Orient und Okzident: Denker, Ideen- und Geistesgeschichte

Gesellschaft

Der Zivilisationsprozess nach Elias Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen B. Khamehi*

Unter der Rubrik „Orient und Okzident im Spiegel ihrer Denker, Geistes- und Ideengeschichte“ wollen wir im Sinne eines konstruktiven kulturellen Dialogs die beiden Kulturkreise miteinander bekannt machen, indem wir die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen, philosophischen und historischen Horizonte des islamischen und christlichen bzw. die Problemfelder orientalischen und westlichen Denkens beleuchten. Sie, verehrte Leserinnen und Leser, sind aufgerufen, sich aktiv an dieser Rubrik zu beteiligen, indem Sie uns Ihre persönlichen Favoriten unter den Denkern und Ideenlehren vorstellen. Norbert Elias (1897-1990) untersucht in seinem bedeutendsten Werk, Über den Prozess der Zivilisation, den langfristigen Wandel von Persönlichkeitsstrukturen in der westeuropäischen Zivilisation, speziell die langfristigen Veränderungen und Entwicklungen des Menschen in individueller wie auch gesellschaftlicher Hinsicht. Diese sozialen Wandlungsprozesse manifestieren sich in zunehmender bzw. abnehmender Differenzierung und Integrierung, Struk-

turveränderungen ohne Zu- bzw. Abnahme von Differenzierung und Integrierung sowie in Veränderungen, die nicht mit einem strukturellen Wandel einhergehen. In diesem zweibändigen Werk befasst er sich zunächst mit der Psychogenese der modernen Persönlichkeitsstruktur, angefangen von der mittelalterlichen courtoisie über die höfische civilité bis zur neuzeitlichen civilisation; dabei geht er der Frage nach, inwieweit sich vermutete langfristige Veränderungen der Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen von Menschen der abendländischen Zivilisation über Generationen hinweg in Richtung auf eine wachsende Differenzierung und Straffung weiterbewegen und auch empirisch belegen lassen. Seine Hauptfragen sind dabei die Ursachen, die Mechanismen und die Art und Weise, wie diese Entwicklung, d. h. die Zivilisation im Abendland, vor sich ging. Im zweiten Band beschreibt er parallel dazu die Soziogenese von der Feudalisierung über die Monopolisierung von Machtmitteln zur Vergesellschaftung der Monopole. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob

diese Persönlichkeitsveränderungen mit ebenfalls langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen in Richtung auf eine wachsende Differenzierung und Integrierung einhergehen sowie deren empirischer Nachweisbarkeit. Aus den gewonnenen Ergebnissen entwickelt Elias seine Theorie der Zivilisation, die ein Erklärungsmodell darstellt für Zusammenhänge im Rahmen langfristiger Veränderungen in der individuellen Persönlichkeitsstruktur und dem sozialen Gefüge. Indem er sich mit langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen befasst, stellte sich Elias dem in der soziologischen Forschung vorherrschenden Trend entgegen, nämlich der Untersuchung von gesellschaftlichen Realitäten und Gegebenheiten. Dabei werden die Begriffe „Individuum“ und „Gesellschaft“ im Zusammenhang mit empirischen Untersuchungen als einer prozesshaften Entwicklung unterworfen und nicht als statisch verstanden. Seine interdisziplinäre Ausrichtung in seinem Entwurf einer Theorie des gesellschaftlichen Wandels und der Menschheitsentwicklung, in der alle

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Bereiche des menschlichen Lebens einbezogen sein sollen, wurde zu einem zentralen Ansatz in den modernen Sozialwissenschaften. Der Prozess der Zivilisation ist nach Elias nur zu verstehen, wenn das Menschenbild „weniger an dem eigenen Fühlen und den damit verbundenen Wertungen und in höherem Maße an Menschen als dem Objekt ihres eigenen Denkens und Beobachtens orientiert ist“1, d. h. wenn man den Begriff „Menschenbild“ auf eine Anordnung voneinander abhängiger

denn er wird u. a. für Verhaltensweisen, wissenschaftliche und technologische Erkenntnisse und Entwicklungen, weltanschauliche Ideen usw. gebraucht, und kurz gesagt für nahezu all das, was sich in einer zivilisierten bzw. unzivilisierten Form manifestieren kann. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Zivilisationsprozess jedoch als Ausdruck eines Nationalbewusstseins, in diesem Fall als Ausdruck der abendländischen Eigenart. Der Stolz auf die Leistung der Nation, der etwa im französischen und

Menschen bezieht anstatt auf einzelne, relativ autonome Menschen. Von den Wandlungen dieser Konfigurationen ausgehend untersucht Elias den Staatsbildungsprozess.

englischen Verständnis im Begriff Zivilisation enthalten ist, wird im Gegensatz dazu in der deutschen Sprache mit dem Begriff „Kultur“ ausgedrückt, obgleich damit vielmehr auf Produkte des Menschen und nicht so sehr auf Leistungen und Verhalten, die aus einem Prozess resultieren bzw. einem solchen unterliegen, hingewiesen wird. Ursache für die im deutschen Sprachgebrauch übliche Differenzierung zwischen Kultur und Zivilisati-

Die Begriffe „Zivilisation“ und „Kultur“

Elias verweist einführend auf die Tatsache, dass der Begriff Zivilisation mannigfaltige Verwendung findet,

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on ist nach Elias der historische Unterschied zwischen dem Tugend und Bildung betonenden Mittelstand und der auf Etikette und Äußerlichkeiten bedachten höfischen Oberschicht, die u. a. beispielsweise darin zum Ausdruck kam, dass im 17. und 18. Jh. der deutsche Adel französisch sprach und das Deutsche als schwerfällige und ungehobelte Sprache der Unterund Mittelschicht galt. Während in den deutschen Staaten in der Regel die Französisch sprechende Oberschicht die Politik bestimmt, sind es Angehörige der Mittelschicht, die die deutsche Bildung und Kultur prägen und Deutschland als Land der Dichter und Denker bekannt machen. Adel und Bürgertum sprechen verschiedene Sprachen, sie haben unterschiedliche Ideale. Oberflächlichkeit, Etikette, feine Manieren, Höflichkeit, Äußerlichkeit auf Seiten der Oberschicht stehen tiefe Gefühle, Bildung, Tugend und Innerlichkeit seitens des Bildungsbürgertums gegenüber. Im Gegensatz zu Frankreich bleiben Mittel- und Oberschicht voneinander getrennt, und es ist eben dieses Unterscheidende und die Betonung des jeweils Spezifischen, die in der für Deutschland charakteristischen Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur einen weiteren Ausdruck findet. Aus den literarischen Werken dieser Zeit geht hervor, dass diese Unterschiede zwischen Ober- und Mittelschicht sich auch in den Verhaltensweisen, Einstellungen, Wünschen, moralischen Vorstellungen usw. manifestierten. Die Mittelschicht besteht weitgehend aus Beamten, Staatsdienern, also Menschen, die größtenteils ihre Einkünfte vom Hof beziehen. „Das, wodurch sich diese mittelständische Intelligenz des 18. Jahrhunderts legitimiert, was ihr Selbstbewusstsein, ihren Stolz begründet, liegt jenseits von Wirtschaft und Politik: in dem, was man gerade deswegen im Deutschen ‚Das reine Geistige’ nennt, in der Ebene des Buches, in Wissenschaften, Religion, Kunst, Philosophie und in der inneren Bereicherung, der ‚Bildung’ des Einzelnen, vorwiegend durch das Medium des Buches, in der Persönlichkeit.“2

Ihre Entwicklung geht in Richtung Bildung und Kultur; das Geistige ist für sie im Gegensatz zum Politischen, Wirtschaftlichen, Sozialen das eigentlich Wertvolle. Im Gegensatz zu Frankreich, wo sich diese Intelligenz mehr oder weniger zusammenfindet, ist sie in den vielen deutschen Ländern, Grafschaften und Fürstentümern zerstreut. Diese mittelständische Schicht des Bürgertums, die sich zunächst gegen die höfisch-aristokratische politische Oberschicht abgrenzt, entwickelt sich zunehmend zum Träger des deutschen Nationalbewusstseins und im weiteren historischen Verlauf zur politisch aktiven und herrschenden Schicht. Damit geht einher, dass die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation nicht mehr aus primär sozialen, sondern vor allem aus nationalen Aspekten heraus erfolgt. Das bedeutet, das bestimmte Verhaltensweisen oder Einstellungen und ähnliches nun charakteristisch für einen Bauern, einen mittelständischen Staatsdiener, einen Angehörigen des Adels, einen Deutschen, Franzosen oder Engländer aufgefasst werden und auf dieser Grundlage z. B. ein Deutscher von einem Franzosen oder Engländer unterschieden wird. Und gerade diese Differenzierung zwischen Kultur und Zivilisation repräsentiert in einem über nationale Grenzen hinausgehenden Rahmen das deutsche Selbstbewusstsein Der Begriff der Zivilisation dient in Frankreich hingegen zum einen vor allem der Abgrenzung gegenüber dem gesellschaftlichen Zustand der Barbarei und zum anderen bringt er einen Prozess zum Ausdruck, der keineswegs beendet ist, sondern fortgeführt werden muss. Das bedeutet, dass alle Bereiche des öffentlichen Lebens, also auch Staat, Erziehung, Verfassung usw. von allem noch vorhandenen Barbarischen befreit werden müssen. Dem französischem Zivilisationsbegriff und dem deutschen Kulturbegriff ist gemeinsam, dass sie mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des Bürgertums das nationale Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachten. Ein weiterer wichtiger

Punkt ist auch, dass die abendländischen Nationen den Prozess der Zivilisation bei sich als beendet ansahen und sich deshalb aufgerufen fühlten, diese Zivilisation zu exportieren.

Menschliche Verhaltensänderungen als Grundlage eines Zivilisationsprozesses

Der Begriff „civilité“ bringt sowohl die spezielle Situation wie auch das Selbstbewusstsein und die Eigenschaften der adligen Gesellschaft zum Ausdruck. Er wurde zunächst von Erasmus von Rotterdam in einer 1530 veröffentlichten Schrift3, die sehr weite Verbreitung fand, gebraucht, in der er sich mit dem Benehmen des Menschen im gesellschaftlichen Leben befasste und diese Belehrung für einen Fürstensohn schrieb. Gestik, Mimik, Kleidung werden darin ebenso angesprochen wie Tischmanieren oder Aspekte der Hygiene und Sauberkeit, und auf diese Weise konfrontiert Erasmus den Leser mit sowohl fremden wie auch bekannten menschlichen Verhaltensweisen. Elias sieht gerade in der Tatsache, dass dem heutigen Leser vieles von dem, was Erasmus beschrieben hat, peinlich erscheint oder es ihn unangenehm berührt, einen Ausdruck des stattgefundenen Zivilisationsprozesses, wobei seiner Meinung nach das Begriffspaar „zivilisiert - unzivilisiert“ nicht gleichzusetzen ist mit „gut - schlecht“, sondern dieses vielmehr Ausdruck eines Entwicklungsprozesses ist, der sich noch immer fortsetzt. Gleichermaßen lässt sich für diesen Prozess noch kein eindeutiger Anfangspunkt festsetzen; immer gab es etwas, was schon vorausging. Um dieses Prozesshafte und Dynamische nachzuweisen, setzt sich Elias als imaginären Anfangspunkt den mittelalterlichen Standard, von dem ausgehend er zur Gegenwart fortschreitet. Aus dem Mittelalter sind reichlich Zeugnisse z. B. über Tischsitten vorhanden, die Typisches einer Gesellschaft überliefert haben. Dieses höfische Benehmen wird z. B. in Ge-

dichten immer wieder dem Verhalten von Bauern und Angehörigen niederer Schichten gegenübergestellt. Das Essen mit den Händen von gemeinsamen Unterlagen, das Trinken von Suppen und Soßen aus gemeinsamen Schüsseln etc. sind Ausdruck der mittelalterlichen Eßgewohnheiten, die sowohl der Lebensweise der Menschen wie auch ihren Bedürfnissen entsprachen und ihnen durchaus als sinnvoll und notwendig erschienen. Gleichzeitig machen diese Eßgewohnheiten und Tischmanieren deutlich, dass in jener Zeit die Menschen in einer anderen Beziehung zueinander standen als dies heute der Fall ist; dem damals Üblichen begegnet der heutige Mensch mit Zurückhaltung und Empfindlichkeit. Mit der Zeit wird jedoch der Zwang und Druck, den die Menschen gegenseitig aufeinander ausüben, stärker. Aus der Beobachtung seiner selbst und seiner Mitmenschen resultieren verstärkte Forderungen des Menschen nach „gutem“ Benehmen und auch einer entsprechenden Formung des eigenen Verhaltens.u von Vertretern der Mittelstände in die Oberschicht im 16. und 17. Jahrhundert nahmen die Empfindsamkeiten und infolge dessen die gesellschaftliche Kontrolle zu, und damit rückte auch die Frage eines standesgemäßen Benehmens wieder in den Vordergrund. Durch diese zunehmende Kontrolle und auch den zunehmenden Zwang zur Selbstkontrolle veränderten sich die menschlichen Beziehungen, und infolgedessen gerieten allmählich auch die Verhaltensregeln, Sitten, Bräuche und der Verhaltensstandard insgesamt in Bewegung. Betrachtet man Verhaltensweisen und Manieren der Menschen im 16. Jahrhundert vom heutigen Standpunkt aus, erscheint manches als „unzivilisiert“, anderes wiederum durchaus als gewohnt. Dies verdeutlicht den Umbruch und die Bewegung im Benehmen der Menschen, wenngleich dieses nur in kleinen Schritten und nur sehr langsam vonstatten geht. Mit den besten Überblick dazu geben die Manierenbücher, die vom 13. bis ins 19. und sogar frühe 20. Jahrhundert hinein die menschlichen Verhaltens-

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weisen und das Benehmen dokumentieren und auf diese Weise in ihrer Gesamtheit Veränderungen deutlich machen. Diese Schriften und Gedichte machen das jeweilige Ideal deutlich und zeigen gleichermaßen auch das auf, was abgelehnt und verworfen wird, d. h. sie vermitteln uns die jeweiligen Sitten und Unsitten. Anschließend führt Elias einige Quellen aus verschiedenen Jahrhunderten an, um diese Verhaltensänderungen an praktischen Beispielen aufzuzeigen und die Richtung bzw. den Trend, in den diese Entwicklung sich bewegt, deutlich zu machen. Weiterhin zeigen die Manierenschriften auf, dass Sitten, Verhaltensweisen etc. Zugang in untere Schichten finden und dabei den jeweiligen sozialen Gegebenheiten durchaus angepasst und entsprechend modifiziert wurden. Im 18. Jahrhundert nimmt die Verflechtung zwischen den Schichten weiterhin zu. Kirchliche Kreise gewinnen im Hinblick auf die Popularisierung von höfischen Gebräuchen zunehmend an Bedeutung. Die in kirchlichen Kreisen vorhandenen Verhaltenstraditionen konnten sich vor allem in Frankreich durch die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, die zu einem großen Teil von kirchlichen Organisationen getragen wurden, verbreiten. Dadurch erfährt die „civilité“ zunehmenden Wertverlust, ähnlich wie bereits zuvor der Begriff „courtoisie“, der die an den Höfen der ritterlichen Feudalherren üblichen Verhaltensformen bezeichnete. Da der ritterlich-feudale Kriegsadel im 16. und 17. Jahrhundert zunehmend durch einen absolutistischhöfischen Adel ersetzt wurde, wurde der Begriff „courtoisie“ durch „civilité“ ersetzt; gleichermaßen verlor im 18. Jahrhundert der Begriff „civilité“ an Bedeutung, weil da die absolutistisch-höfische Oberschicht ebenfalls durch die zunehmende Verbürgerlichung umgebildet wurde. „Civilisation“ ersetzte daraufhin den Begriff „civilité“. Anhand des Essens beschreibt Elias dann diesen Entwicklungsprozess von courtoisie über civilité bis hin zu 54

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civilisation, wobei der Standard der Essgebräuche und dessen, was erlaubt bzw. verboten ist, jeweils regionale, nationale und soziale Varianten erkennen lässt, die jedoch die Entwicklung in eine bestimmte Richtung keineswegs missen lassen. Dies macht deutlich, dass sich Verhaltensweisen im Laufe der Zeit herauskristallisieren und in ihrer Form festigen. Ähnliche Veränderungen sind auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie z. B. im Hinblick auf Sprache, Einstellungen, Denkstrukturen etc. zu beobachten.

Elias führt als weiteres Beispiel das Sprechen an. Ausgehend von unterschiedlichen Sprechweisen höfischer und bourgeoiser Kreise in Frankreich ist demnach ebenfalls eine gegenseitige Beeinflussung der Schichten, nämlich eine „Verhöflichung bürgerlicher Menschen“ und eine „“Verbürgerlichung höfischer Menschen“4 zu beobachten. Dieser Prozess der Zivilisierung geht von einer bestimmten sozialen Schicht aus, die in der jeweiligen Zeit das Modell bildet, und dieses Modell breitet sich auf andere Schichten aus.

Dabei ist die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit als entscheidendes formendes Element anzusehen. In früheren Jahrhunderten war zudem die heute übliche Differenzierung zwischen Erwachsenen und Kindern relativ gering, d. h. man erwartete von Erwachsenen kaum mehr als von Kindern, während man heute bei Kindern durchaus etwas nachzusehen bereit ist, was man bei einem Erwachsenen nicht bereit ist zu tun. Heute sind die gesellschaftlichen Normen und Vorschriften sowie auch der Druck der Gesellschaft so stark, dass jeder, der sich nicht einfügt, sich selbst ausgrenzt und unter Umständen stigmatisiert wird. Während die Manierenschriften der Humanisten wie z. B. Erasmus den Kindern nahe bringen wollten, was in der Welt und vor allem im Leben der Erwachsenen gut und böse ist, geht man später dazu über, den Kindern zu sagen, wie sich Kinder verhalten sollen und wie nicht. Es wird zunehmend differenziert zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt der Kinder, d. h. die Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen nimmt zu. Als Beispiel für die Änderungen und Entwicklungen, die sämtliche Triebäußerungen des Menschen im Laufe der Zeit erleben, führt Elias die Veränderungen hinsichtlich der Angriffslust, des Kämpfens und Tötens an. Die ständige Bereitschaft zum Kampf war in der mittelalterlichen Gesellschaft geradezu eine Lebensnotwendigkeit für die Krieger und die ritterliche Oberschicht, doch auch Streitereien, Feindschaft und Hass, Familienfehden und -rache unter den Bürgern waren weitaus ausgeprägter als in späteren Zeiten, in denen die Zurückhaltung bedingt durch die Kontrolle der Triebe und Affekte und die Rücksichtnahme aufeinander im alltäglichen Leben zunahm. Die Lust zu kämpfen, Aggressionen auszuleben und anzugreifen findet eine Ausdrucksweise z. B. in sportlichen Wettkämpfen. Waren z. B. Verbrennungen von Ketzern und Hexen etc., in früheren Jahrhunderten ein öffentliches und mit Interesse verfolgtes Schauspiel, das heute mit Abscheu bedacht wird, so macht dies letztend-

lich nur deutlich, dass die Gesellschaft inzwischen eine andere Ebene im Hinblick auf Affekt- und Triebäußerungen erreicht hat. Alles, was dieser Ebene nicht entspricht, wird entsprechend als anormal empfunden und unter Umständen mit Sanktionen belegt. Indem er Gemälde und Zeichnungen analysiert, beschreibt Elias nicht nur die unterschiedlichen Lebensweisen von Rittern, Bauern etc., sondern er macht zugleich auch die unterschiedlichen Zwänge und Abhängigkeiten deutlich, die in den unterschiedlichen Schichten vorherrschend waren; und zugleich wird aus diesen Beschreibungen deutlich, dass sich z. B. das Leben eines Ritters und die Anforderungen an ihn wie auch die Zwänge, die ihm auferlegt wurden, mit der Zeit ebenso wandelten. War der Ritter ehemals frei und Herr auf seiner eigenen Burg, lebte er später mit vielen anderen zusammen am Hof von Fürsten und musste sich demzufolge neuen Zwängen unterwerfen. In Gestik, Mimik, Sprache etc. musste er den unterschiedlichen Rängen und dem Ansehen der Personen gerecht werden. Anstatt courtoisie wird von ihm nun civilité gefordert.

Soziale Grundlagen für das Entstehen der abendländischen Zivilisation

Ein Überblick über die Gesellschaft des Mittelalters verdeutlicht, dass das Machtstreben zwischen Adel, Kirche und Fürsten vorherrschte, in deren Verlauf sich die Macht bei den Königen oder Fürsten konzentrierte und diese zu absolutistischen Herrschern wurden. Entsprechend gewannen die Höfe an Bedeutung, sie wurden sozusagen zum alleinigen Trendsetter für die gesellschaftliche Entwicklung. Über nationale Grenzen hinweg gesehen war Frankreich und Paris – als das zentralisierteste und mächtigste Land jener Zeit – stilbildend, von wo aus sich die höfischen Manieren, Umgangsformen etc. auf die anderen europäischen Höfe ausbreiteten. So kann man sagen, dass im Mittelalter eine für das Abendland relativ ein-

heitliche Gesinnung im Adel entstand. Die Adligen in Europa sprachen französisch, sie lasen die gleichen Bücher, teilten den gleichen Geschmack und hatten im Großen und Ganzen den gleichen Lebensstil. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts, als es zu Veränderungen im politischen und sozialen Gefüge und zu verstärkten Bewegungen zwischen den Schichten kam und Angehörigen des Mittelstandes vermehrt der Aufstieg gelang, nahm die Differenzierung der höfischen Kreise zu. Nationale Elemente wie z. B. die Landessprachen gewannen wieder an Bedeutung, und mit der Schaffung absolutistischer Staaten und der damit einhergehenden Zentralisierung der Gesellschaft kam der Zivilisationsprozess richtig in Gang. Dieser Absolutismus gründete u. a. auf der Zunahme des geldwirtschaftlichen zu Lasten des naturalwirtschaftlichen Sektors und damit z. B. wachsender Steuereinnahmen der Könige und Fürsten, die sich dadurch wiederum ein größeres Militär leisten und damit ihre Machtposition weiter ausbauen konnten. Gleichzeitig verlor durch diese Machtzentralisierung in einer Person der Adel an Macht, während durch die Vergrößerung des geldwirtschaftlichen Sektors die bürgerlichen Schichten gleichzeitig ihre Macht ausbauen konnten. Mit der zunehmenden Geldwirtschaft wurden Erzeugung und Verbrauch zunehmend differenziert. „Ganz allmählich vergrößert sich also auch in der abendländischen Gesellschaft der geldwirtschaftliche Sektor, die Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen, die Verflechtung der verschiedenen Gebiete, die Abhängigkeit größerer Menschenmengen voneinander; alles das sind verschiedene Aspekte des gleichen, gesellschaftlichen Prozesses. Und nichts anderes als eine Seite dieses Prozesses ist auch die Veränderung der Herrschaftsform und der Herrschaftsapparatur, von der die Rede war. Die Struktur der Zentralorgane korrespondiert dem Aufbau der Funktionsteilung und Verflechtung. Die Stärke der zentrifugalen, auf lokale, politische Autarkie gerichteten

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Tendenzen in den vorwiegend natural wirtschaftenden Gesellschaften entspricht dem Grade der lokalen, ökonomischen Autarkie.“5 Auch diese Entwicklung bringt letztendlich nichts anderes als eine veränderte menschliche Beziehungsstruktur zum Ausdruck, der das Individuum ausgesetzt war. Elias gibt einen flüchtigen Überblick über die Völkerwanderungen von Stämmen aus Osten und Nordosten in westliche und südwestliche Richtung und sieht in dem Bevölkerungswachstum und dem immer knapper werdenden Boden als wichtigstem Produktionsmittel und Inbegriff des Eigentums eine wichtige Voraussetzung für die kolonialistische Suche nach Neuland. Der Boden wird knapper, doch die Nachfrage danach steigt. Kreuzzüge führen bis nach Jerusalem und zur Gründung neuer feudaler Territorialherrschaften. Die Kirche verleiht diesen Eroberungen einen christlichen Sinn und eine Rechtfertigung. Gleichzeitig fand auch innerhalb der Gesellschaften eine zunehmende Differenzierung statt. Die Menschen wurden auch über die Grenzen der Schichten hinweg immer stärker miteinander verflochten und voneinander abhängig, und dies wurde verstärkt durch die fehlenden Sklaven und den wachsenden Anteil freier Arbeit. Nach der feudalistischen Desintegration, in der die Herrschaftsbereiche und die Rechte immer weiter aufgeteilt wurden, wurden die abendländischen Gesellschaften schon im 11. und 12. Jahrhundert von einem Monopolmechanismus erfasst, wobei wenige reiche Grundherren ihre gesellschaftliche Machtposition ausbauen und stärken konnten. Im naturalwirtschaftlichen Sektor gingen die gesellschaftlichen Veränderungen nur langsam vonstatten. Arbeitsteilung und veränderte Arbeitstechniken schritten hier langsamer voran und brachten somit auch nur langsam Veränderungen im Hinblick auf die Lebensbedingungen mit sich. Mit veränderten Abhängigkeiten im menschlichen Zusammenleben gingen Veränderungen im Verhalten der Menschen einher. „Der 56

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Prozess der ‚Zivilisation’ ist, von der Seite des Verhaltens und des Trieblebens her gesehen, dasselbe, wie, von der Seite der menschlichen Beziehungen her gesehen, der Prozess der fortschreitenden Verflechtung, die zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen und, ihr entsprechend, die Bildung immer umfassenderer Interdependenzen, immer größerer Integrationseinheiten, von deren Ergehen und Bewegungen der Einzelne abhängig ist, ob er es weiß oder nicht.“6

Die sozialen Grundlagen für die Entstehung des Staates

Die Staatenbildung ging im europäischen Raum, wo der naturwissenschaftliche Sektor zunehmend vom geldwirtschaftlichen Sektor dominiert wurde, im Wesentlichen auf die gleiche Art und Weise vor sich: „Ein Menschengeflecht, in dem kraft der Größe ihrer Machtmittel relativ viele Einheiten miteinander konkurrieren, neigen dazu, diese Gleichgewichtslage (Balance vieler durch viele, relativ freie Konkurrenz) zu verlassen und sich einer anderen zu nähern, bei der immer weniger Einheiten miteinander konkurrieren können; sie nähert sich mit anderen Worten einer Lage, bei der eine gesellschaftliche Einheit durch Akkumulation ein Monopol über die umstrittene Machtchancen erlangt.“7 Diese Monopolbildung ist seit dem 11. Jahrhundert zu beobachten. Wie schnell und auf welche Art und Weise diese Machtverlagerung zugunsten einer immer kleineren Anzahl und zuungunsten der Mehrheit sich vollzog, hing von den vorhandenen Chancen und Möglichkeiten und der Anzahl der Nachfragenden ab. Mit der Größe eines solchen Monopolbesitzes und dem Ausmaß der Arbeitsteilung nahm jedoch auch die Abhängigkeit der Monopolherren zu. Sie liefen Gefahr, dass ihnen ihre Macht entgleiten und in ihrer Gesamtheit zu den Abhängigen oder einiger Gruppen von ihnen übergehen könnte, d. h. das Monopol Einzelner wurde vergesellschaftet und zu einem

Monopol der Allgemeinheit und somit des Staates. Dadurch wurden die Chancen nicht mehr durch Gewalt erkämpft und erstritten, sondern nun organisiert verteilt. Damit ging einher, dass die Verfügungsgewalt über Landbesitz der Kriegerschicht bzw. des Ritteradels und auch die Steuereinnahmen und ähnliches infolge der zunehmenden Funktionsteilung und der Konkurrenzkämpfe zentralisiert und der Autorität des Zentralherrn unterstellt wurde. Die Abgabeforderungen der Zentralgewalt und ihre Zunahme verdeutlichten gleichzeitig die Stärke und Macht der Zentralgewalt im Verhältnis zu den unterschiedlichen Schichten des Adels, der Geistlichkeit und des Bürgertums. Doch die Aufstandsbewegungen in den Städten gegen die Lasten der Abgaben brachten letztendlich nur eine weitere Stärkung der Zentralgewalt.

Elias' Entwurf einer Zivilisationstheorie

Elias definiert den Prozess der Zivilisation als eine „Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz bestimmte Richtung.“8 Grundlage dafür sind die Verflechtungen der einzelnen menschlichen Handlungen und Pläne, die eine bestimmte Ordnung schaffen. „Die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Verflechtungserscheinungen ist weder identisch mit der Gesetzlichkeit des ‚Geistes’, des individuellen Denkens und Planens, noch mit der Gesetzlichkeit dessen, was wir die ‚Natur’ nennen, wenn auch alle diese verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit funktionell unablösbar miteinander verbunden sind.“9 In diesem Sinne ist Zivilisation nichts Vernünftiges, sondern bestimmt durch die Art und Weise wie die Menschen miteinander zusammenleben und durch Veränderungen in dieser Hinsicht. Eine der Veränderungen im menschlichen Zusammenleben, die den Zivilisationsprozess in Gang setzt, ist die zunehmende Differenzierung der ge-

sellschaftlichen Funktionen aufgrund zunehmender Konkurrenz. Dies erfordert zum einen eine genauere Abstimmung der Handlungen der Einzelnen und eine immer bessere Organisation wie auch zugleich auf Seiten des Einzelnen ein stabileres Verhalten und eine bessere Selbstkontrolle. „...Die Richtung dieser Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur ist bestimmt durch die Richtung der gesellschaftlichen Differenzierung, durch die fortschreitende Funktionsteilung und die Ausweitung der Interdependenzketten, in die, mittelbar oder unmittelbar, jede Regung, jede Äußerung des Einzelnen unausweichlich eingegliedert ist.“10 Gleichzeitig entstehen dadurch Monopole, die dem Individuum eine bestimmte Kontrolle auferlegen. Wenn z. B. ein Gewaltmonopol entsteht, dann bewirkt dies die Entstehung von Räumen, in denen Frieden herrscht. In diesen Räumen wird von jedem Einzelnen erwartet, dass er auf Gewalttaten verzichtet; d. h. in diesem Falle wird auf ihn ein anderer Zwang ausgeübt als wenn es dieses Gewaltmonopol nicht gäbe, und umgekehrt besteht für ihn selbst natürlich auch ein größerer Schutz. Allgemein ausgedrückt bedeutet dies, dass die Gemütsäußerungen an einem bestimmten Maß ausgerichtet und damit berechenbarer werden. Insgesamt gesehen ändert sich das Verhalten des Menschen als Ganzes, und nicht nur einzelne Verhaltensweisen, durch die Selbstkontrolle und die Selbstbeherrschung, die er sich auferlegen muss, um der gesellschaftlichen Kontrolle und Überwachung gerecht zu werden. Für Elias sind diese weitreichende Funktionsteilung, das hohe Maß an Stabilität des Gewalt- und Steuermonopols und die umfassenden Interdependenzen und Konkurrenzen zwischen großen Menschenmassen, in der vor allem die Abhängigkeit aller von allen zunimmt, Besonderheiten des abendländischen Zivilisationsprozesses. Die Kontraste innerhalb der Gesellschaft, die ehemals für die unter-

schiedlichen Schichten charakteristisch waren, verschwinden mehr und mehr, die Unterschiede im Verhalten schwächen sich zunehmend ab. „Und erst wenn diese Kontraste sich verringern, wenn unter dem Konkurrenzdruck, der diese Gesellschaft von oben bis unten in Atem hält, Schritt für Schritt die Funktionsteilung, die wechselseitige Abhängigkeit und Verflechtung verschiedener Funktionen über größere Räume hin immer stärker wird, wenn die funktionelle Abhängigkeit auch der Oberschichten wächst und die gesellschaftliche Stärke samt dem Lebensstandard der unteren steigt, dann erst kommt es langsam zu jener beständigen Langsicht und jenem ‚Ansichhalten’ bei oberen, zu jenem beständigen Auftrieb von unteren Schichten und zu allen jenen anderen Veränderungen, die in den Ausbreitungsschüben der Zivilisationsbewegung zusammenwirken.“11 Erfahrungen und auch Beobachtungen des menschlichen Verhaltens gewinnen an Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit der Rationalisierung, die später an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig darf man jedoch nie vergessen, dass dies alles immer schon da war. Es gab sowohl psychologische wie auch rationalistische Elemente; wie stark sie jedoch hervortreten, dies hängt wiederum ab vom Aufbau der menschlichen Abhängigkeiten, ihrer Trieb- und Affektbeherrschung Dieser Rationalisierungsprozess ist eingebettet in die nach wie vor vorhandenen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Schichten und gesellschaftlichen Verbänden. Allerdings liegt es nicht in der Macht dieser Gruppen, den Zivilisationsprozess und die ihm zugrunde liegenden organisatorischen Verflechtungen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ebenso wenig haben die Veränderungen und die zunehmende Rationalisierung ihren Ursprung in einer bestimmten Schicht oder Gruppe, sondern sie ergeben sich aus dem Spannungsgefüge, das zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen und zwischen den Individuen dieser Gruppen existiert.

Weitere Aspekte des Zivilisationsprozesses sind das zunehmende Schamgefühl und Peinlichkeitsempfinden. Dies resultiert aus der Verbindung mit Zwängen von außen und der Gesellschaft, die im Einzelnen Angst vor der Übertretung gesellschaftlicher Vorschriften entstehen lassen und nichts anderes sind als ein Zeichen für die zunehmende Differenzierung zwischen den Funktionen der Triebe einerseits und den entsprechenden Überwachungsfunktionen andererseits. Keine Gesellschaft kann bestehen ohne Kanalisierung der individuellen Triebe und Affekte, ohne eine ganz bestimmte Regelung des individuellen Verhaltens. Keine solche Regelung ist möglich, ohne dass die Menschen aufeinander Zwang ausüben und jeder Zwang setzt sich bei dem Gezwungenen in Angst der einen oder anderen Art um. Solange der Zustand, in dem die zwischenmenschlichen Beziehungen von einem Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Aufgaben und Pflichten und seinen individuellen Neigungen und Bedürfnissen beherrscht sind, nicht erreicht ist, befinden sich die Menschen und Gesellschaften nach Elias noch immer in einem unbeendeten Zustand der Zivilisation. * Dr. Behzad Khamehi ist Politikwissenschaftler und lehrt an der RaziUniversität Kermanschah Internationale Politik und Politische Philosophie. Anmerkungen: 1

Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände, Frankfurt 1976, Bd. I, S. LXIV. 2 Ebd., S. 32. 3 De civilitate morum puerilium. 4 N. Elias, a.a.O., Bd. I, 5. 147. 5 Ebd., Bd. II, S. 35. 6 Ebd., Bd. II, S. 119. 7 Ebd., S. 135. 8 Ebd., Bd. II, S. 312 9 Ebd., S. 315. 10 Ebd., S. 317. 11 Ebd., Bd. II, S. 358.

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