Der Reiter auf dem Haizahn

Zur Erforschungsgeschichte von Squalodon von Johannes Albers Die Zahnwalgattung Squalodon aus dem Erdzeitalter des Miozän (vor rund 24 - 5 Millionen ...
Author: Nadja Junge
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Zur Erforschungsgeschichte von Squalodon von Johannes Albers

Die Zahnwalgattung Squalodon aus dem Erdzeitalter des Miozän (vor rund 24 - 5 Millionen Jahren) ist in beträchtlicher Artenzahl weit in warmen Meeresgebieten verbreitet gewesen.

Frankreichs falscher Saurier: Squalodon grateloupi

Südlich von Bordeaux liegt die Ortschaft Léognan. In den dortigen Steinbrüchen fand sich im 19. Jahrhundert ein rätselhaftes Fossil,

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das von der Wissenschaft jahrelang nicht beschrieben wurde. Es stammte aus alten Meeresablagerungen und befand sich im Besitz eines Dr. Lavallé. Im Jahre 1840 schließlich legte Dr. Grateloup aus Bordeaux eine Abhandlung über den merkwürdigen Fund vor. Es handelte sich um ein Schädelfragment mit einem Stück des linken Oberkiefers, in dem zum Teil noch Backenzähne saßen. Die Schnauze war nach vorn lang ausgezogen und erinnerte in ihrer Gestalt sowohl an Krokodile als auch an Delphine. Nun hatte man in den gleichen SandsteinSchichten sowohl Zahnwal- als auch Krokodilkiefer registriert. Was für ein Tier war aber dieses? Die Zähne passten weder zum Krokodil noch zum Delphin. Ihre Kronen waren in der Seitenansicht dreieckig und zugespitzt. Zugleich sahen sie aus, als seien sie seitlich flach zusammengedrückt, so dass sich vorn und hinten Schneidekanten bildeten. Diese Kanten waren wie gekerbt, so dass der Zahn außer der Hauptspitze mehrere Nebenzacken trug, an denen Grateloup wiederum eine feine Zähnelung bemerkte. Insgesamt erinnerten die Zahnkronen an Haizähne. Deshalb nannte Grateloup das Fossil Squalodon, zu deutsch einfach "Haizahn". Die Zahnwurzeln und der Schädelrest

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Johannes Albers (2009): Der Reiter auf dem Haizahn. Quelle: http://www.cetacea.de/palaeocetologie/squalodon/ © Cetacea.de 2009 / Alle Rechte vorbehalten / Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion Cetacea.de ([email protected])

Sie stellt die nächsthöhere Evolutionsstufe nach Eosqualodon aus dem oberen Oligozän dar. SqualodonArten konnten wohl etwa 5 Meter lang werden, wobei bis zu 90 cm allein von der langen, spitzen Schnauze beansprucht wurden, die in Ober- und Unterkiefer reich bezahnt war. Vorn saßen einwurzelige Fangzähne von eher einfachem Bau, hinten kompliziert gestaltete Backenzähne mit 2 -3 Wurzeln. Der Nasengang führte bereits auf die Oberseite des Kopfes, vermutlich funktionierte noch der Geruchssinn. Der Hals war frei beweglich, und die Tiere nutzten bereits eine Echoortung. Die meisten Arten lebten wohl in Küstennähe, einige vielleicht auch auf hoher See. Heimische Vertreter stammen aus Süddeutschland, wo Meeresverbindungen zur Tethys (heutiger Mittelmeerraum) bestanden. Während Eosqualodon noch vom Nordrand Westfalens belegt ist, wurde das norddeutsche Klima im Miozän wahrscheinlich für Squalodon bereits zu kalt.

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Der Reiter auf dem Haizahn

Erdzeitalter

System Quartär

Känozoikum

Neogen Paläogen

Serie Holozän Pleistozän Pliozän Miozän Oligozän Eozän Paläozän

Alter (in Mio. Jahren) Heute - 0,011784 0,011784 - 1,8 1,8 - 5,3 5,3 - 23 23 - 33,9 33,9 - 55,8 55,8 - 65,5

Jüngere Zeitabschnitte der Erdgeschichte

den Verdacht auf eine Fälschung. (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und PetrefaktenKunde, Jahrgang 1841, S. 832.) Bereits 1840 reagierte in Frankfurt am Main der Privatgelehrte Hermann von Meyer auf Grateloups Arbeit. Belegt ist, dass er am 23. Juli 1840 einen Brief an den Heidelberger Professor Bronn schrieb, in dem er Squalodon aufgrund der Schädelform zu den Cetaceen stellte, wofür auch die erhöhte Anzahl der Zähne sprach. Zwei Tage später, so ist ferner belegt, richtete Grateloup von Bordeaux aus ein Schreiben an Bronn: "Ich schick Ihnen durch Hrn. Professor van Beneden eine Abhandlung über ein merkwürdiges Thier, das ich unter dem Namen Squalodon beschrieben und zuerst für ein Reptil gehalten habe, nach genauerer Erwägung aber als ein Säugethier aus der Ordnung der Cetaceen ansehen möchte" (a.a.O., S. 567 f). Hintergrund ist, dass etwa zur selben Zeit wie Hermann von Meyer auch Pierre Joseph van Beneden Squalodon als Wal erkannte. Einige Jahre später stellt von Meyer den Sachverhalt so dar, dass er in Squalodon "ein Delphin-artiges Cetaceum erkannte, was später auch durch Vanbeneden bestätigt und von Grateloup eingesehen (1841, 567) ward" (a.a.O., Jahrgang 1843, S. 704).

verrieten aber nur zu deutlich, dass das Tier auch kein Hai gewesen war. Mit der Verleihung eines Namens war also noch nicht das Problem der Einordnung gelöst. Zusammengedrückte und in sich gezähnelte Zähne kannte man von dem Dinosaurier Iguanodon, der seit 1825 der Fachwelt bekannt war. Doch anders als bei dem Fossil von Léognan, sitzen die Zähne des Iguanodon nicht in Zahnhöhlen, sondern sie sind am Innenrand des Kiefers befestigt wie heute noch bei Leguanen. (Eben daher hat der Saurier seinen Namen, der auf deutsch "Leguanzahn" bedeutet.) So befand Grateloup, dass Lavallés Fossil einer eigenen, noch unbekannten Gruppe riesiger Saurier angehören müsse, die in einigen Merkmalen mit Iguanodon verwandt sei, zu den "amphibischen Reptilien" gehöre und möglicherweise zwischen Echsen und Haien vermittele. Das Fossil und seine Beschreibung wirkten derart seltsam, dass 1841 ein deutscher Rezensent der Grateloup' schen Schrift kommentierte: "Man kann sich der Frage kaum verwehren, ob der Vf. an diesem fremden Eigenthume seine Untersuchung weit genug führen durfte, um sich zu überzeugen, dass jene Zähne den Alveolen von der Natur eingepflanzt sind?" Mit anderen Worten, er hatte

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Von Meyer nannte die Art Squalodon Grateloupii (heute gültige Schreibweise: Squalodon grateloupi). Dabei zählte er zu dieser Art aber auch einen Schädel aus Österreich, der heute als Patriocetus ehrlichi bekannt ist. 1923 meinte der Amerikaner Arthur Remington Kellogg, von Meyer habe mit seiner Benennung nur den österreichischen Schädel bezeichnet. Das ist eine irrige Interpretation, die aber 2005 dazu führte, dass eine französische Forschergruppe um Bruno Cahuzac den Namen nicht anerkennen wollte, den von Meyer dem Fundstück Grateloups gegeben hatte. Die Berichtigung dieser Verirrung erarbeitet 2009 ein Team aus Felix Marx in England, Björn Berning in Österreich, und mir selbst in Deutschland.

bemerken, dass es sich dabei um eine andere Art von Squalodon handelte. Denn es waren keine hinteren Backenzähne erhalten, sondern nur solche Zähne, die weiter vorn in den Kiefern sitzen und mehr den einfachen Zähnen heutiger Wale ähneln. Grateloup hingegen hatte an seinem Stück nur die beschriebenen hinteren Zähne vorgefunden. Den Baltringer Schädel erhielt von Meyer durch den Stuttgarter Oberbaurat von Bühler in Form eines Gesteinsblocks, aus dem stellenweise einzelne Knochenteile heraussahen. Der Frankfurter legte einen Schädel mit abgebrochener Schnauze frei, von dem in der Länge 49 cm erhalten waren. Er war nicht so zusammengestaucht wie die Schädel heutiger Zahnwale: Von der Stirn aus knickte das Hinterhaupt eher sanft ab, und der Übergang von der flachen Stirn zur Schnauze verlief fast unmerklich - anders als bei heutigen Delphinen. Auch die typische Asymmetrie heutiger Zahnwalschädel war noch nicht ausgebildet. (Das heißt, die morphologische Spezialisierung auf hochfre-

Retter und Geretteter: Squalodon servatus

1841 beschrieb von Meyer "den fragmentären Schädel eines den Delphinen verwandten Zetaze´s" aus Baltringen in Württemberg, ohne zu

Der Schädel des Squalodon servatus im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart. Zu sehen ist die rechte Seite. Das Stück stammt von Baltringen am Rißtal, südlich von Ulm. Dort hat man Fossilien verschiedener Walarten aus dem Zeitalter des Miozän gefunden. Bild: Johannes Albers

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Arion reitet auf einem Delphin. (Jan Harmensz Muller, 1574-1628).

einem Schiff unter Räuber gefallen, die ihn ermorden wollten. Er bittet sich aus, ein letztes Mal zu seiner Lyra zu singen und sich dann selbst ins Meer zu stürzen. Seine Musik lockt Delphine an, und als er ins Wasser springt, trägt ein Delphin ihn sicher an Land. Wenn von Meyer den Retter (den Zahnwal) mit dem Geretteten (Arion) identifiziert, so erinnert das an den Zug antiker Mythik, dass Göttergestalten aus Menschenkörper und Tierleib (Schlange / Delphin / Fisch) kombiniert waren: Mit dem Delphin ist ursprünglich der Gott Apollo verbunden. Dann tritt an dessen Stelle sein Diener, der Dichter bzw. Sänger. Dabei wird die Menschengestalt vom Tier getrennt und ihm dann als Reiter wieder aufgesetzt. (Armin Schweda: Die Darstellung des Wals in Literatur und Kunst der Antike. Hof 1991.) Typisch mythisch, typisch grie-

quente Ortungslaute war noch nicht so weit fortgeschritten wie bei modernen Arten.) Die Schnauze des Tieres muss lang ausgezogen gewesen sein, die Zähne der oberen und der unteren Reihe griffen reißverschlussartig ineinander. Die Länge des Gesamttieres schätzte von Meyer auf über 4 Meter. Er nannte dieses Tier Arionius servatus, zu deutsch: "geretteter Arion". Der Name nimmt Bezug auf die griechische Geschichte vom Delphinreiter Arion, die in der deutschen Romantik des 18. - 19. Jahrhunderts aufgegriffen worden ist. (Ludwig Tieck brachte ein Arion-Lied in seinem Roman "Franz Sternbald´s Wanderungen" von 1798.) Der Sänger und Dichter Arion soll um 625 v. Chr. berühmt gewesen sein und kostbare Schätze errungen haben. Es heißt, auf der Fahrt von Italien nach Griechenland sei er auf

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chisch! Die Namengebung von Meyers vollzieht mit der menschlichen Figur wieder die Verschmelzung, die ursprünglich der göttlichen zukam. Typisch mystisch, typisch romantisch! Die Internationalen Regeln für zoologische Nomenklatur kümmern sich nicht um Mythen und Romantik. Die Walart, deren fossilen Schädel von Meyer bearbeitete, gehört zur selben Gattung wie Grateloups Squalodon und heißt nach besagten Regeln deshalb heute Squalodon servatus: "der gerettete Haizahn". Einen isolierten Zahn in der Sammlung von Bühlers, aus der gleichen Ablagerung wie der Schädel stammend, wertete von Meyer als Paratypus seiner neuen Art. In den 1850er Jahren stellte er auch verschiedene isolierte Zähne aus der Gegend von Passau zu "Arionius servatus". Über solche Zähne meint der Mainzer Paläontologe Karlheinz Rothausen 1968, dass derartige Zuordnungen zu bestimmten Arten nicht zu vertreten sind. Gerade aus der Gegend von Passau wurde bereits im 19. Jahrhundert eine zweite deutsche Squalodon-Art beschrieben: Squalodon zitteli, benannt nach dem Münchener Professor Karl Alfred von Zittel. An diesem Schädel zeigte sich die lange Schnauze mit Zähnen gut erhalten, vom Unterkiefer fehlt der hintere Teil. Wenig ist vom Hinterhaupt geblieben, das dafür bei Squalodon servatus gut erhalten ist. Ein Schädelfragment von einem Zahnwal aus Württemberg hatte bereits in den 1830er Jahren der Stuttgarter Dr. Georg Friedrich Jäger vorgestellt. 1850 ordnete er es "dem als Arionius servatus bezeichneten Delphin" zu, wobei er vermerkte, dass er der Erste gewesen sei, der etwas von dieser Art bekannt gemacht habe. Er hatte seinem

Bruchstück aber keinen Namen gegeben, und als wissenschaftliche Erstbeschreibung von "Arionius" bzw. Squalodon servatus ist die Studie Hermann von Meyers anerkannt. Der Schädel von Baltringen ist heute in Stuttgart ausgestellt.

Andere Squalodonten

Die frühste Publikation über einen Squalodon-Fund lieferte aber weder Jäger noch Grateloup, von Hermann von Meyer ganz zu schweigen. Sie stammt vielmehr aus dem Jahre 1670 und wurde von Scilla in Neapel vorgelegt. Er bildete ein Kieferfragment mit drei Backenzähnen aus Malta (lateinisch: Melita) ab. Es ist heute unter der Artbezeichnung Squalodon melitensis bekannt und wurde bereits 1840 von Blainville wissenschaftlich beschrieben. Squalodon melitensis und S. grateloupi zählt Rothausen innerhalb ihrer Gattung zu der von ihm zusammengestellten "catulli-Gruppe". Diese Artengruppe ist nach dem norditalienischen Squalodon catulli benannt und lehnt sich an Merkmale des geologisch älteren Eosqualodon latirostris an, ebenfalls aus Norditalien. Die beiden aus Deutschland beschriebenen Arten, Squalodon servatus und S. zitteli, rechnet Rothausen zu seiner "bariensis-Gruppe", benannt nach dem französischen Squalodon bariensis. Die Arten dieser Gruppe schließen sich an Merkmale des westfälischen Eosqualodon langewieschei an. Weitere Squalodon-Arten sind aus Sizilien, Norditalien, Frankreich, Belgien und Nordamerika bekannt. Doch nicht alle Arten, die unter dem Namen Squalodon beschrieben wurden, gehören tatsächlich dieser Gattung an. "Squalodon" errabundus aus Amerika wird heute in die

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"Und nun setzt mit den Haizahnwalen eine fast lückenlose Reihe ein, welche bis zu dem lebenden Pottwal führt." Man habe "Tausende von Walleichen ausgegraben, unter ihnen auch jene Formen, welche in klarster Weise zeigen, wie der Übergang von den Haizahnwalen zum Pottwal vor sich gegangen." (Die Stammesgeschichte der Meeressäugetiere. Meereskunde, 1. Jahrgang, 4. Heft, S. 23.) Diese Anschauung, auf das Gebiss gegründet, gehört heute ebenso in das Kuriositätenkabinett der Wissenschaftsgeschichte wie Abels Ableitung der Bartenwale von Patriocetusartigen Vorgängern. Während Pottwale ihr Gebiss reduzieren, zeigt Squalodon in seinen jüngeren Arten sogar eine qualitative Verstärkung in der Bezahnung der Zwischenkiefer. Das unterscheidet Squalodon auch von den meisten anderen Zahnwalen der Gegenwart.

MUSEUMSADRESSE für Squalodon servatus Staatliches Museum für Naturkunde (Museum am Löwentor) Rosenstein 1 70191 Stuttgart Telefon: (0711) 8936-0 Fax: (0711) 8936-100 www.naturkundemuseum-bw.de Geöffnet: Di - Fr um 9 -17 Uhr, Sa - So um 10 - 18 Uhr. Verwandtschaft der Flussdelphine gestellt. Aber gerade für die heutigen Flussdelphine Indopakistans wird häufig eine enge Verwandtschaft mit der Familie der Squalodontidae diskutiert, wenn auch die Nominatgattung Squalodon als Stammform heutiger Arten kaum in Frage kommt. Einen anderen Verlauf der Evolution sieht der österreichische Professor Othenio Abel im Jahre 1907:

Palaeocetologie - Fossile Wale

Weitere Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Wale von Johannes Albers finden Sie bei Cetacea.de: www.cetacea.de/palaeocetologie/ Johannes Albers erreichen Sie per Email johannes.albers@ cetacea.de

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