Die Kunst der kontinuierlichen

Hans-Joachim Gergs Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung Acht Prinzipien für ein neues Change Management 19 Beschleunigung  Beschleunig...
Author: Rudolf Kraus
2 downloads 2 Views 529KB Size
Hans-Joachim Gergs

Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung Acht Prinzipien für ein neues Change Management

19 Beschleunigung 

Beschleunigung »It took Hilton 93 years to build up to 610 000 rooms. It took AirBnB only four years to build up 650 000.« (Robin Chase, Gründerin von ZipCar)

Der technologische Fortschritt im vergangenen Jahrzehnt war atemberaubend, aber trotzdem wohl erst der Anfang. Denn es geht nicht geradlinig, sondern exponentiell weiter. Das iPhone existiert erst seit acht Jahren, aber heute scheint fast vergessen, wie die Welt vorher aussah. Selbstfahrende Autos galten vor wenigen Jahren noch als verrückte Utopie, heute wundert sich kaum jemand über die ersten Testwagen auf den Straßen. Dass Algorithmen in den USA 70 Prozent des Aktienhandels steuern, gehört heute zur Normalität. Und sowohl die Rechenkraft als auch die Fähigkeiten von Maschinen nehmen sprunghaft zu, wie zum Beispiel die Entwicklung in der Robotik verdeutlicht (Brynjolfsson/Macafee 2015). Der Mitbegründer von Intel, Gordon Moore, hat diese exponentielle Entwicklung bei der Speicherkapazität von Computern als Erster im Jahr 1963 formuliert. Moore arbeitete damals bei Fairchild Semiconductor und schrieb für die Zeitschrift Electronics einen Artikel mit dem provokanten Titel »Immer mehr Komponenten in integrierte Schaltkreise quetschen«. In diesem Artikel formulierte er das, was später als das moorsche Gesetz bekannt geworden ist. Nach Moores Beobachtungen verdoppelt sich die Speicherkapazität von Rechnern jedes Jahr. 1963 konnte man doppelt so viel Leistung für einen Dollar kaufen wie 1962, 1964 erneut das Doppelte gegenüber dem Jahr 1963 und so weiter. Moore sagte voraus, dass diese exponentielle Entwicklung noch circa zehn Jahre anhalten werde. Seine für die damaligen Verhältnisse kühne Prognose besagte, dass Speicherchips im Jahr 1975  mehr als 500 Mal so leistungsfähig sein würden wie 1965 (Brynjolfsson/Mcafee 2015, S. 54 f.). Wie man heute weiß, lag Gordon Moore mit dieser Prognose völlig falsch. Sein größter Fehler war, dass er die Entwicklung viel zu konservativ einschätzte. Das nach ihm benannte moorsche Gesetz blieb über vier Jahrzehnte lang gültig. Heute setzt man für die Verdoppelung der allgemeinen Rechnerleistung 18  Monate an. Ein Prozessor aus dem Jahr 2014 besitzt sage und schreibe 32 Millionen Mal mehr Rechenleistung als der erste Intel-Chip aus dem Jahr 1971. Sicherlich wird auch der digitale Fortschritt irgendwann an seine Grenzen stoßen und wir werden weitere Abstriche an Moores Gesetz machen müssen. Dies kann aber noch eine Zeitlang dauern. Nach Schätzungen von Henry Samueli, Technikchef des Chipherstellers Broadcom Corporation, wird das moorsche Gesetz erst in den nächsten 15 Jahren seine Gültigkeit verlieren (Brynjolfsson/Mcafee 2015, S. 56). Auf der Grundlage dieser exponentiellen Entwicklung der allgemeinen Rechnerleistung erleben wir gegenwärtig eine wirtschaftliche und gesellschaftliche

20 Change Management in einer unsicheren Welt

Umwälzung, die in ihrer Dynamik vergleichbar mit der Industrialisierung Ende des 19.  Jahrhunderts ist. Wie der Wechsel von der Handarbeit zur maschinellen Produktion vor mehr als hundert Jahren mehr hat entstehen lassen als nur Fabriken und Großunternehmen (Demokratisierung, Beginn des modernen Wohlfahrtsstaats, etc.), so verändert die Digitalisierung nicht bloß Wirtschaftsbranchen, sondern auch die Art, wie wir denken und leben.

Leben in einer beschleunigten Welt ●● ●●

●●

●●

In der Medizin verdoppelt sich das Wissen gegenwärtig alle drei Jahre. Es werden bei YouTube in zwei Monaten mehr Videos hochgeladen als die drei größten amerikanischen Fernsehsender in den letzten 60 Jahren zusammen produziert haben. Die Besucher der Seite sehen sich täglich 100 Millionen Clips an, Tendenz steigend. Die weltweit zur Verfügung stehende Informationsmenge verdoppelt sich alle 18 Monate. Cisco geht davon aus, dass der globale Internet-Protocol-Verkehr im Jahr 2016 ein Zettabyte (eine 10 mit 22 Nullen) umfassen wird. Die weltweit versendete Datenmenge wird Schätzungen zufolge bis Ende dieses Jahrzehnts auf ein Yottabyte (10 mit 24 Nullen) ansteigen. (Wizeman 2014, S. 7)

Die Welt scheint sich schneller als noch vor 50 Jahren zu drehen: Wissen wächst exponentiell, und was vor einigen Jahren noch als gesichert galt, ist heute vielfach überholt oder zumindest durch alternative Erklärungen relativiert. Eine vernetzte Welt hat ihr Eigenleben, und die Muster, die wir zu erkennen glauben, ändern sich laufend und in zunehmendem Tempo. Die Lebenszyklen von Produkten, Geschäftsmodellen und Unternehmen werden kürzer. Auch Unternehmen werden immer rascher aufgebaut und verschwinden dann ebenso schnell wieder von der Bildfläche. Der Markt für Mobiltelefone verdeutlicht diese Entwicklung exemplarisch. Motorola war 1983 der Geburtshelfer der Branche mit seinem Tac-Telefon, das einem Backsteinziegel glich. Seit Mitte der 80er Jahre war Motorola der unumstrittene Marktführer im Bereich der analogen Mobiltelefone. 1994 lag der Marktanteil in Amerika bei 60 Prozent (Hensmans et al. 2013, S. 7). Zu dieser Zeit schien das USUnternehmen als Marktführer unverwundbar. Doch Mitte der 90er Jahre entwickelte sich die digitale Technologie immer rasanter. Die Nachfrage nach digitalen Mobiltelefonen explodierte förmlich. Das Management von Motorola entschied dennoch, an der analogen Technologie festzuhalten, obwohl das Unternehmen über zahlreiche Patente in der digitalen Technologie verfügte. Die Patente wurden

21 Beschleunigung 

zu lukrativen Lizenzgebühren an die Konkurrenten Nokia und Ericcson vergeben. Ein unglaublicher Vorgang, hätten die steigenden Erträge aus den Lizenzgebühren dem Management doch verdeutlichen müssen, dass der digitalen Technologie die Zukunft gehört. Doch das Management von Motorola hielt an seinem alten Denkmuster fest und versuchte mit aggressiven Marketingmethoden, ein neues analoges Telefon in den Markt zu drücken – mit wenig Erfolg. Bereits Ende der 90er Jahre wurde Motorola vom finnischen Unternehmen Nokia überholt und in den folgenden Jahren förmlich abgehängt. Nokia erlangte an dem rasch wachsenden Markt für Mobiltelefone innerhalb weniger Jahre einen Marktanteil von 40 Prozent und avancierte zum neuen Star der Branche. Im Jahr 2002 stellte die kanadische Firma Research in Motion (RIM) den kultigen Blackberry vor. Mit ihm verwandelte sich das einfache Telefon in ein unentbehrliches Utensil für Geschäftsleute. Und dann erschütterte Apple die Branche mit seinem iPhone, einem leistungsstarken Mini-Computer. Als das Unternehmen im Juni 2007 mit der ersten Generation des iPhones auf den Markt kam, war das eine Sensation, denn Apple war ein IT-Unternehmen mit keinerlei Erfahrung im Marktsegment der Mobiltelefone. Belächelt wurde Apple von den Platzhirschen aber nicht lange, denn Apple verkaufte von dem überteuerten Gerät, so der damalige Microsoft-Chef Steve Ballmer, nicht nur enorm viele Einheiten, sondern definierte den Markt komplett neu. Vier Marktführer in vier Jahrzehnten sind die Realität in einer Welt des beschleunigten Wandels.

Verarmte Kaiser und exponentielles Wachstum Unser Gehirn tut sich schwer damit, exponentielles Wachstum zu erfassen. Wir unterschätzen meist, wie groß die Zahlen am Ende werden können. Eine alte indische Geschichte verdeutlicht dies eindrucksvoll. Das Schachspiel wurde demnach im 3. oder 4. Jahrhundert vor Christus von einem hochintelligenten Inder namens Sissa ibn Dahir erfunden (Rooney 2012, S. 18). Dieser reiste in die Stadt Paluliputra, um dem Kaiser Shihram seine Erfindung zu präsentieren. Der Herrscher war von dem Spiel so beeindruckt, dass er Sissa ibn Dahir aufforderte, sich selbst eine Belohnung auszusuchen. Der Erfinder pries die Großzügigkeit des Kaisers und wünschte sich ganz bescheiden nur etwas Reis, um seine Familie ernähren zu können. Er schlug vor, mithilfe des Schachbretts zu ermitteln, wie viel Reis er erhalten sollte. Er sagte zum Kaiser: »Legt ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts, zwei auf das zweite, vier auf das dritte, und so weiter und so fort.« Der Kaiser willigte ein und war von der Bescheidenheit des Erfinders angetan. Als er sich einige Tage später erkundigte, ob Sissa ibn Dahir seine Belohnung bereits erhalten habe, bekam er zu hören, dass die Rechenmeister mit der Berechnung der Reiskörner noch nicht fertig waren. Nach mehreren Tagen ununterbrochener Rechenarbeit wurde klar, dass die dem Erfinder zustehende Menge

22 Change Management in einer unsicheren Welt

an Reiskörnern im ganzen Reich nicht aufzubringen war. Alle Felder des Schachbretts hätten zusammen eine Menge von 18 446 744 073 709 551 615 (≈ 18,45 Trillionen) Reiskörnern ergeben. Ein Reishaufen dieser Größe hätte den Mount Everest überragt. Der Kaiser übersah: 63 Verdoppelungen ergeben eine fantastisch hohe Zahl, selbst wenn die Ausgangszahl 1 ist. Telefon, Internet und webbasierte Dienste erlauben es, Informationen in Lichtgeschwindigkeit über Landesgrenzen hinweg global zu übertragen. Über Breitbandnetzwerke ist auch der Austausch von Daten und Dokumenten weltweit in Höchstgeschwindigkeit kein Problem. Elektronische Börsen und Electronic Banking erlauben es, in kürzester Zeit riesige Finanzsummen zu verschieben. Das Echtzeit-Empfinden dehnt sich aus dem unmittelbaren Lebensumfeld global aus. Wir haben mit den neuen Medien einen bedeutenden Quantensprung getan, vielleicht bedeutender als die Erfindung des Buchdrucks. In dieser neuen Welt zählt nicht mehr Größe, sondern Geschwindigkeit: »Be fast or be last.«

Messaging erobert rasant die Welt Das Nutzungsverhalten der Menschen verändert sich schneller, als man sich daran gewöhnen kann. Nicht nur Surfen am Desktop gehört schon fast der Vergangenheit an, auch Kommunikationsformen verändern sich rasant. Internet-Foren, SMS, auch etablierte und mittlerweile schon wieder »veraltete« soziale Netzwerke wie Facebook werden durch neue Messenger-Apps ersetzt, die die Bedürfnisse unterschiedlicher Communities gezielter befriedigen können. Ein Paradebeispiel dafür ist die Übernahme von WhatsApp durch Facebook, mit der sich Facebook neue, zumeist jüngere Nutzergruppen zu erschließen hoffte. Die etablierten Anbieter werden kontinuierlich von neuen Start-ups herausgefordert. Auch Chinas Internet-Unternehmen trauen sich mittlerweile auf den Weltmarkt. So macht Tencent seinen Messenger »WeChat« zu einem globalen Konkurrenten für WhatsApp. Nachdem der Kurznachrichtendienst Snapchat das Übernahmeangebot von Facebook in Höhe von drei Milliarden Dollar abgelehnt hat, wird klar, dass in dieser neuen Medienwelt nicht nur Geld, sondern insbesondere die Reichweite und die Wachstumschancen eine entscheidende Rolle spielen. Momentan sucht Snapchat, bei dem Nachrichten nur für kurze Zeit angezeigt werden und das bei Jugendlichen extrem beliebt ist, nach neuen Geschäftsmodellen (Burda 2014, S. 102).

23 Digitalisierung der Wirtschaf t 

Digitalisierung der Wirtschaft Manchmal liegen Experten mit ihren Prognosen völlig falsch. So auch Ron Sommer, der ehemalige CEO der Telekom. Kurz bevor die Telekom-Tochter T-Online im Jahr 2000 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde und an die Börse ging, sagte er: »Das Internet ist ein Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.« Wie viele andere wurden auch Ron Sommer und seine Konzernstrategen eines Besseren belehrt. Mit heute fast drei Milliarden Internetnutzern (Statista 2014) hatte im Jahr 2000 wohl niemand gerechnet. Was im Jahr 1989, in dem Tim Berner-Tee das World Wide Web erfand, zunächst nur einer kleinen Gruppe von Teilchenphysikern zugutekam, entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zu einer heute nicht mehr wegzudenkenden weltweiten Technologie. Und der Siegeszug des Internet ist noch lange nicht beendet (Brynjolfsson/Macafee 2015, S. 128). Gegenwärtig können wir eine Digitalisierung sämtlicher Produkte und Prozesse in nahezu allen Wirtschafts- und Lebensbereichen (Medizin, Wohnen, Sport etc.) beobachten. Getrieben wird diese Entwicklung durch die steigende Verbreitung des Internet und die Innovationssprünge in den Informations- und Kommunikationstechnologien, die zu einer massiven Steigerung der weltweit geteilten digitalen Informationen geführt haben. Man geht heute davon aus, dass jedes Unternehmen mit mehr als 1 000 Mitarbeitern bereits über mehr als 200 Terabyte an Daten verfügt. Im Zeitraum von 2006 bis 2011 hat sich die Menge an Daten verfünffacht (IDC 2011). Laut Statista wurden im Jahr 2013 jeden Tag 190 Milliarden E-Mails versendet und im Jahr 2014 jede Minute hundert Stunden Videos auf YouTube hochgeladen; Tendenz steigend. Auch die Anzahl digital anschlussfähiger Geräte, Weltweit erstellte und geteilte digitale Informationen

Die Anzahl digital anschlussfähiger Produkte steigt in Wellen Fixed Computing

Zettabyte

Mobility

Internet of Things

Internet of Everything 50 Mrd

10 Mrd

12 200 Mio

0

2005

2005 Jahr

1995

2000

Jahr

2011

2020

Abb. 1: Entwicklung der Digitalisierung (Quelle: Evans 2012, S. 3; Fullan/Donnelly 2013, S. 9)