. Die spirituellen Grundlagen werden ebenso beschrieben wie das Erfolgsrezept einer straffen Führung durch ein weltumspannendes Berichtswesen und eine höchst effiziente Verwaltung. Ob in Seelsorge, Mission, Schule oder Wissenschaft: Die Ordensmitglieder erwiesen sich intellektuell und kulturell stets als „anschlussfähig“. Ihr Pragmatismus war einer der Schlüssel ihres Erfolgs. Der Band zeigt die Suche des Ordens nach seiner Position innerhalb der europäischen Geistes- und Theologiegeschichte der frühen Neuzeit, zugleich auch seinen Einfluss auf diese. Dabei beleuchtet Friedrich immer wieder auch abweichende Positionen,

die Vielfalt von Meinungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten innerhalb des Ordens. Schließlich wird deutlich, wie die Jesuiten nach einer jahrhundertelangen Erfolgsgeschichte selbst „Opfer ihres Erfolges und ihrer typischen Handlungsweise“ wurden, wie der Orden als Ganzes „zum Symbol und zum Schuldigen“ verschiedenster Fehlentwicklungen in Kirche, Politik und Gesellschaft wurde. Das führte in welt- und kirchenpolitischen Verwicklungen zur Aufhebung des Ordens 1773. Wenngleich der Autor der Anfeindung, der Aufhebung und der Wiederbegründung sowie der Ankunft des Ordens in der Moderne „nur“ knapp 100 Seiten widmet, sind diese doch weit mehr als ein Nachklang. Sie zeugen vielmehr von der ungebrochenen Dynamik des an Zahl größten Männerordens der katholischen Kirche und von der Faszination, die von ihm ausgeht. So lenkt der Blick in die Geschichte die Neugier nicht zuletzt auch auf die Zukunft der Gesellschaft Jesu. Ob jedoch ein „in Stil und Frömmigkeit, Theologie und Auftritt zeitgemäß auftretender Jesuitenorden… auch im 21. Jahrhundert eine große Rolle spielen“ kann, scheint angesichts des kontinuierlichen Rückgangs der Mitgliederzahlen eher ungewiss. Norbert Schwab Markus Friedrich Die Jesuiten Aufstieg, Niedergang, Neubeginn (Piper Verlag, München/Berlin 2016, 727 S. mit 33 Abb. und 3 Karten, 39 €)

Wirklich arm ist …

D

er Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands und Volkswirtschaftler Georg Cremer ist weit davon entfernt, ein „Aufreger“ in aufgeregten Zeiten zu sein. Unter Berücksichtigung zum Beispiel der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als durch das Wirtschaftswunder Armut abgeschafft zu sein schien, der siebziger Jahre und der Ära nach der Wende analysiert er nüchtern und sachorientiert die Ursachen von „Armut in einem reichen Land“. Engagiert fordert er eine „Solidaritätsbereitschaft der Mitte“ für

die armen Schichten ein. Die sähe – so ein Beispiel – vielleicht wieder so aus: Abiturfeiern wie einst in der Schulaula abhalten, nicht mit teuren Roben und kostspieligem Beiprogramm, das sich nur Wohlhabende leisten können. Daniela M. Ziegler Georg Cremer Armut in Deutschland Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? (Verlag C. H. Beck, München 2016, 271 S. mit 7 Abb., 16,95 €)

Christen und die liebe Wirtschaft

K

apitalismuskritik wird gern mit Marxismus gleichgesetzt. Dabei gab es schon in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik alternative Wirtschaftsideen, die sich aus unterschiedlichen Geistesströmungen speisten. Der vorliegende Sammelband stellt verschiedene christlich inspirierte Positionen vor. So kommen etwa neben den Evangelischen Paul Tillich, Georg Wünsch und Karl Barth auch Katholiken wie der Jesuit Oswald von Nell-Breuning und Joseph Höffner zu Wort. In einem zweiten Teil widmen sich die Autoren den christlich geprägten Vorstellungen einer Wirtschafts- und Sozialordnung sowie der Frage nach einer theologischen Begründung des Naturrechts und der gesellschaftlichen Mitbestimmung.

Im Wesentlichen endet die Betrachtung in den fünfziger Jahren, weil ab da die Wirtschaftsordnung weitgehend festgelegt war. Die geschilderten Ideen können für heutige Problemfelder dennoch relevant sein. Fußnoten und Literaturangaben runden die Beiträge ab. Die Lektüre dieser wissenschaftlichen Darstellung braucht politisch-philosophische Vorkenntnisse. Amelie Tautor Matthias Casper, Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter (Hg.) Kapitalismuskritik im Christentum Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik. Reihe: Schriftenreihe „Religion und Moderne“, Bd. 5 (Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016, 434 S., 39,95 €)

N

Die Sonne aus Assisi

och im Kleinsten und Schwächsten das Abbild Gottes sehen – das ist die Botschaft des „überaus temperamentvollen Visionärs“ Franz von Assisi. Plastisch und vielfarbig zeichnet der Religionsphilosoph Gunnar Decker dessen Leben im Kontext seiner Kirche und seiner Zeit. Das einmalige Charisma dieses Einzelnen nahm die Sehnsucht einer ganzen Wendezeit auf – angesichts korrupter Führungseliten, zunehmender Verstädterung und ökonomisch wie kulturell einschneidender Veränderungen. Der Wunsch, „nackt dem nackten Christus zu folgen“, die Ursprünge des Evangeliums zeitgemäß neu abzubilden, hat aktuellen Bezug. Die letzten Seiten widmen sich dem heutigen Franziskus aus Rom, mit einer freilich etwas klischeehaften Skizze zwischen dem „öden“ Bergoglio aus dem faschistischen Argentinien damals und dem „guten“ Verfasser von „Laudato si’“ heute.

Sehr gut informierend über die primären Quellen und belesen in den sekundären, kann Decker die Strahlkraft jener mittelalterlichen Pionierfigur über die Jahrhunderte, etwa in der Dichtung, darstellen. Franziskus hat das Geheimnis der Welt im Licht Christi verwirklicht: Mit-Kreatürlichkeit, Friedfertigkeit, Solidarität mit den Kleinen. Auch die Tragik zwischen Charisma und Institution, die der schwerkranke Franziskus durchzustehen hatte, kommt zur Sprache, ebenso die Entzweiung zwischen „angepassten“ und „spiritualen“ Franziskanern. Eine lohnende Lektüre, der die theologische Vertiefung, etwa durch die Arbeiten von Niklaus Kuster, nicht schadet. Gotthard Fuchs Gunnar Decker Franz von Assisi Der Traum vom einfachen Leben (Siedler Verlag, München 2016, 431 S., 26,99 €)

Das suchende Herz

F

ür viele ist das Tagebuch der holländischen Jüdin Etty Hillesum zu einem Lebensbegleitbuch geworden. Ihre Aufzeichnungen geben Zeugnis von ihrem Weg, der mit 29 Jahren in Auschwitz endete. Weil das Tagebuch jedoch viele Fragen offengelassen hatte, etwa über das Amsterdamer Umfeld, die ängstigende Situation während der deutschen Besatzung, vor allem über den „geistlichen Geleiter“, den „Geburtshelfer ihrer Seele“, wie Etty Hillesum den Psychologen Julius Spier nennt, hat der belgische Jesuit und Patristiker Paul Lebeau (1925–2012) ein Buch über den Reifungsweg der jungen Frau geschrieben. Ihre Entdeckung der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments geht auf die Anregung Spiers zurück. In Holland gibt es viele Veröffentlichungen, in denen die nachgelassenen Schriften Etty Hillesums und Zeugnisse ihrer Freunde gesammelt und herausgegeben wurden. Was das vorliegende Buch

auszeichnet, sind Aufzeichnungen aus der Zeit Etty Hillesums im Sammellager für die holländischen Juden, Westerbork. Diese kluge und immer selbstkritische Etty Hillesum hat das allmähliche Wachsen ihres seelischen Herzbereichs beobachtet, wie sie „einen tiefernsten Dialog mit dem Allertiefsten“ in sich führte. Noch im Lager versuchte sie, ein mitmenschliches Klima zu schaffen und gegen den um sich greifenden Hass vorzugehen. Da der Autor Jesuit war, hat er manchmal Etty Hillesums Spiritualität mit der traditionellen katholischen (vor allem ignatianischen) Ordensspiritualität parallelisiert. Da wäre doch etwas mehr Zurückhaltung wünschenswert. Otto Betz Paul Lebeau Das suchende Herz Der innere Weg von Etty Hillesum (Patmos Verlag, Ostfildern 2016, 335 S., 19,99 €)

Willst du gesund werden?

C

hristen sind vielfältig in psychologischen, therapeutischen, seelsorglichen Beratungen tätig. Jährlich nehmen 100 000 Personen die professionellen Angebote allein der katholischen Kirche in Deutschland in Anspruch. Jene Tätigkeit antwortet auf Jesu Frage: Willst du gesund werden? Der vorliegende Band, der von zwei psychologischen Fachleuten aus Hamburg und Osnabrück zusammengestellt wurde, dokumentiert den „Mehrwert“ einer christ­lich inspirierten Vorgehensweise. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie psychologische wie theologische Sichten vereint, indem sie mit einer offenen Haltung nach Heilung wie Heil sucht. Solche Beratung „fokussiert nicht nur die Kunst der Alltagsbewältigung, auch nicht nur die Behandlung krankheitswertiger Symptome, sondern ist darüber hinaus auch an den existenziellen Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu Mitmenschen und zu Gott orientiert“, schreiben die Herausgeber.

Es kommen Fachleute zu Wort, die mit den seelischen Wunden in unserer Gesellschaft – innerlich wie äußerlich – konfrontiert werden. Auf die Krisen in Familie, Ehe, Beruf, Gesundheit, Alter antworten sie mit Haltungen und Tugenden, die biblisch verbürgt sind und in der modernen Psychotherapie und Beratung zunehmend wieder Beachtung finden: Güte, Neugier, Demut, Trost, Mut oder Vergebung. Das Buch leistet einen wichtigen Dienst fürs interdisziplinäre Gespräch der Seelen-Fachgebiete, und dies gerade in einer Zeit, in der Psychotherapie an Bedeutung gewinnt und Theologie und Glaube gesamtgesellschaftlich an Bedeutung verlieren. Jürgen Springer Bernhard Plois, Werner Strodmeyer (Hg.) Heilsame Haltungen Beratung als angewandte theologische Anthropologie, Reihe: Theorie und Praxis der Beratung, Bd. 3 (Lit Verlag, Münster 2016, 278 S., 34,90 €)