Der subjektive Tatbestand

Vorlesungsbegleitende Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für das 1. Semester (WS 10/11) Wiss. Mit. Jürgen Telke Der subjektive Tatbestand I. Einleitun...
Author: Karl Lorenz
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Vorlesungsbegleitende Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für das 1. Semester (WS 10/11) Wiss. Mit. Jürgen Telke

Der subjektive Tatbestand I. Einleitung Im subjektiven Tatbestand sind der Vorsatz sowie etwaige in Betracht kommende sonstige subjektive Unrechtsmerkmale zu prüfen. Die sonstigen subjektiven Unrechtsmerkmale sind deliktsspezifisch und daher je nach Tatbestand äußerst unterschiedlich (so etwa die Zueignungsabsicht in § 242 oder die subjektiven Mordmerkmale in § 211, 1. und 3. Gruppe). Demgegenüber stellt der Vorsatz das zentrale Element des subjektiven Tatbestandes dar. Wie es § 15 normiert, ist er, sofern kein Fahrlässigkeitsdelikt vorliegt, bei jedem Delikt des StGB erforderlich und zu prüfen. Eine genaue Definition des Vorsatzes wird vom Gesetz nicht vorgenommen, im Umkehrschluss lässt sich diese jedoch aus § 16 entnehmen: Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatumstände Oder: Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung Daraus ergibt sich, dass der Vorsatz zwei Elemente voraussetzt: Ein intellektuelles, kognitives (=Wissen) und ein voluntatives (=Wollen) Element. II. Allgemeines 1. Bezugspunkt des Vorsatzes Bereits aus der Definition ergibt sich, dass sich der Vorsatz stets und in vollem Umfang auf den objektiven Tatbestand zu beziehen hat. Dies bedeutet, dass jedes einzelne objektive Tatbestandsmerkmal vom Vorsatz des Täters erfasst sein muss, hier muss volle Kongruenz bestehen. Ist dies nicht der Fall und der Täter weist hinsichtlich eines objektiven Tatbestandsmerkmals keinen Vorsatz auf, so hat er sich ausweislich § 16 nicht wegen einer Vorsatztat strafbar gemacht und es kommt lediglich eine Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht. Im Grundsatz lässt sich also festhalten, dass sich objektiver und subjektiver Tatbestand insoweit decken, als jedem objektiven Tatbestandsmerkmal ein entsprechendes subjektives Tatbestandsmerkmal gegenübersteht. Es besteht jedoch nicht immer vollständige Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand. Denn neben dem Vorsatz, der tatsächlich das subjektive Spiegelbild des objektiven Tatbestandes darstellt, enthält der subjektive Tatbestand mitunter Elemente, die keine Entsprechung auf der Seite des objektiven Tatbestandes 1

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enthalten. Dies sind die bereits angesprochenen besonderen subjektiven Unrechtsmerkmale (Bsp.: Die Zueignungsabsicht in § 242. Hier enthält der objektive Tatbestand des § 242 kein Merkmal der Zueignung, das diesem subjektiven Merkmal entsprechen würde. Da der Tatbestand des § 242 hier subjektiv mehr aufweist als objektiv, spricht man von einem Tatbestand mit „überschießender Innentendenz“.). Diese sonstigen subjektiven Unrechtsmerkmale stehen selbständig neben dem Vorsatz als Bestandteil des subjektiven Tatbestandes. a) Besonderheiten der einzelnen objektiven Tatbestandsmerkmale Der Vorsatz muss sich also auf den objektiven Tatbestand beziehen. Inhalte des Tatbestandes sind dabei zunächst die objektiven Tatbestandsmerkmale der jeweiligen Norm. Diese einzelnen objektiven Tatbestandsmerkmale können jedoch von unterschiedlicher Charakteristik sein, was zu Konsequenzen für die Frage nach der Intensität des darauf bezogenen Vorsatzes führt: a) Deskriptive Tatbestandsmerkmale: Bei deskriptiven Tatbestandsmerkmalen handelt es sich um lediglich beschreibende, natürliche Merkmale, die ohne eine juristische Wertung ausgefüllt werden können. Hier verwendet das Gesetz Begriffe der täglichen Umgangssprache. Beispiele sind etwa Sache, Töten, Mensch. Zur Annahme von Vorsatz seitens des Täters reicht es hier aus, wenn er den natürlichen Sinngehalt erfasst, also diejenigen Tatumstände kennt, die das abstrakte Tatbestandsmerkmal ausfüllen. Die Kenntnis aller Definitionsmerkmale ist nicht zu erwarten. Bsp.: T lässt die Luft aus den Reifen des Autos von O. Dabei glaubt er, mangels Substanzverletzung handele es sich hierbei nicht um eine Sachbeschädigung. Ein Vorsatzausschluss gem. § 16 ist hier nicht gegeben, da es genügt, wenn T den natürlichen Sinngehalt erfasst. Dafür genügt es, wenn er wie hier erkennt, dass er durch das Luftablassen den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Wagens beeinträchtigt (denn genau dies stellt eben ein „Beschädigen“ dar).

b) Normative Tatbestandsmerkmale: Normative (=wertende) Tatbestandsmerkmale sind hingegen solche Merkmale, deren Bedeutung erst aufgrund einer rechtlichen Wertung klar wird. Beispiele sind etwa fremd, zueignen, Urkunde. Zur Annahme von Vorsatz seitens des Täters genügt hier die bloße Kenntnis der das Merkmal ausfüllenden Umstände nicht, vielmehr ist es erforderlich, dass der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes laienmäßig erfasst (= Parallelwertung in der Laiensphäre).

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Vorlesungsbegleitende Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für das 1. Semester (WS 10/11) Wiss. Mit. Jürgen Telke Bsp.: T sitzt regelmäßig abends in einer Kneipe und trinkt dort stets einige Gläser Bier. Jede neue Bestellung vermerkt die Kellnerin wie üblich mit einem Strich auf T´s Bierdeckel. Eines Tages hat T nicht genug Geld dabei, will aber dennoch nicht auf sein Bier verzichten. Er reibt daher einige Striche auf dem Bierdeckel weg. In Betracht kommt hier eine Strafbarkeit wegen Urkundenfälschung gem. § 267. Dabei muss T auch Vorsatz hinsichtlich des objektiven Tatbestandsmerkmals „Urkunde“ aufweisen. Natürlich kann hier nicht verlangt werden, dass T um die Urkundeneigenschaft des Bierdeckels weiß. Es genügt zur Bejahung des Vorsatzes, dass er um die soziale Bedeutung des Deckels als Beweis und Grundlage für die spätere Rechnung weiß. Wenn T hier also einwendet, dass er nicht wusste, dass es sich um eine Urkunde handelt, führt das nicht zum Vorsatzausschluss gem. § 16. Gegenbsp.: Medizinstudent T kauft von seinem Kommilitonen O ein gebrauchtes Lehrbuch. Den Kaufpreis entrichtet er gleich nach Vertragsschluss. O weigert sich aber, das Buch sofort herauszugeben, da er es noch für eine Prüfungsvorbereitung nutzen möchte. Während eines unbeobachteten Momentes nimmt T das Buch eigenmächtig an sich. Dabei geht er davon aus, bereits mit Abschluss des Kaufvertrages Eigentümer über das Buch geworden zu sein, dass es sich bei dem Buch also bereits um sein Buch handele. In Betracht kommt hier eine Strafbarkeit wegen Diebstahls gem. § 242. Dabei muss T auch Vorsatz hinsichtlich des objektiven Tatbestandsmerkmals „fremd“ aufweisen. Bei der Parallelwertung in der Laiensphäre ist jedoch zu beachten, dass einem juristischen Laien die Kenntnis des Trennungs- und Abstraktionsprinzips regelmäßig nicht bewusst ist. Da auch T diesem Irrtum unterliegt, liegt hier ein vorsatzausschließender Irrtum gem. § 16 vor.

Weitere Inhalte des Tatbestandes neben den objektiven Tatbestandsmerkmalen können sein: -

qualifizierende objektive Merkmale (z.B. objektive Mordmerkmale; Merkmale des § 224)

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privilegierende objektive Merkmale (z.B. das ausdrückliche, ernsthafte Verlangen des § 216)

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die Rechtswidrigkeit, sofern sie nicht nur einen Hinweis auf das allgemeine Verbrechensmerkmal der Rechtswidrigkeit darstellt (z.B. in § 242)

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Regelbeispiele (etwa § 243) gehören nicht zum gesetzlichen Tatbestand! Dennoch muss der Täter auch hier um die Erfüllung der objektiven Umstände wissen.

b) Intensität des Vorsatzes Es bedarf hinsichtlich der Intensität des Vorsatzes kein die Tathandlung fortwährend begleitendes „Daran-Denken“ im Sinne eines voll reflektierten Bewusstseins. Vielmehr genügt ein aktuelles Bewusstsein der Tatumstände im Sinne eines sachgedanklichen Mitbewusstseins und eines ständig verfügbaren Begleitwissens. 3

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3. Zeitpunkt des Vorsatzes Maßgebender Zeitpunkt für das Vorliegen des Tatbestandsvorsatzes ist gem. § 16 „bei Begehung der Tat“. Dieses Koinzidenz- oder Simultanitätsprinzip bedeutet, dass der Täter bei Vornahme der tatbestandlichen Ausführungshandlung (etwa bei § 212 das Zustechen, bei § 223 das Zuschlagen, bei § 242 das Wegnehmen) den Vorsatz aufweisen muss. Der nachträglich gefasste Vorsatz (dolus subsequens) schadet dem im Augenblick der Vornahme der tatbestandlichen Ausführungshandlung unwissenden Täter nicht. Ebenso begründet auch der vor der Tat gefasste grundsätzliche Entschluss zur Tatausführung (dolus antecedens) keine Vorsätzlichkeit, wenn diese nicht im unmittelbaren Moment der Ausführung vorliegt. Bsp.: T geht ins MAX und hat vor, an diesem Abend seinen Erzrivalen O mal „richtig zu vermöbeln“. An der Schlange zur Toilette dreht er sich so ruckartig um, dass er den unbemerkt hinter ihm stehenden O mit dem Ellbogen ins Gesicht trifft. Anschließend erkennt er den blutend am Boden liegenden O und freut sich nachträglich über seinen (zufälligen) Erfolg.

Eine vorsätzliche Körperverletzung kommt hier nicht in Betracht, da T im Zeitpunkt der tatbestandlichen Ausführungshandlung (also des Zuschlagens) keinen Vorsatz aufwies. Daran ändert weder der vorher gefasst grundsätzliche Entschluss zu einer solchen Tat (dolus antecedens) noch die nachträgliche Erfassung und Billigung der Geschehnisse (dolus subsequens) nichts. Unbeachtlich ist es jedoch auch, wenn der Täter den bei Vornahme der tatbestandlichen Ausführungshandlung vorhandenen Vorsatz zwischen Abschluss der Tathandlung und Erfolgseintritt wieder aufgibt. Bsp.: T schickt O eine Briefbombe, um ihn zu töten, überlegt es sich während der Postlaufzeit aber noch einmal anders. Es gelingt ihm jedoch nicht mehr, die Zustellung des Briefes zu verhindern. O stirbt.

Die tatbestandliche Ausführungshandlung war hier das Abschicken der Briefbombe. Zu diesem Zeitpunkt wies T den notwendigen Vorsatz hinsichtlich einer Tötung auf. Dass er diesen vor Eintritt des Erfolgs wieder aufgab, ist irrelevant. III. Arten des Vorsatzes Es werden drei Vorsatzarten unterschieden: Die Absicht im engeren Sinne (dolus directus 1. Grades), der direkte Vorsatz (dolus directus 2. Grades) und der Eventualvorsatz (dolus eventualis oder bedingter Vorsatz). 1. Absicht (dolus directus 1. Grades)

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Er liegt vor, wenn es dem Täter gerade darauf ankommt, das entsprechende Tatbestandsmerkmal zu erfüllen. Dabei ist es irrelevant, ob die Verwirklichung des Tatbestandes das vom Täter erstrebte Endziel ist, oder nur ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum Endziel. Die Absicht ist dadurch charakterisiert, dass sie einerseits ein absolut dominantes voluntatives Element enthält, der Täter die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals also als End- oder notwendiges Zwischenziel anstrebt. Andererseits weist die Absicht ein verkümmertes kognitives Element auf; hier ist es ohne Bedeutung, ob er sich die Verwirklichung als sicher oder nur als möglich vorgestellt hat. Notwendig ist lediglich, dass er sich überhaupt eine Einwirkungsmöglichkeit auf das Geschehen zuschreibt. Die Absicht als Vorsatzform darf nicht verwechselt werden mit den bereits angesprochenen besonderen Absichten (Zueignungs“absicht“ in § 242). Zwar sind hier die inhaltlichen Anforderungen identisch, jedoch sind sie eigenständig neben dem eigentlichen Tatbestandsvorsatz zu prüfen. Ob ein Tatbestand dolus directus 1. grades fordert, ist regelmäßig durch Auslegung zu ermitteln. Oftmals benutzt das Gesetz in den einzelnen Normen auch Formulierungen wie „in der Absicht“, oder „um zu“. Dies ist natürlich ein starkes Indiz für die Notwendigkeit des dolus directus 1. Grades, jedoch noch keine definitive Aussage. 2. Direkter Vorsatz (dolus directus 2. Grades) Im Fall des dolus directus 2. Grades ist das Verhältnis zwischen voluntativem und kognitivem Element genau umgekehrt zu dem bei dolus directus 1. Grades. Hier dominiert das kognitive Element, der Täter weiß oder setzt es als sicher voraus, dass er das jeweilige Tatbestandsmerkmal erfüllt. Anforderungen an die voluntative Komponente sind dem entgegen nicht zu stellen, da von deren Vorliegen ohne weiteres ausgegangen werden kann. Denn ein Täter, der handelt, obwohl er den Eintritt des Erfolges als sicher voraussieht, nimmt diesen Erfolg zwangsläufig auch in seinen Verwirklichungswillen auf, wie unerwünscht er ihm an sich auch sein mag. Auch hinsichtlich der Frage, wann ein Tatbestand dolus directus 2. Grades fordert, ist auf die einzelfallbedingte Auslegung zu verweisen. Formulierungen des Gesetzgebers wie „wissentlich“ oder „wider besseres Wissen“ deuten jeweils ebenfalls auf diese Vorsatzform hin. 3. Eventualvorsatz (dolus eventualis) Der Eventualvorsatz stellt die schwächste Form des Vorsatzes dar, da hier weder das voluntative noch das kognitive Element besonders stark ausgebildet ist. Mindest5

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voraussetzung für die Annahme von Eventualvorsatz ist ein kognitives Moment in der Form, dass der Täter die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals für möglich hält und trotzdem handelt. Außerhalb dieses kleinsten gemeinsamen Nenners sind die genauen Voraussetzungen dieser Vorsatzart im Einzelnen höchst umstritten; insbesondere ist fraglich, ob der Eventualvorsatz ebenfalls ein voluntatives Element enthalten muss. Dieser Streit liegt begründet in der Notwendigkeit, den Eventualvorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit (sog. luxuria) abzugrenzen. Denn auch bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter die Verwirklichung des Tatbestandmerkmals für möglich hält, der Unterschied zum Eventualvorsatz liegt lediglich darin, dass er dort die Folgen hinnimmt, bei der bewussten Fahrlässigkeit hingegen auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut. Aufgrund der unterschiedlich hohen Strafdrohung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten sowie der überhaupt nur fragmentarisch gegebenen Strafbarkeit von Fahrlässigkeitsdelikten ist diese Abgrenzung von großer Relevanz.  Zum Streitstand im Einzelnen siehe die Darstellung „Der Streit um den dolus eventualis“. Wenn sich aus dem Wortlaut des Gesetzes oder aus der einzelfallbedingten Auslegung nichts gegenteiliges ergibt, genügt zur Bejahung des subjektiven Tatbestandes stets das Vorliegen des Eventualvorsatzes, das Vorliegen der anderen beiden, stärkeren Vorsatzarten schadet jedoch natürlich nicht. 4. Sonderformen des Vorsatzes Außer den soeben dargestellten Vorsatzarten tauchen in der Literatur noch weitere doli auf, auf deren detaillierte Darstellung hier jedoch verzichtet wird. Zu nennen sind hier außer den bereits thematisierten Formen des dolus subsequens und dolus antecedens einerseits der dolus alternativus und der dolus cumulativus1, andererseits der dolus generalis.

1

Zu dolus alternativus und cumulativus siehe Wessels/Beulke AT, Rn. 231 ff.

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