Der Wert der Bildung im Kampf gegen die Armut

Predigt über Sprüche 1, 1-7 vom 22. Mai 2016 zum IPA Gottesdienst gehalten von Pfarrer Martin Keller Lesung aus Sprüche 1, 1-7 „Die Sprüche Salomos,...
Author: Albert Jaeger
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Predigt über Sprüche 1, 1-7 vom 22. Mai 2016 zum IPA Gottesdienst gehalten von Pfarrer Martin Keller

Lesung aus Sprüche 1, 1-7

„Die Sprüche Salomos, des Sohns Davids, des Königs von Israel. Sie lehren Weisheit und Unterweisung, verständige Worte zu verstehen, Unterweisung anzunehmen, die verständig macht, Gerechtigkeit, Recht und Geradheit. Einfältigen verleihen sie Klugheit, einem jungen Mann Wissen und Umsicht. Der Weise hört und lernt dazu, und der Verständige erwirbt Kenntnisse, so dass er Spruch und Anspielung versteht, die Worte der Weisen und ihre Rätsel. Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis, Toren verachten Weisheit und Unterweisung.“

Predigt

“Der Wert der Bildung im Kampf gegen die Armut“

Liebe Gemeinde was macht den Menschen eigentlich zum Menschen? 1

In meinem Jugendlexikon stand: „Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch den aufrechten Gang.“ Wie wenn es nicht unzählige Tierarten gäbe, die sich auf die Hinterbeine gestellt haben und seither durch die Wälder, Wüsten, Prärien und Savannen rennen, springen oder hüpfen. Abgesehen davon, dass sie den aufrechten Gang auch beherrschen, sind sie uns darin meistens weit überlegen. Ich würde mich weder auf einen Ringkampf mit einem Bären oder Gorilla einlassen, der sich drohend aufrichtet und erschreckend flink auf mich zukäme, noch auf ein Wettrennen mit dem Vogel Strauss oder auf eine Springkonkurrenz mit einem Riesenkänguru. Da müsste ich gewärtigen, kräftig zusammengeschlagen zu werden. Kängurus sind begnadete Boxer tierische Muhammad Alis oder Klitschkos. Lieber nicht. So gesehen bestünde die Menschlichkeit des Menschen darin, dass er das, was ihn zum Menschen macht, schlechter kann als seine tierische Konkurrenz. Ein weiterer Unterschied fand das Lexikon in der Behauptung, dass der Mensch anpassungsfähiger sei als andere Lebewesen, überall und unter allen klimatischen Bedingen überleben und sich behaupten könne. Das hat etwas: man findet überall auf der Welt Exemplare des Menschen, denen man lieber nie begegnen würde. Aber das Lexikon hat nicht mit den Insekten gerechnet, die uns punkto Vielfalt und Anpassungsfähigkeit um Lichtjahre voraus sind, so dass man getrost davon ausgehen kann, dass die Küchenschaben und andere unschöne Kreaturen einen vom Menschen verursachten Atomkrieg überleben werden im Gegensatz zu dessen Verursacher, dessen Gattung wahrscheinlich weitgehend ausgerottet würde. Von Bakterien und Viren wollen wir lieber gar nicht reden. Die überleben sogar in kochender Schwefelsäure oder im ewigen Eis der Antarktis. Nein - das kann es nicht sein. In etwas gelehrteren Wissensschätzen wird auf die Sprachfähigkeit des Menschen verwiesen und die Tatsache, dass er seine Aktivitäten vorausplanen kann und sogar Werkzeuge einsetzen kann, um Probleme zu lösen, an denen er sonst scheitern würde. Aber das können Krähen, Ameisenbären, Schimpansen und noch viele andere Tiere, sogar die stummen Fische im Wasser, auch und mit Erfolg. Oder ist es die Fähigkeit, sich in grösseren Verbänden zu organisieren, gezielt und koordiniert vorzugehen, um Feinde zu bekämpfen oder Beute zu erlegen? Das können die Menschen schon. Aber Tiere können das auch. Ameisen treten als unbesiegbare Heerscharen auf und fressen alles ab, was ihnen in den Weg 2

kommt, die brasilianischen Wanderameisen werden auch mit menschlichen Siedlungen fertig, selbst Petrolbrände oder Pestizide halten sie nicht ab. Das organisierte Jagen ist keine speziell menschliche Qualität und auch die organisierte Zusammenarbeit ist nicht auf unsere Spezies beschränkt. Dann bleibt noch die Sprache. Das Wort, die Geste, der Gesichtsausdruck ist doch eine menschliche Eigenschaft, die Nachrichten verfassen, untermalen oder Gefühle übermitteln können! Aber auch Tiere reden miteinander, bezeugen Gefühle wie Angst, Arger oder Aggression. Auch Tiere teilen mit, was ihnen durch den Kopf geht mit Tänzen, Rufen oder Gesängen, mit Gesten oder Gebärden. Man staunt, wie genau sie kommunizieren können, wenn man an den Bienentanz denkt, der auf den Meter genau den Standort einer guten Futterstelle verrät. Nicht nur Tiere kommunizieren, das ganze Leben ist universal Kommunikation, Austausch und Information. Der Mensch ist kein Spezialfall in dem Sinne. Er kann einfach mehr behalten, mehr austauschen, vielfältiger reagieren und Varianten entwickeln, sich auch abstraktere Inhalte merken und Dinge vorausdenken, die noch gar nicht eingetreten sind. Das können viele Tiere ebenfalls wenn auch eingeschränkt und artbezogen, während der Mensch über sich hinaus, sogar über seine Gattung hinaus, die Natur lesen und verstehen kann. Aber ein grundsätzlicher Unterschied besteht nicht. Menschsein definiert sich demnach weniger über dessen Qualitäten sondern über seine Defizite. Das ist wenig schmeichelhaft. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, dass er noch nicht das ist, was in ihm angelegt wäre. Das heisst, Menschwerden bedeutet, diese Defizite beheben, sie zu Qualitäten machen, das, was immer schon so ist, derart zu verändern, dass sich nicht nur der Mensch an sich verändert, sondern auch seine Umwelt, die dadurch weniger gefährlich, weniger karg und weniger abweisend wird und von einem feindseligen Lebensraum zum gestalteten Wohnraum für die Menschheit wird. Dazu braucht der Mensch Bewusstsein. Das haben Tiere auch. Aber der Mensch kann abstrahieren. Er nimmt nicht nur sich selber und Artgenossen, Feinde oder Beute wahr, sondern er kann einen Zusammenhang zwischen seiner eigenen Wahrnehmung, Artgenossen, Umwelt und Problem so erkennen, dass er auch Dritte in seine Pläne einbeziehen kann und so eine flexible Gemeinschaft zu schaffen vermag, die über ihre gemeinsamen Defekte hinaus eine Ueberlegenheit zu schafft, gegen die, auch weit stärkere Tiere, nichts entgegenzusetzen haben. 3

Dass der Mensch dabei ein fehlerbehaftetes Wesen bleibt, ist sogar seine Stärke: er merkt, dass er immer wieder anderes probieren muss, immer wieder neue Varianten entwickeln, immer wieder Informationen auf der bereits hohen Kommunikationsstufe von Geste, Gebärde oder Rufen einholen und weitergeben kann, so dass seine Beobachtungen und Einschätzungen zum Gemeingut wird. Von da an beginnt der Mensch systematisch und kollektiv zu lernen, erarbeitet sich Plattformen der Kommunikation, welche sich von der Natur abheben, indem sie fähig sind, auch die Natur selber zu durchschauen und ihre Gesetzmässigkeiten im eigenen Interesse anzuwenden. Alles immer mit Fehlern und Rückschlägen, aber immer wieder mit neuen Anläufen, die mit der Zeit das Repertoire derart erweitern, dass der Mensch nicht mehr nur ein Teil der Natur sondern auch ein Gegenüber der Natur ist. Der Mensch hat die Höhle und den Sumpf in dem Moment verlassen, als er merkte, dass er seiner Umwelt, die ja feindlich war, immer einen Schritt voraus sein musste. Da kam der Affe vom Baum herunter in die Savanne, begann zu wandern und sich zu entwickeln über die Jahrtausende. Aber: Was macht den Menschen zum Menschen? Dass er lernfähig ist. Damit fing die Kultur an und damit fing die Menschheit an, sich unabhängig von ihren jeweiligen Lebensgrundlagen zu entwickeln und wurde fähig, sich im tropischen Dschungel zwischen den giftigsten Schlangen der Welt, in der Wüste, wo selbst die Skorpione verdursten, in den Urwäldern Eurasiens unter Bären und Wölfen, in der Taiga und im hohen Norden im ewigen Eis der Arktis zu behaupten und sich doch ganz komfortabel einzurichten. Lernen bezieht sich auf sämtliche Lebensfelder. Es gibt das Lernen, sich wie ein Mensch zu bewegen, aufzustehen, zu gehen, die Schuhe zu binden, sich anzuziehen etc. Das ist elementar und von Kultur zu Kultur verschieden. Es gibt das technische Lernen, wie man jagt, fischt oder die Felder bestellt, die Beute oder den Ertrag verteidigt oder sich gegebenenfalls einen Streit zu mit seinen Konkurrenten zu liefern, um sich dann sofort wieder mit denen zusammenzutun, wenn ein noch grösserer Feind auftaucht. Zum technischen Lernen gehört auch, wie man misst, abwägt, verteilt und organisiert. Wie man sät, pflanzt, rodet, Häuser baut und mit dem Feuer umgeht. Und zum technischen Lernen gehört auf einer höheren Stufe, wie man Werkzeuge, Gefässe, Waffen, Schiffe und Wagen baut, wie man mit der Erfindung des Rads möglich macht, schwere Lasten tragbar zu machen und mit der Domestizierung von Nutztieren die schwere Arbeit leichter. Je besser organisiert, je arbeitsteiliger und vielseitiger wurden die Siedlungen immer grösser, die Sicherheit beständiger und die Entwicklung von Neuem leichter, sofern der fehlerbehaftete Mensch es zuliess, dass er sich nicht nur 4

um seine Umgebung, sondern auch um sich selber kümmern musste. Das hat die Menschheit bis heute nicht immer begriffen, deshalb muss man ihr noch von einer andere Seite als nur der technischen auf die Sprünge helfen. Das war wahrscheinlich der Anfang des sozialen Lernens, der Rechtsetzung und der Rechtsprechung, einer übergemeindlichen und überpraktischen Gemeinschaftslehre, die sich vor allem in der Religion, aber auch in der Literatur und den Künsten niederschlug. Da begann die Literatur, indem man die heiligen Gesetze aufzuschreiben begann, damit der Kult in dieser magischen Zauberwelt korrekt erfüllt, Kranke mit alten Einsichten und geheimnisvollen Ritualen geheilt wurden, Schuld gesühnt und Verbrechen bestraft. Dazu erfand die Menschheit dann die Schrift - auch das musste man lernen, oft schmerzlich, wie der folgende Text aus Sumer in Mesopotamien, dem heutigen Irak, zeigt, der etwa 2500 vor Christus von einem etwas unglücklichen Schüler verfasst worden ist meines Wissens die älteste erhaltene Strafaufgabe: „Sohn des Tafelhauses, wohin bist du seit langen Tagen gegangen? ,Ich bin ins Tafelhaus gegangen!’ ,Was hast du im Tafelhaus gemacht?’ ,Ich habe meine Tafel gelesen, habe mein Frühstück gegessen, Habe meine Tafel gemacht, sie beschrieben, sie vollendet. . . Als das Tafelhaus schloss, bin ich nach Hause gegangen. Ich habe meinem Vater mein . . . vorgesprochen. Ihm meine Tafel vorgelesen - mein Vater war zufrieden . . . Nachdem ich am frühen Morgen aufgestanden bin, Habe ich meine Mutter angeschaut und Zu ihr gesagt: ,Gib mir mein Frühstück, Ich will ins Tafelhaus gehen!’ Meine Mutter hat mir zwei Brote aus dem Backofen gegeben. Und ich habe vor ihren Augen meinen Durst gelöscht; ,Gib mir mein Frühstück!’ Dann bin ich zum Tafelhause gegangen. Im Tafelhause sagte der Aufsichtsführende zu mir: ,Warum bist du so spät gekommen?’ Ich habe Angst bekommen, mein Herz klopfte, Ich trat vor den Meister, er wies mir meinen Platz an. Mein ,Vater des Tafelhauses' hat meine Tafel gelesen, Ist darüber zornig geworden, hat mich geschlagen . . .“ Lernen kann schmerzen - wer kennt das nicht, seien es Prügel oder schlechte Noten, elterlicher Druck von wegen Gymnasium oder Nachlässigkeit, weil man 5

Bildung für einen Luxus hält, sei es Unfähigkeit oder Knauserigkeit der Verantwortlichen - es ist für die Schule, für das Lernen oder für das, was den Menschen zum Menschen macht, nicht leicht. Es gibt aus der gleichen, längst vergangenen Zeit und Kultur aber auch noch ein anderes Beispiel: „Der ,Sohn des Tafelhauses' nahm ihn (offenbar den Lehrer) an die Hand, trat vor ihn (den Vater), Legte alles, was er im Tafelhause gelernt hatte, Seinem Vater in die Hand. Sein Vater sprach voller Herzensfreude zu seinem ,Vater des Tafelhauses' (dem Lehrer) die frohen Worte: ,Meinem Kinde hilfst du empor (?), führst es in das Wissen ein, Lehrst es die Feinheiten der Tafelschreibkunst! Im Tafelhaus haben sie ihm die klaren Fälle des Rechnens und Abrechnens gezeigt - Des . . . verschleierte Fragen sind ihm aufgegangen . . . Gutes Oel goß er wie Wasser in seinen Ölbehälter, Gab ihm ein Gewand, machte ihm ein Geschenk, steckte einen Ring an seine Hand …" Da war mein Vater offenbar zufrieden und hat den Lehrer fürstlich entlöhnt. Er wusste, was seinen Sprössling weiterbringt und schonte deshalb sein Portemonnaie nicht. Diese beiden Texte sind gut 2000 Jahre älter als die biblischen, die wir gehört haben. Die Menschheit hat in diesem Sinne viel gelernt. Aber was man gelernt hat und nicht mehr pflegt, geht schnell vergessen. Darum muss man immer wieder daran erinnern, dass der Mensch Mensch wird, indem er es lernt, Mensch zu sein. Genau das möchten wir in diesem Gottesdienst tun. Wenn wir verhindern wollen, dass alles Elend der Welt zu uns flieht, müssen wir vor Ort dafür sorgen, die Dinge in Ordnung zu bringen, so dass vor allem die Kinder und Jugendlichen eine Zukunft haben. Diese Zukunft haben sie nur, wenn man sie ausbildet, sie schult und ihnen später entweder ein Studium oder noch besser, weil mehr benötigt, eine solide Berufsausbildung ermöglicht. Das IPA Projekt ist ein Tropfen auf den heissen Stein, aber es ist weit mehr als das: es hat das Interesse und die Sensibilität junger Schweizer Mittelschüler geweckt, eigene Verantwortung wahrzunehmen. Ich wünsche mir, dass dieser Funke auch auf andere überspringt und man sich mehr dafür einsetzt, dass das Leben in Ländern wie Albanien und anderswo besser wird. Der Mensch ist ja flexibel: Wo er eine Chance wittert, packt er zu. Aber diese Chance muss man ihm geben, sonst gesellt sich der Mensch, der weniger als

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Nichts hat eben zum Menschen, der mehr als alles hat und trotzdem unzufrieden ist. Eine Konfirmandin hat sich für ihre Konfirmation am 5. Juni diesen Spruch ausgesucht: „Wem man viel anvertraut hat, von dem wird man desto mehr verlangen.“ Lukas 12,48 Diese junge Frau hat offenbar viel gelernt, ihre etwas älteren Kolleginnen setzen es jetzt um. Ich freue mich darüber - nur so kommen wir weiter! Amen.

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