Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Von Gert Ueding. Hinweise zur Stoff- und Werkgeschichte

Gert Ueding Friedrich Schiller: Wilhelm Tell Reclam Friedrich Schiller: Wilhelm Tell Von Gert Ueding Hinweise zur Stoff- und Werkgeschichte Die Sag...
Author: Reinhold Reuter
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Gert Ueding Friedrich Schiller: Wilhelm Tell

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Friedrich Schiller: Wilhelm Tell Von Gert Ueding

Hinweise zur Stoff- und Werkgeschichte Die Sage vom Freiheitshelden Wilhelm Tell ist trotz aller historischen Fragwürdigkeit1 fest in der Schweizer Volksüberlieferung verankert. Als ihre früheste literarische Fassung wird ein wohl im 14. Jahrhundert entstandenes Volkslied angesehen, die erste Erwähnung in einer Chronik findet sich um 1470 im Weißen Buch von Sarnen. Während Wilhelm Tell im Volkslied als Urheber und Hauptgestalt der Befreiung und als Stifter des Bundes gefeiert wird (eine Tradition, die von der Chronik des Melchior Ruß aus dem 15. und dem Urner Tellenspiel aus dem 16. Jahrhundert fortgesetzt wird), erscheint die Geschichte vom Meisterschützen im Weißen Buch nur als eine das Verschwörungsgeschehen begleitende Episode. Diese Zwiespältigkeit am Anfang der Überlieferung charakterisiert auch ihre weitere Geschichte – die literarischen Adaptionen der Folgezeit, ob fürs Barocktheater oder für die bürgerlich-moralische Anstalt der Schaubühne, bis hin zu Jakob Bührers Drama Ein neues Tellenspiel (1923) oder Max Frischs unkonventioneller Nacherzählung Wilhelm Tell für die Schule (1971), beinah allen gilt das Verhältnis der Sagenfigur zum historischen Geschehen bei der Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft als problematisch. Denn auch die Verknüpfung beider Traditionen, wie sie seit Ägidius Tschudis Chronicon helveticum und Johannes von Müllers Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft üblich geworden ist, beseitigt diese Zweideutigkeit nicht. Schiller, der seinem Drama neben Peterman Etterlins Kronica von der loblichen Eydtgenosschaft (1507) in der

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Sprenger’schen Ausgabe von 1752 und verschiedenen geographischen Werken vor allem Tschudis und Müllers Darstellungen zugrunde legte, hat gerade aus dieser Zweideutigkeit die dramatische Struktur seines Tell-Spiels entwickelt. Auf welche Weise Schiller zuerst mit dem Stoff in Berührung kam, ist umstritten. Ob es wirklich Goethe war, der die Anregung 1797 von seiner Schweizer Reise mitgebracht und in seine Tag- und Jahreshefte am 8. Oktober 1797 notiert hatte »weil die epische Form bei mir gerade das Übergewicht hatte, ersann ich einen Tell unmittelbar in der Gegenwart der classischen Örtlichkeit«,2 oder ob jenes anonyme zunächst »falsche Gerücht«, dass er an einem Tell-Drama arbeite, Schiller, wie er selber schreibt, »auf diesen Gegenstand aufmerksam« gemacht habe,3 bleibe dahingestellt. Ganz offensichtlich aber gehörte die Tell-Sage mit ihrer Nähe zum Schweizer Befreiungskampf zu den populärsten Lesestoffen des Zeitalters, wie schon aus einem Brief Schillers aus dem Jahre 1789 an Charlotte von Lengefeld hervorgeht.4 Charlotte und ihre Schwester kannten auch Joseph Ignaz Zimmermann persönlich, der 1779 ein Drama Wilhelm Tell veröffentlicht hatte und Schillers Bemerkung in einem Brief an Christian Gottfried Körner, dass das Publikum gerade an dieses Thema besondere Erwartungen richte,5 lässt wenig Raum für die Vermutung, Schiller habe auf den Stoff erst eigens aufmerksam gemacht werden müssen. »Wenn ich von einem Lande der Freyheit rede; so ists mir, als stünd ich auf einem Berge«, beginnt 1774 Schubart einen Artikel über die Schweiz in seiner Deutschen Chronik und fährt wenig später fort: »In einem Zeitpunkte, wo sich die Monarchien gleich angeschwollnen Strömen ausbreiten [. . .], ist Helvetien zwischen seinen Bergen gesichert, und genießt alle Vortheile der Freyheit [. . .] Welche große starkmüthige Seelen hat nicht schon die Schweiz hervorgebracht.«6 Kein Wunder, dass sich auch ein Erfolgsschriftsteller wie Leonhard Wächter (unter seinem Autornamen Veit Weber) der Anziehungskraft der Schweizer Befreiungsgeschichte versichern wollte. 1804, im selben Jahr wie Schiller

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seinen Tell, veröffentlichte er ein gleichnamiges Drama, verzichtete aber darauf, es in Konkurrenz zu Schiller auf die Bühne zu bringen. Goethes und Schillers Tell-Pläne gehören in diesen Zusammenhang einer allgemeinen, von den wenig ermutigenden sozialen und politischen Verhältnissen in Europa und insbesondere Deutschland genährten Idolatrie der Schweizer Gründungsgeschichte und ihrer Folgen. Nach dem Zeugnis von Friedrich Rochlitz ging Schiller schon gleich nach der Beendigung der Maria Stuart (er verwechselt das Drama allerdings mit Wallenstein) mit dem Plan eines Tell-Dramas um.7 Seine Vorarbeiten begann er dann Ende Januar 1802, konnte sie aber nicht kontinuierlich weiterführen. Erst am 25. August des folgenden Jahres vermerkt sein Tagebuch lapidar: »[…] diesen Abend an den Tell gegangen«. Am 18. Februar 1804 steht dann im Kalender: »Den Tell geendigt.«8 Uraufgeführt wurde das Drama am 17. März unter Goethes persönlicher Leitung am Weimarer Hoftheater und brachte trotz der fünfeinhalb Stunden Spieldauer einen großen Erfolg. »Der Tell hat auf dem Theater einen größern Effect als meine andern Stücke«, berichtet Schiller nach der Vorstellung.9 Nach der Berliner Aufführung am 4. Juli schrieb ein Rezensent in den Berlinischen Nachrichten: »Schiller hat sich nie als ein größerer dramatischer Dichter gezeigt, als in diesem Werke.«10 Obwohl auch bald herbe Kritik laut wurde und die Geschichte dieses Dramas bis heute begleitet,11 gehört es zu den erfolgreichsten Stücken der deutschen Dramenliteratur; und Gottfried Kellers Schilderung einer Volksaufführung im Grünen Heinrich ist die schönste Hommage geblieben, die der Autor des Wilhelm Tell je erhalten hat.

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Historische und poetische Dimension des Stoffes »Wenn es nur mehr Stoffe wie Johanna und Tell in der Geschichte gäbe, so sollte es an Tragödien nicht fehlen«, hat Schiller nach dem Zeugnis Karoline von Wolzogens geäußert und es beklagt, dass unsere »deutsche Geschichte, obgleich reich an großen Charakteren, zu sehr auseinander[liege], und es sei schwer, sie in Hauptmomenten zu konzentrieren«.12 Die Tell-Sage schien ihm trotz aller Züge, die sie historisch fragwürdig machten, einen solchen Hauptmoment in der Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft darzustellen. Diese selber aber war ihm über alle lokale und zeitliche Gebundenheit hinaus erinnerungswürdig, weil sie den »Blick in eine gewisse Weite des Menschengeschlechts« öffne,13 also auch dem deutschen Publikum Anstoß und Vorspiel zugleich sein könnte. Die hervorstechenden Ereignisse, die Aufsteckung des Hutes, der Mord am Vogt, der Burgenbruch datieren um die Mitte des Jahres 1291, und wenn auch die genaue zeitliche Fixierung unmittelbar nach dem Tode König Rudolfs am 15. Juli 1291 und vor dem Abschluss des Bundes Anfang August 1291, die lange Zeit gültig war, offenbar umstritten bleibt,14 kann doch von einer recht genauen historischen Situierung der Handlung ausgegangen werden, die Schiller in der Schweizer Befreiungstradition überliefert vorfand. Wie wenig es ihm allerdings auf eine derart präzise Rekonstruktion des historischen Geschehens ankam, bezeugen seine brieflichen Äußerungen: »Ob nun gleich der Tell einer dramatischen Behandlung nichts weniger als günstig scheint, da die Handlung dem Ort und der Zeit nach ganz zerstreut auseinander liegt, da sie großentheils eine Staatsaction ist und (das Mährchen mit dem Hut u. Apfel ausgenommen) der Darstellung widerstrebt, so habe ich doch bis jetzt soviel poetische Operation damit vorgenommen, daß sie aus dem historischen heraus u. ins poetische eingetreten ist.«15 Iffland schreibt er, »beinahe zur Verzweiflung gebracht«, bittere Worte über das entstehende »Volksstück«, »denn die

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historischen Elemente desselben sind recht zum Fluche der Poesie zusammen geweht worden […]«.16 Nicht wegen seiner Historizität interessiert Schiller der Tell-Stoff. Wie schon im Wallenstein und der Jungfrau von Orleans macht sich die Faktizität des Historischen nur störend und ablenkend bemerkbar, und es gilt, aus dessen Elementen eine dramatische Konstruktion zu bilden, die zwar unhistorisch im wissenschaftlichen Verständnis, aber nicht ahistorisch ist.17 Schiller versucht den ästhetischen Aporien des historischen Dramas dadurch zu entgehen, dass er der »Phantasie eine Freiheit über die Geschichte« verschafft,18 indem er das Historische für das Drama selbst nur als Grund und Rahmen belässt, die Handlung aber gerade als Widerstand dagegen entwickelt. Die Wirksamkeit Tells besteht ja darin, durch die Tat die entgegenstehende Gewalt der Geschichte zu besiegen, deren Fürsprecher im Drama Ulrich von Rudenz ist. Eben damit aber macht er Geschichte, und sein Schicksal wird aus der Sphäre des Wunschmärchens wieder an den Geist der Geschichte zurückgewiesen. Dabei führt allerdings nicht allein Schillers Insistieren auf der poetischen Operation, die Aufhebung der historischen Elemente ihrer Faktizität nach und deren poetische Neukonstruktion im Drama, zu der Einsicht, dass Geschichte nur durch Vermittlung des Menschen und seiner Handlungen existiert und ihren Gang bestimmt.19 Wenn Schiller verspricht, »von allen Erwartungen, die das Publicum u: das Zeitalter gerade zu diesem Stoff mitbringt, wie billig [zu] abstrahire[n]«20 und somit seine aktuelle und allzu sehr in Analogien verfangene Bedeutung aufzuheben, so doch nur mit dem Ziel, deren Substanz hervortreten zu lassen. In einer Zeit, so heißt es in einem anderen Brief, in der »von der schweizerischen Freiheit desto mehr die Rede [ist], weil sie aus der Welt verschwunden ist«, gewinnt das schweizerische Freiheitsdrama seine Qualität als projektive Erinnerung nicht an zufällige Ereignisse, aber an den durchgehenden Sinn der Geschichte – »womit ich den Leuten den Kopf wieder warm zu machen

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