Frau Meier, die Amsel 

F

rau Meier machte sich Sorgen. Gerade noch sorgte sie sich um einen Knopf an ihrem Wintermantel, der

abzufallen drohte. Später war es dann vielleicht einer ihrer Kuchen. Ob sie etwa doch zu wenig Rosinen genommen hatte? Oder, noch etwas später, konnten es einige Haare auf dem Kopf von Herrn Meier sein, die so merkwürdig in die Höhe zeigten.

Manchmal sorgte sie sich auch um die Flugzeuge, die hin und wieder über ihren Garten flogen, ob nicht eines von ihnen abstürzen könnte und ob dann womöglich das Radieschenbeet verwüstet wäre, und ob sie schließlich genügend Platz im Hause hätten für all die erschrockenen Passagiere. Gelegentlich zählte Frau Meier deshalb ihren Vorrat an Mullbinden und Heftpflaster. Herr Meier war durchaus unbesorgt. Wenn er morgens aufwachte, blickte er als erstes in Frau Meiers besorgtes Gesicht. Dann sagte er oft: »Worüber sorgst Du dich? Die Sonne scheint, gleich schneit es vielleicht, wir könnenʼs nicht ändern.« »Ja«, sagte Frau Meier, »ich weiß.« Doch schon musste sie an die Möglichkeit denken, dass ein großer Autobus mit 90 Ausflüglern in der Kurve vor dem Haus im Schnee ausrutschen könnte, und ob dann der Kuchen überhaupt reichen würde, weil die Armen bestimmt Hunger

haben würden, wo sie doch schon so lange unterwegs waren und dann noch umgekippt. Herr Meier kochte ihr in solchen Fällen immer einen Pfefferminztee. Draussen, auf einem kleinen sonnigen Hügel hinter dem Haus, war das, was Frau Meier ihren »Gemüseladen« nannte. Dort hatte sie Bohnen gepflanzt und Tomaten, Zwiebeln und Salbei, Petersilie und Kartoffeln. Ja – und Pfefferminze. Jedes Jahr im Spätsommer erntete Frau Meier die dicksten Kürbisse, die Ihr Euch nur vorstellen könnt. Eines Morgens stand Frau Meier in ihrem Garten und sorgte sich gerade darüber, ob die Sonne auch am nächsten Tag wieder aufgehen würde, und wenn nicht, ob sie dann – in der Dunkelheit – die Pfefferminze so ohne weiteres vom Unkraut würde unterscheiden können, wenn überhaupt noch irgendetwas wuchs, denn kalt würde es zweifellos werden, kalt und dunkel, so ohne Sonne... Und schon machte sie ihr sorgenvolles Gesicht und dachte darüber nach, ob sie wohl genügend warme Handschuhe und Strickjacken besäßen und ob sie für Herrn Meier nicht eine wollene Unterhose stricken sollte oder vielleicht besser gleich zwei. An diesem Morgen also, als sie sich gerade bückte, um zu sehen, ob die Kürbisse Blüten angesetzt hatten, sah sie es vor sich liegen, das kleine Ding, nackt, auf dem Bauch, mit dicken blauen Augenlidern, die fest geschlossen waren. Jetzt hatte Frau Meier allen Grund zur Sorge, und sie vergaß sofort Sonne und Kälte, Knöpfe, Kuchen, Flugzeuge, Dunkelheit und Kürbisblüten.

Vorsichtig nahm sie den kleinen Vogel auf ihre Hand. Nachdem sie ihn eine ganze Weile etwas ratlos angesehen hatte, piepste er schwach und öffnete seinen gelbgeränderten Schnabel, so dass Frau Meier nun besorgt in einen kleinen roten Schlund blickte. Frau Meier hastete den Hügel hinab ins Haus. Sie suchte überall herum, bis sie endlich etwas gefunden hatte, das ein bisschen wie ein Nest aussah. »Ich werde ihn großziehen«, sagte sie zu Herrn Meier. »Tu, was Du nicht lassen kannst,« lächelte er.

Es wurde eine abenteuerliche Zeit. Ihr müsst nämlich wissen, dass so kleine Vögel nur dann nicht sterben, wenn man sie ununterbrochen mit Fliegen, Raupen und Mücken füttert. Tag und Nacht. Dann

allerdings

wachsen

sie

schnell und schon nach zwei Wochen erkannte Frau Meien, dass sie dabei war, eine junge Amsel großzuziehen. Natürlich hatte sie auch schon einen Namen für das Tierchen: Piepchen sollte es heißen. Herr Meier fand diesen Namen eher albern, aber auch diesmal sagte er nur: »Tu, was Du nicht lassen kannst!«

Irgendwann war es dann so weit: Piepchen hatte viele schwarze Federn bekommen und hoppelte in Frau Meiers Küche herum. Eines Morgens, als die junge Amsel beim Frühstück vom Rand des Küchentisches fiel, fand Frau Meier es an der Zeit, ihr das Fliegen beizubringen. »Man muss es ihr vormachen«, dachte sie. »Echte Vogeleltern machen es ihren Kindern schließlich auch vor.« Frau Meier tat ihr Bestes, um wie eine Amselmutter auszusehen, aber Piepchen blieb im Gras sitzen und beobachtete sie nur erstaunt. Nach einiger Zeit ließ Frau Meier die Arme sinken und setzte wieder ihr besorgtes Gesicht auf. »Will er nicht?« fragte Herr Meier und goss ihr einen Pfefferminztee auf. Aber Frau Meier starrte nur in ihre Tasse und grübelte. Nach einer Weile stand sie entschlossen auf. Sie steckte Piepchen in die Schürzentasche und eilte hinaus in den Garten. Herr Meier ging währenddessen einer seiner zahllosen Lieblingsbeschäftigungen nach. Draußen im Garten hätte er Frau Meier sehen können, wie sie mit großer Mühe in den alten Kirschbaum kletterte. Das tat sie sonst nie, und deshalb war sie ganz außer Atem, als sie vorsichtig auf einem der oberen dicken Äste Platz nahm. Noch etwas zittrig von der Anstrengung, nahm sie die junge Amsel aus der Schürzentasche und setzte sie mit ein bisschen Abstand neben sich auf den Ast. Dann begann sie wieder mit den Armen zu rudern und hoffte, der kleine Vogel würde vielleicht jetzt mit seinen Flügeln das gleiche tun.

Aber das tat er nicht. Wie schon vorher schaute er Frau Meier nur sichtlich verwundert an und rührte sich nicht vom Fleck. Schwach wedelte Frau Meier noch einige Male, dann legte sie ihre Hände in den Schoß und machte wieder ihr besorgtes Gesicht. Hatte sie Piepchen die falschen Raupen gegeben? Konnte ein kleiner Vogel nur dann fliegen, wenn er eine bestimmte Menge Fließen gefressen hatte? Oder war Piepchen am Ende doch ein kleiner Pinguin? Wie war er dann aber in ihren Garten gekommen? Durch ihre Gedanken ziemlich beunruhigt, schaute sie von ihrem Ast aus in das kleine Tal hinunter. Piepchen schaute mit. Die buckligen Wiesen lagen in der Abendsonne, einige verspätete Bienen knusperten an Schafgarbe herum, sonst war alles sehr still. Sie sah hinüber bis zum Wäldchen auf der anderen Seite, dann schaute sie in den Himmel hinauf. Dort schwebten

zwei

mittelgroße Wolken nah beieinander.

Plötzlich

durchzuckte Frau Meier ein sonderbares Gefühl. Sie seufzte tief, hob ihre Arme wieder und – ja, Ihr werdet es hoffentlich glauben – dann rutschte sie vom Ast herunter. Und flog! Nicht hoch hinauf in die Lüfte, aber so ein bisschen in der Mitte zwischen Ast und Erdboden. Die kleine Amsel war plötzlich ganz aufgeregt und hüpfte mit aufgeplusterten Federn hin und her. Nach einer kleinen, etwas wackligen Runde landete Frau Meier, noch nicht sehr elegant, aber genau neben Piepchen auf dem Ast. »Es ist ganz leicht!« sagte sie zu der kleinen Amsel, beinahe ungläubig, denn sie war selbst noch völlig überwältigt davon, wie leicht es gewesen war. Nachdem sie ein wenig verschnauft hatte, schaute sie Piepchen lächelnd an: »Komm, jetzt versuchen wir es mal zusammen!« »Ist es nicht herrlich?«, fragte Frau Meier den kleinen Vogel, nachdem sie wieder (Frau Meier nun schon erheblich geschickter) auf dem Ast gelandet waren.

Piepchen fand es wunderbar, und so wagten sie beim nächsten Mal schon etwas mehr und flogen ein Stück über die Kuhwiese. Dann sagte Frau Meier: »Genug für heute«, und sie landeten beide vor der Haustür. Herr Meier sah von seiner Arbeit auf. Er bemerkte gleich, dass etwas geschehen war, denn nie zuvor hatte er Frau Meier so geheimnisvoll lächeln gesehen. Deshalb fragte er neugierig: »Na, Ihr Amseln, seid Ihr geflogen?« Frau Meier strahlte: »Ja, sogar bis über die Kuhwiese!« Am nächsten Morgen konnte Frau Meier mit dem Frühstück nicht schnell genug fertig werden. »Wir machen einen kleinen Morgenflug!« flötete sie Herrn Meier zu. »Zum Mittagessen sind wir wieder da.« »Tut, was Ihr nicht lassen könnt«, sagte Herr Meier und begann darüber nachzudenken, was er wohl kochen würde.

Wolf Erlbruch: Frau Meier, die Amsel. Wuppertal: Hammer Verlag, 199