Friedrich Schiller Don Carlos

Friedrich Schiller Don Carlos Es steht Ihnen heute ein anspruchsvoller Theaterabend bevor. Schillers letztes Jugenddrama ist kein einfaches Stück, es ...
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Friedrich Schiller Don Carlos Es steht Ihnen heute ein anspruchsvoller Theaterabend bevor. Schillers letztes Jugenddrama ist kein einfaches Stück, es hat Brüche und Ungereimtheiten – aber kein Drama von Schiller ist einfach. Friedrich Schiller will das Publikum durch seine Stücke nicht unterhalten, sondern das Theater ist für ihn eine moralische Anstalt und eine Schule der Weisheit. Von der Bühne her sollen wir als Zuschauer "die mannigfaltigen menschlichen Tugenden, Torheiten, Leiden und Laster" erkennen. Die Erkenntnis "schützt unser Herz gegen Schwächen" und belohnt uns mit einem "herrlichen Zuwachs an Mut und Erfahrung." Das Theater hat also eine entschieden sittliche und erzieherische Funktion, ja für Schiller noch mehr: es hat auch eine gesellschaftliche Funktion – es soll den Menschen zum "zoon politikon" machen, zum Wesen also, das der Gemeinschaft fähig ist. Soll das Theater erziehen, braucht es in den Stücken eine theoretisch-philosophische Grundlage, einen philosophischen roten Faden, gleichsam. Schiller findet ihn in der Philosophie Immanuel Kants. Ja, man kann soweit gehen und sagen, dass Schillers Stücke das philosophische Denken Immanuel Kants auf der Bühne sichtbar machen; Schiller kann gleichsam als Illustrator Kants angesprochen werden. Dies vor allem in den späteren Dramen, aber es gilt auch schon für den Don Carlos, wie wir noch sehen werden. Schiller ist nun aber nicht einfach ein Oberlehrer, der von der Bühne aus die Leute trocken und besserwisserisch belehren will. Im Gegenteil: Schiller ist der genialste Dramatiker der deutschen Literatur. Es gibt keinen anderen Dramatiker, der ihm darin gleichkommt – auch Goethe nicht. Diese Genialität zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, abstrakte Gedankengänge und Zustände auf der Bühne sichtbar zu machen. Es gelingt Schiller immer wieder, die höchst komplexen Gedankengänge Kants gleichsam zu illustrieren und sichtbar zu machen. Denken Sie, um ein bekanntes Beispiel zu geben, an die Apfelschussszene, in Schillers letztem Drama, dem Wilhelm Tell. Kann man Tyrannenherrschaft besser und eingängiger in eine Szene bannen, als dass es Schiller hier getan hat? Der leere Hut, die leere Form der Macht, der man sich unterwerfen muss, ist sichtbare Tyrannei, die Apfelschussszene führt handelnd den perversen Machtmissbrauch Gesslers einmalig vor Augen. Zwar ist Schiller mit seinen 28 Jahren, als der Don Carlos 1787 uraufgeführt wird, noch nicht in allen Teilen auf dieser Höhe als Dramatiker. Aber bereits der Don Carlos zeigt die Züge der klassischen Genialität. Die Entstehungsgeschichte des Stücks ist denn auch recht kompliziert, Schiller hat das Stück mehrfach überarbeitet, einzelnen Figuren ein anderes Gewicht gegeben und der Handlung eine andere Richtung. Das Drama ist zwar nicht aus einem Guss, wie die späteren Dramen Schillers, aber es ist trotzdem ein höchst gelungenes Stück. Ich möchte Ihnen in dieser kurzen Einführung vor allem diesen philosophisch kantischen Aspekt des Stücks aufzeigen. Dazu braucht es aber zwei Voraussetzungen. Wir müssen uns über den historischen Hintergrund des Stückes und dann vor allem über die Handlung ins Bilde setzen. Zuerst zum historischen Hintergrund: Wir befinden uns im Zeitalter der Religionskriege einerseits und andererseits auch im Zeitalter der Entdeckungen, in welchem die Weltmächte Spanien und England die Herrschaft über die Weltmeere und die Kolonien anstreben. Im engeren Sinn befinden wir uns im Spanien des 16. Jahrhunderts und zwar im Reich Philipps II... Philipp II.. ist der Sohn von Karl V., der spanischer König und auch deutscher Kaiser war. Karl V. liess Luther vor dem Reichstag von Worms erscheinen, in der Hoffnung, dass er dort seinen protestantischen Umtrieben abschwören werde.

Friedrich Schiller: Don Carlos Spanischer Katholizismus gegen den niederländischen Protestantismus spielt im Stück eine grosse Rolle. Karl V. war zudem jener Kaiser, der gesagt hat, dass in seinem Reich die Sonne nicht untergehe! Und in der Tat hinterlässt er seinem Sohn Philipp 1558 ein Riesenreich: Spanien und Portugal, fast ganz Italien und Sardinien, Burgund und die Niederlande. Dann eben auch grosse Besitztümer in Amerika. Philipp II.. übernimmt dieses Riesenreich und beherrscht es despotisch, absolut, als ein katholischer Tyrann. Paradigmatisch für seine Herrschaft und Herrschaftsweise ist der Escorial, das Königsschloss in der Nähe von Madrid, das er sich bauen lässt. Es sieht einem Gefängnis oder vielleicht einem Kloster ähnlicher als einem Schloss, man kann darin nur auf den Boden oder an denHimmel schauen. Seine beiden Privatzimmer sind äusserst asketisch, nichts weiter als eine Mönchszelle. Der einzig grosse Raum ist die immense Kirche, die das Königsschloss beherrscht. Philipp II.. ordnet dem katholischen Glauben alles unter. Seine Herrschaft gründet auf der Despotie des Glaubens. Er regiert mit der Inquisition. Die Inquisition ist eine Art geheime kirchliche Polizei, die mit allen Mitteln Ungläubige und Ketzer aufspürt und sie dem Scheiterhaufen überantwortet. Eine vom Papst unterstützte geheime Staatspolizei, könnte man sagen. Der König veranstaltet immer wieder in Madrid Ketzerverbrennungen, um seine Macht zu demonstrieren. Der grösste Feind Spaniens ist England, das elisabethanische England, das der Macht Spaniens in der Herrschaft über die Weltmeere die Dominanz abzunehmen im Begriffe ist. Philipp sucht denn auch Hilfe in Frankreich und verheiratet sich mit Elisabeth von Valois, aus politischen Gründen. Elisabeth von Valois war aber vorher mit dem Sohn Philipps II.., dem Don Carlos, verlobt gewesen. Das wird im Stück eine tragende Rolle spielen. In dieser vergifteten, von allen Seiten mit Misstrauen und Spitzelei bestimmten Atmosphäre spielt nun das Drama Schillers. Am Hofe des Königs herrscht das spanische Hofzeremoniell, etwas Sterileres kann man sich nicht vorstellen. Das ist in ganz groben Zügen der historische Hintergrund. Schiller nimmt es mit diesem Hintergrund allerdings nicht sehr genau. Ihn reizte an diesem Stoff die Möglichkeit der Verbindung von politischem Machtspiel und von menschlicher Tragik. Schiller hat hier erkannt, dass ein politischer Stoff auf der Bühne nur dann Wirkung haben kann, wenn er sich mit tragischen Menschenschicksalen verbinden lässt. In diesem Sinne ist der Don-Carlos-Stoff ideal. Dies haben vor Schiller auch andere erkannt: Es gibt einen Unterhaltungsroman "l 'histoire de Don Carlos" von einem gewissen Abbé Saint-Réal, der Roman diente Schiller im Wesentlichen als Quelle. Der Roman schildert in grellen Farben und Übertreibungen die Geschichte des Don Carlos, allerdings eben als Unterhaltungsroman. Schiller gibt nun dieser Geschichte, die ich Ihnen sogleich erzählen werde, dann die Wendung ins Philosophische, welche die Bedeutung des Dramas ausmacht und Schillers Idee von der Funktion des Theaters entspricht. Die Handlung ist die folgende: Don Carlos trifft in der Sommerresidenz Aranjuez seinen Jugendfreund Marquis de Posa wieder, der lange Zeit auf Reisen war und soeben aus Brüssel zurückkommt, wo er mittlerweile Abgeordneter der niederländischen Provinzen geworden ist. Er will Flandern mit allen Mitteln vom Joch der spanischen Krone befreien. Dazu sucht er Carlos zu überzeugen, sich als Statthalter in die unruhige Provinz Flandern schicken zu lassen, um dort den protestantischen Niederländern, die gegen die katholische spanische Besatzungsmacht aufbegehren, größere Freiheiten einzuräumen und den Krieg zu vermeiden. Carlos jedoch hat an der Politik im jetzigen Moment kein Interesse, er will von seinen politischen Jugendträumen nichts mehr wissen und erzählt seinem Freund verzweifelt, dass er noch immer Elisabeth von Valois liebe, seine ehemalige Verlobte, die aber inzwischen, aus Staatsräson, die Frau seines Vaters, König Philipps, 2

Friedrich Schiller: Don Carlos und damit seine Stiefmutter, geworden ist. Verzweifelt erklärt Carlos Posa, dass es ihm die strenge Etikette des Hofes einerseits und die misstrauische Eifersucht des Königs andererseits bisher nicht erlaubt hätten, die Königin unter vier Augen zu sprechen. Posa, der die Königin aus Frankreich kennt, arrangiert daraufhin ein Treffen, in dessen Verlauf Carlos seiner Stiefmutter seine Liebe gesteht. Elisabeth jedoch ist entsetzt über Carlos' ungestümes Werben, gesteht, dass sie Philipp als Menschen kennen und ehren gelernt habe, und betont ihr Pflicht- und Verantwortungsgefühl für das spanische Volk. Sie schlägt Carlos Werbung entschieden ab und fordert ihn auf, sich nicht länger der Liebe zu ihr, sondern statt dessen der Liebe zum Vaterland zu widmen. Die Königin hat zu diesem Gespräch mit Don Carlos ihre Hofdamen, die sie nach dem zeremoniell immer begleiten müssen, entfernt. Als nun der König erscheint und die Königin alleine antrifft, zeigt sich die ganze Härte des Hofzeremoniells. Philipp verbannt die Marquise, die der Königin am nächsten steht, für zehn Jahre vom Hofe. Zurück in Madrid, bittet Carlos, ganz im Sinne Posas, den König um eine Unterredung unter vier Augen. Er bittet um die Statthalterschaft in Flandern, obwohl er dazu über seinen Schatten springen und seine Aversionen gegen den herrischen, ungeliebten Vater überwinden muss. König Philipp aber vertraut dem Infanten nicht und lehnt dessen Ansinnen ab. Er hält ihn für zu unbesonnen, weich, ja feige, und zieht für den Posten den alten Haudegen Herzog von Alba vor. Es werden also im ersten Akt die drei Konflikte exponiert, um die es im Stück gehen wird: erstens der politische Konflikt. Die Niederlande suchen sich vom Joch Spaniens zu befreien und es kommt zum Krieg. Der politische ist auch ein religiöser Konflikt. Dann zweitens der Vater-Sohn–Konflikt: Der König hält seinen Sohn für einen Feigling und der Regierungsgeschäfte nicht für fähig. Und drittens, der Liebeskonflikt. Don Carlos liebt die Königin und wird von dieser abgewiesen. Ein Page überbringt nun Carlos einen Liebesbrief. Carlos ist überzeugt, dass er von der Königin stamme und folgt überglücklich der darin enthaltenen Aufforderung, sich in ein entlegenes Kabinett des Schlosses zu begeben. Dort findet er jedoch nicht die Königin, sondern die Prinzessin Eboli vor, die ihm in völliger Verkennung der wahren Lage ihre Liebe gesteht. Carlos erfährt, dass der König die Eboli zu seiner Mätresse machen will. Carlos ist von ihrer Geschichte ergriffen, kann ihr jedoch nur seine Freundschaft, nicht seine Liebe anbieten, denn, so gesteht Carlos der Prinzessin nun seinerseits, er liebe eine andere. Er nimmt das kompromittierende Schreiben des Königs an sich, in der Absicht, es später der Königin zu bringen, die er damit zu gewinnen hofft. Jetzt erst beginnt Prinzessin Eboli zu ahnen, wer sich hinter jener anderen Liebe verbirgt. Aus Eifersucht und wegen ihrer Zurückweisung durch den Prinzen beschließt sie, Rache an Carlos und der Königin zu nehmen. Herzog Alba und Pater Domingo, der Beichtvater des Hofes, haben Angst, dass Carlos zu mächtig werden könnte. Sie überzeugen die Eboli, Carlos Liebe zur Königin dem König zu verraten, und fordern sie auf, der Königin zum Beweis belastende Schriftstücke zu stehlen. Alba und Domingo setzen den König nun über die angebliche Affäre seines Sohnes ins Bild. Philipp beschliesst, seine Frau und seinen Sohn zu bestrafen. Nur von feigen Hofschranzen umgeben, sehnt er sich aber nach einem aufrichtigen Freund und kommt auf den Gedanken, den als unerschrocken und welterfahren geltenden Marquis von Posa vorzuladen und in seine Dienste aufzunehmen. Posa weist die Bitte des Königs zunächst zurück. Er hält ein flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit und appelliert an Philipp, das Gefängnis Spanien in einen Hort der Freiheit zu verwandeln. "Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire", das sind seine berühmten 3

Friedrich Schiller: Don Carlos Worte. Der König ist von Posas Mut und Offenheit beeindruckt und macht ihn zu seinem Minister und engsten Berater. Vor allem aber sieht er ihn nun als vertrauten Freund, der das wahre Verhältnis zwischen Carlos und der Königin ausspionieren soll. Zum Schein geht Posa darauf ein, da er damit seine politischen Pläne besser verfolgen kann. Posa beginnt nun ein ganz gefährliches Spiel. Durch die Intrige versucht er, Don Carlos als Gouverneur in Flandern einzusetzen. Er sucht die Königin auf und verabredet mit ihr, Carlos zu überreden, gegen den König zu rebellieren und heimlich nach Brüssel zu gehen, um die Niederländer vom spanischen Joch zu befreien. Er überbringt Carlos einen entsprechenden Brief der Königin und erbittet dessen Brieftasche. Aber er begeht den grossen Fehler, den Freund nicht in seine Pläne einzuweihen. Die Königin hat unterdessen den Diebstahl ihrer Briefe durch die Eboli entdeckt und bezichtigt den König, woraufhin es zum Streit kommt. Posa hat die gestohlenen Briefe in Carlos Brieftasche gelegt und händigt sie nun dem König aus. Damit ist der König überzeugt, dass Carlos und die Königin ein Verhältnis haben. Philipp versieht nun den Marquis Posa mit uneingeschränkter Handlungsvollmacht und erlässt einen Haftbefehl gegen seinen Sohn. Graf Lerma meldet dies Carlos, der daraufhin bestürzt zur Prinzessin Eboli läuft, in der er irrtümlich seine letzte Vertraute sieht. Dort verhaftet ihn Posa, weil er ihn als Gefangenen besser und sicherer nach Flandern bringen zu können glaubt. Der König hat unterdessen gemerkt, dass die Briefe, die angeblich die Liebschaft zwischen der Königin und Don Carlos beweisen sollen, Briefe sind aus der Zeit, in der Carlos wirklich mit Elisabeth verlobt war. Er erkennt, dass er seinem Sohn und seiner Frau Unrecht getan hat. Posas Plan, Carlos als Gefangenen nach Flandern zu bringen, ist damit gescheitert, weil Carlos ja unschuldig ist. Posa fasst einen neuen Plan. Er schreibt einen Brief an den Statthalter in Flandern, in welchem er sich selbst als Liebender der Königin darstellt. Da er weiss, dass alle Post nach Flandern geöffnet wird, erhält der König sofort Kenntnis. Posa besucht darauf Carlos im Gefängnis und klärt diesen über die falschen, ihn, Posa, kompromittierenden Briefe auf, die er dem König zugespielt hat. Der König nun sieht sich von Posa verraten und muss seinen Sohn freilassen. Herzog Alba kommt und erklärt Carlos für frei, der aber schickt Alba fort, weil er nur vom König persönlich rehabilitiert werden und seine Freiheit wieder empfangen will. Posa berichtet Carlos vom Verrat der Eboli und enthüllt ihm seinen neuen Plan, sich für den Freund zu opfern. Da fällt ein Schuss und Posa sinkt tödlich getroffen zu Boden. Der König, resigniert und bitter enttäuscht vom Verrat Posas, erscheint, um seinen Sohn freizugeben. Der aber wirft ihm Mord vor und klärt ihn über sein Freundschaftsverhältnis zum Marquis auf. Er sagt sich von einer Macht und einem König los, der nur die Unterdrückung und die Menschenverachtung kennt. Er erkennt, dass das Ideal der Freiheit, wie es Posa zu verwirklichen versucht hatte, in dieser Welt des Hofes nicht möglich ist. Der König ist von Posas Verrat masslos enttäuscht. Da überbringt ihm Alba die Nachricht von den Fluchtplänen des Infanten. Der König ist ratlos und lässt den Grossinquisitor kommen, er begibt sich also ganz in den Schoss der Kirche. Der Grossinquisitor macht ihm Vorwürfe und sagt, dass es menschliche Schwäche sei, einem Menschen zu vertrauen. Dafür müsse er jetzt büssen. Die Inquisition hatte den Posa schon lange als Gefahr und Verräter im Auge. Und da der König ihn hat erschiessen lassen, habe er der Inquisition die öffentliche Hinrichtung verunmöglicht. Der König und der Grossinquisitor verhaften Don Carlos als Verräter und die Inquisition wird ihn hinrichten. Das ist die äusserst komplexe Handlung des Stücks. Es ist ein Stück mit Brüchen und Ungereimtheiten. Aber seien Sie unbesorgt. Man darf eigentlich Theaterstücke 4

Friedrich Schiller: Don Carlos weder lesen, geschweige denn nacherzählen. Man muss sie sehen. Sie werden heute Abend die komplexe Handlung ohne weiteres nachvollziehen und ihr folgen können. Was bedeutet das nun alles? Inwiefern sollen die Anforderungen, die Schiller an das Theaterr stellt, verwirklicht werden? Man hat Schillers Don Carlos ein "Manifest der Menschenrechte" genannt. Das wohlklingende Prädikat geht jedoch am Wesen des Stücks vorbei. Die Menschenrechte werden mit Füssen getreten, alle, die sich für Rechte einsetzen, bezahlen mit ihrem Leben, am Schluss steht der Despot Philipp stärker da als je. Marquis Posa scheitert in seinen Freiheitsplänen, überall herrschen Terror und Blutgericht. Es gibt keine Menschlichkeit in diesem Drama! Dennoch ist der Don Carlos ein Freiheitsdrama – wie alle Tragödien Schillers. Allerdings ist Freiheit für Schiller kein politischer Begriff. Wenn bei Schiller von Freiheit gesprochen wird, dann ist nicht Demokratie und Selbstverwaltung gemeint, auch im Wilhelm Tell nicht. Was ist Freiheit bei Schiller? Wir unterscheiden zwei Arten von Freiheit. Es gibt die "Freiheit von" und die "Freiheit zu". Beide stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis. Einfach nachzuvollziehen, ist die "Freiheit von". Wir befreien uns von einem Zwang, von etwas Unangenehmen, von etwas, das wir nicht wollen. Ins Politische gewendet meint die "Freiheit von" ein sich Befreien–Wollen von einer fremden Herrschaft. In unserem Stück suchen die Niederländer eine Freiheit von der Unterdrückung durch die Spanier, durch die Unterdrückung von der katholischen Lehre und ihrer Inquisition. Marquis Posa in all seinen Bemühungen und Intrigen ist eine Figur, die die "Freiheit von" mit allen Mitteln zu verwirklichen sucht. Aber er erreicht seine Ziele nicht, auch wenn er für sie sein Leben einsetzt. Die "Freiheit von" befreit zwar, aber sie schränkt uns immer auch ein, denn das, wovon wir uns befreit haben, bleibt bestehen und bedroht unsere Freiheit immer wieder. Wir sind wohl vielleicht unabhängig, aber nicht wirklich frei. Schwieriger als eine Freiheit zu begreifen, ist die "Freiheit zu". Wir befreien uns nicht mehr von etwas, sondern im Gegenteil, wir akzeptieren freiwillig und aus Einsicht etwas, das wir nicht ändern können. Wir geben bewusst und willentlich unsere Unabhängigkeit auf und entscheiden uns in Freiheit, einer Idee zu dienen. Wir gehen also eine Bindung ein, die uns vielleicht sogar abhängig macht, aber wir tun es bewusst und in Freiheit. Erst die "Freiheit zu" macht uns wirklich frei, da wir von dem, wovon wir uns befreit haben, nicht mehr bedroht sind. Man nennt die "Freiheit zu" auch die "Freiheit unter dem Gesetz". Soweit so gut! Aber die nächste Frage kommt unweigerlich: Welches Gesetz ist da gemeint? Sind die Menschen, die sich bewusst und freiwillig in die Hände einer Terrororganisation begeben, denn freie Menschen? Nach der bisherigen Definition müssten sie es sein. Sie mögen sich frei fühlen, wenn sie bewusst und freiwillig die Befehle anderer ausführen. Aber frei sind sie nicht, das liegt auf der Hand. Es muss etwas Entscheidendes dazu kommen. Ich will es Ihnen am Beispiel der Menschenwürde, die im Don Carlos eben mit Füssen getreten wird, zu erklären versuchen, was Entscheidendes dazu kommen muss, damit der Mensch wirklich frei wird, in der Freiheit unter dem Gesetz. Versuchen Sie, Menschenwürde zu definieren, sie klar und konkret zu umreissen. Das ist zu Beginn einfach, aber bald werden Sie an eine Grenze stossen, bald einmal werden Sie entscheiden müssen, das entspricht der Menschenwürde noch, das aber ist eines Menschen nicht mehr würdig. Diese Grenze ist aber keineswegs gegeben, sie ist subjektiv, der eine wird – um ein banales Beispiel zu nehmen – eine Wohnung noch als menschenwürdig betrachten, ein anderer nicht mehr. Sobald 5

Friedrich Schiller: Don Carlos man Menschenwürde konkret definiert, wird sie zu einer Ideologie. Mit der "Wahrheit" ist das noch deutlicher! Vor Menschen, die die Wahrheit wissen und kennen, muss man sich in acht nehmen. Sobald jemand kommt und sagt: "Das ist die Wahrheit, ich kenne sie!" ist er ein Ideologe, er verlangt von allen anderen – notfalls mit Gewalt – dass sie seine Wahrheit glauben. Wahrheit aber ist ein absoluter Wert, ein absoluter Begriff, die letzte Wahrheit ist dem Menschen nicht zugänglich. Mit der Menschenwürde ist es ebenso. Wenn wir sie definieren und konkret bestimmen, dann wird es Menschen geben, die sagen, was Menschenwürde ist und solche, die es zu akzeptieren haben. Das hat aber alles mit Freiheit nichts mehr zu tun. Und sich einem Gesetz zu unterwerfen, auch wenn wir es freiwillig und bewusst tun, einem Gesetz, das andere Menschen gemacht haben, macht uns nicht frei, sondern versklavt uns in einer Ideologie. Frei macht es uns aber, wenn wir einer Idee folgen, einer Idee, die sich konkret nicht fassen lässt und die wir konkret auch nicht fassen wollen. Wenn wir kompromisslos, bewusst der Idee der Menschenwürde folgen, dann werden wir frei, weil wir unter einem idealistischen Gesetz stehen. Wenn wir kompromisslos und ohne nachzulassen, nach der Wahrheit streben, dann sind wir frei, auch wenn wir wissen, dass wir die Wahrheit nie erreichen werden. Goethe wird im Faust sagen: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!" Für Schiller ist ein Mensch dann frei, wenn er sich bindet an eine absolute Idee und sich nicht beirren lässt und nicht davon abweicht. Schiller ist hier ganz Kantianer. Letztlich gründet sich diese Idee der Freiheit auf Kants Kategorischen Imperativ. "Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Das „Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung" ist letztlich eine absolute Idee, die nicht konkretisiert werden darf und kann. Was bedeutet das nun für unser Drama? Marquis Posa verwirklicht, bei aller Ehrenhaftigkeit seiner Gesinnung nur Ideologie, nur eine "Freiheit von". Er füllt die Idee der Menschlichkeit mit politischen Inhalten und Zielen. Er versucht einen Staatsstreich, wird unmenschlich, verrät seinen Freund, verrät den König, missbraucht dessen Vertrauen und reisst sein Volk ins Verderben. Zwar sind seine Motive lauter und ehrenhaft, aber die Ideologie macht den Menschen immer unmenschlich. Der König selbst könnte unfreier nicht sein, er opfert am Schluss der christlichen Ideologie des Grossinquisitors sogar seinen Sohn. Alle Figuren im Stück sind unfrei ausser Don Carlos. Er wird frei, in dem Moment, in dem er bereit ist, sein Leben für die Idee der Menschlichkeit und Menschenwürde hinzugeben. Er erfüllt in diesem Moment die Forderung des kategorischen Imperativs, er allein. Weil eine Handlung, die als ein für alle gültiges Prinzip verwirklicht, am spanischen Hofe nicht möglich ist, opfert er sein Leben, tritt über die Grenzen seiner Person hinaus und verwirklicht Freiheit in einem absoluten, idealistischen Akt. Das ist der Sinn der Tragödien Schillers: Sie weisen unserem endlichen Verhalten immer ein absolutes Ziel. Ich werde dieses Ziel nie erreichen, weil es eben absolut ist. Aber ich habe mich auf den Weg zu machen! Dazu muss ich mich übersteigen, aus mir heraus treten. Wenn ich das tue und kann, dann geschieht Idealismus. Alle Tragödien Schillers demonstrieren diesen Idealismus, zeigen Menschen, die entweder verblendet in ihrer Ideologie Gewalt anwenden und Unmenschen werden, oder die eben, wie Don Carlos, trotz allem über sich hinaus wachsen und Freiheit verwirklichen, auch wenn sie diesen Akt mit dem Leben bezahlen. Der Idealismus dieser Figuren soll uns Zuschauer im Theater auch in diese Freiheit versetzen, dies ist der einzige Zweck der Tragödien Schillers.

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Friedrich Schiller: Don Carlos

16. Januar 2013

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