GESICHTER EUROPAS. Kommen, bleiben, wieder gehen Estlands Ein- und Auswanderer

Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 01. Dezember 2012, 11.05 – 12.00 Uhr Kommen, bleiben, wieder gehen – Estlands Ein- und Auswanderer Mit R...
1 downloads 1 Views 96KB Size
Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 01. Dezember 2012, 11.05 – 12.00 Uhr

Kommen, bleiben, wieder gehen – Estlands Ein- und Auswanderer Mit Reportagen von Christoph Kersting Am Mikrofon: Simonetta Dibbern Musikauswahl: Simonetta Dibbern

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar –

Wellen, Wald und eine glänzende Wirtschaftsbilanz. Estland hat eine Menge zu bieten – vielen Esten jedoch reicht das nicht. Sie wandern aus. Offiziell heißt es ja, dass bei uns knapp 1,3 Millionen Menschen leben. Das ist aber einfach nicht wahr! Denn viele, sehr viele von diesen Menschen arbeiten im Ausland, das ist ganz konkret spürbar: Es sind einfach weniger Menschen hier in Tallinn auf der Straße oder in den Geschäften als noch vor einigen Jahren. Vor allem Facharbeiter und Akademiker verlassen ihr Land, weil sie andernorts mehr verdienen können. Doch manche kehren zurück, denn auch für junge Menschen ist Geld nicht alles. Fakt ist: In Estland werde ich nicht reich. Natürlich könnte ich in der Schweiz mehr verdienen, aber solange meine Großeltern noch leben und meine Freunde noch in Estland aktiv sind, deswegen bin ich grad' zurück gekommen....

1

Gesichter Europas. Kommen, bleiben und wieder gehen. Estlands Ein- und Auswanderer. Mit Reportagen von Christoph Kersting. Am Mikrophon ist Simonetta Dibbern. Das Musterländle Europas liegt im äußersten Nordosten, am östlichen Zipfel der Ostsee: Estland. Die kleinste der drei Baltenrepubliken und das jüngste Mitglied der Eurozone. Und neben Luxemburg: das einzige europäische Land, das auch jetzt, in den Zeiten der Krise, die Maastricht-Kriterien erfüllt: die Staatsverschuldung liegt bei 7,3 % des Bruttoinlandsprodukts, in Deutschland, zum Vergleich: sind es mehr als 80 Prozent. Gleich nach der Unabhängigkeit hatte die junge estnische Regierung radikal auf Privatisierung und Marktwirtschaft gesetzt und sich bald schon einen Namen gemacht als baltischer Tiger. Und auch vor 4 Jahren nach der letzten bislang schwersten Wirtschaftskrise haben die Esten sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und wiederum gespart, wo sie konnten: der Staatsapparat wurde ausgedünnt, Gesundheitswesen und Sozialleistungen zusammengestrichen, sogar die nächtliche Straßenbeleuchtung wurde reduziert. Das Rezept zur Staatssanierung ist aufgegangen – nicht zuletzt, weil die Bevölkerung die Einschränkungen auch dieses Mal mit stoischer Gelassenheit hinnahm. Es gab keinen Aufruhr, keine Rebellion. Auch in harten Zeiten zusammenzustehen, das ist Teil des estnischen Charakters. So wie ein unerschütterliches Durchhaltevermögen und unermüdlicher Fleiß. „Arbeite hart, dann kommt auch die Liebe“. Ein estnisches Sprichwort, das bis heute von den Abiturienten in Tallin und Tartu als diskutierwürdige These für die Abschlußarbeit gewählt wird. Und sie arbeiten hart, die Esten. Es reicht vielleicht für die Liebe. Doch immer weniger zum Leben.

Ein Lager für gebrauchte Autoteile in der Kleinstadt Keila, eine halbe Autostunde westlich der Hauptstadt Tallinn. In drei Meter hohen Regalreihen türmt sich das Innenleben von ausgeschlachteten Autos: Stoßdämpfer, Motorteile, Autotüren. Scheppernde Radiomusik mischt sich mit den Stimmen der Arbeiter, es riecht nach Öl und Benzin.... In einem Werkstattraum im hinteren Teil des Lagers hockt Demis Voll mit einem Kollegen im Fond eines Autowracks. Die beiden Männer wollen die Vordersitze des Wagens ausbauen, da hilft nur rohe Gewalt: Die Sitze haben sich bei einem Auffahrunfall verkeilt und lassen sich nur schwer lösen. 16 Kollegen seien sie im Lager, erzählt Demis Voll in seiner Frühstückspause. Sein Job sei sicher, doch dafür fährt der 35-jährige Familienvater auch täglich 100 Kilometer nach Keila: Ich pendle schon seit fünf Jahren diese Strecke. Davor habe ich in Tallinn gewohnt, aber das war mir zu hektisch, zu laut, zu dreckig. Ich bin ein Naturmensch, liebe die Ruhe..... Demis holt sein Smartphone heraus, zeigt Bilder von seinem Haus und der Gegend, wo er mit seiner Familie lebt: Wir leben auf dem Land, absolut ruhig. Jetzt hat dort die Jagdsaison begonnen: Wildschweine, Rehe und Elche – fast jedes Wochenende gehe ich mit Freunden auf

2

die Jagd. Aber auf dem Land gibt es keine Jobs, da kann man auf einem Bauernhof arbeiten, sonst nichts. Gute Jobs gibt es bei uns nur in Tallinn, Tartu oder Pärnu, den größten Städten. 1300 Euro netto verdient Demis, ein großer, kräftiger Typ mit kurzgeschorenem Haar, der eine Weile braucht, um warm zu werden – mit seiner ruhigen aber freundlichen Art ein typischer Este. Mit den 400 Euro, die seine Frau mit nach Hause bringt, hat die Familie 1700 Euro zum Leben pro Monat. Was nicht schlecht ist für estnische Verhältnisse. Vor allem öffentlich Bedienstete, Lehrer etwa, müssen mit 500 bis 600 Euro monatlich über die Runden kommen – das ist fast unmöglich geworden, denn die Preise für Mieten und Lebensmittel nähern sich immer mehr westeuropäischem Niveau an. Deshalb wollen immer mehr Menschen weg aus Estland, auch Demis Voll: Ich plane nach Finnland zu gehen, vor allem, weil ich Anspruch auf eine finnische Rente erhalte, wenn ich dort fünf Jahre gearbeitet habe. In Finnland ist einfach alles besser: das Gesundheitswesen, Sozialleistungen, Arbeitsbedingungen. Dann spreche ich Finnisch, weil meine Großmutter aus der Nähe von St. Petersburg kam, aus Karelien, das heute zu Russland gehört... Finnland ist das bevorzugte Ziel vieler Esten, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Kein Wunder: Nur 80 Kilometer und höchstens zwei Stunden mit der Fähre trennen die beiden Hauptstädte Tallinn und Helsinki, die im Volksmund häufig zu „Talsinki“ verschmelzen. Und auch sonst sind und waren sich Esten und Finnen immer schon nah: Beide Sprachen gehören zur finno-ugrischen Sprachenfamilie und sind sich in Wortschatz und Grammatik sehr ähnlich. Längst haben estnische Staatsbürger die russischen Immigranten sogar als größte Ausländergruppe in Finnland abgelöst: Knapp 40 000 Esten leben und arbeiten inzwischen vor allem im Großraum Helsinki, etwa 100 000 sollen es Schätzungen zufolge in allen nordischen Ländern sein. Ich würde erstmal alleine nach Finnland gehen, und wenn es gut läuft, Frau und Tochter nachholen. Eigentlich bin ich Koch, aber als Job will ich das nicht machen, ich koche lieber zu Hause für meine Familie. Für Autos habe ich mich schon als Kind interessiert, meine Großmutter hat mir dann immer aus Finnland Motorzeitschriften geschickt. Nach der Schule war ich einige Jahre in der Armee, ein Jahr davon als Soldat in den USA, in Texas. Das war eine gute Zeit, aber was mit fehlt, ist eine gute Ausbildung. Das geht den meisten meiner Freunde aus der Armeezeit so, darum sind viele schon weggegangen aus Estland. Mein bester Freund lebt inzwischen in England, in der Nähe von London. Er arbeitet dort bei der Royal Army, gestern noch haben wir telefoniert. Er will auf keinen Fall zurück nach Estland. Auch Demis Voll streut weiterhin über soziale Netzwerke, dass er einen Job in Finnland sucht. 500 sogenannte Freunde hat er inzwischen bei Facebook, zwei Jobangebote hatte er schon über sie: eine Stelle in der Baubranche, ein weiterer Job in einer Autowerkstatt nahe Helsinki. Doch Demnis sucht weiter: Er könnte sich etwa gut vorstellen, als Förster zu arbeiten. Und wird daher bald die Fähre nach Helsinki nehmen, um sich vor Ort ein Bild zu machen: Es wird ja immer viel über Estland als IT-Standort gesprochen – E-Stonia – aber eine echte Zukunft sehe ich darin nicht. Wichtig ist doch, dass wir einen gewissen

3

Wohlstand erreichen, aber auch da kann ich keine echte Entwicklung erkennen. Darum glaube ich auch, dass das Leben in der Provinz bei uns sterben wird, das Leben wird nur noch in Tallinn, Tartu, Pärnu, Narva sein. Ich jedenfalls würde auch für immer weggehen, wenn sich die Möglichkeit bietet. Mich hält hier nichts in Estland, absolut nichts! Seit Estland Mitglied der europäischen Union wurde, ist es für die Esten einfach geworden, das Land zu verlassen – eingewandert und ausgewandert sind sie immer schon. Freiwillig, zumeist aber gezwungermaßen. Das hängt mit der geographischen Lage zusammen: der Hafen von Tallinn war schon zu Zeiten der Wikinger und später der Hanse ein wichtiger Umschlagsplatz für den Warenhandel zwischen Ost und West. Das hängt aber auch zusammen mit der estnischen Geschichte: über 800 Jahre war Estland Spielball der Großmächte gewesen, wurde beherrscht von dänischen, schwedischen und polnischen Königen und vom russischen Zaren. Zwischen den beiden Weltkriegen war Estland eine unabhängige, freie Republik – doch mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939 verschwand es wiederum von der politischen Landkarte Europas. Erst kamen die Truppen Nazi-Deutschlands, dann wurde Estland zur baltischen Sowjetrepublik. Viele Menschen mussten fliehen. Oder sie wurden vertrieben. Die Geschichte ist allgegenwärtig in Estland – auch in der estnischen Literatur. Einer der erfolgreichsten Romane der letzten Jahre ist der Roman „Fegefeuer“ von der jungen finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen. Darin erzählt sie die Geschichte zweier Frauen, die sich Anfang der 90er Jahre in Estland begegnen, also kurz nach der Unabhängigkeit: Zara, Mitte 20, ist in Wladiwostok aufgewachsen – als Russin, dafür hatte ihre Mutter gesorgt. Nur die Großmutter hielt die Erinnerung an Estland wach: seine Sprache. Seine Landschaft. Seine Sterne. Die Großmutter hatte sich zum Fenster gedreht und starrte in den Himmel. Im Winter durfte man keine Decken vor die Scheiben hängen, obwohl es von den Fenstern zog, trotz aller Versuche, sie in jeder erdenklichen Weise abzudichten. Die Großmutter musste den Himmel auch nachts sehen, wenn vom Himmel überhaupt nichts zu sehen war. Sie sagte, der Himmel sei derselbe wie zu Hause. Auch der Große Bär war der Großmutter wichtig, weil es derselbe Bär war wie zu Hause, nur schwächer zu sehen, manchmal musste man ihn richtig suchen. Mithilfe des Großen Bären hatte man Großmutter immer leicht ein Lächeln entlocken können, es genügte, wenn Zara darauf zeigte und den Namen nannte. Als Kind hatte Zara nicht verstanden, warum das so war, erst später verstand sie, dass die Großmutter mit „zu Hause“ Estland meinte. Dort war die Großmutter geboren worden und auch die Mutter. Dann war der Krieg gekommen und der Hunger, und der Krieg hatte den Großvater geholt, und sie hatten vor den Deutschen fliehen müssen. Ihre Romane spielen zumeist in Estland, doch die Schriftstellerin Sofi Oksanen schreibt auf finnisch, dort ist sie geboren und aufgewachsen, als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Die geographische und die kulturelle Nähe zwischen den beiden Ostseestaaten hat, wenn die politische Lage es erlaubte, schon immer für einen regen Fährverkehr gesorgt. Doch die Beweggründe, den Finnischen Meerbusen zu queren, sind höchst unterschiedlicher Art: die Finnen kommen nach Tallinn als Touristen: zum Einkaufen, zum Feiern, zum Trinken. Die Esten dagegen fahren nach Helsinki, um zu arbeiten. Und pendeln höchstens am Wochenende zurück zu ihrer Familie. Die Abwanderung ist längst zum ernsthaften Problem geworden: Nach der jüngsten Volkszählung im Frühjahr diesen Jahres ist

4

die Bevölkerungszahl unter 1,3 Millionen gesunken. Seit Anfang der 90er Jahre hat die kleine Baltenrepublik damit knapp 18 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Auch wenn die Auswirkungen der globalen Krise den estnischen Staatshaushalt nur kurz ins Schlingern gebracht haben: die privaten Haushalte leiden immer noch unter den Folgen. Viele Menschen können ihre Kredite nicht mehr bedienen, die Arbeitslosenquote stieg zwischenzeitlich auf knapp 20 Prozent. Dass sie inzwischen auf etwa die Häfte gesunken ist, liegt auch daran, dass viele Arbeitssuchende das Land verlassen haben: Akademiker vor allem. Und gut ausgebildete Facharbeiterinnen. Dienstbesprechung auf der Reha-Station des Herttoniemi-Hospitals am Rand von Helsinki. Annika Funu-Cracker berichtet ihren Kolleginnen von einem etwas störrischen Patienten, der seine Medikamente nicht nehmen will. Die Krankenschwester ist 39 und kommt ursprünglich aus Estland. Den Schritt, den der Automechaniker Demis Voll noch plant, hat Annika damit schon hinter sich: Seit 2007 arbeitet sie in Finnland, ihre Ausbildung hat sie vor 20 Jahren in Tallinn gemacht. Finnland ist gut für mich, ich mag es und plane hier zu bleiben. Auch weil Esten und Finnen sich ja sehr ähnlich sind, sie haben eine ähnliche Geschichte und Sprache, sind vom Charakter her eher ruhig und introvertiert. Natürlich gibt es auch Unterschiede, die Arbeitskultur in Finnland ist zum Beispiel moderner: Hier habe ich viel Verantwortung, in Estland ist noch alles sehr viel hierarchischer. Nach ihrer Frühschicht in der Klinik hat Annika es eilig, will noch rechtzeitig die Fähre nach Tallinn erreichen. Dort besucht sie gemeinsam mit Sohn Johann ihre Eltern. Eine gute Stunde später haben Annika und Johann einen Platz auf dem Oberdeck der Nachmittagsfähre ergattert. Es ist Freitag, und das Schiff ist voll mit Menschen, die unter der Woche in Finnland arbeiten. Viele Bauarbeiter, Handwerker und LkwFahrer sind heute dabei - typisch für einen Freitagnachmittag. Die Menschen verbringen das Wochenende bei ihren Familien in Estland und werden am Sonntag oder Montag zurück nach Helsinki fahren. Jeden Monat sind es bis zu 400 000 Menschen, die die 80 Kilometer zwischen Estland und Finnland, Tallinn und Helsinki, hin- und herfahren. Besonders im Sommer, wenn die Tagestouristen dazu kommen, sind die bis zu 40 Fähren pro Tag oft ausgebucht. Annika hat sich einen Snack an der Bar besorgt, dafür war nach der Frühschicht in der Klinik keine Zeit mehr, der 16-jährige Johann schlürft an einer Cola. Fünf, vielleicht sechs Mal pro Jahr nehme sie die Fähre in die alte Heimat, erzählt die kräftige 39-Jährige mit kleiner, runder Brille und rot gefärbten Haaren. Früher bin ich öfter gefahren, als mein Sohn Johann noch in Tallinn bei meinen Eltern lebte. Aber seit 2011 ist er auch in Helsinki, lebt bei mir und meinem Mann, der aus Afrika, aus Ghana, kommt. Wir sind gerade dabei ein neues Business zu starten: Wir kaufen alte Autos in Estland, lassen sie per Schiff nach Ghana bringen und verkaufen sie dort. Vielleicht bin ich deswegen in Zukunft wieder öfter in Estland. Aber meine Heimat, das ist inzwischen Finnland, Estland ist meine alte Heimat... Die zu verlassen ist Annika nicht sonderlich schwer gefallen. Sie musste ihre Familie ernähren, und das sei in Estland mit der Zeit immer schwieriger geworden:

5

Ich habe in Estland rund 600 Euro verdient, und das ist das, was Freundinnen von mir auch heute noch verdienen dort. In Finnland verdiene ich mindestens das Dreifache, wobei nicht alles teurer ist als in Estland. Die Preise für Lebensmittel zum Beispiel sind inzwischen in Tallinn ähnlich hoch wie in Helsinki. Fast auf jeder Station ihrer Klinik in Helsinki arbeiten Krankenschwestern, Pfleger oder Ärzte aus Estland. Viele von ihnen sind inzwischen dauerhaft sesshaft geworden in Finnland. Vor allen Dingen im medizinischen Bereich ist die Abwanderung heute ein echtes Problem in Estland: Ärzte und Krankenschwestern werden gut ausgebildet und verlassen dann das Land für immer, weil Du einfach zu wenig verdienst zu Hause. Wir jedenfalls werden sicher nicht zurückgehen, wir planen eher noch von Finnland nach Kanada zu ziehen. Ein Anruf aus Tallinn: Zwei Cousinen von Annika sind in der Stadt. Die beiden leben schon seit einigen Jahren in Großbritannien und sind für drei Tage auf Heimaturlaub in Estland. Spontan verabreden die vier einen Treffpunkt für den Abend... Schon zwei Stunden später sitzen Annika, Johann und die Cousinen Laura und Ulla in einem kleinen Restaurant am Rand der schmucken Altstadt von Tallinn. Die vier haben sich viel zu erzählen, schließlich sehe man sich nicht oft, erzählt die 27-jährige Laura: Ulla und ich sind vor fünf Jahren zusammen nach Dänemark gegangen, um zu studieren. Durch eine gute Freundin sind wir dann in England gelandet, haben in Bristol gearbeitet, dann in Cardiff und seit drei Jahren haben wir einen Job in Aberdeen, in Schottland. Wir würden eigentlich gerne wieder zurückkommen, aber das ist eher unrealistisch. Es gibt keine Jobs in Estland, und wenn, sind sie schlecht bezahlt. Also, wenn unser Präsident gerade zufällig zuhört (lacht), bitte heben Sie die Löhne an.... Die Frage nach ihrer Heimat ist für die beiden nicht so einfach zu beantworten wie für ihre Cousine Annika, die inzwischen Finnland als zu Hause empfindet: Eigentlich ist es traurig: Wir fühlen uns weder in Estland noch in Schottland wirklich heimisch. Schottland ist nicht unsere Heimat, weil es eben nicht Estland ist. Aber wenn wir wie jetzt nach Estland kommen, fühlen wir uns eher wie Touristen. Die Engländer sagen ja „Our home is where our heart is“ - ich würde eher sagen, unsere Heimat ist da, wo unser Hintern ist....

„Die Großmutter zog Zara hinzu, wenn sie zur Erntezeit einmachte. Die Mutter ging arbeiten und hatte nie Zeit, den Gemüsegarten zu gießen oder zu jäten. Zara und die Großmutter pflegten ihn gemeinsam, und dabei erzählte die Großmutter Geschichten aus jenem anderen Land in jener anderen Sprache. Zum ersten Mal hatte Zara sie gehört, als sie nachts davon erwacht war, dass die Großmutter am Fenster Selbstgespräche führte. Zara hatte die Mutter geweckt und ihr zugeflüstert, dass mit der Großmutter etwas nicht stimmte. Die Mutter hatte die Decke zurückgeschlagen, die Füße in die Pantoffeln gesteckt und Zaras Kopf wieder ins Kissen gedrückt, ohne ein Wort zu sagen. Zara hatte so getan, als gehorchte sie. Das, was die Mutter zur

6

Großmutter gesagt hatte, hatte fremd geklungen, und die Großmutter hatte mit ebenso fremden Worten geantwortet. Die Koffer hatten mit offenem Rachen auf dem Fußboden gelegen. Die Mutter hatte der Großmutter Hände und Stirn befühlt und ihr Wasser und Validol gegeben, die Großmutter hatte alles genommen, ohne die Mutter anzusehen, woran nichts Ungewöhnliches war – Großmutter sah niemals jemanden direkt an, sie sah immer an ihrem Gegenüber vorbei. Die Mutter hatte die Koffer zusammengepackt, sie im Schrank verschlossen und der Großmutter die Hände auf die Schultern gelegt. Sie hatten hinaus ins Dunkel gestarrt.“ Es ist die Sprache, die die kulturelle Identität der Esten ausmacht – ganz gleich, ob sie in Estland leben oder anderswo in der Welt. Auch wenn sie selbst oft viele Fremdsprachen sprechen und in vielerlei Hinsicht global denken: wenn es um die Bewahrung ihrer kulturellen und politischen Identität geht, denken sie national. Und so muß jeder, der Este werden will, ihre Sprache lernen, mit den vielen Vokalen und den 14 grammatischen Fällen. Muss einen schriftlichen und mündlichen Sprachtest bestehen, sowie eine Prüfung in Staatsbürgerkunde. Ausgenommen sind Invaliden und alte Menschen über 70, auch der Abschluss einer estnischen Schule bewahrt vor dem Test. Die strikte Regelung ist die Konsequenz aus der jahrhundertelangen Fremdherrschaft. Es ist auch ein starkes Zeichen, die jahrzehntelange Zwangsrussifizierung während der Sowjetunion endlich abgeschüttelt zu haben und als souveräner Staat agieren zu können. Doch, auch dies ein Erbe der jüngeren Geschichte: die Russen im Land, von Stalin nach dem 2. Weltkrieg in Estland zwangsangesiedelt, sprechen kein estnisch. Sie wollen auch keine Esten werden. Auch wenn sie mit ihren Familien nach wie vor in Estland leben, in der Stadt Narva vor allem. Und in Tallinn. Von den rund 350 000 Russischstämmigen, immerhin ein Viertel der estnischen Bevölkerung, besitzt nur die Hälfte die estnische Staatsbürgerschaft. Die restlichen sind Bürger Russlands oder staatenlos. Und haben auch nicht vor, das zu ändern. Das Foyer eines großen Hotels in Tallinn: Igor Ivanov hat es sich in einem tiefen Ledersessel bequem gemacht und liest im seine e-mails am Smartphone. Es ist 17 Uhr, und Igor sieht müde und etwas blass aus: Seit dem Morgen schon läuft eine Konferenz im Hotel, es geht um Minderheitenrechte, die Teilnehmer kommen aus ganz Europa.Auch Igor Ivanov hat einen Vortrag gehalten, Thema: die Situation der russischsprachigen Minderheit in Estland. Der 37-Jährige mit dem rundlichen Gesicht und adrett nach hinten gekämmtem Haar holt seinen Reisepass heraus – auf der Referentenliste der Tagung steht zwar hinter seinem Namen „Estland“, doch Igor Ivanov ist einer von vielen Staatenlosen im Land: Hier, auf meinem Pass steht: „Alien's passport“ - zum Scherz sage ich manchmal: sorry, dass ich heute kein grünes Männchen bin. Aber Spaß beiseite: Dass viele meiner Freunde wie ich die estnische Staatsbürgerschaft nicht annehmen, ist unsere Form des Protests, ein Boykott! Ich bin hier geboren, ich lebe gerne hier, zahle meine Steuern pünktlich, spreche Estnisch: Estland ist meine Heimat. Trotzdem bin ich nicht automatisch Staatsbürger dieses Landes. Du wachst morgens auf, und jemand sagt Dir: Du bist ein Niemand, weil Du nicht Staasbürger bist. Wir haben das einfach so festgelegt. Im Prinzip ist das wie bei George Orwell: Wir sind alle gleich, aber einige sind gleicher! Igor ist jetzt hellwach, sitzt kerzengerade in seinem Sessel,

7

spricht schnell – er hat Übung darin, frei über politische Themen zu sprechen. Das muss er auch: Der 37-Jährige ist Vorsitzender einer Organisation, die sich um die Rechte und die politische Bildung junger russischsprachiger Menschen in Estland kümmert – für ihn eine Herzenssache. Ganz bewusst haben Igor und seine Mitstreiter ihrer Organisation keinen russischen, sondern einen estnischen Namen gegeben: „Siin“, was schlicht und ergreifend „hier“ bedeutet. Denn trotz aller Widrigkeiten: Igor und viele seiner Freunde wollen auch weiterhin in Estland leben – auch wenn sich immer mehr Menschen für einen anderen Weg entscheiden: Offiziell heißt es ja, dass bei uns knapp 1,3 Millionen Menschen leben. Das ist aber einfach nicht wahr! Denn viele, sehr viele von diesen Menschen arbeiten im Ausland, kehren vielleicht am Wochenende zurück, aber wer will das kontrollieren mit der Freizügigkeit auf dem EU-Arbeitsmarkt? Das ist keine abstrakte Sache, das ist ganz konkret spürbar: Es sind einfach weniger Menschen hier in Tallinn auf der Straße oder in den Geschäften als noch vor einigen Jahren. Igor hat sich einen Tee bestellt und muss kurz mit einer Bekannten aus dem SiinVorstand einen Termin absprechen. Ob er selbst auch ganz einfach nach Finnland gehen könnte oder anderswo hin? Nein, auch das ist ein Punkt, wo die Staatenlosen seiner Meinung nach klar benachteiligt werden: Ich kann natürlich inoffiziell nach Finnland gehen, das geht relativ problemlos. Wenn ich das aber auf legalem Weg machen will, muss ich 180 Tage pro Jahr trotzdem in Estland sein, weil ich hier kein Staatsbürger bin, sondern nur eine Aufenthaltsgenehmigung habe. Die verliere ich, wenn ich gegen diese Auflage verstoße. Dann muss ich drei Monate vorher offiziell anmelden, wo und was genau ich im Ausland arbeiten will. Das ist die Situation von uns „Graupässen“. So nennt man uns wegen der Farbe des Reisepasses. Manchmal fühle ich mich wie ein Leibeigener, weil wir Staatenlose nicht nach eigenem Ermessen Entscheidungen treffen dürfen, sondern uns alles von der Bürokratie vorgeschrieben wird. Auch viele Russischstämmige hätten inzwischen das Land verlassen oder dächten darüber nach, erzählt er und schenkt sich heißen Tee ein. Das sei besonders zu spüren seit der so genannten April-Nacht im Frühjahr 2007: blutige Straßenschlachten zwischen estnischer Polizei und russischen Jugendlichen, die gegen die Entfernung eines sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Stadtzentrum von Tallinn demonstrierten – bis heute ein nationales Trauma für das kleine Estland. Die grundlose Gewalt der Polizei damals führte dazu, dass viele von uns quasi über Nacht den Glauben in die Politik, den estnischen (*) Staat verloren. Selbst bei den bis dahin Superloyalen war das so. Gleichzeitig gab es einen totalen Sinneswandel, was das Interesse am Ausland angeht: Vorher wollten auch viele Russischstämmige in den Westen, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Nach der Aprilnacht änderte sich das schlagartig: Seitdem besinnen sich viele auf ihre Wurzeln, orientieren sich sehr stark Richtung Russland. Zwar will Igor nicht von Feindschaft oder Hass sprechen zwischen Esten und Russischstämmigen. Dennoch bezeichnet er Estland als gespaltene Gesellschaft.

8

Auszuwandern sei da gar nicht nötig, viele Menschen mit russischen Wurzeln seien längst innerlich emigriert. „Am nächsten Tag hatte Zara die Mutter gefragt, was Großmutter gesagt und welche Sprache sie gesprochen habe. Die Mutter hatte versucht, die Sache zu übergehen, indem sie heftig mit Tee und Brot hantierte, aber Zara hatte nicht aufgehört nachzubohren. Da hatte die Mutter erzählt, dass die Großmutter estnisch gesprochen und die Worte eines estnischen Liedes wiederholt habe, sie werde allmählich ein wenig senil. Den Namen des Liedes hatte die Mutter Zara jedoch genannt: Emasüda, Mutterherz. Den hatte Zara sich gemerkt, und als die Mutter einmal nicht zu Hause war, war Zara zur Großmutter gegangen und hatte ihn ihr gesagt. Die Großmutter hatte sie angesehen, zum ersten Mal direkt angesehen, und Zara hatte gespürt, wie der Blick der Großmutter ihr ins Innere, in den Mund und in den Hals drang, und wie es ihr die Kehle zuschnürte, und wie der Blick ihr die Kehle hinab bis zum Herzen drang, und wie er ihr das Herz zusammenpresste, und vom Herzen war er ihr in den Leib geflossen, dass es ihr den Magen umdrehte, und er war ihr in die Beine geflossen, die anfingen zu zittern, und aus den Beinen war er ihr in die Fußsohlen geflossen, dass sie kribbelten, und ihr war heiß geworden und Großmutter hatte gelächelt. Aus diesem Lächeln war ihr erstes gemeinsames Spiel entstanden, das, einen Wortspross um den anderen treibend, zu blühen begann, dunstig und gelblich, so wie tote Sprachen blühen, und so anmutig knisterte wie eine Grammophonnadel und so klang, wie Stimmen unter Wasser klingen. Leise und flüsternd war ihnen eine eigene Sprache erwachsen.“ Nach außen hin präsentiert Estland sich mit einer glänzenden Visitenkarte. Eins der kreditwürdigsten Länder Europas, befinden die internationalen Ranking-Agenturen. Ausgeglichener Staatshaushalt, kaum Schulden. Und – immer noch: ein Paradies für Unternehmer. Wer eine gute Idee hat, bekommt vom estnischen Staat Rückenwind, der Rekord für eine Firmengründung liegt bei 18 Minuten. Am schnellsten natürlich: geht das online. E-Stonia. Von Anfang an hat Estland auf neue Technologien gesetzt und auf die digitale Zukunft. Mit weltweitem Erfolg: Skype zum Beispiel. Das Telefonieren per Internet ist eine estnische Erfindung, inzwischen wurde das Unternehmen an Microsoft verkauft für achteinhalb Milliarden Euro. Doch solche Erfolgsgeschichten gibt es immer seltener. Und die Bevölkerung bekommt bisher nur die negativen Auswirkungen des glänzenden Staatshaushaltes zu spüren: Die Inflationsrate liegt derzeit bei 4,2 Prozent, der Mindestlohn bei 278 Euro – und der Sparkurs ließ die Löhne um teilweise mehr als ein Viertel schrumpfen. Langsam geht es wieder bergauf. Doch immer noch ist Estland eins der ärmsten Länder der EU und das ärmste der Eurozone. Wer zum Arbeiten nach Estland geht, oder wer nach dem Studium zurückkehrt, der muß also andere Gründe haben als die Hoffnung auf eine steile Karriere oder auf einen schnell verdienten Euro. Zum Beispiel: Idealismus. Und Familienverbundenheit. Denn die lässt sich nicht online leben. Martin Koiva geht voran durch das verwinkelte Erdgeschoss der estnischen Industrie-und Handelskammer in Tallinn. Der smarte 25-Jährige mit dunklem Haar und legerer Kleidung ist erst 25 und schon heute Geschäftsführer einer InternetFirma. Im Schlepptau hat er Martin Murruste, ebenfalls 25 Jahre alt, Analyst in einem Tallinner Immobilienbüro. Die beiden haben heute ein Arbeitstreffen in dem prunkvollen Barock-Gebäude auf dem Domberg.

9

Noch vor einigen Monaten lebte Murruste in Deutschland, wo er in Freiburg seinen Bachelor in Volkswirtschaftslehre gemacht hat. Er hatte auch Angebote in Deutschland oder in der Schweiz zu arbeiten, doch der schmale 25-Jährige mit blondem Seitenscheitel hat sich für eine Rückkehr nach Estland entschieden. Der Grund sind meine Eltern, meine Großeltern und meine Freunde. Fakt ist: In Estland werde ich nicht reich. Natürlich könnte ich in der Schweiz mehr verdienen, aber solange meine Großeltern noch leben und meine Freunde noch in Estland aktiv sind, deswegen bin ich grad' zurück gekommen.... Rund 900 Euro netto verdient Martin in der Immobilienfirma, und weil er im Haus seiner Eltern wohnt, reicht das zum Leben in Tallinn. Koiva und Murruste kennen sich schon aus Schulzeiten, doch die beiden treffen sich heute nicht nur für einen privaten Plausch. Martin Murruste berichtet von seiner Arbeit, Martin Koiva macht sich Notizen, fragt genauer nach. Dass der Freund aus gemeinsamen Schultagen wieder in Estland gelandet ist, daran ist Koiva nicht ganz unschuldig. Er koordiniert neben seiner eigentlichen Arbeit ein Projekt, das genau das will: junge, gut ausgebildete Esten wieder ins Land holen und damit etwas tun gegen den „Brain Drain“, die Abwanderung von Akademikern. Das Herzstück von „Talendid Koju“ - „Talente nach Hause“ - ist eine Internet-Plattform, die junge Esten und potenzielle Arbeitgeber zusammen bringen soll. Wie effekiv das Ganze ist – schwer zu sagen für Martin Koiva: Vielleicht haben viele Leute diese Angebote gesehen und sind dann direkt zu der Firma gegangen, und davon wissen wir nicht, aber wir können sagen, dass 25 Leute sind sicher zurück gekommen und arbeiten in Estland. Lauter kluge junge Leute, es gibt ein paar Doktoren, Leute mit MBA usw., hauptsächlich Leute, die studiert haben... 25 kleine Erfolgsgeschichten – nicht schlecht für den Anfang, findet Koiva. Denn noch befindet sich das von der EU und der estnischen IHK finanzierte Projekt in der Pilotphase, soll später vom estnischen Wirtschaftsministerium übernommen werden. Auch Martin Koiva hat schon in Deutschland gelebt, als Schüler in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein, später in Stuttgart. Das Leben dort hat ihm gefallen, doch auch Estland hat seiner Meinung nach klare Vorteile zu bieten. Vor allem junge Menschen könnten sich dort viel schneller nach oben arbeiten: Weil Estland ein so kleines Land ist, und weil es wenige Leute gibt, ist auch die Konkurrenz klein. Ich habe vier Jahre gearbeitet, vor zwei Jahren war ich fertig mit meinem Studium, und jetzt ist mein Titel Geschäftsleiter, das, glaube ich, würde nie passieren in Deutschland.... Martin Koiva muss kurz etwas mit einer IHK-Sekretärin klären, es geht um einen Bericht über „Talendid Koju“: Die Leitung der Handelskammer will von Koiva wissen, wieviele Besucher die Internet-Seite des Projekts bislang hatte. Murruste spricht unterdessen über seine weiteren Zukunftspläne. Der Volkswirt und frisch gebackene Immobilienfachmann will noch seinen Master-Abschluss machen, wahrscheinlich wieder im Ausland:

10

....dort dann auch im Arbeitsleben Erfahrungen sammeln, und irgendwann, habe ich das Gefühl, dass ich auch wieder nach Estland komme und längerfristig hier wohnen werde. Ich glaube, Estland bleibt da, da passiert nichts mit Estland, und es ändert sich bestimmt, wenn wir langsam auch reicher werden, weil gerade sind wir kein reiches Land. Wenn man es mit Europa vergleicht, dann sind wir eher arm, und deswegen wollen viele ins Ausland. Aber längerfristig ändert sich das... „Das war ihr gemeinsames Geheimnis, ihr gemeinsames Spiel. Während die Mutter Hausarbeiten verrichtete, hatte die Großmutter auf ihrem Stuhl gesessen, Zara hatte Gegenstände in die Hand genommen oder einfach nur berührt, und die Großmutter hatte die estnische Bezeichnung tonlos mit den Lippen gebildet. Wenn es das falsche Wort war, musste Zara das bemerken. Wenn es ihr nicht auffiel, blieb der Bonbon aus, aber wenn sie den Fehler bemerkte, bekam sie immer eine Süßigkeit. Der Mutter hatte es nicht gefallen, dass die Großmutter das Mädchen grundlos mit Süßigkeiten verwöhnte, hatte aber nicht die Kraft gehabt, sich außer durch gelegentliches Schnaufen in die Sache einzumischen. Zara durfte die wonnigen Worte, die süße Sprache und die wenigen Geschichten behalten, die die Großmutter im Gemüsegarten von einem Cafe dort irgendwo erzählte, von einem Cafe, in dem es Gebäckstücke aus Mürbeteig mit Rharbarber und einer dicken Schicht Schlagsahne darauf gab, von einem Cafe, dessen Mohrenköpfe einem auf der Zungez ergingen und in dessen Garten es nach Jasmin duftete, vom Rascheln deutscher Zeitungen, aber nicht nur deutscher, sondern auch estnischer und russischer, von Krawatten- und Manschettenknöpfen, von den eleganten Hüten der Frauen, an irgendeinem Dandy hatte man Tennisschuhe zum dunklen Anzug gesehen, eine Magnesiumwolke war auf die Straße gezogen aus einer Wohnung, in der man gerade fotographische Aufnahmen gemacht hatte. Das Sonntagskonzert auf der Strandpromenade. Im Park geschlürfte Selters. Die Prinzessin von Koluvere, die auf den nächtlichen Wegen spukte. An den Winterabenden in der Wärme des Herdes die Himbeerkonfitüre auf dem Weißbrot, dazu kalte Milch! Saft aus roter Johannisbeerkonfitüre!“ Es ist die Sprache, die die Esten zusammenhält, es ist die Erinnerung, die wechselvolle Geschichte – es ist aber auch: die Natur. Und, eng damit verbunden: der Glauben an die Waldgeister. Ein Zehntel des Landes steht unter Naturschutz, die Wälder sind riesig, die Strände lang, es gibt 7000 Flüsse und Bäche. Und es gibt die Inseln in der Ostsee, die, jedenfalls im Sommer, mehr und mehr Touristen anlocken. Und Menschen, die auf der Suche sind nach ländlicher Idylle und nach unberührter Natur. Auf einem Quadratkilometer leben in Estland durchschnittlich 30 Menschen. Verglichen etwa mit Österreich hat jeder Este dreimal soviel Platz. Auch das kann ein Grund sein, nach Estland zurückzukehren. Ebenso wie die vier extremen Jahreszeiten, die es hier gibt. Die mystischen Geschichten. Doch eine gute Idee braucht es auch.

Ich experimentiere hier gerade ein wenig mit Teig. Derek hat ein neues Rezept für einen Burger entwickelt für unsere Karte, und ich will ein passendes VollkornBrötchen backen, das ist der erste Test, in 30 Minuten wissen wir mehr.... Fleur Sprenk steht in der winzigen Küche ihres Cafes in Kuressaare, dem Hauptort der Insel Saaremaa ganz im Westen Estlands und wischt sich die langen, rötlichen

11

Haare aus dem Gesicht. Es ist warm und stickig: Im Ofen werden die BurgerBrötchen langsam braun, auf dem Gasherd simmert ein russischer BorschtschEintopf vor sich hin. Ihr Mann Derek steht hinter dem Verkaufstresen im kleinen Gastraum des Cafes und bestückt Regale mit Einmachgläsern: selbstgemachte Marmelade, eingelegte Pilze und Honig. Jetzt im Spätherbst haben Fleur und Derek Zeit herumzuexperimentieren: Die Saison ist vorbei auf Saaremaa, einer Insel zwei Mal so groß wie Rügen, auf der aber nur 40 000 Menschen leben. Nur im Sommer kommen Touristen hierher, vor allem, um die Ruhe und Natur auf der Insel zu genießen. Die beiden haben vor vier Jahren ihr Cafe eröffnet: „Turuköök“, Marktküche heißt es, weil es direkt an der kleinen Markthalle von Kuressaare liegt. Ich bin hier geboren und zur Schule gegangen, habe dann viele Jahre im Ausland gelebt, in Schweden und den USA. Dort habe ich in der Gastronomie Erfahrungen gesammelt, was naheliegend war: Meine Mutter war schon Köchin, mein Vater Jäger und Fischer, und von meiner Großmutter habe ich alles über wilde Kräuter und Pilze gelernt. Wir haben das Cafe hier, machen aber auch Catering für Feste auf der Insel. Dabei verwenden wir nur Produkte von Bauern aus der Region. Die Qualität ist hervorragend, die Leute wissen nur nicht, wie sie sich gut vermarkten. Wir gehen auch in Schulen und Kindergärten, um den jungen Leuten zu erklären, wo ihre Steaks und Burger herkommen. Eine Freundin der beiden schaut kurz vorbei. Sie hat einen Kuchen für Derek mitgebracht. Er wird heute 42 und würde mit seiner gedrungenen Statur, dem Stiernacken und runden Kopf auch gut als Gewichtheber durchgehen. Dabei ist der gebürtige Kanadier eher jemand, der leise Töne anschlägt. Seinen Geburtstag feiert er nicht mehr groß, seit genau an diesem Tag vor 18 Jahren die Fähre „Estonia“ in der Ostsee sank und 850 Menschen mit in den Tod riss. Derek kam vor sechs Jahren nach Estland. Seine Großeltern waren Anfang der 40er Jahre vor den Sowjets aus Estland nach Toronto geflohen, er selbst hat lange Jahre sein Geld als Unternehmer in New York verdient – der Weg zurück zu seinen estnischen Wurzeln: auch das quasi eine Flucht vor seinem alten Leben: Ich habe in Manhattan gewohnt, mittendrin also. Ich hatte mein eigenes Business in der Logistik-Branche, 100-Stunden-Wochen waren da normal. Einer der Wendepunkte in meinem Leben waren die Ereignisse um den 11. September, Nine Eleven. Viele meiner Freunde sind danach an Krebs erkrankt und gestorben. Ich selbst hatte acht Monate lang einen schlimmen Husten wegen des ganzen Staubs in der Stadt. Ich wollte raus aus diesem Leben! Hier ist es ruhig, friedlich, die Luft ist sauber, ich nehme mein Fahrrad und fahre los. Es gibt nicht eine Verkehrsampel auf der Insel. Ökonomisch hat die Entscheidung hierher zu kommen zwar keinen Sinn gemacht, aber in dieser Hinsicht bin ich so etwas wie ein „postökonomischer“ Mensch: Zahlen und mein Kontostand interessieren mich nicht mehr so. Mein Reichtum, das ist heute meine Gesundheit, das sind meine sozialen Kontakte. Klar, viele vor allem jüngere Einheimische schütteln den Kopf über seine Entscheidung, das pulsierende New York zu verlassen und in die estnische Provinz

12

zu gehen. Aber Derek und Fleur haben ihren Schritt nicht bereut, fühlen sich inzwischen akzeptiert von den als eigen geltenden Insulanern. Und sie sind nicht die einzigen, die auf Saaremaa ein neues Leben begonnen haben. Ein befreundetes britisch-estnisches Paar produziert auf einer Hofanlage in der Nähe Bioseife nach eigener Rezeptur: Die beiden versenden ihre Seife inzwischen nach halb Europa und in die USA. Und 200 Meter vom „Turuköök“-Cafe entfernt betreibt ein ehemaliger CIA-Mann aus Boston mit seiner estnischen Frau ein italienisches Restaurant. Mit der richtigen Idee und Durchhaltevermögen sei vieles möglich, findet Fleur. Doch auch auf Saaremaa sei es traurige Realität, dass vor allem die Jungen weg gehen nach Tallinn oder ins Ausland: Die Löhne sind ja hier die gleichen wie vor zehn Jahren, und mit dem Geld, das Du verdienst, kannst Du gerade mal die Miete und das Essen zahlen. Du kannst nicht reisen oder etwas sparen. Wie sollen junge Menschen sich da etwas aufbauen? Wir persönlich sind glücklich so, wie es jetzt ist. Aber es ist auch hart, Du musst einfach immer am Ball bleiben, neue Ideen haben, aktiv sein. Vielleicht wird es besser sein, wenn unsere Kinder erwachsen sind. Gesichter Europas. Kommen, Bleiben, wieder gehen. Estlands Ein- und Auswanderer. Mit Reportagen von Christoph Kersting. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Roman „Fegefeuer“ der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, gelesen wurden sie von Claudia Mischke. Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angeika Brochhaus. Diese Sendung können Sie nachhören – für 7 Tage steht sie im Netz: zu finden unter dradio punkt de: Gesichter Europas. Am Mikrophon verabschiedet sich SD.

(*) Anm. d. Red.: In der Sendefassung des Beitrag war an dieser Stelle irrtümlich vom "russischen Staat" die Rede.

13

Suggest Documents