Fall 4: Onlinedurchsuchung*

Repetitorium Grundrechte Prof. Dr. Gersdorf WS 2011/2012 Fall 4: Onlinedurchsuchung* Onlinedurchsuchung bezeichnet das heimliche Aufspielen eines so...
Author: Kora Frank
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Fall 4: Onlinedurchsuchung* Onlinedurchsuchung bezeichnet das heimliche Aufspielen eines so genannten Trojaners („Remote Forensic Software“) auf informationstechnische Systeme einer Zielperson. Der Trojaner erlaubt über eine Internetverbindung den Fernzugriff auf die lokal gespeicherten Dateien. Geregelt ist die Onlinedurchsuchung in (einem fiktiven) § 100k StPO: (1) Ohne Wissen des Betroffenen dürfen durch den automatisierten Einsatz technischer Mittel aus informationstechnischen Systemen Daten erhoben werden, soweit bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine Katalogtat des § 100a StPO begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine Straftat vorbereitet hat. (2) § 100b StPO findet auf die technischen Datenerhebungsmaßnahmen nach Abs. 1 entsprechende Anwendung.

A, ein selbsternannter „Dauernutzer“ des Internets, befürchtet, dass der Staat auch ihn auf diese Weise unbemerkt ausspähen kann und hält dies für unvereinbar mit seinen Grundrechten. Da er zahlreiche persönliche Daten auf seinem PC speichert und diesen auch zu Hause nutzt, lägen ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe vor. A fragt, ob er gegen die Neuregelung in § 100k StPO erfolgreich vor Gericht ziehen kann.

*Vgl. auch BVerfG, 1 BvR 370/07 vom 27.02.2008

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Lösungsvorschlag A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde I. Parteifähigkeit 

Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG: beschwerdefähig ist „jedermann“, d.h. jeder Träger von Grundrechten

II. Beschwerdegegenstand 

Zulässiger Beschwerdegegenstand ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt, also Akte der vollziehenden Gewalt, Rechtsprechung und Gesetzgebung



(+), da Gesetz und somit Akt der Legislative

III. Beschwerdebefugnis 

Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG muss der Beschwerdeführer behaupten, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein.



Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung: o Im Rahmen der Beschwerdebefugnis reicht die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung aus, d.h. die Verletzung darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. o A ist Dauernutzer des Internets, nutzt seinen PC nach dem Sachverhalt auch zu Hause und hat auf dem PC persönliche Daten gespeichert o Die Onlinedurchsuchung stellt nach dem SV ein Ermittlungsinstrument dar, das über eine Telekommunikationsverbindung Einsicht in die auf einem Computer gespeicherten Daten ermöglicht, selbst wenn sich die „Zielperson“ zu Hause aufhält o Es erscheint insofern nicht ausgeschlossen, dass A in seinem APR aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG , Art. 10 GG oder Art. 13 GG verletzt ist.



Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit: o Beschwerdeführer muss bei Rechtssatzverfassungsbeschwerde nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ferner selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein o Selbstbetroffenheit -

setzt die Geltendmachung einer eigenen Grundrechtsverletzung voraus

-

hier: (+)

o Unmittelbare Betroffenheit -

A müsste ferner unmittelbar betroffen sein.

-

„Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Norm und ergibt sich die Betroffenheit nicht unmittelbar aus ihr, sondern erst aus einem Vollzugsakt, ist die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich gegen diesen zu richten. Der Kreis der Antragsberechtigten ist in den Fällen der unmittel2

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bar gegen ein Gesetz gerichteten Grundrechtsklage auf diejenigen beschränkt, die zum Anwendungsbereich der Norm in einer spezifischen Nähe stehen. -

Problematisch ist, dass nur derjenige betroffen ist, gegen den schon ein Verdacht vorliegt. Hierfür sind dem SV keine Angaben zu entnehmen. A könnte also nicht unmittelbar betroffen sein, denn unmittelbare Betroffenheit läge grds. erst durch eine auf die Normen gestützte Datenerhebung vor.

-

Vom Grundsatz der Unmittelbarkeit gibt es indes eine Ausnahme: Eine gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn der Betroffene von dem Vollzugsakt keine Kenntnis erlangen kann. Die Anforderungen an die Begründung der Verfassungsbeschwerde sind unter diesen Voraussetzungen erfüllt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch Maßnahmen, die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhen, in seinen Grundrechten berührt wird und eine Kenntnisnahme von Vollzugsakten nicht gesichert ist.

-

Auch hier erscheint es möglich, eine eigene Betroffenheit von A zu verneinen. Denn fraglich ist, ob die intensive Internetnutzung dem geforderten Wahrscheinlichkeitsgrad genügt. Indes ist zu beachten, dass für A als Intensivnutzer des Internets die mögliche Betroffenheit nur noch davon abhängt, dass A selbst einer Katalogtat verdächtig wird. Einen solchen Verdacht kann A aber weder steuern, noch in rechtstaatlichem Sinne kontrollieren. Er hat von einem gegen ihn gerichteten Verdacht keine Kenntnis.

-

Es kann ferner nicht gefordert werden, dass A Verdachtsmomente gegen sich schafft oder – sofern vorhanden – preisgibt, um der eigenen Betroffenheit gerecht zu werden (nemo tenetur).

-

Daher: A ist als unmittelbar betroffen anzusehen. Ein Vollzugsakt kann mangels Kenntnis und wegen eines drohenden schwerwiegenden Grundrechtseingriffs nicht abgewartet werden.

o Gegenwärtige Betroffenheit 

Gesetz ist in Kraft; Möglichkeit des Einsatzes der Maßnahme besteht jederzeit, daher: (+)

Zwischenergebnis: Es besteht die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und A ist durch das Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (a.A. vertretbar) und demzufolge beschwerdebefugt.

IV. Rechtswegerschöpfung 

Gem. § 90 II 1 BVerfGG ist die Beschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig, soweit ein solcher gegeben ist. Erschöpft ist der Rechtsweg, wenn alle prozessualen Möglichkeiten zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung in Anspruch genommen wurden. Hier (+) da kein Rechtsweg gegen formelle Gesetze

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V. Subsidiarität der Rechtssatz-VB 

Der Grundsatz der Subsidiarität erweitert den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung noch über den eigentlichen Rechtsweg vor Gericht hinaus.



Das BVerfG leitet den Subsidiaritätsgrundsatz aus dem Rechtgedanken aus § 90 II BVerfGG ab. Hiernach hat der Beschwerdeführer zunächst zu versuchen, Abhilfe durch andere ausnahmsweise befugte Organe oder Verfahren zu erlangen, insbesondere jede Möglichkeit einer fachgerichtlichen Vorprüfung auszuschöpfen.



Voraussetzung: Dem Beschwerdeführer muss eine zumutbare Möglichkeit zur Verfügung stehen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erreichen oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.



Möglichkeit der fachgerichtlichen Überprüfung der angegriffenen Rechtsnorm: o Dies umfasst insbesondere die sog. Inzidentkontrolle eines Gesetzes. Der Betroffene könnte einen auf das Gesetz gestützten Vollzugsakt abwarten und diesen angreifen und so eine inzidente Prüfung der Ermächtigungsgrundlage selbst und eine Richtervorlage herbeiführen. o Vorliegend könnte sich A – zumindest theoretisch – einen Zugriff provozieren und diesen sodann angreifen und somit eine Inzidentprüfung der Ermächtigungsgrundlage erreichen



Zumutbarkeit der Verweisung auf die fachgerichtliche Vorprüfung: o Umfassende Abwägung, welche die Gesichtspunkte, die für eine Subsidiarität der Rechtssatz-VB gegenüber anderweitigem, vor den Fachgerichten zu erlangenden Rechtsschutz sprechen, den Vorteilen, die sich dem Beschwerdeführer aus einem sogleich eröffneten verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz bieten, gegenüberstellt o Hier Unzumutbarkeit der Verweisung auf die Inzidentkontrollmöglichkeiten vor den Fachgerichten:



-

Provozierung eines Onlinezugriffs setzte Verdachtserregung einer schweren Straftat voraus

-

A erhielte von dem Zugriff keine Kenntnis, so dass er – praktisch gesehen – keine Möglichkeit hätte, dagegen vorzugehen

Zwischenergebnis: Grundsatz der Subsidiarität hier gewahrt

VI. Ordnungsmäßigkeit des Antrags und Frist 

Gem. § 23 I BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde schriftlich, mit Begründung und erforderlichen Beweismitteln einzureichen; davon ist auszugehen



Gem. § 93 III BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz binnen eines Jahres zu erheben; davon ist auszugehen

VII. Ergebnis 

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

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B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde  Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch das Gesetz tatsächlich in einem seiner Grundrechte verletzt wird, Art. 93 I Nr. 4a GG. 

Ein Grundrecht ist verletzt, wenn dasjenige Verhalten, an dem sich der Beschwerdeführer durch das Gesetz gehindert sieht, in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, das Gesetz in dieses Grundrecht eingreift und dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist.

I. Verstoß gegen Art. 10 GG 

§ 100k StPO könnte gegen Art. 10 GG verstoßen. 1. Schutzbereich 

Art. 10 I GG schützt die Vertraulichkeit von Kommunikationsinhalten über räumliche Distanz. Über die Tatsache der Kommunikation hinaus sind auch alle ihre näheren Umstände geschützt.



Solange und soweit der Entäußerungsprozess selbst betroffen ist oder sich die Nachricht auf dem Übermittlungsweg befindet, kommt ihr wegen ihrer Entäußerung aus dem Herrschaftsbereich von Absender oder Empfänger Grundrechtsschutz nach Art. 10 I GG zu.



Bevor sie beim Absender in das Medium gelangt ist und nachdem sie dem Empfänger zugegangen ist, besteht dagegen kein Schutz aus Art. 10 I GG.



Es muss folglich immer ein aktueller Kommunikationsvorgang betroffen sein.



Nur vereinzelt wird vertreten, dass Art. 10 I GG auch unabhängig von einem konkreten Kommunikationsprozess auf Verwirklichung drängt. Damit wird aber die Reichweite des Art. 10 I GG, der den Gefahren einer Fernübermittlung der Kommunikationsinhalte und den damit verbundenen erleichterten Zugriffsmöglichkeiten des Staates begegnen soll, über Gebühr ausgedehnt



Der Grundrechtsschutz des Art. 10 I GG erstreckt sich nicht auf die nach Abschluss eines Kommunikationsvorganges im Herrschaftsbereich eines Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalte und Umstände der Telekommunikation.



Hier: o A macht geltend, dass seine persönlichen und sensiblen Daten ausgespäht werden könnten. o Da der aktuelle Kommunikationsprozess nur der Übermittlung der Remote Forensic Software dient, besorgt A vor allem einen Zugriff auf gespeicherte Inhalte. o Diese sind indes nicht vom Schutz des Art. 10 I GG umfasst. Damit ist der Schutzbereich von Art. 10 I GG nicht eröffnet.

2. Zwischenergebnis 

Das Gesetz verstößt nicht gegen Art. 10 GG.

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II. Verstoß gegen Art. 13 GG 

Möglicherweise verstößt § 100k StPO jedoch gegen Art. 13 GG. 1. Schutzbereich 

Nach Art. 13 I GG ist die Wohnung unverletzlich. Als Wohnung sind alle Räume einzustufen, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht sind. Innerhalb dieser räumlichen Sphäre verbürgt Art. 13 I GG das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.



Problematisch ist, dass A sich vorliegend nicht auf ein „wohnungstypisches“ Verhalten beruft. Er macht nicht geltend, seines räumlichen Rückzugsbereiches beraubt zu sein, sondern, dass Daten aus dem Bereich der Wohnung erhoben werden könnten. Ob dies die Einschlägigkeit des Art. 13 GG zur Folge hat, ist umstritten. a) Ansicht im Schrifttum  Überwiegend wurde die Einschlägigkeit des Art. 13 I GG in der rechtswissenschaftlichen Literatur jedenfalls dann bejaht, wenn sich das informationstechnische System innerhalb einer privat genutzten Wohnung befindet. 

Argumente: o System bilde keine Exklave innerhalb des grundrechtlich geschützten Bereiches o mangelndes körperliches Eindringen hindere Anknüpfung nicht o freiwilliges Surfen im Internet lasse Schutz des Art. 13 I GG nicht entfallen o in den Daten spiegele sich die räumliche Sphäre der Wohnung wider

b) Ansicht der Rechtsprechung  Dagegen hat das BVerfG in seiner Leitentscheidung vom 27.02.2008 die Einschlägigkeit von Art. 13 I GG verneint. 

Argumente: o potentiell variierender Standort der informationstechnischen Systeme o Schutzlücken des Art. 13 I GG

c) Entscheid  Trotz dogmatischer Begründungsschwächen dieser Auffassung sprechen vor allem Praktikabilitätsgesichtspunkte für die Verneinung eines nur partiellen Schutzes aus Art. 13 I GG. 

Die Auffassung des BVerfG ermöglicht eine trennscharfe Abgrenzung zwischen der räumlichen Dimension der Freiheitsentfaltung in der Wohnung 6

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und dem umfassenden, nunmehr einheitlich unter Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG fallenden Schutz personenbezogener Daten. 

Die Qualität und Quantität des Datenbestands ist unabhängig vom Standort des informationstechnischen Systems. Das Spezifische des Datenzugriffs ist daher nicht die Überwindung einer räumlichen Schwelle, sondern die Kenntnisnahme von sensiblen Informationen.



Art. 13 I GG ist nur für Eingriffe mit räumlichen Auswirkungen als Maßstab heranzuziehen. An einer solchen räumlichen Auswirkung fehlt es bei der vorliegenden reinen Datenabfrage. Auch A hat eine solche nicht vorgetragen.

2. Zwischenergebnis 

§ 100k StPO verstößt nicht gegen Art. 13 I GG.

III. Verstoß gegen Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG 

Möglicherweise verstößt § 100k StPO gegen Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG. 1. Schutzbereich 

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde vom BVerfG aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG entwickelt.



Es besitzt einen fallgruppenorientierten Schutzbereich mit unterschiedlichen Ausprägungen. o Als Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG vor ungewollter Offenbarung persönlicher Sachverhalte. o Daneben hat das BVerfG in seiner Leitentscheidung vom 27.02.2008 die besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (VIIS) geschaffen.



A möchte, dass seine gespeicherten Daten keiner staatlichen Kenntnisnahme unterliegen. Fraglich ist daher, welche Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegend heranzuziehen ist. a) Subsidiarität des VIIS-Grundrechts  Das VIIS-Grundrecht ist gegenüber dem Grundrechtsschutz aus Art. 10 I oder Art. 13 I GG sowie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung subsidiär und nur anzuwenden, wenn spezielle Freiheitsgewährleistungen keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren. 

Jedenfalls Art. 10 I und Art. 13 I GG bieten keinen solchen (umfassenden) Grundrechtsschutz vor dem Zugriff auf informationstechnische Systeme und sperren daher die Anwendbarkeit des VIIS-Grundrechts nicht.

b) Abgrenzung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung  Das durch das BVerfG neu geschaffene VIIS-Grundrecht ist gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzugrenzen. 7

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Diese Abgrenzung hat vor allem nach der Art der Persönlichkeitsgefährdung zu erfolgen. o Entscheidend ist das Gewicht des staatlichen Zugriffs für die Persönlichkeit des Betroffenen und die besondere Grundrechtsrelevanz und Grundrechtsgefährlichkeit informationstechnischer Systeme. o Wenn lediglich Daten mit einem punktuellen Bezug zu einem bestimmten Lebensbereich abgerufen werden, ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anzuwenden. o Das VIIS-Grundrecht ist hingegen dann anzuwenden, wenn der staatliche Zugriff Systeme erfasst, die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung der Person zu gewinnen. o Kurzum: Es muss ein besonders grundrechtssensibles informationstechnisches System betroffen sein, dass in erheblichem Umfang und erheblicher Vielfalt Rückschlüsse auf die Person des Betroffenen zulässt.



Hier: o Vorliegend befürchtet A, dass der staatliche Zugriff nicht nur generell informationstechnische Systeme erfasst, sondern auch seinen PC. o Auf diesem hat er laut Sachverhalt eine Vielzahl unterschiedlicher Datenbestände gespeichert, die zu einem informatorischen Gesamtbild über ihn kombiniert werden könnten. o Hierin verwirklicht sich die Gefährlichkeit moderner Kommunikationssysteme. o Auch geht die mögliche Datenerhebung im Rahmen der Onlinedurchsuchung in ihrer Intensität weit über den einzelnen Datenzugriff, der vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfasst würde, hinaus. o Mithin ist vorliegend das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m Art. 1 I GG in seiner Ausprägung als VIIS-Grundrecht anzuwenden.

c) Schutzbereich des VIIS-Grundrechts  Das VIIS-Grundrecht schützt das Interesse des Nutzers, dass die von einem informationstechnischen System erzeugten, verarbeiteten und gespeicherten Daten vertraulich bleiben. 

Erfasst werden davon diejenigen informationstechnischen Systeme, die rein tatsächlich in der Lage sind, persönliche Daten in einem Umfang zu 8

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speichern, der die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils des Nutzers ermöglicht. 

In der Ausprägung des VIIS-Grundrechts schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht folglich vor einem heimlichen Zugriff, durch den die auf dem System vorhandenen Daten ganz oder zu einem wesentlichen Teil ausgespäht werden können.



Der Schutz reicht indes nur so weit, wie auch der Nutzer nach den konkreten Umständen darauf vertrauen kann, dass er allein oder gegebenenfalls mit anderen berechtigten Nutzern über das informationstechnische System verfügt.



Hier: o A will seinen PC unbekümmert und universell nutzen o A speichert laut SV Vielzahl persönlichkeitsrelevanter Sachverhalte, die er nicht zur Kenntnis staatlicher Organe geben will o Daher: APR in seiner Ausprägung als VIIS-Grundrecht betroffen

2. Eingriff 

In diesen von Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG statuierten Schutzbereich müsste § 100k StPO eingreifen.



Nach dem modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechtes fällt ganz oder teilweise unmöglich macht oder erheblich erschwert.



Hier: o Vorliegend wird zwar noch nicht auf die Daten des A zugegriffen, das Gesetz ermächtigt indes zur Durchführung eines solchen Zugriffs, ohne dass A hiervon Kenntnis erhielte. o In diesem Fall ist dem A nicht zumutbar, einen etwaigen (und unbemerkten) Vollzugsakt abzuwarten. Ein Eingriff liegt direkt in der Regelung des § 100k StPO. Bereits die abstrakte Regelung ermöglicht dem Staat die unbemerkte Kenntnisnahme sensibler Daten, die damit ihren Vertraulichkeitsstatus einbüßen. Hierdurch kann sich der Einzelne ggf. auch gezwungen sehen, sein Verhalten im Umgang mit sensiblen Daten grundlegend zu ändern. o Mithin fällt die Onlinedurchsuchung in den Schutzbereich des VIISGrundrechts. Es liegt mithin bereits mit § 100k StPO ein Eingriff in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG vor.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 

Das VIIS-Grundrecht ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Eingriffe, die auf einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage beruhen, haben vor der VIISAusprägung des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG Bestand.

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Vorliegend erfolgt der Eingriff unmittelbar durch § 100k StPO. Dieser müsste daher formell und materiell verfassungsgemäß sein. a) Formelle Rechtmäßigkeit  Keine Bedenken gegen formelle Rechtmäßigkeit 

Insbesondere Bundeskompetenz aus Art. 74 I Nr. 1 GG, Art 72 I GG

b) Materielle Rechtmäßigkeit  Das Gesetz müsste ferner auch materiell verfassungsgemäß sein. 

§ 100k StPO müsste daher dem aus dem Wesen der Grundrechte und dem Rechtstaatsprinzip fließenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dieser verlangt, dass der Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist. aa) Legitimer Zweck  § 100k stopp dient der effizienten Strafverfolgung, deren Bedeutung das BVerfG in ständiger Rechtsprechung hervorhebt bb) Eignung  § 100k StPO ist auch geeignet, diesen legitimen Zweck zu fördern. 

Man könnte dies zwar mit dem Argument anzweifeln, dass gerade organisierte, kriminelle Strukturen in der Lage sein werden, ihre informationstechnischen Systeme gegen den staatlichen Zugriff zu schützen und somit unerkannt zu bleiben. Technische Schutzmechanismen können die Onlinedurchsuchung zwar nicht dauerhaft unterbinden, gleichwohl den staatlichen Zugriff zeitlich verzögern und insgesamt erschweren.



Darüber hinaus können Kommunikationsteilnehmer durch tatsächliches Ausweichverhalten auf öffentliche Kommunikationsmöglichkeiten, wie beispielsweise Internetcafés, die Zuordnung der Kommunikation zur jeweiligen Zielperson und somit die staatliche Erkenntnisgewinnung erheblich erschweren. Gerade organisierte Zielstrukturen werden hier erkenntnishemmend tätig werden.



Gleichwohl nimmt dies der Maßnahme „Onlinedurchsuchung“ nicht ihre Zweckförderlichkeit. Dass die Onlinedurchsuchung keinerlei brauchbare Ergebnisse zu liefern in der Lage wäre, lässt sich kaum vertreten.



Schließlich ist zu berücksichtigen, dass dem Staat insofern eine Einschätzungsprärogative zukommt.

cc) Erforderlichkeit  Erforderlich ist § 100k StPO, wenn kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Zweckes verfügbar ist.

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Hier könnte man erwägen, „herkömmliche“ Durchsuchungen als generell milderes Mittel anzusehen, weil diese – entgegen der Onlinedurchsuchung – offen erfolgen.



Dem kann aber entgegnet werden, dass „herkömmliche“ Durchsuchungen den physischen Zugriff auf das Zielsystem voraussetzen, die Onlinedurchsuchung dagegen ohne direkten Zugriff auskommt. Als generell milderes Mittel scheidet die klassische offene Durchsuchung daher aus.



Entscheidend ist jedoch, dass die heimliche Onlinedurchsuchung gerade bei organisierten Strukturen das Auftreten eines Vorwarneffektes vermeidet. Daher bestehen im Vergleich zur Onlinedurchsuchung keine gleich effektiven Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks.



§ 100k StPO ist erforderlich.

dd) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne  Sodann müsste § 100k StPO verhältnismäßig im engeren Sinne sein. 

Das Gebot der Verhältnismäßigkeit verlangt insofern, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. o Auf der einen Seite hat das BVerfG in den einschlägigen Entscheidungen der letzten Jahre die Anzahl der (potentiell) betroffenen Grundrechtsträger, die Einschreitschwellen und die Intensität der Beeinträchtigung als Abwägungskriterien herangezogen. o Auf der anderen Seite sind das strafrechtliche Gewicht der verfolgten Taten und der zu erwartende Erfolg der Ermittlungen zu berücksichtigen.



Wertigkeit des Schutzgutes o Effiziente Strafverfolgung wird in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben o Für den präventiven Bereich hat das BVerfG entschieden, dass nur ein überragend wichtiges Schutzgut die Onlinedurchsuchung rechtfertigen kann. Überragend wichtig sind Leib, Leben, Freiheit des Einzelnen und sonstige Rechtsgüter die für den Staat von unverzichtbarer Voraussetzung sind. Dies entspricht den Schutzgütern des § 100a StPO. o Man wird dies beispielsweise auch für Bestechungsdelikte, die besondere Bedeutung für einen funktionierenden Staatsapparat zeitigen, annehmen können (a.A. vertretbar).

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o Die Onlinedurchsuchung ist vorliegend auf die Fälle des § 100a StPO beschränkt. Dem Erfordernis des Vorliegens eines überragend wichtigen Schutzgutes ist also entsprochen. 

Intensität des Grundrechtseingriffs o Ausgangspunkt der Abwägung ist, dass die staatliche Datenerhebung aus informationstechnischen Systemen aufgrund des Potentials zur umfassenden Persönlichkeitsausforschung einen Grundrechtseingriff hoher Intensität darstellt. Der Bestand der Daten, auf den der Staat durch die Onlinedurchsuchung zugreifen kann, ist vielfältig und wird teilweise persönliche Daten gesteigerter Sensibilität enthalten. o Hier fällt auf, dass § 100k StPO tatbestandlich sehr weit gefasst ist. 

Weder wird festgelegt, welche Daten konkret ausgelesen werden dürfen, noch wird normiert, welchen staatlichen Stellen der direkte oder auch mittelbare Zugriff auf die gewonnenen Datensätze erlaubt ist.



Darüber hinaus könnten den staatlichen Stellen – beispielsweise durch die Onlinekopie einer Festplatte – Informationen über gänzlich Unbeteiligte in die Hände fallen. Diese erhöhte Streubreite der Onlinedurchsuchung und der daraus resultierende Abschreckungseffekt für die Nutzung von Kommunikationseinrichtungen durch Unbeteiligte ist zu berücksichtigen.

o Ferner findet die Datenerhebung ohne Wissen des Betroffenen statt und stellt sich bereits daher als besonders eingriffsintensiv dar.





Die Heimlichkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen stellt in einem Rechtsstaat eine Ausnahme dar und bedarf besonderer Rechtfertigung.



Gegen diese Maßnahme kann der Betroffene sich kaum wirksam schützen, zielt die staatliche Maßnahme gerade darauf ab, etwaige Schutzmechanismen des Zielsystems zu umgehen. Auch dies erhöht die Eingriffsintensität der Onlinedurchsuchung.

Adressatenkreis o Auf der anderen Seite ist der Adressatenkreis der Onlinedurchsuchung stets individuell; im Gegensatz zur Rasterfahndung oder Vorratsdatenspeicherung ist vorliegend kein nach allgemeinen Merkmalen bestimmbarer Personenkreis betroffen, sondern eine individuelle Person. 12

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o Dies reduziert die Eingriffserheblichkeit gegenüber der Vorratsdatenspeicherung. 

Hinreichender Tatverdacht o Für den präventiven Bereich ist entschieden, dass die Onlinedurchsuchung nur im Falle einer konkreten Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter zulässig ist. Für den repressiven Bereich ist daher zu fordern, dass die Norm einen auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Tatverdacht vorschreibt. o Vorliegend sieht § 100k StPO vor, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht einer Katalogtat begründen. Dies ist als ausreichend anzusehen (a.A. vertretbar).



Grundrechtsschutz durch Verfahren o Das BVerfG hat ferner entschieden, dass die Onlinedurchsuchung zwingend unter Richtervorbehalt stehen muss. § 100k StPO genügt durch den Verweis auf § 100b StPO dieser Vorgabe. o Nach § 100k III StPO muss ferner zunächst ein Richter das gewonnene Datenmaterial sichten und erst dann dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden Preis geben. o Hier ist zu erkennen, dass § 100k StPO einen Richtervorbehalt vorsieht und diesem Erfordernis genügt, die Regelung in Abs. 3 jedoch ohne Gewinn ist.





Zwar geht das Grundgesetz davon aus, dass Richter auf Grund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer ausschließlichen Bindung an das Gesetz (Art. 97 I GG) die Rechte der Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren können.



Allerdings dient nur die richterliche Anordnung nach § 100k II StPO der vorbeugenden Kontrolle einer geplanten heimlichen Ermittlungsmaßnahme.



Nach § 100k III StPO sichert nicht der Richter auf Antrag einen Grundrechtseingriff durch die Exekutive ab, sondern nimmt den Grundrechtseingriff selbst vor. In der Rechtsprechung des BVerfG ist indes anerkannt, dass es grundsätzlich für die Intensität eines Grundrechtseingriffes keine Rolle spielt, welche öffentliche Gewalt Kenntnis von dem persönlichkeitsrelevanten Datenmaterial nimmt.

Hinreichender Kernbereichsschutz o Schließlich hat die Durchsicht der erhobenen Daten auf kernbereichsrelevante Inhalte ein geeignetes Verfahren 13

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vorzusehen, dass den Belangen des Betroffenen hinreichend Rechnung trägt. o Heimliche Maßnahmen haben einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 I GG ergibt. o Ergibt die Durchsicht, dass kernbereichsrelevante Daten erhoben wurden, sind diese unverzüglich zu löschen. Eine Weitergabe oder Verwertung ist auszuschließen (praktikable Lösung des BVerfG; Löschungsgebot/Weitergabeverbot). o Nach dem Sachverhalt sind kernbereichsschützende Vorkehrungen nicht vorhanden: weder existieren wirksame Regelungen zur Vermeidung einer Kernbereichsberührung, noch wird die Onlinedurchsuchungen als ultima-ratioMaßnahme eingestuft, noch eine zeitliche Begrenzung der Maßnahme vorgesehen. 

Zwischenergebnis: § 100k StPO ist unverhältnismäßig und verstößt daher gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

4. Zwischenergebnis 

§ 100k StPO ist materiell verfassungswidrig. Der Eingriff in Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG ist demzufolge nicht gerechtfertigt.



§ 100k StPO verstößt gegen Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG.

IV. Ergebnis der Begründetheit 

§ 100k StPO steht nicht im Einklang mit den Grundrechten des A.

C. Gesamtergebnis  Eine Verfassungsbeschwerde des A ist zulässig und begründet.

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