HAUTNAH  Langlauf Jura

Langlauf Jura  HAUTNAH

Eine Traverse durch den Jura

DIE LANGE SPUR DURCH DIE EINSAMKEIT Der Jura verfügt über das grösste, zusammenhängende Loipennetz der Welt. Auf einer Traverse lässt sich seine raue Einsamkeit und weite Landschaft erleben. Ein Stück Kanada am Rande der Schweiz.

«Wind. Schneegestöber. Die Flocken schiessen waagrecht auf uns zu und machen uns blind», notiert Maurice Chappaz mit klammen Fingern in sein Notizbuch, damals im Februar 1976. Eine von Radio Suisse Romande und der Lausanner Tageszeitung «24 Heures» beauftragte Gruppe, darunter der Walliser Dichter, ist dabei, den Jura mit Langlaufski zu durchqueren. Wie sie erreichen wir erst in der Dunkelheit den Grat. Eine Frau hatte uns unten am Langlaufzentrum von Prés d’Orvin gesagt, zum Chasseral dauere es nur zweieinhalb Stunden. Erst später Vormittag wars, wir hatten uns also Zeit gelassen, zuviel Zeit, in der Bison-Ranch am flackernden Kaminfeuer Suppe und Würste verspeist, auf den weiten Lichtungen getrödelt und die Ausblicke genossen. Dann aber, wo sonst eigentlich eine Loipe hätte sein sollen, meterhoher Schnee, durch den wir uns schuften mussten. Und die Stunden verrannen.

Sturm am Chasseral Jetzt, am Grat, bläst uns der Wind fast um. Einem Ungetüm gleich ragt der Sendeturm auf dem Gipfel des Chasseral 120 Meter in die Höhe. Er quietscht und ächzt. Der Kamm ist verblasen, eisig. Schwierig, die leichten Bretter an unseren Füssen unter Kontrolle zu

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Langlauf Jura  HAUTNAH Idyllischer Aufstieg von Prés d'Orvin zum Chasseral. halten, die steilen 50 Höhenmeter zu bewältigen, dabei den Weg nur erahnend, dessen Richtung uns die Lichter des Berghotels angeben. Endlich, wir purzeln quasi durch den Windfang. Im Inneren merkt man nichts vom Sturm, so dick sind die Mauern. Ein typisches Jurahaus. Einziges Manko: die Gaststube ist einer jener etwas ungemütlichen Selfservice-Stationen gewichen. Trotz Sturm und eisiger Kälte ist was los. Gruppen rühren emsig im Fondue und werden danach mit Stirnlampen auf Schlitten, Snowboards oder Ski zu Tal rauschen. Das hat mittlerweile Tradition. Die Leute seien sportlich geworden, sagt die Wirtin. Früher wären nicht so viele im Dunkeln runter. Wir sind die einzigen Gäste, die über Nacht bleiben. Wir spähen durch die zugeschneiten Fenster. Manchmal sind die Lichter aus dem Tal erkennbar, dann wieder pures Nichts. Auch am nächsten Morgen. Dass hier gerne raue Temperaturen und scharfe Winde herrschen, erzählen die windschiefen Bäume, die nur in Richtung Lee ihre Äste entfalten, und die Eiskristalle, die auf den Weidepfosten lustige Pfeile bilden. Wie damals Maurice Chappaz zieht uns «der Jura in seinen Bann, der wahre Jura, wie er ist ohne Sonne, herb und düster, unheimlich und verführerisch». Der Schriftsteller liebte «diese Verschlossenheit, diese Unversöhnlichkeit der Felstäler, diesen Irrgarten von Mulden und Tälern», diese nordische Horizontale, die so ganz im Kontrast steht zu der Vertikalen seiner Walliser Heimat. Leicht lässt sich hier bei schlechter Sicht die Orientierung verlieren. Nur das Schild am Col du Chasseral verrät, dass wir die Strasse erreicht haben, tief vergraben unter unseren Füssen. Eine kaum sichtbare Unebenheit im Schnee zeigt ihren Verlauf in ein Tälchen, und endlich geschieht, was wir erhofften. «Der Nebel geht auseinander. Tannenreihen mit Gehängen aus Eis erscheinen und beginnen zu glitzern, wie wenn sich eine Schatzkammer öffnete.» Wir erleben, was Maurice Chappaz so treffend beschrieben hat. Die Abfahrt in die Mulde bleibt nicht ohne Purzelbäume. Vereinzelt sieht man dick verschneite Höfe. Métairie nennt man sie hier im Chasseralgebiet, vom lateinischen «medietas» (die Hälfte) abgeleitet, und so bezeichnet, weil die Pächter dieser Bauern- und Meierhöfe einst dem Grundbesitzer die Hälfte des Bodenertrags abliefern mussten. Die meisten haben heute auf Gastronomie umgestellt, in manchen kann auch übernachtet werden. Im Winter sind jedoch nur einige am Loipennetz von Prés d’Orvin geöffnet, urchige Einkehrstationen – wie gesagt, wir hatten zum Chasseral arg lange gebraucht.

Erster Kontakt mit der Traversée du Jura Suisse Jetzt sind es wieder Berge von Schnee, die uns vom kleinen Skigebiet von Savagnières trennen. Viel Schnee muss es auch im Februar 1976 gegeben haben, denn die Gruppe mit Chappaz konnte von Basel aus starten, was in den letzten Jahren eher selten möglich gewesen wäre. Neun Tage hatte sie gebraucht, um den Jura bis zur Rhoneklus zu meistern. Wie lange wir unterwegs sein werden, wissen wir noch nicht. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Wetter und Intuition werden uns leiten. In Savagnières trifft man auf die ersten TJS-Schilder. Hier beginnt (oder endet) die Traversée du Jura Suisse – 163 km de rêve. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Traum, so viele Kilometer einer Loipe in eine Richtung folgen zu können. Wo gibt es das schon. Pierre, den wir in einer Beiz kennenlernen, kann es nicht fassen. Seine Kollegen aus Biel fahren extra ins Wallis, um sich dort ein paar mickrige Kilometer im Kreis zu drehen, dabei könnten sie quasi direkt von der Haustür schier endlos gen Süden langlaufen. Der Jura langweilig, weil ihm die Viertausender fehlen? Von wegen. Nirgends lässt sich die Alpenkette besser bestaunen, als von seinen Höhenzügen. Wann immer es die Zeit erlaubt, picken sich Pierre und seine Frau einen Abschnitt aus dem unermesslichen, insgesamt rund 3000 Kilometer umfassenden Loipennetz des Jura heraus. Kaum ein paar Minuten von Savagnières entfernt umgibt uns wieder Einsamkeit pur. Schwungvolles Gleiten mal durch herrlich verschneite Waldhaine, mal durch offenes Gelände mit einzel stehenden Bäumen – gewaltige, perfekt gewachsene Fichten –, die der Landschaft etwas parkähnliches verleihen. Für Maurice Chappaz ragen sie «wie Pagoden» in den Himmel. Erneut verhüllt der Nebel jetzt die Szenerie. Die klirrende Kälte hält uns vom Picknick ab. Dabei knurrt der Magen schon eine ganze Weile. Erst im Schutz einer Steinhütte kauern wir nieder, beissen in unseren angefrorenen Proviant. Es mag nicht so recht schmecken. Später, am Loipenhaus von Vue des Alpes, holt uns der Wärter rein zum Tee, das tut gut. Jetzt ist es auch nicht mehr weit bis zum Etappenziel La Sagne.

Schlemmen in La Sagne Eine schwungvolle Abfahrt durch die Combe des Quignets führt uns in das Hochtal, wo sich schnurgerade die

Urchige Bleibe: Das Chalet Les Pralets. 98

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Häuser der Strasse entlang ziehen. «Der Herrgott von La Sagne muss Grafiker gewesen sein», bemerkt Chappaz. Um Jahrzehnte zurück versetzt uns das Hotel von Bergen. Es wurde bereits 1871 als kleines Kurhotel eröffnet, und der Charme ist dank dem Engagement von Evelyne und Pierre Bühler durch eine schonende Renovierung erhalten geblieben. Noch immer kocht Madame Bühler auf einem schmiedeeisernen Holzherd von 1905, und zwar ungemein köstliche Gerichte ausschliesslich aus regionalen Produkten. Da köcheln Boeuf bourguignon oder Kutteln nach Neuenburger Art und verströmen einen verführerischen Duft – essen wie bei «maman». Hat man sich dann mit vollem Magen die knarrende Stiege hochgeschleppt, plumpst man in dicke Federbetten. Ein Ruhetag liesse sich hier gut einlegen. Doch anderntags lacht die Sonne, glitzern die zusammengeschaufelten Schneeberge vor der Haustür, dass es einen wieder auf Wanderschaft zieht. Hinauf zum Grand Som Martel, wo sich endlich die Alpen zeigen. Eiger, Mönch und Jungfrau sind sofort identifizierbar. Im Gasthof werden wir vom Wirt mit Handschlag begrüsst. Noch so eine Eigenart im Jura, eine sehr sympathische. Alberto stellt gerade eine frische Tarte à la crème auf den Tresen. Da kann niemand widerstehen. «Som leitet sich übrigens von Sommet, also Gipfel, ab», erklärt uns Alberto den eigenwilligen Namen, «und Martel kommt von Marais, Sumpf, der das Hochtal von La Sagne über Jahrhunderte prägte.» Die Traverse über den Som Martel könnte man fast als Beizenbummel bezeichnen. Einen Katzensprung weiter bietet der Hof von Petit Som Martel Einkehr, dann La Petite Joux... und schon gelangt man in rasantem Schwung ins Hochtal von La Brévine, dem Kältepol, dem Sibirien der Schweiz.

Sibirien der Schweiz Die strukturschwache Region hat sich gedacht: Drehen wir einfach den Spiess um und machen aus der Kälte eine touristische Attraktion. Sie gründete den Verein «Vallée de la Brévine – Sibérie de la Suisse» just 25 Jahre nach dem Kälterekord vom 12. Januar 1987, als 41,8°C gemessen wurden. Zum Auftakt gabs das erste «Fest der Kälte», das nun jährlich stattfinden wird. «Die Leute

Über den Höhenzug von La Clochette gen Vue-des-Alpes.

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Wegweiser am Chasseral.

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sollen künftig nicht trotz, sondern wegen der Kälte hierher kommen», betont Jean-Daniel Oppliger. «Sie sollen sich damit brüsten, bei –30 Grad in einem Jacuzzi unter freiem Himmel gebadet zu haben.» Oppliger ist Initiant der Vereinigung und zugleich Inhaber der Auberge au Loup Blanc in La Brévine – unser Etappenziel, nachdem wir von La Chaux-du-Milieu neun Kilometer durch das topfebene Tal geglitten sind. Die jüngst renovierte Stube im Bistro-Stil ist gut besetzt. Im Kaminfeuer brutzeln in Alu verpackte Vacherins Mont-d’Or. Der neuste Schrei, diesen speziellsten aller Jurakäse geschmolzen zu essen. Eine schöne Zeremonie, doch wir stellen fest, das er in kaltem Zustand weniger nach Ammoniak und damit noch etwas besser schmeckt. Schneesturm löst die Sonne vom Vortag ab. La Brévine zeigt sich nun wirklich sibirisch, obwohl die Météo­ station an der Kirche, die seit 1895 als eine der ersten der Schweiz besteht, nur –20°C misst. Doch der beissende Wind verdoppelt die Kälte, so fühlt es sich zumindest an. Wie Gewehrsalven schiessen die Schneeflocken ins Gesicht, hinterlassen puderrote Backen. Nicht nur das Wetter ist ein Wink, sondern auch die im Februar fast immer ausgebuchten Unterkünfte des französischen Juras, durch den die TJS (zum grossen Teil identisch mit der GTJ, der französischen «Grande Traversée du Jura») bis zum Lac de Joux verläuft. Die Alternative heisst

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Haute Route du Jura. Sie folgt nonstop der ersten Jurakette, beinhaltet aber auch ungespurte Abschnitte, für die Offtrack-Langlaufski besser geeignet sind. Mit dem Bus sind wir schnell im benachbarten Val de Travers, als der Sturm sich verzogen hat.

Hier wollte man länger bleiben Die Ferme Robert liegt verlassen da. Dahinter gähnt das Naturdenkmal wie ein Maul. Von oben wirkt die Felsen­ arena des Creux du Van wie ein Vulkankrater, ist in Wirklichkeit aber der Einbruchstrichter einer hohen Jurafalte. Der Bogen der Felswände, die senkrecht an die 200 Meter in die Tiefe stürzen, misst fast vier Kilometer. Wir wagen uns vorsichtig bis an den Rand, harren dort für eine ganze Weile aus, geniessen die Naturdramatik und die Stille. Vielleicht sehen wir Steinböcke oder Gämsen, die sich hier gerne aufhalten sollen. Das geologisch und botanisch wertvolle Gebiet wurde bereits 1882 zum ersten privaten Naturschutzgebiet der Schweiz erklärt, schliesslich 1960 unter kantonalen Schutz gestellt. Langsam taucht die Nachmittagssonne das grelle Weiss in weiches Licht. Der Alpenkamm schält sich immer klarer aus dem Dunst. Hier oben wollte man bleiben, wären da nicht die in unmittelbarer Nähe liegenden Ferme Auberges

geschlossen. Aber Pierre von Savagnières hatte uns einen Tipp gegeben: die Cabane Perrenoud. Sie ist zwar nur an Wochenenden bewartet, aber man kann sich für werktags den Code für das Schlüsseldepot geben lassen. Doch wo liegt die Hütte? Vom Aussichtspunkt Soliat sehen wir eine Silhouette etwas südöstlich auf einem unscheinbaren Hügel, dem Crêt Teni. Das muss sie sein. Die Aussicht auf dem Weg dorthin ist spektakulär. Das Drei-Seen-Land zu Füssen versinkt langsam im Schatten, rot glühen die Alpen vom Säntis bis zum Mont Blanc. Nicht nur die Lage der Cabane Perrenoud ist einzigartig, auch das Interieur. Ein gewaltiger Kamin steht in der hölzernen Stube und das Heizsystem ist so gut durchdacht, dass gar in die sonst bitterkalten Schlafräume Wärme strömt. Wir küren sie zur besten Hütte der Schweiz. Umwerfend auch die nächtlichen Impressionen: die Lichterkette am Saum der Seen, darüber das schwarze Zackenband der Alpen und der unermessliche Sternenhimmel. Da verfliegt selbst die stärkste Müdigkeit. An Ausschlafen ist auch nicht zu denken, will man den Sonnenaufgang erleben. Direkt an der Hütte zieht die Loipe vorbei und dennoch begegnet uns kein Mensch. Erst in der Nähe von La Rondenoire treffen

wir auf Gruppen, die zur Ferme streben. Camille, die junge Wirtin, hat schon Dutzende von Kuchen gebacken, schiebt ununterbrochen Kartoffelgratin in den Ofen, schneidet dampfenden Schinken. An einem Samstag Mittag ist kaum Platz zu finden. Die Leute kämen hauptsächlich zum Essen, deshalb habe man mit dem Dortoir aufgehört, bedauert Camille. Schade für die Begeher der Haute Route, aber es seien eben einfach zu wenige. Im Sommer, wenn der Gastrobetrieb eingestellt ist, kümmern sich Camille und ihr Partner Dusan um 150 Mutterkühe und die Holzwirtschaft. Zwei verschiedene Leben. Jetzt bei soviel Betrieb hilft Véronique mit. Sie kommt aus einem kleinen Dorf mit dem hübschen Namen Provence nicht weit von der Cabane Perrenoud. Ihr Mann präpariert die Loipen, doch momentan sei das gar nicht möglich, wegen der Hitze. Unglaublich, gerade noch –20 Grad und heute +10 Grad. Der Temperaturanstieg beschäftigt so manches Tischgespräch. Viel zu spät können wir uns erst von der herzlichen Atmosphäre loseisen und wählen die nahe Gîte Les Rochats als Etappenziel. Ebenfalls eine Wohlfühladresse. Zum Inventar einer echten Jurawirtschaft gehört die Fon-

Nirgends lassen sich die Alpen schöner überblicken als vom ersten Höhenzug des Jura.

Das Felsenmaul des Creux du Van.

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Die Fontaine, unentbehrliches Utensil für den Absinth.

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Ungewöhnliches Langlaufareal, der zugefrorene Lac de Joux.

taine. Denis Caud, der Chef, will uns die Funktion dieses edlen Eiswassergefässes nicht vorenthalten, schiebt Gläser unter die zierlichen Wasserhähne. Klare Flüssigkeit verwandelt sich in ein milchiges Gebräu. Santé! Und die «Grüne Fee» brennt die Kehle runter. Kultgetränk, Teufelszeug, Heilmittel. Lange Zeit im Untergrund gebrannt, darf der Absinth seit 2005 wieder offiziell ausgeschenkt werden. Der Kräuterschnaps, schon im 18. Jahrhundert als Heilelexier im Val de Travers hergestellt, wirkt auch wunderbar bei der Verdauung der gerade verspeisten Schweinsfüsse mit Rösti. Genug Kalorien, sollte man meinen, um den Chasseron anderntags zu schaffen. Bis La Cruchaude lässt es sich über die Loipe flott vorwärts kommen, doch dann fordert uns ein ungespurter Anstieg von fast 400 Höhenmetern. Der Lohn ist eine gigantische Alpenschau, die man in allen Stimmungsphasen geniessen kann, denn es gibt ein Gipfelhotel.

Zu den Schätzen am Goldberg Die Hitze setzt zu. Eher an kurze Hose und Badesee wäre jetzt zu denken. Das Winterkleid der Bäume ist dunklen Silhouetten gewichen. Überall tropft und schmatzt es. Der strahlend blaue Himmel bleibt uns tagelang erhalten. Das Band der Alpen, gestochen scharf, verschwindet erst wieder in der Falte des Vallée de Joux.

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Im kleinen Nest Les Charbonnières, eingeklemmt zwischen dem Lac Brenet und dem Lac de Joux, hat JeanPaul Rochat seit 2005 ein Museum ganz dem Vacherin Mont-d’Or gewidmet. Bereits in der vierten Generation betreibt seine Familie die Käserei des Dorfes. Früher gab es hier viele sogenannte Affineure, Käseveredler, heute haben selbst seine Kinder andere Berufe erlernt. Vielleicht wird er der letzte sein. Und er führt uns hinunter in den Keller, ins Heiligtum, wo der Weichkäse in Rinde umfasst auf Fichtenbrettern lagert. Viel ist im Februar nicht mehr da vom begehrten «Stinker», der nur ab Herbst verkauft wird. Einst gingen bei den Rochats pro Saison 40’000 Stück über den Tresen. Goldene Zeiten. Der Listerienskandal in den 80er Jahren habe dem Ruf des Käses arg zugesetzt, sagt Jean-Paul. Die Hygienevorschriften mussten neu geschrieben werden. Seither darf der Schweizer Vacherin nur noch mit thermisierter Milch hergestellt werden, während der französische nach wie vor aus Rohmilch produziert wird. «Was dem Geschmack des Käses aber nichts nimmt, da die Milch nicht pasteurisiert, sondern nur leicht erhitzt wird, gerade soviel, dass es die Bakterien vernichtet.» Wieder draussen an der frischen Luft umwogt der Risoux-Wald den Mont d’Or, den Goldberg, über den die Grenze nach Frankreich verläuft. Mit 120 km² geschlossener Waldfläche ist der Risoux der grösste Wald der Schweiz und liefert auch die Rinde, die dem Käse

Vom Som Martel schweift der Blick über das Val de Travers zum Naturdenkmal Creux du Van.

seinen besonderen Geschmack verleiht. Auch wenn Le Pont, unser Etappenziel am Nordwestzipfel des Lac de Joux, nur wenige Minuten entfernt liegt, nehmen wir das Bähnli, weil es schon immer unser Traum war, einmal über den zugefrorenen See zu wandern. Die hier im Winter herrschende Kälte hatte man sich einst wirtschaftlich zu Nutze gemacht, bis zum Zweiten Weltkrieg das Eis in Blöcken heraus geschnitten, in Kellern gelagert und bis nach Paris verkauft. Eigens für den Eistransport war 1886 die Bahnlinie Vallorbe – Le Pont gebaut worden. In Le Rocheray steigen wir aus. Vor uns liegt eine neun Kilometer lange und ein Kilometer breite Eisfläche. Gigantisch. Dummerweise verwickelt uns die Bise in einen Kampf mit dem Gegenwind und bestätigt uns nachträglich, dass wir recht hatten, die TJS in entgegengesetzter Richtung zu der im Streckenplan angegebenen gewählt zu haben. Trotz des Windes, der uns mächtig Widerstand leistet, ist die Überschreitung des Lac de Joux ein ganz besonderes Erlebnis. Hie und da ragen bizarre Eisschollen aus dem Boden, zum Glück gut festgefroren. Die letzte Sonne taucht Le Pont in ein warmes Licht. Fotogen reihen sich die bunten Häuser dem Ufer entlang.

Wälder und Weiden soweit das Auge reicht «Wir lassen die Seen hinter uns; als Route zum Mollendruz wählen wir nicht die sanften Wiesen entlang der benzinverpesteten Strasse, sondern wir gehen dem Waldrand entlang, wir schürfen uns an den riesigen Felsblöcken auf, wir stapfen durch farnbestandene Löcher, wir winden uns zwischen Baumwurzeln durch, halb Auerhahn, halb Reh, mit unseren superleichten Latten kommen wir überall durch», schreibt Maurice Chappaz begeistert in sein Notizbuch während einer Pause. Sein Blick ruht lange auf dem Mont Tendre. «Schwarz und messerscharf heben sich die Tannen vom Schnee ab. Die Einsamkeit wird immer deutlicher spürbar.» Jor nannten die Kelten das Gebirge – Waldland. Wälder und Weiden soweit das Auge reicht, als wir frühmorgens von Le Pont auf die Höhe steigen. Die Verschonung vor Bebauung, land- und forstwirtschaftlicher Übernutzung ist ein paar hellen Köpfen zu verdanken, die bereits 1973 den Parc Jura Vaudois ins Leben riefen. Damals erstreckte er sich auf 40 km² über den südlichen Teil des Vallée de Joux zwischen dem Col du

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HAUTNAH  Tour Soleil

Die Cabane Perrenoud, Hütte mit dem schönsten Alpenblick.

Marchairuz und dem Col de la Givrine. Heute umfasst das Naturparkgelände 530 km² und reicht vom mittelalterlichen Städtchen Romainmôtier bis zum Gipfel des Dôle. Kulminationspunkt ist dabei der Mont Tendre, höchster Berg auch des gesamten Schweizer Juras. Kilometerlang ziehen sich Weidmauern durch die Juralandschaft. Viele dieser kunstvollen Trockenmauern sind schon im 19. Jahrhundert in Handarbeit und ganz ohne Mörtel angelegt worden, um die Viehweiden einzugrenzen. Sie bieten zugleich Insekten und Reptilien ideale Lebensräume. Heute verfallen zahlreiche, denn der Unterhalt ist arbeitsintensiv und es gibt billigere und einfachere Alternativen wie Elektrozäune und Stacheldraht. Seit einigen Jahren aber kümmern sich Initiativen um den Erhalt dieses Kulturgutes. An der Westseite des Mont Tendre treffen wir auf eine originelle Schutzhütte. Der Abri «Bon Accueil», ein Bus, der 1930 mit Holz zur Hütte verkleidet wurde. Einsame Stunden später, am Col du Marchairuz, liegt versteckt im Wald die alte Hospiz-Herberge. Mehrere Winter hat Chappaz hier verbracht. Damals liess man den Schlüssel noch an der Tür, durften sich Skiwanderer gegen einen bescheidenen Obolus selbst bedienen. Anderntags lacht immer noch die Sonne bei brütender Wärme, doch die Massen von Schnee werden nicht so schnell wegschmelzen. Mittags erreichen wir das vom Skiclub La Gamelle geführte Chalet Les Pralets. Stephanie hat gerade ehrenamtlichen Wochenenddienst. Sie geniesst die Zeit. «Die paar Tage fort von Handy und Internet,

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das ist wie eine Woche Ferien.» Ihre Gemüsesuppe gibt uns Kraft für die Endetappe. Chappaz notiert: «Weiden hier, Weiden dort, Dolinenketten, Lichtungen, Käsereien zwischen Anhöhen, Burgen, die Unendlichkeit der Tannen. An manchen Stellen trifft alles zusammen: Gräben, Grate, Hänge; es dreht sich, stürzt ein, erhebt sich aufs neue. Das geht so weiter, immer geradeaus, und wird zur kräftezehrenden Halbetappe bis La Givrine. Wir sind im Gewirr der Wälder.» ✸

TEXT UND FOTOS Iris Kürschner /// Winner 2012 Product

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