Die Entwicklung der Gefechtsarten

Geisteswissenschaft Stefan Erminger Die Entwicklung der Gefechtsarten Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften Wissenschaftliche St...
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Geisteswissenschaft

Stefan Erminger

Die Entwicklung der Gefechtsarten Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften

Wissenschaftliche Studie

Truppenführung

Die Entwicklung der Gefechtsarten Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften

16.06.2010

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nhaltsverzeichnis

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Entwicklung der Gefechtsarten Verteidigung Hochentwickelte Manöverkunst Karree zur Rundumverteidigung Napoleons Taktik Erzherzog Karls Exerzierreglement Scharnhorsts Infanterie-Reglement 1812 Neue Gedanken durch Carl von Clausewitz Wieder Unterordnung der Verteidigung Detaillierte Vorschriften für die Verteidigung Angriff und Verteidigung noch nicht gleichwertig Erstmals 1906: «Hinhaltendes Gefecht» Tendenz zur Linie »Stützpunkte« Neue Vorschriften zum Stellungskrieg Zusammenfassung der Entwicklung bim zum Ersten Weltkrieg Abbrechen des Gefechts Grundsätze der Verteidigung in der Bundeswehr «Verteidigungsraum» »Schlüsselgelände« Fazit zur Verteidigung Verzögerung Von der Gefechtshandlung zur selbständigen Gefechtsart Zusammenfassung der Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg Zwischen den Weltkriegen Abwehr, Verteidigung und hinhaltender Widerstand im Zweiten Weltkrieg Verzögerung in den Vorschriften der Bundeswehr Schlussbetrachtung zur Verzögerung Angriff Angriff in der frühen Neuzeit Angriff im Zeitalter von König Friedrich II. Angriff zwischen Französischer Revolution und Freiheitskriegen Angriff im Zeitalter des Deutschen Bundes Angriff nach den Einigungskriegen Angriff im Ersten Weltkrieg Übergang zur Reichswehr – Ära Seeckt Die Evolution der Kraftfahrtruppe – Truppenführung 1933 Guderian – führen von vorn Die Wende ´42 – vom Angriff zur Abwehr Kriegsende – Aufbau der Bundeswehr Massenvernichtungswaffen und Asymmetrie Zusammenfassung Literaturverzeichnis

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Die Entwicklung der Gefechtsarten Die TF 1910 kannte den Begriff der Gefechtsart noch nicht. Es werden lediglich der Angriff und die Verteidigung in ihren Vor- und Nachteilen beschrieben. Dabei wird sowohl das Begriffspaar Angriff und Verteidigung als auch das Begriffspaar Offensive und Defensive verwandt.1 Es ist bemerkenswert, dass sich schon hier der Begriff des „Begegnungsgefechts” findet und die Besonderheiten dieser, wie man sie heute bezeichnen würde, besonderen Gefechtshandlung beschrieben werden.2 Auch die TF 21 kannte den Begriff der Gefechtsart noch nicht. Inhaltlich lässt sich feststellen, dass dort Angriff, Verfolgung, Verteidigung, hinhaltendes Gefecht und Abbrechen des Gefechts im Rahmen der Gefechtshandlungen beschrieben wurden.3 Daneben gab es ein Kapitel „Gefechte unter besonderen Verhältnissen“, wobei dort das hinhaltende Gefecht nochmals genannt wurde, was darauf hindeutet, dass es sich dabei nicht um eine eigenständige Gefechtsart handelte, sondern um eine besondere Gefechtshandlung. Die TF 33 nahm erstmals den Begriff der „Kampfart" auf und beschrieb den Angriff, die Verfolgung, die Abwehr mit ihren beiden Varianten Verteidigung und hinhaltender Widerstand, das Abbrechen des Gefechts und den Rückzug als Kampfarten.4 Die TF 56 als erste Truppenführungsvorschrift der Bundeswehr übernahm den Begriff der „Kampfarten"5 Als „Kampfarten“ wurden dabei Angriff, Verfolgung, Abwehr (mit den Unterpunkten Verteidigung, hinhaltender Kampf und Verzögerungsgefecht) und Abbrechen des Gefechts verstanden.6 Zusätzlich gab es ein eigenes Kapitel „Gefechte unter besonderen Verhältnissen", in dem z. b. der Ortskampf genannt wird. Ab der TF 1959 vollzieht sich ein grundsätzlicher Wandel. Dort heißt es: „Angriff, Verteidigung und Verzögerung sind die wichtigsten Kampfarten; aus ihnen können sich Verfolgung und Rückzug entwickeln...Bei allen Kampfarten kann es zum Begegnungsgefecht kommen [ ]. Immer gehören Aufklärung, Sicherung und Marsch zur Gefechtstätigkeit aller Truppen. Für den Kampf unter besonderen Verhältnissen, zum Beispiele im Mittelgebirge, in Ortschaften oder im Winter gelten neben den allgemeinen noch zusätzliche Grundsätze.“7 Erstmals handelte es sich nun bei der Verzögerung um eine der „Hauptkampfarten" und es wurden Sicherung, Aufklärung und Marsch erstmalig als „allgemeine Aufgaben" im Gefecht genannt und so aufgefasst. Die Tatsache, dass es in allen vorangegangenen Vorschriften Kapitel zur Thematik "Aufklärung, Sicherung und Marsch" gab, zeigt nur, dass schon damals die Wichtigkeit dieser Aufgaben erfasst wurde, aber die Begrifflichkeit als „Gefechtstätigkeit aller Truppen" ist neu. Ebenfalls neu war die Unterscheidung in Truppen- und Waffengattungen, wobei die Waffengattungen Arten der Gattung Truppenführung sind.8 Nur ein Jahr später wurde Siehe Wilhelm II, Grundzüge der höheren Truppenführung, Berlin 1910, S. 20-44. Siehe ebd., S. 24. 3 Siehe Reichswehrministerium, Chef der Heeresleitung, Führung und Gefecht der verbundenen Waffen, Berlin 1921, S. 9-11. 4 Siehe H.Dv. 300/1, Truppenführung (T.F.), I. Teil (Abschnitt I-XIII), Berlin 1933, S. 11-13. 5 HDv 100/1, Grundzüge der Truppenführung des Heeres, Bonn 1956, S. 81. 6 Ebd., S. 38-80. 7 HDv 100/1, Truppenführung, Bonn 1959, S. 43. 8 HDv 100/1, Truppenführung, Bonn 1959, S. 47-57. 1 2

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ein neuer Begriff in die Terminologie der Truppenführung eingeführt. Die TF 60 bezeichnete Angriff, Abwehr und Verzögerung als Gefechtsarten. Verfolgung, Begegnungsgefecht und Abbrechen des Gefechts wurden nicht eindeutig dem Begriff Gefechtsart zugewiesen. Die Aussage „[mit] dem Begegnungsgefecht wird das Gefecht, in einer unerwarteten, meist ungewissen Lage eingeleitet, bei der die zu wählende Gefechtsart zunächst noch offen ist und sich erst nach Beginn der Kämpfe ergibt",9 spricht dafür, dass das Begegnungsgefecht etwas „Besonderes" ist. Unterhalb der Gefechtsarten wurde jetzt der Begriff der Kampfarten angesiedelt. „Innerhalb jeder Gefechtsart können die Kampfarten […] Angriff[,] Verteidigung und [..] hinhaltender Kampf gleichzeitig oder nacheinander angewendet werden.“10 Die Unterscheidung ergibt sich aufgrund der unterschiedlichen Ebenen, die ein Gefecht führen können. Die mittlere Führung (Division und Brigade) führt das Gefecht in Gefechtsarten, die untere Führung (Regiment, Bataillon und Kompanien) der Kampftruppen führt den Kampf in Kampfarten.11 Als ebenfalls neuer Begriff wurde die „Kampfweise" eingeführt. Sie „bezeichnet das Verfahren, in dem die Verbände und Einheiten der einzelnen Waffengattungen nach ihrer Eigenart im Rahmen der befohlenen Kampfart oder ihres Auftrages kämpfen.“12 1962 wurde die Begrifflichkeit beibehalten. Es kam zu keinen Änderungen in der Einteilung durch die TF 62.13 In der TF 1973 wurden nach wie vor die Gefechtsarten Verteidigung, Angriff und Verzögerung unterschieden, wobei es zu einer Umstellung in der Reihenfolge kam und die Verteidigung als erstes genannt wurde. Die Begriffe „Kampfart" und „Kampfweise" wurden nicht mehr genannt. Neu eingeführt wurden die Begriffe „allgemeine Aufgaben im Gefecht" und „besondere Gefechtshandlungen". Als allgemeine Aufgaben im Gefecht wurden genannt:  Aufklärung  Erkundung  Sicherung  Verbindung  Elektronische Kampfführung  Marsch  Bewegung über Gewässer  Ausnutzen der Luftbeweglichkeit  Verstärken und Gangbarmachen des Geländes  Lähmungen  Schutz rückwärtiger Gebiete  Personalersatz und Logistik14 Besondere Gefechtshandlungen sind:  Begegnungsgefecht  Lösen vom Feind  Ablösung  Aufnahme  Jagdkampf15 HDv 100/2, Führungsgrundsätze des Heeres für die atomare Kriegführung – Truppenführung 1960 (TF 60), Bonn 1961,S. 26. Ebd., S. 26. 11 Ebd., S. 24-26. 12 Ebd., S. 26. 13 Siehe HDv 100/1, Truppenführung, Bonn 1962, S. 26-30. 14 HDv 100/100, Führung im Gefecht, Bonn 1973, Nr. 1037. 9

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Eine Neuerung fand sich auch im Verständnis der Truppengattungen. Der Begriff der „Waffengattung" wurde nicht mehr verwandt. Die Truppengattungen können zwar nach ihren Hauptaufgaben zusammengefasst werden (Kampftruppen, Kampfunterstützungstruppen, Führungstruppen und Logistiktruppen), aber es kam letztlich zu einer Vereinfachung, da es keine Truppengattung mehr gab, die zugleich Waffengattung war.16 Durch die TF 87 kam es zu einigen wenigen Anpassungen. Die Begrifflichkeiten der TF 73 wurden weitestgehend beibehalten. Der Jagdkampf wurde als „besonderes Einsatzverfahren" bezeichnet und war nunmehr in jeder Gefechtsart möglich. Der Begriff der „Elektronischen Kampführung" wurde durch „Elektronischer Kampf" ersetzt, anstelle von "Ausnutzen der Luftbeweglichkeit" trat „Luftbeweglichkeit", „Personalersatz" und „Logistik" wurden getrennt und „Sanitätsdienst" und „Maßnahmen der Inneren Führung" wurden neue „allgemeine Aufgaben im Einsatz". Interessanterweise trat an die Stelle von „Allgemeine Aufgaben im Gefecht" der Begriff der „Allgemeinen Aufgaben im Einsatz"17 Dies ist bemerkenswert, da sich 1987 die Entwicklung des neuen Aufgabenspektrums der Bundeswehr noch nicht abzeichnete. Glasnost und Perestroika hatten zwar begonnen, dennoch war die TF 87 eindeutig eine Vorschrift, die im Geiste des „Kalten Krieges" geschrieben worden war. Die Änderungen zur Vorschrift, die 1990, 1991 und 1992 herausgegeben wurden, trugen der neuen politischen Entwicklung dann Rechnung. In der Änderung 2 hieß es: „Teile der Dienstvorschrift sind durch die bis heute eingetretene Entwicklung bereits überholt und nicht mehr gültig. Der Inspekteur des Heeres hat daher Teile der HDv 100/100 VS-NfD (TF) mit der Änderung 2 außer Kraft gesetzt [...]. Gültigkeit behalten die in der Dienstvorschrift festgelegten taktischen Grundsätze für die Führung von Truppen und für das Zusammenwirken der verbundenen Waffen.“18 Die TF 2000. kennt nach wie vor die drei Gefechtsarten Angriff, Verteidigung und Verzögerung, wobei der Angriff wieder an die erste Stelle gerückt ist. Diese Gefechtsarten sind der taktischen Führung zugeordnet und damit bis auf Ebene Korps als Schnittstelle zur operativen Führung anzuwenden. Als besondere Gefechtshandlungen tritt neben die schon in der TF 87 festgelegten das „Überwachen von Räumen" als neue besondere Gefechtshandlung.19 Die „Allgemeinen Aufgaben im Einsatz" erfahren ebenfalls leichte Änderungen. Der Begriff „Aufklärung" wird zu „Nachrichtengewinnung und Aufklärung" erweitert, „Tarnen und Täuschen" wird eine neue allgemeine Aufgabe, aus „Elektronischer Kampf" wird „Elektronische Schutzmaßnahmen", da der Kampf um Informationsüberlegenheit ein eigener Faktor der Gefechtsführung wird. Aus dem „Verstärken und Gangbarmachen des Geländes" wird die pioniertypische Bezeichnung des „Förderns und Hemmens von Bewegungen". Der „Schutz rückwärtiger Gebiete" ist nicht mehr zu finden, was daran liegt, dass die sogenannten „Rear Operations" (Operationen im rückwärtigen Gebiet) ein eigener ständiger Bestandteil einer Gesamtoperation geworden sind. Neue Begriffe sind die „Abwehr von Bedrohung aus der Luft", sowie „Führungs- und Einsatzunterstützung". Auf die beiden letzteren wird noch genauer im Kapitel 3.4 eingegangen. Dadurch sind die alten Aufgaben „Personalersatz, Logistik, Sanitätsdienst und Maßnahmen der Ebd., Nr. 1037. Ebd., Nr. 420. 17 HDv 100/100, Truppenführung, 2. verbesserte Aufl., Bonn 1987, Nr. 705-708. 18 Ebd., Nr. 13-14. 19 Siehe HDv 100/100, Truppenführung, Bonn 2000, Nr. 2369-2371. 15 16

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