Der subjektive Drugstore Bericht von den 62. Berliner Filmfestspielen

02/2012 soziale psychiatrie im kino Der subjektive Drugstore Bericht von den 62. Berliner Filmfestspielen Vo n I l s e E i c h e n b r e n n e r »D...
Author: Hansi Boer
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02/2012 soziale psychiatrie

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Der subjektive Drugstore Bericht von den 62. Berliner Filmfestspielen Vo n I l s e E i c h e n b r e n n e r

»Die Summe meiner einzelnen Teile«

Ist es Schicksal oder Fluch, dass ich mal wieder die entscheidenden Filme nicht gesehen habe? Den Siegerfilm der Brüder Taviani über eine Gruppe von Häftlingen, die ein Stück von Shakespeare inszenieren – weil ich keine Lust auf italienische Monologe mit englischen Untertiteln hatte. Den Gewinnerfilm des Sonderpreises »L’enfant d’en haut« – weil ich schlichtweg den Wecker falsch gestellt und deshalb verschlafen habe. Nicht gesehen habe ich auch den Film mit dem lustigsten Titel (»Sometimes we sit and think and sometimes we just sit«) von Julian Pörksen – weil er mit einer Länge von 32 Minuten irgendwie nicht in meinen Stundenplan passte. 53 Filme in ordentlicher Spielfilmlänge habe ich zu mir genommen; darunter waren große Glückspillen und quasi intravenös injizierte Superflashs; aber auch einige Depots mit ätzender Langzeitwirkung, sedierende und – ich muss es ehrlich gestehen – meinen Schlaf hartnäckig anstoßende Bachblütentropfen. Trotzdem gibt es im folgenden Text keine Rezepte, keine Verschreibungen, ja noch nicht einmal Empfehlungen. Was mir gefiel, das hat andere angeödet oder verschreckt. Und

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»I, Anna«

umgekehrt: Was mich verzückte, das wurde von anderen Journalisten bereits in der Tagespresse vernichtet. Der subjektive Faktor ist und bleibt entscheidend. Hier gibt es also nur einen Blick in mein ganz persönliches Nähkästchen, meine Pillensammlung, meinen ganz privaten Drugstore. »Die Summe meiner einzelnen Teile« Mit der Med-Gabe wird immer schon vor der Berlinale begonnen. Auffällig viele hervorragende Filme kommen dann in die Kinos. Dabei würde ich mir vorab eine Durststrecke wünschen, eine cineastische Dürre, eine Phase der Askese, um mich auf die bevorstehende Völlerei vorzubereiten. Nun, ich bin ja autonom und könnte mir die Nulldiät selbst verordnen. Bei dem neuen Film von Hans Weingartner, »Die Summe meiner einzelnen Teile«, konnte ich allerdings nicht widerstehen. Es gab ihn auch auf der Berlinale in der Reihe ›German Cinema‹ zu sehen, die den Akkreditierten aus aller Welt vorbehalten ist. Doch ich habe ihn schon vorab im »richtigen« Kino bewundert und lege ihn den SP-Lesern noch einmal ans Herz, obwohl er vermutlich aus den Kinos bereits wieder verschwunden ist, wenn Sie dieses Heft in der Hand halten.

Der junge Mathematiker Martin Blunt wird nach einem halben Jahr stationärer Behandlung aus der Psychiatrie entlassen. Die Psychiaterin händigt ihm seine Medikamente aus: Risperdal, Cipramil, Stilnox. Er scheint obdachlos gewesen zu sein, nun bezieht er eine kaum möblierte Plattenbauwohnung, die er »vom Amt« erhalten hat. Er spricht bei seinem Arbeitgeber vor, vermutlich einer Versicherungsgesellschaft, und erfährt, dass man ihn doch nicht wieder beschäftigen kann. Er sei offensichtlich nicht belastbar genug. Der enttäuschte Blunt vegetiert vor sich hin, holt bei seiner Exfreundin ein paar Sachen ab und isoliert sich. Er zahlt seine Miete nicht, wird erneut psychotisch und bekämpft seine wirren Gedanken, die unentwegt um Zahlen kreisen, mit Wodka. Der Räumungsbescheid kommt, der Gerichtsvollzieher reißt ihn mit der Türöffnung aus dem Schlaf. Er packt ein paar Sachen zusammen und zieht durch die kalten Straßen. In seinem Wahn läuft er in den fließenden Verkehr und wird beinahe überfahren. Er nächtigt in Abrisshäusern und humpelt schon bald gemeinsam mit Viktor, einem zehnjährigen Jungen, umher. Viktor spricht nur Russisch, aber er zeigt ihm, wie man vom Flaschensammeln leben kann. Sie werden verjagt und landen kurzfristig bei

Martins Vater. Der ruft die Polizei, aber sie hauen rechtzeitig ab. Sie suchen Unterschlupf in einem Waldgebiet am Stadtrand, wo sie sich eine Hütte bauen, in der sie sich häuslich einrichten. Immer wieder besorgt sich Martin Schnaps, doch der kleine Viktor schafft es, ihn vom Saufen abzubringen. Inzwischen ist es warm geworden, und das Leben wird leicht, und die Bäume werden grün. Martin hat wieder Kraft und Mut und rennt durch den Wald; er klettert auf Bäume, betrachtet das Leben im Wald und in der Stadt von oben. Im Abfall findet er einen Brief mit vielen Fotos, in dem von einem Leben als Aussteiger in Portugal die Rede ist. Er sucht die junge Frau namens Lena, an die der Brief gerichtet ist, und fängt an, von diesen portugiesischen Hütten am Meer zu träumen. Martin und Viktor sind nun Freunde und genießen ihr einfaches, autonomes Leben. Doch ihr Waldhaus wird entdeckt und abgerissen, Martin schlägt um sich und kommt in Polizeigewahrsam. Der kleine russische Junge, von dem er redet, ist nicht zu finden. Die behandelnde Psychiaterin aus der Klinik taucht in der Zelle auf und konfrontiert Martin mit der Behauptung, den kleinen Jungen habe es nie gegeben, er habe ihn nur halluziniert. Martin Blunt wird

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»Was bleibt«

in die Psychiatrie überführt, aber ihm gelingt die Flucht. Er schafft es mit Viktor und Lena in den Bus nach Portugal zu steigen, aber der Bus wird angehalten, und die Polizei holt ihn heraus. Martin Blunt liegt wieder einmal fixiert in einem Isolierraum und fantasiert von einem kleinen russischen Jungen an der Hand einer jungen Frau. Der Zuschauer ist nicht weniger irritiert als Martin Blunt selbst, als die Psychiaterin Viktor als Trugbild entlarvt. Man hat ihn doch wirklich gesehen! Damit ist man mindestens genauso verarscht wie vor zehn Jahren in »A Beautiful Mind«, als man den optischen Halluzinationen des Mathematikers und Nobelpreisträgers J.F. Nash als scheinbar realen Filmfiguren vertraute. Trugbilder, Hirngespinste, Traumgestalten Das Phänomen der real erscheinenden optischen Halluzination begegnete mir noch mehrfach. Besonders irritiert haben mich die scheinbar realen Angehörigen der Protagonistin in »I, Anna«, verkörpert von Charlotte Rampling in einem Film ihres Sohnes Barnaby Southcombe. Anna arbeitet als Kaufhausdetektivin und lebt zusammen mit Tochter und Enkelin in einem schönen Apartment. Ab und zu besucht die attraktive Frau ein Singletreffen. Zufällig läuft sie einem Kriminalkommissar (Gabriel Byrne) über den Weg, als

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»Beziehungsweisen«

dieser zu einem Mordfall gerufen wird. Die rätselhafte Frau gefällt ihm, er macht sie ausfindig und trifft sich mit ihr. Ganz allmählich wird er misstrauisch; gibt es das Enkelkind wirklich, oder bildet sich Anna (und der Zuschauer) seine Existenz nur ein? Die Auflösung kommt ein wenig abrupt, denn man hat die sorgfältig eingestreuten Indizien übersehen, so fasziniert ist man von der Annäherung dieser beiden nicht mehr ganz jungen, aber faszinierenden Schauspieler. Charlotte Rampling als wahnhafte Femme fatale – das gibt es ab 22. November 2012 im Kino. Auch Margaret Thatcher ist nicht ganz allein. Obwohl ihr Mann längst verstorben ist, geistert er durch ihre Wohnung, sitzt als ganz realer Mensch mit ihr am Frühstückstisch und kommentiert ihre Aktivitäten. Meryl Streep als »Iron Lady« (Regie: Phyllida Lloyd) hat vermutlich Tage und Stunden in der Maske verbracht, um sowohl die junge Premierministerin als auch die alte, an Alzheimer erkrankte Lady zu verkörpern. Rein äußerlich gelingt ihr dies ganz hervorragend; ob ihr Akzent, den sie sich so mühsam antrainiert haben soll, mit dem der eisernen Lady tatsächlich übereinstimmt, kann ich nicht beurteilen. Sie artikuliert nicht, sondern sie kreischt, wie es auch Margaret Thatcher getan haben soll, und sie nervte mich damit auf Spielfilmlänge. Viel anfangen konnte ich

mit dieser platten Abbildung eines Politikerinnenlebens nicht, aber vielleicht haben Sie Ihr eigenes Urteil längst gefällt, denn die »Iron Lady« kreischt seit dem 1. März im Kino. Doch man muss nicht gleich wahnsinnig sein, um als Filmfigur Gestalten zu sehen, die man selbst und der Zuschauer gleich mit für bare Münze nimmt. Dorothea Buck hat uns ja beigebracht, dass die Psychose einem Traum entspricht, nur dass man dabei nicht schläft. Auch ohne je psychotisch gewesen zu sein, kennen wir alle diese Schimären aus unseren guten und besonders den bösen Träumen. Zum Wochenende nach Hause »Was bleibt« heißt der neue Film von Hans-Christian Schmid, der sich mit »Requiem« in die Annalen des Psycho-Films eingeschrieben hat. Der englische Titel »Home for the Weekend« gibt bereits eine Kurzfassung der Handlung. Auch über diesen Film schieden sich die Geister in der cineastischen Gemeinde. Marko versucht sich in Berlin als Schriftsteller; er lebt von seiner Freundin getrennt und übernimmt den kleinen Sohn Zowie, um mit ihm zu seinen Eltern nach Siegburg zu fahren. Die Familie soll wieder einmal zusammen sein; seinem Bruder Jakob haben die Eltern in der Nachbarschaft eine schlecht laufende Zahnarztpraxis einge-

richtet; auch Jakobs Freundin ist für das Wochenende aus der Großstadt angereist. Das Verhältnis zu der Mutter, genannt Gitte (Corinna Harfouch), und zum Vater, genannt Günter (Ernst Stötzner), ist freundschaftlich. Das Haus der Eltern ist geschmackvoll, fast luxuriös eingerichtet, mit großem Garten und Pool. Gitte eröffnet der Familie, dass für sie ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat. Sie hat vor vierzehn Tagen ihre Medikamente abgesetzt. Sie leidet an einer Depression, ist zu erfahren, ein andermal heißt es, sie sei manisch-depressiv. Die Angehörigen freuen sich nicht mit Gitte, sondern erschrecken und sind verärgert über so viel Unvernunft. Der Vater hat gerade seinen eigenen Verlag zu einem guten Preis verkauft und plant eine Reise – allein – für literarische Recherchen im Nahen Osten. Das kann er jetzt knicken. Die ganze Familie, so ahnt man allmählich, war jahrzehntelang in Habt-AchtStellung vor der nächsten Krise der Mutter, vor dem nächsten Klinikaufenthalt. Gitte zeigt offen ihre Enttäuschung, alle anderen sind gekränkt und in Sorge. Doch an der Oberfläche geht das gemeinsame Wochenende weiter: Es wird gegrillt, gefrühstückt und in der schönsten Szene der Berlinale sogar gemeinsam gesungen. Marko setzt sich ans Klavier, einer nach dem anderen stimmt ein, denn sie alle kennen das Chanson

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»La Demora«

»Gnade«

von Charles Aznavour und den Text: »... wenn du nur still wärst, das wär schön, du lässt dich geh’n, du lässt dich geh’n ...« Der kleine Zowie ist begeistert und will noch mehr davon, aber der Deckel wird wieder zugeklappt. Gitte füllt Cannelloni und bereitet am Morgen einen Erdbeerkuchen vor. Und dann ist sie plötzlich verschwunden. Sie finden ihr Auto auf einem Parkplatz am Wald; sie informieren die Polizei, die den ganzen Wald durchkämmt. Marko läuft noch in der Nacht herum und sucht und stolpert und verletzt sich und schläft auf dem Waldboden ein. Da erscheint ihm plötzlich Gitte, nun von Marko »Mama« genannt, und tröstet ihren Sohn an einem kleinen Lagerfeuer. Am nächsten Morgen liegt Marko allein auf dem Boden. Cut. Ein späteres Familientreffen, vermutlich zu Weihnachten, findet statt, um letzte Absprachen zu treffen. Gitte wird für tot erklärt. Das Thema Psychopharmaka wird im Film nicht diskutiert, ja nicht einmal angerissen. Da Gitte so überaus gepflegt und aktiv und vernünftig vorgestellt wird, bleibt ihre Krankheit eine Behauptung; sie spiegelt sich in der Klage von Jakob, er habe wegen ihr in der Nähe seine Praxis eröffnen müssen, weil der Vater nur an den Wochenenden aus Frankfurt nach Hause gekommen sei. Sie spiegelt sich in der vermeintlichen Rücksichtnahme des Vaters Günter, der seit zwei Jahren eine Freundin hat,

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die er wegen Gittes Labilität verheimlicht hat. So nimmt der Film nicht wirklich Partei, sondern er legt nur vorsichtige Spuren und überlässt es dem Zuschauer, zu urteilen. Es war interessant, die unterschiedlichen Reaktionen zu lesen: Für viele ist es ein Film über Geheimnisse und Loyalitäten innerhalb eines familiären Netzwerks. Wurde Gitte klein gehalten und krank gemacht, in ihrem kleinen Leben als Hausfrau und Mutter? War sie das Opfer? Oder waren es die rücksichtsvollen Angehörigen, die ihr wahres Leben nicht gelebt haben? Da könnte vielleicht der Familienspezialist und Antipsychiater Ronald D. Laing eine Antwort geben. Doch der Besuch des experimentellen Streifens »All Devided Selves« von Luke Fowler half mir nicht weiter, weil er ohne Untertitel war, sodass ich nur Fragmente verstand. Ihm war die Familie die Urzelle jeder psychischen Störung, vor allem ihre Lügen und Geheimnisse. Archivaufnahmen gewähren ein paar Blicke in die berühmten Wohnprojekte, z.B. Kingsley Hall, in denen es wenig anders aussah als in den ersten therapeutischen Wohngemeinschaften in Deutschland. Es wurde ähnlich viel geraucht und wenig aufgeräumt. Der Film endet erfrischend: Ronald D. Laing ist sturzbetrunken in einer Talkshow erschienen und verteidigte lallend seinen Zustand. Ganz England lachte.

Beziehungsweisen Der Filmemacher Calle Overweg hat die Therapeuten ins Studio geholt. Drei professionelle Paartherapeuten sitzen jeweils vor einem »gespielten« Paarkonflikt. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, die Therapeuten kommen ins Schwitzen. Vor allem ein Klientenpaar, das schon etwas älter ist, gerät im Rahmen der Sitzungen in eine gefährliche Krise. Vereinbart hat den Termin die Tochter der Klientin, weil die Mutter – vielleicht aus Versehen, vielleicht mit Absicht – ein wenig zu viel Tabletten genommen hat. Vorsichtig werden die beiden nach ihren Wünschen und Enttäuschungen gefragt, und das Kartenhaus eines Ehelebens stürzt ein. Was hält Beziehungen zusammen? »Schulden und Kinder«, meint die Psychologin, »die Liebe ist viel zu flüchtig.« Für ein Modul zum Thema Paartherapie ist dieser originelle semidokumentarische Film mit dem Titel »Beziehungsweisen« bestens geeignet. Kontakt über [email protected] Die Familie, mit und ohne Beziehungskonflikte, stand wie immer im Zentrum zahlreicher Spielfilme. In dem deutschen Wettbewerbsbeitrag »Gnade« ist eine junge deutsche Familie – wie so viele – nach Norwegen ausgewandert, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Der Vater (Jürgen Vogel) arbeitet als Ingenieur in der größten Erdgasver-

flüssigungsanlage Europas und hat schon bald eine Affäre; die Mutter (Birgit Minichmayr) engagiert sich als Krankenschwester in einem Hospiz. Das Polarmeer und die Stadt Hammerfest, vor allem aber die Polarnacht vom 22. November bis zum 21. Januar bietet eine überwältigende Kulisse. Abgelenkt vom Nordlicht überfährt die Mutter nach einer Doppelschicht irgendetwas – es ist ein junges Mädchen, wie sich später herausstellt. Sie ist schuldig und kann es nicht wieder gutmachen; die Eheleute teilen das Geheimnis und hadern mit dem Schicksal und miteinander und entschuldigen sich schließlich bei den Eltern des Mädchens. Am Ende sitzen alle gemeinsam um das Feuer der Mittsommernacht. Ist es wirklich so einfach? Regisseur Matthias Glasner verteidigte sein utopisches Schlussbild tapfer bei der Pressekonferenz, gegen alle Zweifel. »Gnade« war der einzige Film, bei dem nicht nur geklatscht, sondern auch gebuht wurde. »La Demora« (Regie: Rodrigo Plá) beginnt unter der Dusche. Die völlig überarbeitete Mutter wäscht ihren senilen Vater mit einer Mischung aus Verärgerung und Zärtlichkeit. Die Kinder gehen zur Schule, während sie an der Nähmaschine schlecht bezahlte Heimarbeit erledigt. Den Vater kann sie nicht mehr alleine lassen; ständig läuft er weg oder stellt

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»Extrem laut und unglaublich nah«

etwas an. Sie schleift ihn zum Sozialamt, in der Hoffnung, einen kostenlosen Heimplatz zu bekommen. Doch sie verdient zu viel; einen kostenlosen Platz gibt es nur für Obdachlose. Da lässt sie ihn einfach sitzen, an einem Spielplatz in der einbrechenden Dämmerung. Als sie voller Reue mithilfe eines Nachbarn nach ihm sucht, ist es fast zu spät. Dieser südamerikanische Film beweist, wie kunstvoll man auch mit kleinem Budget ein weltumspannendes Thema »korrekt« inszenieren kann. »La Demora« hat einige Preise gewonnen – ob er in die Kinos kommt, ist noch unklar. Der Homerun ins Leben Viele Filme beobachteten Kinder und Jugendliche bei ihrem schwierigen Weg ins Leben. Die aufregendsten waren wie immer in der Reihe ›Generation‹ zu sehen. Doch auch in den Sektionen für das ausgewachsene Publikum wurde man fündig. Eher zufällig bin ich in die Originalfassung des inzwischen synchronisiert in unseren Kinos laufenden Films »Extrem laut und unglaublich nah« geraten. Dieser Spielfilm des erfolgreichen Regisseurs Stephen Daldry wurde zwar im Wettbewerb gezeigt, aber außer Konkurrenz. Literarische Grundlage ist der gleichnamige Roman von Jonathan Safran Foer. Ganz im Zentrum steht der elfjäh-

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»Putjowka w schisn«

rige Oskar Schell, der seinen Vater ein Jahr zuvor beim Terroranschlag 9/11 verloren hat. Dieser Junge ist eigenartig; er hat keinen Kontakt zu anderen Kindern, organisiert und recherchiert ununterbrochen und fürchtet sich vor Brücken, U-Bahnen und Aufzügen. Die Klänge eines Tamburins, das er immer bei sich trägt, beruhigen ihn. Oskar ist aus dem Off fast ununterbrochen zu hören; im tatsächlichen Leben scheint er kaum zu sprechen. Man habe ihn auf Asperger getestet, erwähnt er beiläufig, aber die Ergebnisse seien nicht eindeutig. Oskar hat an seinem Vater sehr gehangen; der hat ihn mit fantasievollen Exkursionen und Schnitzeljagden durch die ganze Stadt geführt. In seinem Nachlass findet Oskar in einem Umschlag mit der Aufschrift »Black« einen Schlüssel. Diese Spur muss er verfolgen, das Rätsel lösen, um die Verbindung zum toten Vater nicht zu verlieren. Oskar findet im Telefonbuch von New York City 472 Personen mit dem Namen Black, die er alle nach dem Schloss zu dem gefundenen Schlüssel befragen will. Da er alle Adressen zu Fuß abläuft, muss er Pläne und Suchsysteme entwickeln; nach einigen Wochen und Monaten lernt er einen stummen alten Mann kennen (Max von Sydow), der ihn auf seiner Suche begleitet. Das Rätsel wird schließlich gelöst, aber das ist fast unbedeutend, denn natürlich ist der Weg – die Rückkehr ins Leben – das Ziel. Oskar rast geradezu

panisch mit Rucksack und Tamburin durch die Straßen New Yorks und befragt die Blacks, von Aby bis Zoe, und lernt dabei ein Panoptikum aller Menschen kennen, die mit ihm in dieser Stadt ebenfalls weiter leben. Dieser Film ist Mainstream und Hollywood und trotzdem ungeheuer klug und bezaubernd. Die Geschichte ist rasant und empathisch, voller Magie und Überraschungen und am Ende ein wenig kitschig; die zahllosen Karteikarten und Pläne mit Pfeilen und Piktogrammen und die Hefte mit sorgsam eingeklebten Aufklappbildern und Kommentaren hätte ich am liebsten geklaut und in meine Schatzkiste gesteckt. Dem unfassbar wunderbaren Darsteller des Oskar Schell mit dem Namen Thomas Horn lag die Pressekonferenz der Berlinale zu Füßen. So do I. Den seltsamsten Jugendfilm gab es ausgerechnet in der Reihe ›Retrospektive‹ zu sehen. Es ging in diesem Jahr um die Filme aus der deutsch-russischen »roten Traumfabrik Meschrabpom« der Jahre 1921–1936. Der erste abendfüllende Tonfilm »Putjowka w schisn« (Der Weg ins Leben) entstand 1931 in der UdSSR unter der Regie von Nikolai Ekk. Er beruht auf einem Roman von A.S. Makarenko und wurde unter Beteiligung von Zöglingen seiner beiden berühmten Projekte (Gorki-Kolonie,

Dschersinski-Kommune) gedreht. Es geht los unter den verwahrlosten Straßenkindern, jugendlichen Prostituierten und Dieben in Moskau, die aufgegriffen und vor die Wahl gestellt werden, entweder im Knast zu bleiben oder in einem ehemaligen Kloster in der Provinz zu leben und zu arbeiten. Hier wird im strengen Kollektiv mit Disziplin und Arbeit der »Kern des Guten« aus ihnen herausgeschält, bis sie die selbstbewussten »neuen sozialistischen Menschen« sind. Natürlich ist dies alles in dramatischem SchwarzWeiß gedreht, und viele der wilden Jungs haben mongolische Züge und alle haben eine Kippe im Mund – vor der Umerziehung. Dieser historische Film ist inhaltlich und formal eine Wucht und brachte mich ins Grübeln. Worin unterscheiden sich Makarenkos Erziehungskollektive von den Bootcamps auf RTL à la »Teenager außer Kontrolle«? Haben sich sozialpädagogische Konzepte grundlegend weiterentwickelt seit Makarenko?

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»Die Königin und der Leibarzt«

Der wirre König War Christian VII., König von Dänemark und Norwegen, minderbegabt, oder war er nur etwas neben der Spur? Der Film »Die Königin und der Leibarzt« (Regie: Nikolaj Arcel) beantwortet diese Frage nicht; eine kurze Recherche im Internet zeigt, dass es eine Fülle von Gerüchten und Vermutungen rund um den gestörten König gab. Die blutjunge englische Adlige Caroline Mathilde bereitet sich sorgfältig auf ihre Ehe mit dem dänischen König Christian VII. vor, dem sie schon als Kind versprochen wurde. Mit freudigen Erwartungen fährt sie nach Kopenhagen und muss feststellen, dass ihr Mann ein Kindskopf ist. Er ist flapsig, frech und dummdreist und verbringt den Tag am liebsten in seinem Hoftheater. Immerhin erfüllt er seine ehelichen Pflichten und zeugt einen Sohn. Caroline ist unglücklich; Dänemark ist ein rückständiger, von korrupten Höflingen dominierter Staat. Da wird der sozial engagierte Johann Friedrich Struensee als Christians persönlicher Arzt eingestellt. Er begleitet den König zunächst auf einer einjährigen Fahrt durch Europa und erwirbt so dessen Vertrauen. Zurück am Hof entdecken Struensee und die Königin zunächst ihre gemeinsamen

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»Die Wand«

philosophischen Interessen, verlieben sich dann ineinander und haben eine langjährige Affäre. Caroline wird erneut schwanger. Struensee ist ein Anhänger der Ideen der Aufklärung, und es gelingt ihm, den König zum Instrument seiner politischen Ambitionen zu machen. Der König wird von ihm sorgfältig instruiert; im Rollenspiel übt er mit ihm ein, wie er sich endlich eine machtvolle Position im Hofstaat erobern kann. Im Hintergrund zieht der Leibarzt die Strippen. Waisenhäuser werden aufgebaut, Folter und Leibeigenschaft verboten, liberale Gesetze erlassen. Doch die Höflinge intrigieren und decken die Liebesaffäre auf; Struensee wird verbannt und enthauptet, das Rad der Geschichte zurückgedreht. Die Presse zeigte sich enttäuscht über diese »biedere Literaturverfilmung«. Doch die Jury hat (wie auch ich) anders entschieden: Sie prämierte das Drehbuch, und Mikkel Boe Folsgaard erhielt als meschuggener König den Preis als bester männlicher Darsteller. Ab April kann die Entscheidung der Jury im Kino überprüft werden.

Das Implantat Dieser Filmknäcke endet natürlich, wie er begonnen hat – mit den einsamen Verlierern. Die OscarPreisträgerin Melissa Leo in »Francine« (Regie: Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky) spielt eine Haftentlassene; man nennt eine Frau wie sie in der Filmszene mittlerweile »white trash«. Es gelingt ihr nur schwer, Anschluss zu finden, alles geht schief. Am ehesten gelingt ihr der Kontakt zu Tieren; deshalb jobbt sie in einer Tierhandlung, als Pferdepflegerin und schließlich als Assistentin bei einem Tierarzt. Über eine christliche Gemeinschaft kommt es dann doch zu kurzen, abrupten und sexuellen Begegnungen. Francine scheint ganz und gar auf ihren Körper reduziert. Verwundert beobachten die Zuschauer, wie sich ihre Wohnung mit Hündchen und Katzen und Hamstern in den Tatort eines »Animal-HoardingSyndroms« verwandelt; da wähnte ich mich bereits vorzeitig zurück im Sozialpsychiatrischen Dienst. Glücklicherweise gab es da noch eine Wand, und es gab Martina Gedeck und eine Menge Leute, die Geld in ein fast aussichtsloses

Projekt investiert haben: die Verfilmung des Klassikers »Die Wand« von Marlen Haushofer (Regie: Julian Pölsler). Martina Gedeck liest zu diesen unglaublichen Bildern, in denen sie mit ihrem Hund über die Wiesen stapft, mit gebrochener Stimme zeitlose Sätze, und ich trage Bilder und Sätze in mir wie einen Fetisch, wie ein Implantat, das lindernde Substanzen von sich gibt. Ein Meisterwerk. Auszüge aus der Filmkritik: Leider zu geschwätzig ... Der Regisseur vertraut seinen Bildern nicht ... Kaum zu ertragen ist jedoch die Stimme von Martina G. ... Berlin im Zeichen des Preußenkönigs hat das richtige Motto parat: Es solle jeder nach seiner Fasson (nach seinem Geschmack, in seinem subjektiven Drugstore) selig werden. Ab Herbst – im Kino. ■ Wem die »Soziale Psychiatrie« zu langsam ist: www.psychiatrie.de/ bibliothek/kinofilme/