Auf der Suche nach dem verlorenen Abendlicht

Auf der Suche nach dem verlorenen Abendlicht Eine Märchenerzählung von Christoph Hinkel -1- 1 Ur und das verschwundene Abendlicht Es war einmal u...
Author: Klaudia Flater
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Auf der Suche nach dem verlorenen Abendlicht

Eine Märchenerzählung von Christoph Hinkel

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1 Ur und das verschwundene Abendlicht

Es war einmal und dies ist noch gar nicht so lange her, ein paradiesischer Flecken Erde, der im Nirgendwo zwischen dem Anfang und dem Ende aller Geschichten trieb. Du hättest lange suchen und viele Jahre deines Lebens darauf verwenden müssen, einen vergleichbaren Ort zu finden. Am Schluss würdest du jedoch nur feststellen können, dass es einen solchen gar nicht gibt. Jenes Land war ein großer Garten, größer als der Mond und so klein, wie ein Mauseloch. In ihm gab es alle Arten von Tiere und Pflanzen die du dir vorstellen kannst und gewiss wirst du bemerkt haben, dass dort nicht nur Menschen und Tiere lebten, die du kennst, sondern allerhand fremde Wesen, die sonst nur in deinen Träumen zu dir sprechen. Nun war es jedoch so, dass die Leute, die an diesen herrlichen Gestade lebten nicht sehr glücklich waren, denn sie fanden ihre Heimat nicht besonders hübsch und keineswegs so anziehend, wie du es gefunden hättest. Nur die Alten unter ihnen, erzählten stets von einer schönen Vergangenheit, die romantisch war und in welcher man sein Zuhause lieben und es herrlich finden konnte. Damals jedoch, in der Zeit, von der die Großmütter und Großväter berichteten, gab es das Abendlicht noch. Doch seit vielen Jahren war dieses nun schon nicht mehr am Himmel zu bewundern. Es war verschwunden, vielleicht gestohlen worden oder einfach erloschen. Wenn dieser Tage das Sonnenlicht verschwand und die Nacht hereinbrach, so passierte es nicht wie bei dir in deiner Welt, wo sich das helle Leuchten der Tagesstunden allmählich verliert und sanft in die Dunkelheit einfließt, sondern es geschah ganz plötzlich. Von Jetzt auf Gleich, war alles dunkel. Man könnte sagen, es war, als würde jemand eine Kerze mit nassen Fingerspitzen zum erlöschen bringen und kein Nachglimmen sich am Docht festhalten, um sein letztes Schimmern in den finsteren Raum zu streuen. Diese himmlischen Unbilden, dieser so harte Bruch zwischen Helligkeit und Düsternis, veränderte die Menschen von Ur (was der Name des weiten Reiches war) auf sonderbare Weise. Denn in dem fehlenden Abendrot sahen die

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Bewohner alle Liebe, die ihnen zu ihrem Eiland abhanden und damit zu sich selbst abhanden gekommen war. Wie oder wann genau das Abendlicht verloren ging, daran konnte sich niemand mehr erinnern. Aber mit ihm, war der Blick für alles Schöne zerronnen. Ohne Sinn für Herrlichkeit, gab es auch keine Freude und ohne Freude nur wenig Glück. Daher sahen die Leute von Ur auch aus wie Stein. Grau und schroff von Gesicht und Kleidung, waren sie stets mit sich selbst unzufrieden. Die wenigen Kinder die sie hatten, wurden so früh daran gewöhnt die Welt als ein Schlechtes zu sehen, dass sie schon in jungen Jahren stumpfsinnig und fantasielos und ebenso farblos waren, wie ihre Eltern. Selbst die tausenderlei Tiere und Fabelwesen waren zornig und trüb von Gemüht und der Vater aller Pflanzen, bärtig wie ein alter Mann, mit Haut wie Borke und Blättern an Stelle von Haaren, vergaß seine wachsenden Freunde zu lieben und zu pflegen und aufzuziehen und so zog ein ewiger grauer Herbst über die Lande von Ur. Seit ewig schon, so schien es, war der Winter im Kommen ohne je wirklich zu erblühen und ohne Winter konnte kein Frühling folgen. Der Boden der Wälder war mit Reif überdeckt und alle Blätter braun. Seele und Fleisch aller lebenden Wesen darbten in diesen Zeiten und jeder hoffte auf das Ende dieser betrüblichen Jahre. Doch keiner glaubte mehr wirklich an die Rückkehr des Sommers und der Farben.

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2 Die erstarrte Mutter

Es war genau zu diesem Augenblick,

als alle Hoffnung zu verdorren begann,

wie der Bart des einstmals grünen Mannes, Vater der Natur, als eben dessen Sohn das durchdunkelte Zwielicht jener Welt erblicken sollte. Lange hatte er auf sich warten lassen. Seine Mutter hatte nicht genügend Wärme gehabt, um das Ei, in dem er noch selig schlief, auszubrüten. Denn sie war eine silberne Nymphe, kühl wie die sprudelnde Quelle aller Gewässer, mit langem Haar, deren feines Garn bis zum Mond hinauf reichte. In der Tat war das blaue Leuchten des Mondes ein großer Ball, der ganz und gar aus ihrem aufgewickelten flüssigem Haar zu bestehen schien und indem sie es als lange Schleppe über die Landschaft trug, legte sie die Flüsse und Bäche zwischen die Gebirge und Wälder, in die Täler und um die Städte und Dörfer. Hielt sie sich an einer Stelle besonders lange auf, so breitete sich ihr rasch wachsenden Haar zu einem kristallklaren See aus. Und war sie sehr traurig, vielleicht, weil ihr Sohn nicht aus dem Ei schlüpfen wollte oder weil sie nicht die Wärme hatte ihn zu erwecken, saß sie manchmal viele Stunden an einem Platz, um bitterlich zu Weinen. In ihre weichen Haare verborgen, schluchzte sie dann leise vor sich hin und alle Wasser wurden still. Durch dieses Gebaren war schon so manches Meer und der ein oder andere kleine Ozean um Ur herum entstanden. Hatte sie sehr viele Tränen zwischen ihren Haaren getrocknet, so, dies kannst du dir sicher denken, wurde das Wasser an jener Stelle besonders salzig. Als die Jahreszeiten aufgehört hatten zu wechseln und die Sonne immer kälter werdendes Licht zur Erde schickte, wodurch keine Chance zum Aufsprengen der Eierschale mehr bestand, grämte sich die Nymphe so sehr, dass auch sie verhärtete. So geschah es, dass sie zu Eis erstarrte, fast auf gleiche Weise, wie die Einwohner von Ur dem Felsengebirge, der ihr Land umgrenzte, immer ähnlicher wurden. Leider muss ich dir sagen, dass sie so nichts von dem Freudenmoment mitbekam, als es ihrem Söhnchen nun doch zu lang wurde, auf das Feuer der Sonne zu warten und er die Eierschale, die ganz aus Muscheln bestand, mit einem ordentlichen Krawall auseinanderscheppern ließ.

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3 Ich bin hier!

Sirálos

kannte seinen Namen schon seit einer geraumen Ewigkeit.

Zusammengerollt hatte er darauf gewartet ein warmes Leuchten, eine brillantene Hitze durch die Kalkschalen seines ovalen Zimmers wahrzunehmen, denn dies, so stand es auf die Muschelwände geschrieben, sei das Zeichen dafür, dass die Welt ihn erwarte und er sich gefahrlos aus seinem Ei begeben konnte. Am Anfang war er voller Vorfreude gewesen und hatte begeistert auf dieses seltsame Glimmen und Scheinen gewartet, welches die umgrenzenden Wände durchscheinend machen sollte. In allen Einzelheiten hatte sich Sirálos vorgestellt, wie es wohl aussehen möge und wie es sein würde, wenn der weiße Muschelvorhang sich hob und er auf die strahlende Landschaft von Ur blicken könnte, um Vater und Mutter zu sehen, die ihn liebevoll in die Arme nehmen würden. Dann jedoch dauerte es eine lächerlich lange Zeit, deren Verstreichen nichts an seiner Situation änderte. Schließlich war er wieder schläfrig geworden und hatte gar keine Lust mehr das Leben zu erblicken, wenn es doch scheinbar gar kein Interesse an ihm, Sirálos, hatte. Nun war er abermals aufgewacht und als er sah, dass er noch immer nicht willkommen geheißen wurde, spürte er eine Bangigkeit in sich, die ihm schelmisch einzuflüstern versuchte, dass er vergessen worden war, dass die anderen Kinder längst geschlüpft waren oder dass er das Zeichen missgedeutet, vielleicht gar nicht verstanden oder übersehen hatte. Die ängstliche Vorstellung allein zurückgelassen worden zu sein, trieb solche Unrast in ihn, dass er wie wild gegen die Muschelschalen zu hämmern begann und immer wieder rief: »So wartet doch! So wartet doch! Ich bin hier! Ich bin hier!« Bald wurden seine Arme müde und die Fäuste schmerzten ihm, doch er gab nicht auf. Er nahm sich allen Platz den er in seinem weißen Pavillon finden konnte und nahm gewaltigen Anlauf, um sich heftig gegen die Wand zu werfen. Es tat ein mächtiges Getöse, ein Riss ging durch die Schale in einer Lautstärke, als hätte Sirálos die Welt entzwei gerissen. Er zuckte unter diesem Tönen zusammen und war wohl auch etwas beduselt, als er nun, im Scherbenhaufen seines Zuhauses stand – welches ihn

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bisher sicher behütet hatte und ihm ein ganzes Universum gewesen war – und erstmals einen vorsichtigen Blick in die Welt tat. Zögerlich schickten sich seine Augen an, im Licht des grauen Tages, nach seinen Eltern zu suchen. Aber da war ja niemand! Keine Mutter, die vor Freude lachte und ihn in ihrer Geborgenheit wiegen würde. Kein Vater, der verstohlen Tränen weinte, da er sich endlich aus dem Ei erhoben hatte. Nur ein alter knorriger Baum, verwettert und mit brüchigen farblosen Blättern am Leib, ruhte an einen nahen Fels gelehnt in leicht ächzendem Schlaf. Er war ganz alleine, genau wie er sich geängstigt hatte. Und da er nur sich selbst zum Trost hatte, schlich er zu einer vereisten Pfütze, die sich im knirschenden Waldboden ein Plätzchen gegraben hatte und besah sich sein trauriges Spiegelbild. Die Lache gähnte etwas und krachte dabei, es war ihr, als wäre es wärmer geworden. Doch dies konnte ja gar nicht sein, die Wurzeln der Welt unterhielten sich oft raunend darüber, dass das Frieren nie mehr ein Ende finden würde. Und doch, dass Kind welches sich in des Wässerchens Silber besah, strahlte es nicht lebhaftes Feuer aus, welches erquickend wirkte?

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4 Alleine und das bin ich

Sirálos

war erstaunt, wie rot sein Haar war, als er in die Pfütze schaute. Mit

lustigen Fingern befummelte er eine einzige elfenbeinfarbene Strähne, die buschig neben seiner rechten Augenbraue raschelte. Manchmal wusste er im ersten Augenblick gar nicht, ob es Waldboden oder er selbst war, was er sah, denn seine Haut, sein Haar, seine Kleidung, alles an ihm trug die Farben des Herbstes. Doch sie waren kräftiger, lebhafter, als die seiner Umgebung. Wacher, möchte man sagen. Seine Augen waren von flüssigem Honig und in herrlich geschwungener Mandelform. Das Näschen saß stupsig in der Mitte seines Gesichtes und war von blattgrünen Sommersprossen übersäht und der Amorbogen seiner Lippen war mit Kupferarbeit durchwirkt. Grüne Linien zogen sich durch seine Bronzehaut, die er als Adern erkannte. Sie hatten Knoten und Flechtwerk, wie ein weit verzweigter Fluss oder wie die Spuren, die er bisweilen im Laub am Boden neben sich finden konnte. Nach einer Weile hatte er sich an sich satt gesehen. Nun würde er sein Gesicht stets erkennen, wenn es sich irgendwo spiegelte. Unschlüssig blieb er neben der Pfütze hocken. Er begann ein wenig zu spielen, hob Blätter auf und ließ sie durch die Luft segeln und bohrte mit seinen Fingern in der dünnen Eisschicht der Lache herum, schob deren Schollen zu ulkigen Mustern hin und her. Dabei schaute er irgendwann tiefer in das Silbergrau des Wässerchens und war nicht minder überrascht, als er bemerkte, dass er den Boden mit Blicken nicht abzumessen vermochte. Obschon er den sandigen Grund mit den Fingerspitzen bereits durchfahren und dabei auch jede Menge Dreck unter seinen Nägeln gesammelt hatte, war dieser nun nicht mehr auszumachen, als er in das immer stärker verbläuende Dunkel sah. Schließlich kniff er die Augen zusammen und konnte eine Unsumme an Algen und Meeresbäumen, Seeanemonen und Fische erkennen, die träge in der Pfütze herumschwammen und zu ihm empor blinzelten. Sirálos dachte an den verschlafenen, dörren Baum, neben seiner Eierschale. Wenn dies Tümpelchen so reich an Wasser war, so machte es ihm doch sicher nichts aus, wenn er dem Baum etwas davon brächte, dachte er. So schöpfte er mit beiden Händen Flüssigkeit aus dem Loch und trug es geschickt an den Bruchstücken und abgeplatzten

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Muschelchen seines Eies vorbei, hin zu dem Baum. Er hatte auf wundersame Weise keinen Tropften verloren und so landete eine recht ansehnliche Ladung Nässe in den braunen, musizierenden Blättern der alten Borke.

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5 Den Vater erweckt

»Potz Blitz!« entfuhr es donnernd dem Baum, der aufgeschreckt in die Senkrechte ging. Erschrocken fiel Sirálos nach hinten um, konnte sich, während er so am Boden lag aber ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Dies hatte Spaß gemacht! Und wieder erschien es der Umwelt, als wäre die Luft ein winziges bisschen, gerade so wenig, dass man es bemerken konnte, wärmer geworden. Freilich erkannte Sirálos nun, nachdem er sich wieder aufgesetzt hatte, dass dies gar kein Baum gewesen war. Große Ähnlichkeit hatte dieses Wesen allerdings schon mit einem. Der riesenhafte Mann steckte bis zur Hüfte in der Erde, sein nackter Oberkörper war über und über mit Rinde bedeckt und knarrte bei jeder Bewegung. Allenthalben sprossen kleine Zweige, mit wenigen gelben und roten Blättern, aus dem Torso des Mannes. Gleiches galt für seine Hände und für sein Gesicht. Da wo Haare, Brauen und Bart hätten sein sollen war ein wildes Gestrüpp an dünnen Ästchen, die grotesk zu allen Seiten abstanden. Die Stimme mit der er sprach, war wie der dumpfe Schlag einer Bronzeglocke und seine Augen waren von so tiefen Braun, wie die dunkelsten Winkel der Erde. So hochgefahren der Riese zu Anfang war, so schläfrig wirkte er nun wieder und sank, alt geworden, langsam hernieder, stützte sich auf einen nahen Felsen und wollte eben weiter träumen, als er den Urheber seines Schreckens sah. Ein kurzes junges Grün erhellte für einen Augenblick sein Gesicht, wie ein strahlender Frühlingsmorgen. »Sirálos? Bist du es wirklich?« fragte der Baummann. »Ja! Ich bin’s! Und wer seid Ihr?« wollte Sirálos höflich wissen. »Dein Vater bin ich, der Grüne Mann, Herr der Wälder und allem Wachsenden.« meinte dieser würdevoll. »O! Vater! Wie schön, dass ich dich gefunden habe!« und Sirálos rannte zu ihm und landete in dessen offenen Armen und schmiegte sich an den knorrigen, pieksenden Bart. »Ich habe über dein Ei gewacht, so lange Zeit!« wisperte der Vater und schielte zu den Bruchstücken aus Muschelschalen. Obschon er sehr glücklich war, konnte er

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sich kaum wach halten und diese Kraftlosigkeit machte ihn traurig. Wehmütig zog er seinen Sohn heran, der eifrig auf ihm herumzuklettern begonnen hatte. »Sirálos, höre mir jetzt gut zu. Es ist sehr wichtig«, begann er und Sirálos setzte sich auf den Felsen vor seines Vaters Antlitz und lauschte gebannt, »Diese Welt ist unvollständig, sie hat eine große Lücke, eine Wunde, die sie krank macht. Dieses Fehlen verwandelt alles Lebendige zu Stein, auch die Herzen in den Menschen. Sie nimmt die Hoffnung und bringt eine totenstille über Ur.« »Was fehlt der Welt denn, Vater?« wollte Sirálos besorgt wissen. »Das rote, warme Feuer des Abendlichtes! Deine Mutter braucht es, sie ist eingeschlossen in ihrem eigenen Eis. Dein Vater braucht es, sonst schlafe ich tausend Jahre und mehr. Die Menschen brauchen es, sonst wandeln sie sich zu unbeugsamen Stein, da sie sich nicht mehr für sich oder die Welt erwärmen können und ohne ihre Liebe, erfriert die Natur von Ur! Deine Mutter braucht Sonne, Sirálos. Doch für Sonne braucht man Frohmut und für den Frohmut braucht Ur das Abendrot.« »Aber warum verlassen dann die Menschen Ur nicht einfach, wenn es hier nicht mehr schön für sie ist?« fragte Sirálos seinen Vater erneut. »Sie brauchen Ur, wie Ur sie braucht. Weniges ist in diesem Universum unmöglich, mein Sohn. Aber, dass ein ganzes Land in ein anderes umziehen könnte, scheint mir nicht zu bewerkstelligen.« seufzte der Vater, mit schwerwiegenden Lidern. »Aber was kann man tun?« grübelte sein Sohn vor sich hin. »Das Abendlicht muss gefunden werden«, flüsterte der Grüne Mann. »Dann muss es eben jemand suchen gehen! Ganz einfach!« lachte Sirálos, froh über diese schnelle Lösung. »Es gibt keinen« gähnte der Vater bekümmert. »Es gibt mich! Ich kann es suchen gehen«, überlegte Sirálos leise und kurz darauf, weit energischer, rief er aus: »Vater, ich will das Abendlicht suchen gehen! Bitte sage mir, wo ich beginnen kann.« Der Herr allen Wachstums sammelte noch einmal alle Kräfte in sich zusammen und sah seinen Sohn mit großen Augen an. »Dies willst du tun?« »Aber natürlich! Die Mutter muss geweckt werden, der Vater zu Kräften kommen. Sonst bin ich doch ganz alleine! Sage mir Papa, wo muss ich beginnen?« »Gehe zur Mündung des Meeres, du siehst die Bucht von diesem Hügel dort« – er wies mit einem bemoosten Finger in die Richtung der Erhöhung – »es ist nicht weit. Dort findest du eine Hütte. Ein Uhrmachermeister lebt dort. Der beste im Land. Er - 10 -

arbeitet jedoch seit Jahrzehnten an einem Zeitmesser, der nicht funktionieren will. Bitte ihn darum, die kaputte Uhr bei Regen ins Meereswasser legen zu dürfen. Sie wird dir ein Schiff schenken, das vermag über alle Himmel zu fahren. Damit kannst du das Abendlicht finden.« und schon schwer atmend unter der Last aufgedrängter Schläfrigkeit: »Viel Glück mein Sohn, im Traum werde ich bei dir sein!« Dann schlief er und Sirálos schaffte es ihn, auch mit dem Wasser der tiefen Pfütze, nicht noch einmal aufzuwecken. Er musste das Abendlicht einfach finden!

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6 Meister Memento

Es dauerte eine ganze Weile, bis Sirálos die Hütte des Uhrmachers erreichte. Der Weg war weiter als er, beim Blick vom Hügel hinunter, zuerst angenommen hatte. Außerdem sah er beim Laufen allerhand interessante Dinge, die sein, vom langen Ruhen überwacher Geist, untersuchen musste. Er verstand die Menschen nicht. Für Sirálos gab es so viel Wundersames zu bestaunen, dass es ihm ganz unbegreiflich war, wie man Ur nicht lieben konnte. Schließlich jedoch, hatte er die Behausung des Meisters erreicht und auch hier, war er sogleich überwältigt. Das Haus, welches ein großer Würfel mit spitzem, schiefem Dach war, entwuchs einer Landzunge, die gleich einem Steg in die Bucht reichte. Drei der Hausseiten hatten je ein großes kreisrundes Fenster, dessen Kreuz aus sich langsam bewegenden Zeigern bestand. Die vierte Wand, die Sirálos ihr Gesicht entgegenstreckte, wies eine Flügeltür auf, gestaltet, wie bei einer Kuckucksuhr. Auf dem ganzen seltsamen Gebäude waren große Ziffern geschrieben, die wild umeinander purzelten. Alles in allem machte die Hütte den Anschein, als sei sie die oberste Spitze eines Glockenturms. Ein dünnes Rauchfähnchen, wohl aus dem Ofen im Inneren des Häuschens, stieg hinauf in die graue Wolkensuppe. Und irgendwie freute sich Sirálos über ein prasselndes Feuer, obwohl er ein solches in seinem kurzen Leben bisher nicht gesehen hatte. Beherzt stieg er die zwei Stufen hinauf und klopfte an. Es folgte einiger Radau aus dem Raum hinter der Tür, welcher klang, als sei jemand aufgeschreckt und dabei allerhand Metallenes heruntergefallen, endlich jedoch wurde der Eingang einen spaltbreit geöffnet. »Ja?« fragte eine barsche Stimme, die ihren Ursprung in dem verzausten Gesicht eines mageren, verrückten Professors hatte. Der Mann war dürr und hochgewachsen, trug eine zerlumpte Kleidung, die wohl mal recht ansehnlich gewesen war, aber längst mehrere Wäschen überfällig hatte. Zusammengebündelt wurde dieser Haufen von einer Schürze, die vor Schmieröl glänzte. Auf dem gewaltigen Zinken im Gesicht des

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Uhrmachers – denn freilich war er es, der uns geöffnet hatte – saß eine im Verhältnis winzige silberfarbene Drahtbrille. »Guten Tag, mein Name ist Sirálos –«, weiter kam er nicht, da der Meister die Augenbrauen hob und ihn unterbrach. »Tatsächlich? Das wurde aber auch Zeit! Deine Mutter greinte mir letztens diesen Ozean vor die Hütte, weil du nicht schlüpfen wolltest!« Der Uhrmacher musterte den überraschten Sirálos von oben bis unten und stellte sodann fest: »Ein rechter Rotfuchs bist du geworden, wie mir scheint. Kein Wunder das du erst im Herbst herausgekrochen bist! So will ich dich denn auch Rotfuchs nennen, dein anderer komischer Name ist mir zu schwierig auf die Dauer.« Daraufhin verschwand er wieder in seinem Häuschen, ließ die Tür jedoch offen stehen. Sirálos wartete höflich hineingebeten zu werden. »Na komm schon rein, du Lausebengel! Oder glaubst du mir macht es Spaß den Ofen zu befeuern und dann die Kälte zum Tee zu bitten?« Sirálos, genannt der Rotfuchs, trat ein.

Soweit der Rotfuchs sehen konnte, hatte das Häuschen nur ein Zimmer, welches zugleich Küche, Schlafkammer, Wohnraum und Werkstatt des Uhrmachers war. Eine Falltür samt Leiter führte in den spitzen Dachstuhl hinauf, wo ein vielstimmiges Ticken herunterschallte. Sirálos stand schweigend da und beobachtete den Meister, wie er neues Holz in den Ofen tat, der zwar heftig aufloderte, aber kaum Wärme ausstrahlte. Ur war kalt, dies musste der Junge sich nun doch allmählich eingestehen. »So! Also, da wir uns noch nicht gesehen haben, mein Name ist Tempusius Memento, Meister der Zeit.« stellte er sich mit stolzgeschwellter Brust vor und fragte sogleich, ungleich viel polternder, was der Rotfuchs Sirálos bei ihm wolle. »Was willst du? Weswegen bist du hierher gekommen?« »Macht Ihr die Zeit?« wollte Sirálos neugierig wissen. »Ich mache Uhren«, meinte Meister Memento knapp. »Und wegen einer solchen bin ich hier. Mein Vater schickt mich, wegen der kaputten Uhr, die einzige die ihr nicht zu richten vermögt, obgleich ihr sie selbst gebaut habt.« »Was willst du mit dieser Uhr?« dröhnte der Uhrmacher. »Mein Vater sagte mir, wie Ihr sie zum Laufen bringen könnt«, antwortete Sirálos listig. Der Zeitmesser, den der Rotfuchs da angesprochen hatte, war Meister - 13 -

Mementos größte Besessenheit und Verzweiflung. Er liebte diese Uhr und hasste sie noch mehr. Er scherte sich um nichts anderes. Nicht darum, dass er völlig nutzlos war, da es augenscheinlich weder jemanden im Ort gab, der eine Uhr benötigte, noch überhaupt einen Ort oder Menschen in der Nähe gab. Im Übrigen war Tempusius nur ganz leicht vom Stein angegraut, da er sich so sehr mit seiner Uhr beschäftigt hatte, dass er die Leere und die Hoffnungslosigkeit ohne Abendlicht gar nicht bemerkt hatte. Memento hatte noch nicht einmal wahrgenommen, dass das Abendrot seit langem fehlte. Nur die Kälte war ihm offenkundig, aber selbst als Herr der Zeit, war ihm entgangen, dass diese nun schon außergewöhnlich lang vorherrschte. »Du?« fragte der Uhrmacher entgeistert, »Du vermagst mir zu sagen, wie ich diesen vermaledeiten Zeitmesser richten kann?« dabei wies er in eine Ecke der Werkstatt, in der eine seltsame Uhr, groß und rund, wie ein Wagenrad, stand. Sie hatte nur einen Zeiger, geformt wie ein Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger und ihre Ziffern waren in spiegelverkehrter Reihenfolge angebracht, sodass die Eins auf der Position der Elf war. Zudem war sie flach und dünn, wie ein Blatt Pergament. Sirálos sah nicht, wo die Mechanik darin verborgen sein könnte. »Der Vater hat es mir gesagt«, wiederholte er entschieden. »Was muss ich tun?« wollte nun Meister Memento wissen. »Auf den Regen warten«, erklärte Sirálos. »Und dann?« »Sie mir geben«, fuhr der Rotfuchs fort. »Und warum?« »Damit ich sie ins Meereswasser legen kann!« berichtete der Junge weiter, was der Vater ihm geraten hatte. »Wozu dies?« »Damit sie läuft und mir ein Schiff schenkt«, schloss das Kind. Meister Memento kratzte sich die wilden grauen Haarbüsche im Nacken. Er verstand nicht, wozu dies gut sein sollte. Warum sollte seine Uhr dem Sohn der Wassernymphe ein Schiff schenken? Er lief auf und ab und überlegte dabei. Sirálos wartete mit unschuldiger Geduld. »Wozu soll das gut sein?« forschte der Uhrmacher endlich nach.

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»Damit ich das Abendlicht suchen kann. Es ist seit vielen Jahren aus Ur verschwunden.« antwortete der Rotfuchs ruhig und spielte dabei mit einem kleinen goldenen Zahnrädchen, welches er auf dem Boden gefunden hatte. Meister Memento verstand nichts davon. Er hieß Sirálos sich zu setzen und ihm zu berichten, er selbst lief aber auf und ab, während der Junge ihm alles erzählte, was er über das verschwundene Abendrot wusste. Als der Sohn des Grünen Mannes ausgesprochen hatte, war es dem Uhrenmeister klar. Endlich hatte er den Schuldigen gefunden, warum seine Uhr all die Jahre nicht gehen wollte. Es war das fehlende Abendlicht, es war die Liebe, die fehlte. Der Rotfuchs ließ Meister Memento in dem Glauben und gab ihm nicht zu bedenken, dass das Abendlicht noch immer fehlte, aber er, Sirálos, es dennoch, dem Vater zum Dank, fertig bringen wird, dass die Uhr zu ticken anfinge. Er musste nur auf den Regen warten.

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7 Ein Schiff, ein Kapitän

Meister Memento hatte die Zeit, während der Rotfuchs und er auf den Regen warteten, genutzt, um sich darüber klar zu werden, wie wichtig die Beschaffung des Abendlichtes eigentlich war. So war nun auch ihm aufgefallen, wie grau, traurig und still die Welt geworden war und dass er schon seit sehr langem keinen Besucher oder Kunden mehr begrüßt hatte. Er hatte all die Jahre nur von der verstreichenden Zeit gelebt, und ab und an mal einen Keks gegessen, von denen er einen gewaltigen Vorrat in einem Wandschränkchen hatte. Diese Erkenntnisse und die ungeheure Neugierde, mit der er auf den Ausgang des Experimentes fieberte, ließen ihn am Tag dreihundertmal zum Fenster hinausschauen, ob die sich sammelnden Wolken nicht endlich Regen schicken wollten. Am fünften Tag, nach Sirálos’ Ankunft bei Tempusius Memento, begann es endlich zu schauern. Geschwind rannte der Rotfuchs aus dem Häuschen des Uhrmachers, hin auf die Landzunge und suchte nach einer geeigneten Stelle, die große Uhr zu Wasser zu lassen. Ihr Erfinder kam mit dem Wunderwerk keuchend hinterdrein. »Da ist ja eine Stadt im Wasser!« rief Sirálos aufgeregt, als er in den Ozean blickte. »Ja natürlich!« schnaufte Meister Memento durch den immer stärker werdenden Regen, »Oder glaubst du jemand pflanzt einfach so eine Uhrenturmspitze in die Landschaft? Meine Hütte ist der höchste Punkt der Stadt, wenn ich zu Abend das Licht anhabe, sind meine Fenster beleuchtet und die Bewohner können durch den Meeresspiegel hindurch die Zeit ablesen.« »Aber wer lebt denn dort unten im Wasser?« fragte der Rotfuchs aufgeregt. »Na Menschen, wer den sonst?« entgegnete Meister Memento gewohnt barsch. »Werden sie denn nicht ganz nass, da unten? Und bekommen sie denn überhaupt genug Luft?« wunderte sich der Junge. »Wasser und Himmel, ist doch eins. Dies siehst du doch, jetzt kommt es ja auch von oben. Dort unten ist kein Wasser«, er schüttelte eifrig den Kopf, »Da ist Luft wie hier, das Meer ist nur deren Firmament.« röhrte der Uhrmacher. - 16 -

Gemeinsam legten sie nun das schwere Uhrwerk ins Wasser, es ging auf wundersame Weise nicht unter, sondern fing zu ticken an und wurde etwas weiter hinaus geschwemmt. Im selben Augenblick landete der Regen nicht mehr auf der Erde, sondern sammelte sich um die Uhr herum. Stück für Stück, Tropfen für Tropfen baute sich so ein Boot auf, welches immer größer wurde. Bis zuletzt, nach dem die letzte Träne von den Wolken gefallen war, ein großer Dreimaster auf dem Wasser schwamm, der vom Krähennest bis zum Ruder aus Regentropfen bestand, in denen bisweilen kleine Fische schwammen. Im Bauch des Schiffes

tickte laut die Triebfeder des

Wunderwerkes. Ein Beiboot aus Nebel kam vom großen Schiff her, um den Uhrmacher und seinen neuen Freund an Bord zu bringen. Voll Staunen und Begeisterung stiegen die beiden ein und ließen sich zu dem Tränenschiff fahren. Aus der Nähe sahen sie, dass alle Tropfen im Rumpf des Schiffes, gänzlich zum Unmut der darin planschenden Fische, leicht angeeist waren und damit in Form gehalten wurden. An Deck angelangt stieg Meister Memento, durch dieses Abenteuer scheinbar verjüngt, eilig in den Bauch des Schiffes hinab, wo seine Uhr tickte. Wohlweißlich hatte er ein Stethoskop mitgebracht, mit dem er nun den tönenden Apparat abhörte. »Sehr interessant!« murmelte er Sirálos zu, der ihm gefolgt war, »Offenbar hält die Uhr das Schiff zusammen. Hört sie auf zu laufen, fällt auch dieser Kahn wieder auseinander.« Er machte ein ernstes Gesicht, sagte immer wieder »mmh-mmh« und nickte dabei. Schließlich war er fertig mit abhorchen, setzte sich auf den Boden und betrachtete seine Uhr, während er dem Rotfuchs erklärte, was er gehört hatte: »Anscheinend ist es so, dass diese Uhr sich nach ihrer eigenen Zeit richtet. Der Zeiger ist zwar ein Stundenzeiger, aber er wird nur einen einzigen Rundgang über das Ziffernblatt tun und zwar rückwärts. Ist er wieder bei der Zwölf angelangt, so fällt das Schiff auseinander und es ist für dich zu spät Ur mit dem Abendlicht zu retten. Dann wird dein Vater ewig schlafen, die Mutter ewig frieren und die wärmende Liebe ganz verschwunden sein und alles Leben zu Stein erstarren«, raunte er schwer. »Glücklicherweise jedoch vergehen die Stunden nach dem Gutwillen der Uhr. Der Zeiger vollzieht seinen Lauf zwischen den Ziffern mal in Sekunden nur, dann braucht er wieder Jahre. Man weiß nie, wie schnell er beim nächsten Mal springen wird, insofern existiert die Zeit gar nicht und andererseits ist man gerade deshalb zu höchster Eile geraten.« »Nun, dann werde ich wohl besser gleich aufbrechen«, sagte Sirálos mutig, mehr zu sich selbst als zu dem Meiser, nachdem er dessen Diagnose vernommen hatte. - 17 -

»Du brauchst einen Kapitän«, mahnte dieser. »Aber vielleicht kann ich dir da helfen, möglicherweise habe ich einen für dich, der schon seit langem mal wieder Seeluft im Gesicht spüren möchte.« Der Uhrmacher lächelte geheimnisvoll, als er dies sagte. Der Rotfuchs freute sich über die Aussicht nicht alleine aufbrechen zu müssen und folgte daher gehorsam Meister Memento zurück in seine Turmkammer, in der er sich eilig neben eine Seemannstruhe stellte. Dass die Uhr schließlich lief und dieses Wunder vollbracht hatte, hatte Hoffnung in dem Uhrmachermeister geweckt und da ein Schiff nicht ohne Kapitän sein konnte, wie er gesagt hatte, öffnete er eilig die Kiste. Dort tauschte er seine winzige Brille gegen eine Pfeife, seine Handwerksschürze gegen eine Uniform samt Dreispitz und seine Pantoffeln gegen hohe lederne Stiefel mit Stulpen. Auch ein falscher roter Bart fand sich in der Kleidertruhe des Uhrmachers, sowie ein mechanischer Papagei, in dem Messingzahnrädchen ratterten. Diesen setzte er sich pflichtschuldig auf die Schulter. Staunend sah der Rotfuchs bei der Verwandlung zu. Ihm war, als hätte Meister Memento an sich einen Reißverschluss geöffnet, ihn aufgezogen und sich selbst ausgezogen, damit dieser, mit allen Wassern gewaschene Kapitän vor ihm stehen konnte. Schließlich rannte der ehemalige Uhrmacher noch zu seinem Bett hin, nahm das Kopfkissen und stopfte es unter die lasch hängende Uniformjacke, so dass diese mit einem prächtigen runden Bauch ausgefüllt war. Nur der Meister der Zeit wusste, wie man Bauch und Bart anwachsen lassen konnte und nur der Seefahrer hatte die Kenntnis darum, beides wieder verschwinden zu lassen. Als Meister Memento schließlich fertig und völlig verändert vor Sirálos stand, schien es ihm sogar, als spräche der Meister anders, aber dies konnte freilich auch an dem geweckten Lebensfunken liegen und der neuen Hoffnung. »Ich bin Kapitän Na’Uta«, verkündete er rau, streichelte sich über seinen Daunenbauch, stopfte Tabak in die Öffnung der Pfeife und blies, zum Spiele Sirálos’, Rauchringe in die Luft.

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8 Abfahrt über den Himmel

Zusammen

gingen sie wieder hinaus und enterten das prächtige Schiff, welches der

neugeborene Seemann Tränenbarke taufte. Kundig lief Na’Uta über die Planken und meinte, nach fachmännischer Inspektion, dass es nur logisch sei, dass dies Schiff aus Regentropfen bestünde. Etwas, was aus Wasser ist, kann schließlich nicht im Wasser untergehen! Und der Regen kennt den Himmel, immerhin wohnt er dort. Dies Boot sei also auch bestens dazu geeignet über die verschiedenen Himmel zu fahren. Man müsste die Tropfen nur an den Rückweg zum Firmament erinnern, so der gescheite Kapitän. Deshalb könnten Sirálos und seine Crew – so sagte er und bezeichnete damit sich und seinen Blechvogel – auch erst in einer windstillen Nacht aufbrechen, wenn das Meer glatt ist, wie ein Spiegel und sich der Sternenhimmel darin sehen kann. Dann werden die Regentropfen gar nicht merken, dass sie über den Rand des Meeres hinausfahren und bereits die Lüfte durchpflügen. Ihnen wird sein, als könnten sie es von Anfang an und würden dann keinen Unterschied zwischen Wasser und Luft mehr bemerken.

So war es, dass sich die Abfahrt noch einmal um zwei Tage verzögerte, bis alle Vorraussetzungen günstig waren. Derweil plante der Kapitän die Fahrt durch den Weltenraume und überlegte mit dem Rotfuchs zusammen, wo man das Abendlicht am besten suchen könnte. Dabei ergab sich eine gewisse Schwierigkeit, denn beide mussten sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatten, wie denn das vermeintliche Leuchten aussah. Na’Uta erinnerte sich nicht mehr und Sirálos hatte es ja noch nie gesehen. Trotz diesem Umstand, konnte das Fünkchen Hoffnung nicht zum Erlöschen gebracht werden und so kam die Nacht, in welcher die Tränenbarke ihre Jungfernfahrt antrat. Der Ozean war ruhiger als ein Gartenteich, die Winde hatten ihre Münder geschlossen und kaum ein Wölkchen zierte den sternübersäten Himmel. Woher sie es gewusst hatten, konnte sich der Rotfuchs nicht erklären, aber als das Schiff sich langsam in Bewegung setzte, getrieben durch reine Willenskraft, und Sirálos zum Ufer zurückblickte, standen dort, unter dem schwarzen Zelt des Himmels, eine

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kleine Menge Menschen, Tiere und Fabelwesen, die still, wie Statuen, den Abenteurern hinterher blickten. Nur wer die Bevölkerung von Ur kannte, konnte die Spur Zuversicht in ihren Mimiken sehen. Für jeden anderen, wären es traurige oder vergrämte Gesichter, die ihre Augen auf die Segel des Bootes richteten. Sirálos sollte noch lange an diese Antlitze denken und so kam es, dass er ebenso wenig wie die Regentropfen der Tränenbarke mitbekam, an welcher Stelle ihrer Fahrt das Meer in den Himmel übergegangen war. Es war einfach geschehen und schon seit geraumer Zeit segelten sie zwischen den gewaltigen Helden alter Geschichten hindurch, die heute Sternenbilder waren. Doch sie wurden nicht beachtet. Die Gestirne waren noch zu nah am Wirkungskreis von Ur und schliefen allesamt. Dies war auch gut so, denn wären sie wach und unachtsam gewesen, hätten diese Giganten leicht das Schiff von dem Rotfuchs Sirálos und dem Kapitän Na’Uta zertreten oder ihnen anderweitig, aus einem Versehen heraus, Schaden zufügen können. Es geschah jedoch, dass nach einigen Tagen Fahrt die Aufmerksamkeit des Kapitäns aufgrund der lautlosen Reise etwas schläfrig geworden war und er nur noch mit Langeweile

darauf

achtete

das

Schiff

gekonnt

um

die

Sternenbilder

herumzumanövrieren. An einem besonders tristen Morgen, spielte er daher lieber mit seinem mechanischen Papagei Mensch ärgere dich nicht und übersah das thronende Abbild des ältlichen König Recordari (nicht zu unrecht auch der Sabberkönig genannt), der mit fettigen grauen Haar, welches ihn bis zu den Füßen völlig überwucherte, auf einem Thronsessel saß, hoch wie eine zyklopische Mauer. So kam es, dass der spitze Buck des Schiffes dem ungekämmten Herrscher aus grauer Vorzeit direkt in das linke Nasenloch bohrte. Ärgerlich riss der Monarch die Augen auf, schnaufte kräftig aus, was das Schiff sogleich Hunderte Meter davon wehen ließ und schmatzte erbost den schlaftrockenen Mund wach. Wütend griff er nach dem Boot, denn die Entfernung entsprach nicht einmal eine Armeslänge von ihm, drückte es zwischen Daumen und Zeigefinger, dass die Planken ächzten und sah böse auf Sirálos, den Kapitän und seinen Papagei hinab.

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9 Die Halle der Erinnerungen

»Was

zum ...? Wer seid ihr?« brüllte er fordernd und spuckte dabei

fontänenartig. »Reisende, mein Herr!« rief Sirálos zu dem Gesicht hinauf, welches so bedrohlich über den Masten hing. »Unterwegs in mein Nasenloch?« schmetterte der König. »Auf der Suche!« schrie Kapitän Na’Uta nach oben und sein Papagei klingelte metallisch, da er aufgeregt mit den Flügel flatterte. »Wonach?« wollte Recordari jetzt wissen. »Nach dem verschollenen Abendlicht der Lande Urs, mein König!« antwortete Sirálos freundlich und lächelte gewinnend zur Miene des königlichem Sternenbildes und ehe dieser weiter schmettern konnte, fragte er: »Mein teurer Herr König, könnt ihr uns vielleicht sagen, wie es aussieht? Ihr müsstet doch eine glänzende Aussicht von hier droben haben.« »Das Abendrot von Ur? Es war herrlich, soviel weiß ich noch, doch es ist zu lange her. Es bräuchte einen jungen Geist diese Erinnerung zu finden. Aber schön wäre es schon, wenn ich es mal wieder sehen könnte, dieses glorreiche Himmelsschauspiel«, brummte er, mehr zu sich selbst, als zum Rotfuchs.

Der lautstarke Tumult dieses Gesprächs hatte inzwischen ein anderes Sternbild geweckt, dass der eitlen Schulmeisterin. Sie lehnte hochmütig an ihrem Katheder und besah sich selbst in einem Handspiegel (was natürlich wenig Sinn hatte, da auch sie die meiste Zeit vor sich hin schnarchte, aber unter uns: Sie träumte ausschließlich von ihrem Aussehen!). Neugierig und in dem Glauben Bewunderer vorzufinden, schlug sie in eben dem Moment die Augen gänzlich auf, als der Papagei des Kapitäns sein erstes Wort sprach. »Sirálos!« krächzte er klingelnd.

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Völlig entgeistert gab Na’Uta seinem Vogel recht und quiekte vergnügt: »Majestät, wir haben einen jungen Geist hier an Bord! Mein Freund der Rotfuchs, hier« – dabei schubste er Sirálos leicht vor die Augen des Königs – »ist wahrlich frisch und noch ganz grün hinter den Ohren! So grün wie seine Sommersprossen! Vielleicht gestattet Ihr ihm Euch zu helfen, Euer Hoheit. Dann können wir alles daran setzen, dass Ihr das Abendrot wieder zu sehen bekommt!« »Und wie soll er das anstellen?« höhnte der greise Herrscher. »Na mit Schaffenskreide, du alter Narr!« brüllte die eitle Schulmeisterin von ihrem Pult herüber, die verärgert war, weil ihr keiner Beachtung schenkte, dem ollen König Recordari jedoch schon. Bemüht gleichgültig zog sie einen Schub ihrer Lehrkanzel auf und holte ein winziges Stück Kreide heraus. Es lag in ihrer Hand so klein, dass man es kaum sehen konnte und war daher gerade so groß, dass es für die geschickten Finger des Rotfuchs wie gemacht schien. Herablassend ließ sie es auf das Deck der Tränenbarke fallen, wo Sirálos es schnell aufhob. »Was muss ich damit tun?« wollte er von der Lehrerin wissen, doch sie antwortete ihm nicht mehr. Der Kapitän klopfte Sirálos freundschaftlich auf die Schulter und versuchte selbst sein Glück bei der eigensinnigen Frau. »Meine teure, schöne Dame, ich danke Ihnen sehr für die Hilfe die Sie in Ihrer Großherzigkeit dem armen Jungen zugestanden haben. Es ist immer gut zu sehen, dass äußere Schönheit von innerer Vollkommenheit geadelt wird«, begann er zu trällern. Die Paukerin hob den Kopf und blinzelte Na’Uta anhimmelnd entgegen. »Oh ja! Sie haben so recht, mein Herr. Aber wissen Sie, ich sage immer zu mir: ›Mathilda‹, sage ich, ›du bist so unendlich schön, dann solltest du auch schön zu anderen sein!‹« schmachtete sie dem Seemann im Plauderton zu. Wenn sich ein Gespräch um sie drehte, war sie immer ganz hingerissen. »Dies sind Sie, Madame, dies sind Sie«, nickte Na’Uta eilfertig, »Sie stehen am Gipfel Ihres Glanzes gütige Frau, wahrlich, nur noch zu übertreffen, wenn Sie dem Jungen sagen würden, was er mit dem herrlichen Stück Kreide anfangen soll, welches Sie ihm so großzügig überreicht haben. Dann würden Sie in Vollkommenheit glänzen! Nicht auszudenken...!« zwitscherte der Schiffsführer weiter und seine Rechnung ging auf. Fast zerflossen vor Seligkeit raunte sie ihm zu, dass Sirálos sich damit Zugänge schaffen könne, er müsse nur darauf schreiben, wo er denn hin oder was er dahinter finden möchte.

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Sirálos hatte schnell begriffen. Gekonnt sprang er über die Reling auf den Schoß des Königs, der längst wieder eingedöst war und kletterte an den grauen Haarsträhnen zu dessen Stirn hinauf. An der Schläfe malte er mit der Kreide eine Tür auf, groß genug, dass er selbst hindurchtreten konnte. Mit ungelenker Schrift krakelte er ›Halle der Erinnerungen‹ darauf, öffnete sie und sprang hindurch.

Unser Rotfuchs fand sich in einem seltsamen und wunderbaren, kreisrunden Raum wieder, der viel größer war, als der ganze König auf seinem Thron. Es gab keine Tür, durch die er hätte eingetreten sein können und in einem weiten Bogen, vom Boden bis zur Decke, verschachtelten sich, rundherum um ihn herum, Bauernfiguren aus einem Schachspiel. Jede so groß, wie seine Hand. Diese Püppchen füllten den gesamten Saal und waren von Spinnweben überzogen und durch diese miteinander vernetzt. Sirálos sah sich staunend um, wie sollte er hier nur ein Bild des Abendlichts finden? Jede dieser Milliarden Schachbauern musste für eine Erinnerung stehen, überlegte er und ging ehrfürchtig im Kreis herum. Dabei versuchte er abzuschätzen, wie groß seine Halle wohl sein würde? Wie viele Erinnerungen hatte er wohl schon gesammelt? Viele waren es nicht gerade, aber immerhin, war er auch erst einige Tage alt. Inzwischen zwei Wochen, um genau zu sein. In der Mitte des Raumes liefen alle Fäden des silbernen Spinnennetzes in einem unförmigen Knäuel zusammen, welches sehr chaotisch wirkte. Unschlüssig blieb er stehen und sah auf das Stückchen Kreide, welches durch diese eine besondere Tür erheblich geschrumpft war, wie der Rotfuchs schreckhaft bemerkte. »Schaffenskreide«, flüsterte er und sah das unscheinbare weiße Stückchen grübelnd an, »aber dann kann ich ja ...!« Aufgeregt rannte Sirálos zu der Wand, schob vorsichtig die Schachfiguren zur Seite und zeichnete eine kleine Schranktür an. Mit schwitzigen Händen schrieb er ›Vorratschrank für Flaschen voll Abendlicht‹ darauf und öffnete vor Erwartung zitternd das Türchen... Er hatte Angst kennen gelernt, als er glaubte zu spät zu schlüpfen, vergessen worden oder allein zu sein. In diesem Augenblick lernte der herbstgoldene Junge verstehen, was es hieß enttäuscht zu werden. In dem Schränkchen standen zwar etikettierte Kolben, die laut Aufschrift Abendrot enthalten sollten, jedoch war jede dieser Flaschen unverkorkt und leer. Kein Glanz war zu finden, nicht der leiseste Tropfen Licht und kein Stäubchen Abend waren mehr übrig. Sirálos war tief getroffen und setzte sich unmutig auf den Boden, um leise zu weinen, bis ihm seine heißen, kupferfarbenen Tränen genug Trost - 23 -

gespendet und schimmernde, leuchtende Flecken auf dem nackten Boden hinterlassen hatten. Was sollte er jetzt tun?

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10 Der hellste Punkt

Während Sirálos noch traurig in der Halle der Erinnerungen saß, hatte der grauhaarige König einen heftigen Hustenanfall bekommen, dessen Wucht die Tränenbarke viele hundert Himmelsmeilen hinwegschleuderte. Drei Wochen driftete das Schiff nun schon ziellos durch die Sterne und suchte den Rückweg zum König, damit Sirálos wieder an Bord kommen konnte. Doch es war wie verhext. Wann immer Kapitän Na’Uta und sein Papagei glaubten den richtigen Kurs gefunden zu haben, fanden sie sich in einer himmlischen Sackgasse wieder und mussten das Schiff schwerfällig wenden. Abwechselnd sprachen sie sich Mut zu, dass der Rotfuchs schon einen Weg finden würde, wieder auf die Tränenbarke zu kommen, aber von Tag zu Tag schwand diese Zuversicht.

Für den Sohn des Grünen Mannes und der silbernen Dame hingegen, schienen erst wenige Minuten vergangen zu sein. Er trocknete die Reste seiner Tränen und schöpfte neuen Entschlussgeist. Sirálos hatte eine neue Idee. Vorsichtig ging er auf das schimmernde Knäuel in der Raummitte zu und benutzte ein weiteres Mal die wunderreiche Kreide. Mit flinken Strichen zeichnete er über den gesamten Haufen einen weiteren Schachbauern, den Meisterbauern sozusagen. Er gab ihm ein Gesicht und auf den Sockel der Figur, kritzelte er ›Verwalter‹. Es erwachte umgehend zum Leben. »Wer da?« fragte er die Frage, die der Rotfuchs in seinem kurzen Leben wohl am häufigsten vernommen hatte. »Ein Suchender«, antwortete er, wie er es von dem Kapitän gehört hatte. »Und was begehrt dieser zu finden?« wollte der Verwalter wissen. »Das Abendlicht von Ur«, sagte Sirálos wahrheitsgemäß. »Haben wir nicht!« schnauzte die Bauernfigur. Diesmal ließ sich der Rotfuchs jedoch nicht so schnell entmutigen.

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»Dies ist die Halle der Erinnerungen, nicht wahr?« bohrte er nach. »Ganz richtig«, bekam er bestätigt. »Dann suche ich die Erinnerung an das Abendlicht von Ur!« meinte Sirálos feierlich. »Die haben wir!« tönte der Archivverwalter und sein Kopf drehte sich ungeheuer schnell und immer schneller, bis in seinem Wirbeln ein klares Bild deutlich wurde, in welchem Sirálos die Erinnerung des Königs an das zauberhafte Abendrot sah. Nun wusste er endlich, wie es aussah. Endlich würde er es erkennen können, wenn er es fand und nun begann er zu verstehen, warum die Bewohner von Ur so erkaltet waren. Etwas so schönes zu verlieren, musste sehr schmerzhaft sein und lebhaft kam dem Rotfuchs der Moment ins Gedächtnis, in welchem er vorhin die Flaschen im Schrank leer vorgefunden hatte.

Indes segelte der ehemaliger Uhrmacher, der jetzt Kapitän und Mannschaft in einer Person war, weiter durch die warme Dunkelheit des Weltraums. Die Tränenbarke schwamm behutsam durch einen Wald aus gläsernen Bäumen, vor denen Na’Uta großen Respekt hatte. Vor einer halben Stunde erst, waren sie mit verschiedenen Ästen und

Stämmen

dieser

zerbrechlichen

Gewächse

zusammengestoßen

und

die

scharfkantigen Splitter hatten die Regentropfen des Schiffes so erschreckt, dass sie kurz ihre haltgebende Form verloren hatten. Dies war kein schöner Moment gewesen, denn einige Liter Wasser flossen aus den Wänden der Tränenbarke und stürzten in die Tiefe des Alls hinunter. Es hatte unserem Kapitän einiges an Willenskraft eingefordert, die Regentropfen wieder in ihre Position zu bringen. Leider war dadurch auch die Uhr im Rumpf des Kahns weitergesprungen. »Diese verdammten Bäume! Wann endet dieser furchtbare Wald endlich?« schnauzte Na’Uta mürrisch vor sich hin. In den vergangenen Wochen hatte er ab und an geankert. Immer an Stellen, die aus der Ferne wie ein Fetzen Tag aussahen. Er hatte Glück gehabt und dort stets einen Hafen vorgefunden, wo er neue Lebensmittel beschaffen konnte. Am liebsten waren ihm die Orte gewesen, wo er sie einfach hatte kaufen oder gegen Uhren eintauschen können und dann schnell weitersegeln konnte, doch desto länger er unterwegs gewesen war, umso seltener fand er Inseln oder kleine Planeten, die ihm diesen Komfort bieten konnten. Daher war er inzwischen bei jeder Gelegenheit an Land gegangen, stets fürchtend nun den letzten Hafen erreicht zu haben. - 26 -

Vor ein paar Tagen hatte er eine Anlegestelle gefunden, die mitten im Maul eines Bären lag. Ein Sternbild, welches der verspielte Teddy genannt wurde. Es handelte sich dabei um einen zotteligen jungen Bären mit großen Augen und Tatzen, der mit Rollschuhen auf einem Ball lief und einen überdimensionalen Stuhl auf der Schnauze balancierte. Sein Schlund war weit geöffnet und bot Platz für eine Sonne, einen Mond und einen herrlichen Strand mit Palmen und Bäumen voller exotischer Früchte und Beeren, von denen jede anders, aber alle nach Gummibärchen schmeckten. Der Himmel vor dem Strand war jedoch so seicht gewesen, dass die Tränenbarke nicht bis an den schimmernden Sand fahren konnte und Na’Uta daher das Beiboot aus Nebel zu Wasser lassen musste, um langsam zum Eiland rudern zu können. Die Tränenbarke war ein Stück geschrumpft, als sich kleine und kleinste Regentröpfchen abgelöst hatten, um das kleine Ruderboot zu formen. Geisterhaft war so das kleine Bötchen gewissermaßen direkt aus der Seite des Schiffes herausgewachsen. Der Kapitän und sein Papagei hatten das gesamte Boot mit Früchten vollgeladen und wollten noch mehr holen. Die Bäume jedoch ärgerten sich aber so sehr über diesen dreisten Raub, der ihnen überaus maßlos erschienen war, dass sie begonnen hatten nach unseren zwei Kameraden zu schlagen. Na’Uta und sein mechanischer Freund waren schnell zum Boot zurückgeflohen, doch die Pflanzen waren ihnen hinterhergerannt und ein Baum nach dem anderen war in die Fluten des Himmels gestürzt. Dort war eine eigenartige Verwandlung mit ihnen geschehen. Sie hatten aufgehört um sich zu schlagen, waren ganz erstarrt und hatten sich in helles, durchsichtiges Glas verwandelt, das silbrig im Sternenlicht glänzte. Sie umschwebten, von unsichtbaren Kräften getrieben, purzelnd das Schiff von Na’Uta und dem Papagei und so war es auch zu dem Zusammenstoß gekommen, der unseren Freunden Zeit und Wasser gekostet hatte. So kann man sagen, dass die Tränenbarke eigentlich gar nicht in den gläsernen Wald hineingefahren war, sondern der Wald das Schiff langsam überholte. Kapitän Na’Uta hatte dies erkannt, deshalb lag das Schiff immer noch mit geworfenen Anker vor dem verspielten Teddy und es wirkte nur, als würde es langsam rückwärts treiben. Leider erweckte dies in unserem Kapitän aber den Eindruck des Nichtstuns und er lief aufgeregt Kreise auf dem Deck des Schiffes. Er durfte doch nicht noch mehr Zeit verlieren... »Hoffentlich komme ich bald aus diesem vermaledeiten Unterholz heraus!« schimpfte er am dritten Tag des Wartens so laut und wütend, dass die gläsernen Bäume einen wehklagenden Gesang anstimmten, der in seinen hohen Tönen so klar und traurig - 27 -

war, dass selbst Na’Uta ganz ruhig wurde und sich betrübt zu Boden fallen ließ. Bisher hatte er den Wald immer als seinen Feind, als ein Ärgernis angesehen. Erst jetzt war ihm bewusst geworden, dass das unbesonnene Hinterherrennen der Bäume zu ihrem Verderben geführt hatte. Sie trieben im Strom des Himmels weiter und weiter von ihrem Zuhause weg, ohne die Möglichkeit Einfluss auf ihren Flug nehmen oder umkehren zu können. Na’Uta erkannte seine große Schuld daran. Hätte er doch nur die Bäume um ihre Früchte gebeten und sie nicht einfach abgerissen und gestohlen! Er büßte dafür indem er festsaß, bis die Bäume langsam und eng an der Tränenbarke vorbeigetrieben sein würden, hinein in eine ihnen fremde und ungewisse Welt. »Ganz ähnlich, wie wir eigentlich«, nickte der Kapitän traurig seinem Freund dem Papagei zu.

Von seiner Kreide war fast nichts übrig geblieben. Kritisch betrachtete Sirálos den krümelnden Haufen in seiner Hand und betete zu seinen Eltern, es möge reichen. So malte er mit dem bröckelnden Rest eine Falltür auf den Boden und schrieb ›Zur Tränenbarke‹ darauf. Für das letzte ›e‹ konnte er nur noch die, in seiner Hand aufgeweichten, weißen Brösel breit schmieren. Es zischte leicht und die Linien flackerten ein wenig, bevor sie sich, zu seiner großen Freude, wie zuvor in eine echte Tür verwandelten. Er öffnete die Luke und sprang lustvoll in ihr Dunkel, um sicheren Fußes unter Deck der Tränenbarke zu landen. Hastig sah er sich um, um Gewissheit zu erlangen, dass er auch wirklich wieder auf dem Schiff angekommen war. Dabei fiel sein Blick auf die Uhr von Meister Memento, die laut vor sich hin tickte und im Licht der Sterne leuchtete. Der Zeiger war um mehrere Positionen gesprungen. Von den zwölf Stunden der Uhr, waren kaum mehr acht übrig geblieben und niemand wusste, wie lange es dauern würde, bis sie verstrichen. Sorgenvoll lief er die Treppe am Ende des Ganges nach oben, hinein in die Kapitänskajüte, wo er voll Freude in die Arme geschlossen wurde. Na’Uta, sein Papagei und der Rotfuchs setzten sich gemeinsam zu Tisch und erzählten sich gegenseitig ihre Abenteuer, bis sie ganz erschöpft waren. Doch Sirálos vergaß nicht den Kapitän um einen neuen Kurs zu bitten. Der gläserne Wald hatte das Schiff längst frei gegeben und von jetzt an, würde die Tränenbarke stets auf das schönste und hellste, farbenprächtigste und wärmste Leuchten zusegeln, welches sie im Weltenraume finden konnten. Und so geschah es auch! - 28 -

11 Einfacher Weg

Wochenlang schipperte die Tränenbarke herum, bis Sirálos ein Leuchten fand, dem er näher kommen wollte. Viele Male hatten ihm der Kapitän oder sein Papagei, den sie in der Zwischenzeit mit dem Namen Bello getauft hatten, Vorschläge gemacht. Aber immer wieder fand Sirálos das Licht nicht glänzend, nicht warm oder schön genug. Zwei weitere Stunden verloren sie dadurch auf der Uhr im Herzen des Schiffes und mehr als einmal war Na’Uta hinuntergestiegen, hatte sich den Kapitän ausgezogen und sich bedrückt, in alter Uhrmachermanier, den Mechanismus betrachtet. Nach der achten Woche jedoch, seilte sich der Rotfuchs behände von dem Krähennest herab, landete freudig auf Deck und verkündete: »Dort müssen wir hin!« Dabei wies er auf ein helles Strahlen am kosmischen Horizont. Sechs weitere Tage waren nötig, um es zu erreichen. Aber mit jedem Meter den sie sich ihm näherten, brachte das Licht ihre Augen selbst mehr zum Leuchten und die Wassertropfen der Tränenbarke reflektierten das Schimmern immer haltloser. Gleichsam wuchs ihre innere Freude ins unbändige. Vergnügt hüpften sie übereinander, spielten Fangen oder wagten weite Sprünge auf vorbeischwimmende Kometen.

Nach und nach zeichneten sich Formen in dem maßlosen Scheinen ab und die drei Reisenden erkannten zu ihrem großen Staunen eine aus Licht errichtete Stadt. Die Tränenbarke hielt direkten Kurs auf eine immer höher werdende, runde Mauer, die das Hafenbecken umschloss. Ein riesiges rundes Auge blickte aus dem Wall auf das Schiff, welches langsam vor es zum Halt kam. In dem Augenrund wohnte ein kleines Kerzenflämmchen. Es saß an einem Schreibtisch auf dem ein großes Fernrohr lag, durch welches es die Fahrt der Tränenbarke schon seit geraumer Zeit beobachtet hatte. Mit fipsiger Stimme fragte es nach dem Begehr der Crew, die gemeinsam ihren immergleichen Text aufsagten. Das Kerzenflämmchen wollte zunächst einem Schiff aus Wasser nicht so recht über den Weg trauen, war dann aber in Sirálos’ feurige Farben

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und in den roten Bart des Kapitäns so verliebt, dass es die Reisenden passieren ließ und ein Zertifikat aushändigte, welches mit ›wohlwollende Pilger‹ abgestempelt war und ihnen Zufahrt und Aufenthalt im Hafen und der Stadt Einfacher-Weg genehmigte. Kaum hielten sie das Schreiben in den Händen, gab es einen Ruck in der Mauer und sie erhob sich immer weiter und weiter, bis sie zu einem hohen Torbogen geworden war, der den Eingang zu einem großen ovalen Hafenbecken freigab. »Nun, wollen wir mal sehen, wo wir anlegen können!« bellte Kapitän Na’Uta, »Wäre aber leichter was zu finden, wenn ich was sehen könnte! Dieses Licht brennt einem ja die Pupillen aus!« nuschelte er noch vor sich selbst hin, um dann mit zusammengekniffenen Augen in das helle Gleißen zu stieren. Unterdessen gab er dem Schiff still Befehle, Richtung und Schnelligkeit betreffend. Während der Kapitän einen freien Steg zwischen den vielen hundert großen Schiffen und kleinen Frachtern und zum Teil winzigen Nussschalen suchte, blickten Bello und Sirálos ganz verzaubert in die Stadt. Sie war aber auch schön anzusehen! Sie sahen weitläufige Paläste mit herrlichen Fassaden, weite Plätze, Tempel und große runde Bibliotheken. Es gab kleine und große Brücken, hohe Türme und wunderhübsche Wohnhäuschen in allen Größen und Formen. Sie konnten vom Hafen aus verschiedene Märkte sehen, wo aus Sonnenfäden gesponnene Stoffe oder gut gewürzte fliegende Fische angeboten wurden, die wie Mondlicht glänzten.

Ein kleines Floß hielt an der Seite der Tränenbarke. Das Gefährt war sehr irritierend, Sirálos hatte den Eindruck, er würde auf ein pulsierendes schwarzes Loch blicken, welches wie ein blinder Fleck auf dem goldenen Wasser der Stadt Einfacher-Weg schimmerte. Darauf saß ein Polarlicht. Es tanzte unermüdlich, zog Kreise, Schleifen und Schlaufen und leuchtete türkisgrün und violett vor sich hin. Mit einem breiten Maul, dem eines Frosches nicht unähnlich bot es Sonnenbrillen zum Verkauf an. Na’Uta ließ das Schiff ruckartig stoppen und eilte heran. Erleichtert kaufte er eine der dunklen Brillen und fragte Sirálos, ob er auch eine wolle. »Nein«, sagte dieser verwundert, »mich blendet das Licht nicht, ich kann gut sehen. Danke.« Na’Uta zuckte mit den Schultern und setzte sich freudestrahlend die lilafarbenen Gläser auf die Nase, womit er doch schon recht verwegen aussah. »Ah!« tat er, »Viel besser. Na dann, alle festhalten! Wir parken ein!« Das Polarlicht nahm sein Floß wie einen fliegenden Teppich und gab Fersengeld, um nicht überfahren zu werden. Eher unsanft keilte der Kapitän die Tränenbarke zwischen zwei - 30 -

andere Mehrmaster ein und trat freudig auf die Plattform eines graziösen weißen Türmchens. Ein solches wand sich neben jedem Boot aus dem Boden, stets in der richtigen Höhe, sodass die Passagiere bequem aussteigen und über eine wundervoll geschnitzte Wendeltreppe auf den festen Steg herabsteigen konnten.

Sirálos und Bello waren ihm schnell gefolgt und liefen ihm noch immer hinterher, da der Kapitän mit offensichtlicher Leichtfüßigkeit durch die vollen Gassen der Stadt lief und sich, wie sie auch, staunend die prächtigen Dinge ansah, die allenthalben feilgeboten wurden. So ging es eine ganze Weile und Sirálos ließ es sich auch gefallen, aber als der Kapitän zum zigsten Male in eine Schenke Einzug hielt, um sich ein genüssliches Mahl servieren zu lassen, welches er beständig mit einem goldschimmernden Nektar hinunterzuspülen gedachte, riss Sirálos der Geduldsfaden etwas ein. »Na’Uta, ja, es ist toll hier und besonders, da offenbar in dieser Stadt alles verschenkt wird, ... aber ... deswegen sind wir nicht hier!«, begann er vorsichtig. »Schon klar«, nickte der dicke, rotbärtige, lila bebrillte Kapitän, der einmal ein Uhrmacher war und steckte sich seine Pfeife an. »Is’ nich’ das Abendlicht, stimmt’s? Aber schön ist es trotzdem« zwinkerte er. »Mag sein«, klingelte Bello, »aber das hilft dem Jungen nicht gerade weiter!« »Ich denke, wir sollten uns mit Vorräten eindecken und dabei ein paar Nachforschungen anstellen, ob die Leute hier vielleicht wissen, wo wir weiter suchen können.« schlug der Rotfuchs vor. »Gut mach das. Ich bleib hier!« verkündete Na’Uta. »WAAASS?« riefen Bello und Sirálos entsetzt im Chor. »Wenn es solche Orte, wie diesen hier gibt, dann brauche ich nicht unbedingt ein Abendrot in Ur, denn dann ... dann kann ich auch gerne hier bleiben. Is’ sowieso schöner hier.« bemerkte der Kapitän selbstgefällig und bestellte sich einen gewaltigen Nachtisch, der als er kam, aussah wie eine große Vase. Ein Dessert aus Zuckerglas, das immer wenn Na’Uta eine Ecke abbrach und diese aß, sich zu einer neuen Form zusammenfügte. So zerfiel die kunstvolle Vase samt Blume zum Schiff, dieses zur Kathedrale, zum Wecker, zur Blüte und so weiter, immer kleiner, bis das köstliche Süß verspeist war. Und bei jedem Löffel schmeckte es noch besser, entdeckte der Kapitän noch eine Nuance, die er vorher nicht bemerkt hatte. Er war so verzaubert von diesem essbaren Kunstwerk, dass er nicht bemerkt hatte, wann Sirálos ihn verlassen hatte. Bello - 31 -

war geblieben, auch wenn er Sirálos nicht gerne allein gehen ließ, doch er gehörte eben zu seinem Kapitän, den er nun missbilligend ansah.

Der Rotfuchs stampfte etwas enttäuscht von seinen Begleitern durch die Straßen und ihm fiel allmählich auf, dass alle Menschen die er traf, faul, übermütig, selbstgerecht und maßlos in den Dingen waren, die sie taten (wenn sie etwas taten), kauften oder verspeisten. Niemand schien sich wirklich um irgendetwas oder irgendjemanden zu kümmern, es sei denn, um sich selbst. »Diese Stadt ist nicht anmutig«, flüsterte er zu sich selbst, »auch hier ist jeder für sich allein, nur ist es noch schlimmer als in Ur, denn hier bemerkt es niemand mehr. Sie alle lösen sich ja ganz im Stumpfsinn auf!« Nachdem er noch einige Meter mehr gelaufen war, bemerkte er auch, dass die Stadt zwar wunderbar leuchtete, dies aber darüber hinwegtäuschte in welch schlechtem Zustand sie sich befand. Sicher, sie war einmal schön gewesen, doch sie schien vielerorts verwahrlost und heruntergekommen. Einige Gebäude wirkten, als stünden sie kurz vor dem Zusammenbruch. Sirálos lief immer weiter bergauf und nahm verschiedene Treppen, um höhere Terrassen der Stadt zu erreichen. Bald schon, konnte er über das gesamte Hafenbecken blicken und sah in der Ferne die Mauer, die sich oft hob und senkte, wann immer neue Besucher per Schiff in die Stadt einfuhren. Ihm wurde auch gewahr, dass viele Schiffe im Becken sehr alt aussahen, als lägen sie seit Jahren dort vor Anker und wären einfach vergessen worden. War es vielleicht gar möglich, dass es schon andere Reisende gegeben hatte, die einst in Ur aufgebrochen waren und die nur deshalb nie mit dem Abendlicht zurückkehrten, weil sie ihre Mission verraten hatten und einfach hier, in Einfacher-Weg, geblieben waren? Das durfte ihm auf keinen Fall passieren! In Windeseile rannte er zurück, er musste Bello und Na’Uta schnappen und so schnell wie möglich von hier verschwinden, bevor auch sie auf ewig stranden würden. Der Weg zurück kam ihm sehr viel länger vor, als der vorherige Aufstieg. Auch schien es, als hätten sich einige Straßen verschoben und als seien ganze Häuserreihen gesprungen, um sich neu anzuordnen. Durch einen Tunnel sah Sirálos eine Hausecke, die ihm sehr bekannt vorkam, eilig rannte er darauf zu, doch als er im Tunnel war, wurde dieser immer länger und länger und an seinem Ende schloss sich eine Flügeltür. Der Rotfuchs beschleunigte und warf sich mit letzter Kraft dagegen. Die großen Tore sprangen polternd auseinander und Sirálos rutschte auf dem Bauch auf die Straße. Doch war da keine Straße mehr. - 32 -

Langsam richtete er sich auf und rieb sich die schmerzenden Ellbogen. Als sie nicht mehr so sehr weh taten, blickte er vorsichtig auf und sah sich um. Er war in einem hellen, kleinen Raum mit einer nach innen gewölbten Glaskuppel an der Decke, die wie flüssiges Perlmutt schimmerte. In dem Zimmer fand nichts weiter Platz, als ein runder Tisch, der aufwendig mit vielen Verziehrungen geschmückt worden war. Das Möbelstück stand jedoch nicht am Boden, sondern ragte aus einer der Wände, ganz so, als sei diese der eigentliche Fußboden und Sirálos würde nur aufrecht an der Seitenwand stehen. Er lief auf das Tischchen zu und hob einen Fuß, um ihn neben den Tisch an die Wand zu stellen. Er fühlte ein seltsames Ziehen im Bein, welches ihn an der glatten Fläche festzuhalten schien. Daher wagte er, auch das andere Bein an die Wand zu stellen und schwups schon war alles richtig. Er stand neben einem Tisch, aufrecht und ohne das Gefühl, dass er irgendwie, wie ein seltsames Objekt aus einer Wand ragen würde. Einzig die Eingangstür und das Oberlicht wirkten nun etwas ungewöhnlich angebracht. In der Mitte des Tisches, direkt vor des Rotfuchs’ Nase, stand ein Krug, geformt wie eine Träne auf drei silbernen Beinchen und in dem Krug schwamm, in leichten Bewegungen, das Abendlicht von Ur. Es war freilich nicht alles, aber genug um es über den Himmel von Sirálos’ Heimat auszukippen und den Tag und die Nacht daran zu erinnern, wie es auszusehen hatte, damit sie sich fortan wieder dazu verschmelzen konnten. Völlig entgeistert starrte Sirálos auf den Krug.

Minuten später stand er immer noch, wie mit dem Marmorboden verwurzelt, stocksteif an der gleichen Stelle ohne sich gerührt oder das ersehnte Abendlicht an sich genommen zu haben. Es sah so wunderbar aus, so vom Tagesgeschehen gesättigt, voll gefüllt mit den wärmenden Begebenheiten der vergangenen Stunden, reif zum Ernten und darin baden... Einmal zuckte seine Hand unwillkürlich in Richtung Karaffe, doch hielt er sofort wieder inne.

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Sirálos zögerte nicht ohne Grund. Zum einen erschien es ihm als zu einfach, dass das Abendrot hier, ohne jede Form der Bewachung, griffbereit herumstand. Zum anderen haderte er mit sich, ob er es wirklich mitnehmen konnte und sollte. Was war, wenn Ur so wurde wie diese Stadt, wenn er es mit dorthin nahm? Was würde sich dann wirklich ändern? Es wäre noch immer jeder Mensch nur bei sich und ohne ein wärmendes Miteinander. Andererseits schienen die Leute hier sehr viel zufriedener, als die Ur’ianer. Aber wenn er es nun nahm und die Stadt damit der Kälte und Dunkelheit aussetzte, konnte er dies verantworten? Könnte er die Gewissheit ertragen, dass er das Leid seiner Welt auf eine andere übertrug? Und wenn er nur ein bisschen nahm, gerade genug für Vater und Mutter?...

Lange stand er da und grübelte darüber nach, was das Richtige sein mochte. Gerne hätte er jemanden gefragt, doch wieder einmal war er ganz alleine und dieses Mal hatte er auch keine Schaffenskreide, um sich einen Ratgeber herbeizuzeichnen.

Er überlege immer noch, als er hinter der Glaskuppel schon glitzernde Sterne sehen konnte. Schließlich jedoch, entschied er sich für seine Familie, ging auf den Tisch zu, fasste sich ein Herz und griff nach der Flasche. Als er sie in den Händen hielt durchströmte Sirálos sofort ein Gefühl der Zuversicht und Erleichterung. Es war, als würde ihm die leuchtende Flüssigkeit sagen, dass er richtig gehandelt hatte. Leider war die Karaffe etwas unhandlich und grade als er dachte, dass es schön wäre eine Tasche dabei zu haben, lag auf dem Tisch, an der selben Stelle, wo zuvor das Abendlicht auf ihn gewartete hatte, eine lederne Umhängetasche. Sie war gerade groß genug für die Beute des Rotfuchs und so klein, dass es schien, als sei sie nur für Sirálos angefertigt worden. Und im gewissen Sinne, war sie es ja auch. Ein leuchtend heller Blitz schoss dem Rotfuchs durch den Kopf. Was wäre wenn ... Und schon im nächsten Augenblick, stand eine neue, diesmal goldene, Karaffe auf dem wundersamen Tischchen und auch sie war randvoll mit dem herrlichsten Gespinst aus Abendrot. Die Stadt hieß Einfacher-Weg und wahrlich!, sie trug den Namen zu recht. Jetzt konnte Sirálos ganz beruhigt das Abendlicht mitnehmen, denn nun hatte er welches für Ur ohne es der leuchtenden Stadt wirklich wegnehmen zu müssen. Beide Orte hatten einen ganzen Krug davon voll. Glücklich griff er nach der Umhängetasche, verstaute den erbeuteten Behälter sicher darin und machte sich auf den Rückweg, indem - 34 -

er sich auf die Wand zufallen ließ, die einmal der Boden gewesen war. Berauscht vor Erleichterung schritt er durch die Tür, sie führte ihn jedoch nicht in den Tunnel zurück, sondern in weitere Räume mit Türen.

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12 Ein Hinweis

Durch viele Gänge, Räume, Tunnel, Plätze und Türen war Sirálos nun schon gelaufen, ohne je den Eindruck gewonnen zu haben dadurch voranzukommen. Sie sahen nicht alle gleich aus, aber doch hatten sie alle eine Art Selbes. Zum Beispiel ragte zwischen einer Ecke oder aus einer Wand immer ein Tischchen, welches dem ersten, das er gesehen hatte, nicht unähnlich war. Manchmal war es auch gleich von vorneherein richtig herum oder aber es hing von der Decke, schwebte im Raum, baute sich von selbst auseinander und dann wieder zusammen, war mal aus Stein, mal aus Holz, mal aus Metall und dann wieder völlig mit Pelz überzogen und schien zu miauen. Er fand Räume in denen es gewitterte und solche, in denen er sich ganz winzig oder riesengroß vorkam. Einmal glaubte er, er habe den Ausgang gefunden, da der Saal aussah wie die Lichtung eines Waldes und durch ein anderes Zimmer musste er hindurch schwimmen, da der Marmorboden sich als milchige Flüssigkeit herausstellte, auch wenn Sirálos ihr, am anderen Ende, absolut trocken entstiegen war. Im Laufe der Zeit hatte er es irgendwann lustig gefunden immer etwas anderes vorzufinden, doch allmählich ermüdete es ihn und er sah kaum noch richtig hin, was sich in dem immer neuen Raume befand. Er wusste nicht, ob es das fünfzigste oder zehntausendste Zimmer war und es war ihm auch eigentlich schnuppe, er wollte nur hier raus und seine Freunde finden. Im selben Moment, als er diesen Wunsch in seinen Gedanken klar formuliert hatte, erschein ein Schlüssel auf dem Tisch und eine neue Tür in einer leeren Wand. Anders, als alle anderen Türen, war diese keine hohe, edel gestaltete mit zwei Flügeln. Sie sah eher einfach aus, war viel kleiner und ihm schien, als dringe von der anderen Seite Lärm in den Saal. Mit hitzigen Fingern klaubte er den eisernen Schlüssel vom Tischchen, schritt auf die kleine gebogene Türe zu und führte den Bart in das Schlüsselloch. Es klackte kurz und die Tür sprang auf. Er wusste sofort, dass er das Labyrinth endlich verlassen hatte. Vor ihm lag die Taverne, in deren Gewahrsam er seine Freunde zurückgelassen hatte.

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Er schritt mit neuer Lebendigkeit durch die Tür, die hinter ihm augenblicklich verschwand. Der Kapitän saß noch am selben Tisch wie zuvor. Nur sah er ganz grau aus und auch älter, so schien es dem Rotfuchs. Vor ihm standen viele Speisen, die mal herrlich gewesen waren, doch nun allmählich verdarben, schrumpften und mit vielfarbigem Schimmel überzogen waren. Na’Uta hielt noch lust- und kraftlos einen Löffel in der Hand und schaute mit leeren Blick durch die dunkle Brille auf den Tisch, ohne etwas zu sehen. Bello ließ die Flügel und das Köpfen hängen, als hätte man ihm die Luft herausgelassen. Eine dicke Staubschicht verkrustete seine glänzende Oberfläche zu trister Mattigkeit. Er klingelte nicht, schnatterte nicht und bewegte sich nicht und machte auch nicht den Anschein, als könnte er es. Der edle Papagei, mechanisches Wunderwerk voller Magie, war nur noch ein nutzloses kleines Spielzeug, leblos und von niemandem geschätzt. Es war, als säße er nur zufällig neben dem Teller des Seemanns, scheinbar von einem Kind treulos vergessen. Sirálos stupste ihn zärtlich mit dem Finger an, aber außer das er etwas Staub vom Metall fegte, zeigte die Berührung keine Wirkung. Der Kapitän sah immer noch dröge in den Berg verfaulender Speisen hinein und nun merkte der Rotfuchs, dass auch Na’Uta verstaubt aussah. Sein Mantel hätte sich längst ausgebürstet gehört und in der Pfeife lag kalte Asche.

Sirálos wusste nicht, was er tun sollte. Seine Freude zerrieselte ihm zwischen den Fingern und landete irgendwo unter ihm auf dem dreckigen Boden der Kneipe. Er verzog den Mund zu einem trotzigen Schmollen trat ganz dicht neben den Kapitän und blies ihm die dicke Staubsschicht von der Knollnase. Keine Reaktion! Dann zog er ihn an den Ohren, kitzelte den Seemann mit dem eigenen Bart in der Nase und fingerte zuletzt auf seiner Stirn herum, doch alles blieb unbemerkt. Der Rotfuchs ließ sich mutlos auf der Tischkante nieder und störte damit die Blickrichtung des Kapitäns. Er musste an die Freude denken, an die Leichtigkeit, die er empfunden hatte, als er eben in die Schenke getreten war, froh seine Freunde wiederzusehen und er tat einen letzten Versuch. Er schnipste mit den Fingern, direkt vor Na’Utas Augen. Es tat ein kleines Klock! und goldenes Licht flammte sternenklar an seinen Fingern auf, durchhellte den ganzen Raum und sang ein vielstimmiges Lied des Glücks, bis es sich ebenso geschwind, wie es hervorgebrochen war, wieder in seine Finger verflüchtigte. - 37 -

Sirálos schaute überrascht auf seine Fingerbeeren ... und Na’Uta war erwacht.

»Schmetternder Sternenhagel! Was war das denn?« wetterte der Kapitän, der einmal ein Uhrmacher gewesen war. Dann blinzelte er, seine Augen gewannen wieder an Tiefe und ihm wurde gewahr, dass er Nasenspitze an Nasenspitze dem Rotfuchs gegenübersaß. Er fuhr erschrocken zusammen und fiel mit seinem Stuhl hinten über, dabei flog ihm Sirálos gleich hinterher. Am Boden angekommen, fingen beide schallend an zu lachen und konnten sich eine ganze Weile nicht wieder beruhigen, so froh waren sie über den jeweils anderen.

»Nun, wir sollten uns etwas zusammenreißen. Immerhin gilt es eine Mission zu erfüllen!« rief Na’Uta immer noch kichernd und richtete sich auf, wobei er Sirálos kurzerhand auf den Tisch hob. »Wir sind schließlich hier, um dieses Abendrot zu finden, nicht wahr!?« polterte er und rückte seine violette Sonnenbrille zurecht. »Das haben wir schon!« freute sich Sirálos. Es tat gut zu hören, dass der Kapitän wieder Interesse an Ur hatte und dieser seltsame Zauber der Stadt Einfacher-Weg offenbar, wenigstens zeitweilig, von ihm abgefallen war. Daher sollten wir uns eilen diese unsäglichen Mauern zu verlassen, dachte der Rotfuchs. »Tatsächlich?« rief Na’Uta erstaunt. Begeistert verlangte er es zu sehen. Doch Sirálos vertröstete ihn. »Später! An Bord. Wir sollten so schnell wie möglich Segel setzten und ... du musst dich auch um Bello kümmern, etwas stimmt mit ihm nicht«, meinte er mit leiser Furcht in der Stimme. Der Seemann strich sich den Staub aus dem roten Bart und grabschte nach seinem Metallvogel. »Mmmh, ungewöhnlich. Er hätte viel länger laufen müssen. Ich habe ihn doch gerade erst, kurz bevor wir von Bord gegangen sind, neu aufgezogen.« Mit diesen Worten kramte er in seiner Innentasche nach einem winzigen Uhrenschlüssel aus angelaufenem Messing, der zwischen seinen Pranken fast verschwand. Er schob ein kleines Plättchen auf dem Rücken von Bello zur Seite und steckte den Schlüssel hinein. Nachdem er beherzt einige kräftige Drehungen vollzogen hatte, schüttelte sich der Papagei klingelnd den Staub von den Metallfedern und gackerte seinen Satz zuende, der offenbar durch den eigenen Stillstand unterbrochen worden war.

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»... und ich sage dir, wir sollten dem Jungen helfen, du fetter Vielfrass! Immerhin sind wir... O!« er sah sich aufgebracht um und starrte dann den breit grinsenden Rotfuchs an. »Du bist zurück! Das wurde aber auch Zeit!« und mit einem »Juch-hej!«, flog er an Sirálos’ Brust. »Sirálos war weg?« kratzte sich Na’Uta verwundert am Kopf. »Ja, natürlich! Davon redete ich doch die ganze Zeit! Wundert mich aber nicht, dass du dich nicht erinnern kannst. Ein ganzes Jahr lang hast du schließlich nichts getan, als auf deinen breiten Hintern zu sitzen, zu schlafen und alles zu essen, was dir serviert wurde, bis für dich alles begonnen hat gleich fade zu schmecken!« schimpfte der Papagei abermals moralisierend und ungehalten auf seinen Erbauer ein. »Ein Jahr? Ich war über ein Jahr weg?« staunte der Rotfuchs. »Dann sollten wir erst recht keine Zeit verliefen wieder an Bord der Tränenbarke zu gehen. Diese Stadt ist mir immer weniger geheuer. Sie ist ein Trugbild, ein Gauklerspiel, voller Schatten. Wir sollten uns sputen.« Gesagt getan. Die drei rannten so schnell ihre Beine sie tragen konnten zum Hafen hinunter. Der Kapitän hatte soviel gegessen, dass er meinte schwer zu sein, wie ein Gebirge und die ungewohnte Bewegung trieb ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn. Völlig außer Atem erreichte Na’Uta den Hafen als Letzter.

Als er, Sirálos und der neu aufgezogene Bello nun nach über einem Jahr an Bord der Tränenbarke zurückkehrten, stellten sie mehrere Dinge erstaunt fest: Das Schiff sah heruntergekommen und sehr viel älter aus, die Tropfen waren zum Teil etwas aus der Form geraten und vom Dreck der darin schwimmenden Fische grün angelaufen. Die Planken gaben hier und da bedrohlich nach, wenn man über sie schritt und das Segeltuch aus feinem Morgenreif machte eher einen müden Eindruck. Insgesamt wirkte das Schiff dennoch einigermaßen seetauglich, was hieß, dass noch Zeit auf Mementos Uhr war. Und tatsächlich! Als sie nachsahen, stellten die Freunde fest, dass die Uhr lediglich eine Dreiviertelstunde weiter gesprungen war, was zwar verwunderlich, aber immerhin erfreulich war. Eilig stachen sie in See und fuhren durch das große Tor hinaus in die Sternenwelt. Die dritte Sonderbarkeit enthüllte sich unseren Freunden erst, als sie die Stadt schon viele Himmelsmeilen, mit Kurs auf Ur, hinter sich gelassen und begonnen hatten das unordentliche Schiff aufzuräumen. Unter einem Haufen Lumpen und diesen sehr - 39 -

ähnlich, saß ein altes Weib, in der Farbe von flüsternder Schlacke. Sie hatte das Gesicht einer Nebelkrähe und nannte sich selbst die Mulmenelse. Sie war an sich kein blinder Passagier, sondern hatte in dem vergangenem Jahr die Tränenbarke als ihr neues Heim bezogen und äußerte nun Besitzansprüche. Da das Schiff aber nur durch die Willenskraft von Na’Uta und Sirálos gelenkt werden konnte, musste sich die Mulmenelse kleinbeigebend eingestehen, dass sie wohl nur über Bord gehen oder mitreisen konnte und entschied sich daher für letzteres. Dafür weigerte sie sich jedoch sich in irgendeiner Form auf dem Boot nützlich zu machen. Stattdessen bezog sie nun, da Na’Uta sie aus seiner Kajüte verbannt hatte, unter Deck das Beiboot und schlief, mit vom Ticken der großen Uhr durchwachter Träume, im Nebel des kleinen Gefährtes. Sie passte sich diesem so hervorragend an, dass sie darin förmlich unsichtbar wurde.

Nachdem die ersten Tage verstrichen waren und auch fast alle Schäden am Schiff behoben schienen, gönnte sich die Mannschaft eine erschöpfte Ruhepause und Sirálos befand keinen Augenblick als geeigneter, um seinen Freunden das kraftspendende Abendlicht zu präsentieren. Er lief in seine Kammer, schnappte sich die Tasche, rannte zurück in den Gemeinschaftraum und zog strahlend die Karaffe hervor und der Schreck fuhr ihm weißglühend durch die Knochen. Sie war leer!

Der Kapitän sparte nicht mit Flüchen und Beschimpfungen. Schnell hatte er sich einen Sündenbock ausgedacht und zerrte die Nebelkrähe aus ihrem Versteck hervor. »Die Alte hat es ganz sicher! Hat’s verschüttet oder getrunken oder sonst eine üble Hexerei damit getrieben! Vielleicht können wir den alten Lumpen auswringen und das austropfende Abendrot auffangen, was meint ihr?« wütete er und hielt die zeternde und kreischende Mulmenelse an ihrem grauen Schopf gepackt. Sirálos war das Herz so schwer, dass es ihm alle körperliche Anstrengung kostete, die er noch aufbringen konnte, den Kapitän zu beruhigen. »Ich glaube nicht, dass sie es hat. Sie sähe anders aus, wenn dem so wäre, denke ich.« Er seufzte schwer. »Das Licht wird noch in den leuchtenden Hallen von Einfacher-Weg sein. Offenbar war alles umsonst, es gab wohl keine Möglichkeit etwas aus dem Labyrinth mitzunehmen.« »Du hast die Tasche mitgenommen«, erwiderte Bello betrübt. Der Rotfuchs wusste darauf keine Antwort.

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»Und was nun?« maulte der Kapitän und hielt die Lumpenfrau immer noch in die Höhe. »Was ihr braucht, ist ein Alchemist!« krächzte sie. »Was meinst du?« fragte Sirálos mit schnell aufflackernder Hoffnung in den großen Augen. »Gilt es etwas Mystisches herzustellen, einen besonderen Glanz, dann musst du nach Splendor Solis reisen, der Insel der Alchemisten. Sie verstehen sich darauf Licht zu kochen und Strahlen zu weben, Glanz zu gießen und Leuchten abzufüllen. Das weiß doch nun wirklich jeder! Sie haben immerhin die Stadt Einfacher-Weg errichtet«, raunte sie im Schatten ihrer eigenen Worte. Na’Uta ließ sie fallen. »Und wie kommen wir dort hin, Weib?« donnerte er. »Das weiß ich nicht. Ihre Insel bewegt sich unentwegt durch das Weltall. Es heißt, sie liegt in einem anderen Universum, welches durch das unsrige schwimmt und es zugleich in Gang hält. Ich schätze, ihr werdet es suchen müssen ... oder finden«, fügte sie an, nicht weniger unheimlich als zuvor, in kehligem Flüsterton an. »Das ist doch nicht möglich! Wie sollen wir das schaffen?« jammerte Na’Uta immer noch zornig. »Mit Glück«, antwortete Sirálos und als die anderen ihn groß ansahen, sagte er: »Wir werden Glück haben, denn wir können hoffen. Wir waren dem Licht einmal schon so nah, dass wir es in den Händen hielten, beim nächsten Mal, werden wir es auch mitnehmen können!« sagte er entschieden. Überzeugt ging er die Stiege nach oben und ließ seine Freunde zurück, mit dem Geschenk der Zuversicht.

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13 Splendor Solis – Die Insel der Alchemisten

Es rumste und ruckte und mit einem Stoß kam die Tränenbarke, erstmals nach mehr als einem Monat, zum Stehen. Sie bewegte sich keinen Millimeter mehr voran, so sehr Kapitän Na’Uta es auch versuchte. Die vierköpfige Mannschaft schaute sich verdutzt an und rannte nun zu der Reling, um herauszufinden, was ihre Fahrt gestoppt hatte. Es war schnell klar. »Eine Sandbank!« schepperte Bello. »Wohl eher ein ... ein Sandkasten«, meinte Sirálos und er hatte völlig recht. Glitzernder Sternenstaub hatte sich in einem großen Becken mit hölzerner Umrandung gesammelt und die Tränenbarke war darauf aufgelaufen und hatte sich verfangen. »Wie konnte dieser olle Kapitän das übersehen?« geiferte die Mulmenelse. Verlegen strich sich Na’Uta über den roten Bart und kratzte sich mit seiner Pfeife an der Schläfe. »Ich war wohl etwas abgelenkt. Die Weihnachtsbaumkugeln, die in diesen Gefilden, groß wie Planeten von den Sternen herabhängen, glänzten so schön und weckten alte Erinnerungen an Plätzchenduft und Lebkuchen«, murmelte er träumerisch. »Nun, dann müssen wir eben jetzt dafür sorgen, dass wir hier wieder raus kommen, es hilft ja nichts«, warf der Rotfuchs versöhnlich ein. »Kann es sein, dass wir uns eben wieder bewegt haben? Ganz langsam. Mir schien es so...«, schnatterte Bello mit metallischem Klingeln, ganz als wäre auch er ein Weihnachtsglöckchen, auf der Schulter des Seemanns. Alle lauschten mit den Augen in die Welt und ja, der Papagei hatte recht. Sie fuhren ganz sanft, als schwebten sie in der Luft, wie Fetzen aus Rauch. »Es ist eigenartig«, flüsterte Sirálos, der scharf in das All hinausgespäht hatte, »mir scheint, dass sich nicht unser Schiff weiterbewegt hat, sondern nur die Welt außen herum. Ganz so, als ziehe jemand das All an uns vorbei, ganz langsam natürlich.«

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Erschrocken beobachteten die anderen, wie der Rotfuchs in den Sternenstaub hinuntersprang und zu buddeln anfing. Nach einer Weile des Wühlens, stieß er auf den Boden des Sandkastens. Er war warm und fleischig, mitternachtsblau und in einigen Hautfalten waren feine Härchen, die wie Federn in der Luft hin und her wippten. »Dieser Sandkasten ist auf einem Tier!« rief er seinen Freunden zu, die ihm immer noch staunend vom Schiff aus bei seinem Treiben beobachteten. »Ein sehr großes, wie mir scheint« knarrte die alte Nebelkrähe und raschelte dabei mit ihrem Lumpengewand. »Ich wüsste gern, was es ist und ob es mit uns reden kann. Vielleicht kann es uns Auskunft geben.« wandte sich Sirálos seinen Freunden zu und sprang und kletterte behände die Regentropfen der Außenwand nach oben und wieder an Bord. »Lasst uns das Beiboot nehmen und weiter hinaus rudern. Dann können wir es besser sehen. Die Tränenbarke steckt doch ohnehin fest«, schlug er vor. »Was ist das?« warf der Papagei ein, »Ooooh! Neeiiin!!!« schrie Bello auf und nicht ohne Grund. Ein gigantischer Rüssel hob sich von der Dunkelheit ab und griff nach dem Schiff. Die Tränenbarke wurde gepackt und viele, viele hundert Meter nach vorne gehoben. Nun konnten die Passagiere sehen, was dies für ein Tier war. Ein Rüsselwal. Ein sehr seltener und riesiger Fisch, dessen Schnauze einen langen Rüssel hatte, fast so lang, wie der Fisch selbst war. Seine Haut war mitternachtsblau mit blinkenden Schuppen und den ganz, ganz feinen Härchen übersäht, die Sirálos beim graben im Sand gesehen hatte. Die Augen des Wals sahen verschlafen sanft, mit Diamanten in den Pupillen und schweren Lidern, die Tränenbarke an. Fast neugierig beäugte der Gigant das kleine Schiffchen in seinem Rüssel. Dann ließ er es los und griff in den schwarzen Stoff des Weltalls und zog ein wenig daran und wieder schien es der Crew der Tränenbarke, als führe sie, stattdessen aber war es das Universum, welches langsam einen kleinen Schritt an ihnen vorbei machte, herangezogen vom großen Wal. Sirálos fasste sich ein Herz. »Wal! Kannst du mich hören?« brüllte er mit ganzer Kraft. Der Fisch zwinkerte leicht und ein Glänzen in seinem Auge, vor dem die Tränenbarke nun schwebte, verriet Sirálos, dass er verstanden hatte. »Wir suchen das Abendlicht von Ur und müssen daher zur Insel der Alchemisten«, schmetterte der Rotfuchs von Neuem, »Kennst du den Weg?«

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Wieder bejahte der Rüsselwal mit seinen Augen. Und zum blanken Entsetzen all unserer Freunde, öffnete er sein Maul und verschluckte die Tränenbarke und ein halbes Duzend schwirrender Kometen mit einem einzigen flinken Happen.

Sirálos umfing Dunkelheit. Er hörte seine Freunde neben sich schwer atmen und spürte ihre Angst auch in seinen Gliedern. Er tastete sich vor zum Buck der Tränenbarke und sah, wie ganz langsam ein Licht am Horizont sichtbar wurde. Es wurde heller und heller und nach und nach flammten Sterne auf und Planeten und Wälder aus Nebel und Gebirge aus schillerndem Weltenstaub. Immer farbenprächtiger wurde die Dunkelheit um sie und immer neues, noch schöneres Licht durchflutete diese erhabene Welt. Ein anderes, frisches, junges Universum tat sich vor den Freunden auf und hieß die Tränenbarke in sich Willkommen, wie ein kühler Morgen die ersten Strahlen der Sonne. Jedes Flämmchen und jeder Funken hatte seine eigene Stimme und sang eine Melodie, die zusammen mit den anderen einen überirdischen Chor bildete, der diesen Kosmos zusammenhielt. Das Wundersame daran war, dass Sirálos dennoch den Eindruck hatte, es sei ganz ruhig in dieser Sphäre. Nur war die Stille nicht von der bedrückenden Stimmung durchwebt, wie es in seinen heimatlichen Himmeln der Fall gewesen war. Sanft glitt das Schiff durch die glimmende See und wann immer ein Leuchten im Weg war, so musste nicht das Boot weichen, sondern das Licht hüpfte vergnügt zur Seite. So bildete sich schon bald eine Allee aus funkelnden Leitsternen, welche die Tränenbarke auf einen Pfad führten, unentwegt in Richtung der schönsten Ansammlung an farbigen Lichternebel, hinter jenem oder in demselben der Rotfuchs die Insel der Alchemisten vermutete. Je länger das Schiff durch die funkelnden Lichter fuhr, desto stärker fing es aus eigener Kraft an zu leuchten, wenn auch klarer und kälter, als alle anderen Flammen in dieser Welt. Sirálos konnte seine Mutter in dem kristallklaren Leuchten ein Wiegenlied für ihn singen hören und jeder Tropfen spiegelte ihr schönes Gesicht. Dann tauchte ihr Gefährt in den warmen Dampf, in die glitzernden Nebel ein. Sie bildeten ein Gewölbe und hohe Säulen, die in die höheren Firmamente ragten, größer als die mächtigsten Gebäude, die du aus unserer Welt kennst. In ihrem Rund befand sich Splendor Solis, die Insel der Alchemisten.

Eigentlich war es gar keine Insel, vielmehr eine wilde Ansammlung an Plattformen und Terrassen, die lediglich durch Brücken, Stege und Treppen verbunden waren. Ein wirres - 44 -

Geäst ohne System oder Ordnung. Auf jeden der Balkone stand allerhand Gerümpel herum. Wissenschaftliche Instrumentarien, deren Bedeutung Sirálos nicht zu entschlüsseln vermochte; Schriftrollen und Gerätschaften mit Glasscheiben darin, Blasebälge zum erhitzen des Feuers, Fläschchen, Glaskolben und Reagenzröhrchen, Pulver in allen Farben und Gefäße mit sonderbaren Inhalten. In diesen brodelnden Werkstätten arbeiteten Hunderte alte Männer in langen weißen Roben und mit fast ebenso langen weißen Bärten. Sie sahen alle völlig gleich aus, selbst ihre Gesichter, Gangarten und Handhabungen waren absolut identisch, als seien sie alle eine Person, die myriadenfach gespiegelt worden war. Einziges Unterscheidungsmoment waren ihre Hüte. Jeder trug einen, aber sie waren alle unterschiedlich in Form, Größe und Farbe. Manche waren Würfel mit seltsamen Zeichen darauf, es gab Pyramiden, die auf der Spitze standen und deren Seiten je eine andere Farbe hatten; jemand trug einen Ball, der sich aufblies und die Luft wieder ausweichen lies, um sich dann beim nächsten Schritt wieder aufzublasen und Sirálos entdeckte sogar einen, dessen Kopfbedeckung wie ein spitzer Zauberhut aussah, allerdings so groß war, dass die Krempe auf Brusthöhe hing und der alte Alchemist blind durch die Gegend stolperte und nur seine Unterarme bewegen konnte.

Einer der alten Männer, mit einem Hut, der sich wie ein Korkenzieher hoch in die Lüfte wand, kam auf die Tränenbarke zugeeilt und warf dem Kapitän ein silbernes Tau zu. Na’Uta fing es geschickt auf und band es am Schiff fest. Der Alchemist befestigte es seinerseits an einer winzigen Phiole in der eine grausige Schwärze schwamm, die einem, wie ein Loch in der Brust erschien, sofern man in sie hineinstarrte. »Das ist Melancholie«, erklärte der Alte, nachdem die vier Passagiere über das Seil heruntergeklettert waren und nun neben ihm auf dem Plateau standen. »Nichts wiegt so schwer wie sie, nichts ist besser um ein großes Schiff vorm wegtreiben zu bewahren, denn sie selbst ist völlig antriebslos.« Mit diesen Worten setzte er die Phiole auf den Boden ab und begrüßte mit einem Handschütteln alle vier Freunde. Erst jetzt fiel Sirálos auf, wie hochgewachsen die Alchemisten waren. Na’Uta war der größte Mensch, den Sirálos kannte und der alte Mann überragte ihn weit, auch wenn er natürlich nicht so gewaltig war, wie der Vater des Rotfuchs. »Wir haben euch erwartet«, begann der Alchemist, noch bevor einer der Freunde etwas sagen konnte, »Es ist keine Kleinigkeit, die ihr verlangt und ich weiß nicht, ob wir es euch mischen können. Wir –«, er tat eine ausladende Geste, » – sind die Selben. - 45 -

Unsere Gleichheit erlaubt es uns aus wenigen Stoffen die größten und vielfältigsten Unterschiede zu erschaffen. Aber ihr sucht etwas Spezielles! Daher führe ich euch zu dem Anderen. Er ist der älteste unter den Alchemisten und Herr der unstofflichen Dinge, über die wir keine Macht haben. Seine Kräfte sind die unirdischen, unsere die irdischen. Folgt mir und ich führe euch zu ihm. Doch schweigen müsst ihr auf dem Weg! Jeder Laut und jedes gesprochene Wort, ein jeder Gedanke sogar, vermag Einfluss auf unser Brauen zu nehmen und das Ergebnis zu verändern. Denkt nicht! Redet nicht! Lauft leise und immer in gleichbleibender Geschwindigkeit, in der Gangart, die euer eigen ist. Kommt!« und er wandte sich um und ging voran. Die Freunde tauschten ehrfürchtige, erstaunte Blicke, taten aber wie ihnen geheißen und folgten dem Chemiker, der wohl auch ein Zauberer war.

Sie liefen, jeder in seinem eigenen Takt und Rhythmus, jeder in seiner ureigensten Geschwindigkeit und Gehweise, über etliche Brücken, Stege, Treppen und Ebenen. Vieles galt es rechts und links zu entdecken. Bisweilen sahen die Plattformen aus, wie die Rumpelkammer in Gottes Werkstatt. Am Fließband, als seien sie in einer Art Fabrik, setzten die Alchemisten Tiere aus selbstgefertigten Körperteilen zusammen. Sirálos sah beim Gehen fünf Meister dabei zu, wie sie ein Renozeros zusammenfügten und mit Leben beträufelten. Dann wurden die Tiere in Bereiche des Weltalls geführt, die der Rotfuchs nicht erspähen konnte. Die Alchemisten stellten auch anderes her. Anderorts sah er, wie Grinsen gefertigt wurde und lief an den Ausführungen ›affektiert‹, ›scheinheilig‹ und ›leutselig‹ vorbei, welche die Hersteller aufsetzten, um sie zu erproben. Staunend, folgte er der wippenden Korkenzieherkopfbedeckung vor ihm, immer bemüht seinen Gedanken Schweigen zu lehren. Sie kamen an Brunnen vorbei, deren Fontänen Blei ausspuckten, welches sich jedoch noch während des Herablaufens in flüssiges Gold verwandelte. Sirálos sah Türme aus Regalbrettern, die über und über vollgestellt mit kleinen Fläschchen waren, alle feinsäuberlich etikettiert und beschriftet. So mancher Stoff in ihnen bewegte sich, als sei es etwas Lebendiges. Auf einer der Terrassen war ein Garten angelegt, mit prächtigen Pflanzen, wie sie keiner der Freunde je gesehen hatte. In ihm stand ein Engel mit zwei Köpfen. Einer seiner Flügel war rot, der andere weiß. Er bewegte sich nicht, starr hielt er in der linken Hand ein Ei, in der rechten einen Spiegel in die Höhe. In dem Gärtchen stand auch ein Baum, der eine goldene Krone um den Stamm geschmiedet - 46 -

hatte. Zwei der Selben, der eine trug einen Turban, der andere einen selbstleuchtenden Zylinder mit Troddeln dran, was ihn verdächtig wie eine Stehlampe aussehen ließ, pflückten von dem Baum blattlose Ästchen, obwohl die Krone voll und buschig war. Indes passierten sie ein hohes Portal und Bello stupste Sirálos an und zeigte auf drei große Flakons, die auf diesem Plateau, von Säulen umsäumt, standen. Im ersten stritten sich drei Adler, ein roter, ein weißer und ein schwarzer. Unter dem Gefäß brannte ein leuchtendes Feuer, welches keine Wärme ausstrahlte. In dem seltsamen Glas spiegelte sich eine Krönungszeremonie, die nirgendwo stattfand. Der zweite Flakon war aus schwarzem Material und doch konnte der Rotfuchs einen weißen Schwan darin sehen, der drei Köpfe hatte. Jeder der Köpfe trug eine herrliche Krone. Die Federn des Vogels waren aus weißem Feuer, die sich leicht im Wind bewegten. In den blank polierten Kronen konnte man das Geschehen einer gewaltigen ritterlichen Schlacht verfolgen, die nirgendwo stattfand. In dem dritten und auf dieser Ebene letzten Kolben, fanden die staunenden Besucher ein zotteliges Ungetüm. Ein Drache mit grünem Fell, viel zu kleinen Fledermausflügeln, die ihn vermutlich nicht zu tragen vermochten und drei langen Hälsen. Erneut war je ein Kopf rot, weiß und schwarz und sie hatten das Aussehen von Hunden. Einer sah schläfrig zu den Fremdlingen hinunter, einer wütend und der dritte lächelte selig in eine andere Richtung. Sein Glas war am klarsten, kein Feuer brannte darunter und es spiegelte sich nichts. Aber ein Gespann mit vier winzigen Pferden schwebte um den Korken herum. In der Kutsche saß ein leuchtend warmer Stern. Sie passierten ein letztes Tor. Ihnen begegnete ein weiterer Selber, sein Hut war eine komplizierte geometrische Form, die der Rotfuchs nicht verstand. Der Alchemist stand auf einem Mond und streute Asche auf die Strahlen einer Sonne, sodass sie ganz schwarz wurde. Als die Sonne völlig dunkel war, wurde es sehr warm um die Gefährten und ein Vorhang teilte sich zwischen den dunklen Strahlen. Dahinter war der Andere. Gemeinsam betraten die Reisenden den Raum.

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14 Im Spiegel

Bello befand sich in einem Raum der ewig laufenden Dinge, die am Ende ihrer Reise ein Echtes waren. Die Mulmenelse hatte ihre eigene Prüfung, die ihr innere Schönheit und Jugend versprach, welche durch Freundschaft ins Außen zu treten verstand. Kapitän Na’Uta, der als Uhrmacher im Kabäuschen und als Seemann in den Himmelsmeeren zuhause war, gelangte in den Wald des Mittelwegs, in welchem er selbst groß und prächtig als grüner Baum stand und die Zeitlosigkeit und Sesshaftigkeit kennen lernte. Und Sirálos? Sirálos war wieder ohne seine Freunde in einen Raum getreten, der eng und rund und voller Spiegel war, so voller Spiegelglas, dass es geschickter ist zu sagen: das Zimmer war ein Spiegel. Vor ihm, auf einem ebenfalls spiegelnden Kissen saß ein kleiner Junge, genauso groß wie er selbst. Er trug blaue Kleidung, die in ihrer Beschaffenheit der seinen völlig glich und hatte weinrote Augen und goldene Sommersprossen in selber Anzahl und Form, wie die von Sirálos. Sein Haar war gleich lang gewachsen und zu einem Zöpfchen im Nacken gebunden, wie das des Rotfuchs und wie das seine, stoben sie an den Seiten wild auseinander. Es schimmerte perlmuttfarben im überirdischen Licht des kleinen Kabinetts. »Du bist der Andere?« verlangte es den Rotfuchs zu wissen. »Der bin ich«, antwortete der andere Junge. »Ich dachte du seiest der älteste unter den Alchemisten«, erwiderte Sirálos. »Der bin ich«, wiederholte der Andere. »Du siehst kaum älter aus, als ich selbst«, hakte Sirálos weiter nach. »So wie du älter wirst, werde ich jünger. Ich werde geboren, wenn du stirbst und ich starb, als du geboren wurdest«, antwortete dieser. »Das kann nicht sein!« rief der Rotfuchs. »Du müsstest dann jetzt ein alter Mann sein, der kaum mehr als zwei Jahre vor seinem Tod steht und wenn ich so alt wäre, wie du dich jetzt zeigen müsstest, erst dann könntest du das Aussehen von mir haben, wie ich jetzt bin. Wie soll das also alles zusammenpassen?«

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»Der Spiegel verdreht viele Dinge. Manchmal vermag ein Greis auszusehen, wie ein kleiner Junge, wenn die Freude durch seine schlaffe Haut hindurchleuchtet. Frage nicht nach den Eigenschaften des Anderen, du wirst sie im Alter verstanden haben. Deine Mission jetzt, ist noch eine andere.« antwortete der erste Alchemist. »Ja!« sagte Sirálos bestimmt. »Ich bin auf der Suche nach dem Abendlicht von Ur, um die Mutter zu schmelzen und den Vater zu erwecken und die Ur’ianer wieder weich und zart werden zu lassen.« »Auf dir lastet die gesamte Hoffnung einer ganzen Welt, die frei sein möchte, die frei lieben möchte und für dich da sein möchte. Wahrlich, eine schwere Bürde! Aber, dass du dich selbst dazu erwählt hast, dich dazu berufen fühltest, diese Welt zu retten, zeigt mehr als deutlich, dass du auch das Potential in dir trägst als Sieger aus dieser Geschichte hervorzugehen, als Held! Alles was du tun musst, ist vertrauen. Dies ist der einfachste Weg und zugleich auch die schwierigste Aufgabe auf deiner Reise. Doch du besitzt die Fähigkeit dies zu bewältigen, spüre sie in dir, glaube an dich und du wirst an das Ziel deiner Suche gelangen. Hoffe darauf! Vertraue darauf!« der Andere hatte mit erhabenen Kühle von bedächtigem Feuer gesprochen. »Doch sage mir, hast du das Licht nicht in der strahlenden Stadt Einfacher-Weg gefunden?« verlangte er dann zu wissen. Sirálos wusste nicht warum, aber er wurde etwas verlegen. »Das stimmt«, gab er zu, »ich trug es bereits in Händen und glaubte es gefunden zu haben.« »Was ist passiert?« erfragte der Andere ruhig. »Es ist verschwunden! Warum weiß ich nicht«, bekannte der Rotfuchs. »Sind es Freunde, die mit dir reisen?« fragte nun der rotäugige Junge. »Mir sind es welche«, antwortete Sirálos ohne zu zögern. »Und sind diese Freunde aus Ur?« forschte der Goldsprossige weiter. »Zwei von ihnen sind es!« gab der Rotfuchs forsch zurück. »Dann ist die Lösung des Rätsels nicht schwer. Sie sind ein Teil von dir, daher war es dir nicht möglich das Abendrot aus den leuchtenden Hallen der Wünsche zu bergen. Dir selbst, Sirálos, wäre es kein Problem gewesen den einfachen Weg zu gehen und das Licht zu finden, da du selbst jetzt noch Licht im Herzen trägst und Liebe für dein Land. Ein Land, welches dich nur enttäuschte und das du kaum kanntest. Aber du hoffst und vertraust. Wie ich dir sagte, ist dies das Wichtigste auf deiner Suche«, führte der Andere aus. »Deine Begleiter jedoch müssen den schwierigen Weg gehen, dessen - 49 -

längere Reise nötig ist, um erst wieder Liebe und Heimatsehnsucht in ihren Herzen zu entfachen. Dieses Turmzimmer trägt den Namen Der-Weg-ist-das-Ziel, jetzt weißt du warum. Du betrachtest deine Freunde als dir zugehörig, du trennst sie nicht von dir und deinen Wünschen und es liegt Größe und Güte darin. Es sind deine Freunde, die nun die Länge eurer Reise und auch ihr Ende bestimmen. Noch immer bist du der einzige, der das Licht zu finden vermag, aber deine Freunde werden zur Entscheidung beitragen, wann du das Abendlicht in die Heimat zurücktragen kannst. Sie sind nötig, um die Reise zu einem geglückten Ausgang zu führen.« Der Rotfuchs hatte dem Anderen aufmerksam zugehört, doch war ihm das Herz so schwer geworden, dass er nicht wusste, ob er alles verstanden hatte. Eines jedoch stand ihm ganz klar vor Augen: Auch hier würde man ihm das Abendlicht nicht geben können. »Das heißt aber auch, dass du mir das Abendrot nicht geben kannst, oder? Du weißt also nicht, wie man es herstellen kann?« fragte er zaghaft den Jungen mit dem Perlmutthaar. »Es wusste mal einer! Auf der Insel lebte einmal ein großer Wissender, doch teilte er seine Kenntnisse nicht gerne. Und wenn man nicht gerne gibt, zahlt man am Ende stets dafür. In seinem Fall dergestalt, dass er sich für immer bangen sollte, jemand könnte ihm etwas wegnehmen. Der Wissende litt so unter seinem Verfolgungswahn, dass er sich in einem Raum gänzlich aus Spiegelglas einschloss, damit er auch ja jede Bewegung hinter sich und um ihn her wahrnehmen konnte. Letztlich erschreckte er sich so häufig vor seinen eigenen, tausenderlei gespiegelten Zuckungen, dass er von ständigen Krämpfen heimgesucht wurde, bis er bald einen gnädigen Tod fand, der ihn mit hinüber in die andere Welt nahm, wo der Schrecken von ihm abfiel.« erklärte dieser. »Du erzählst mir von deiner Geburt«, verstand Sirálos. »Ja. Das Abendlicht besteht zu gleichen Anteilen aus dem Irdischen und dem Unirdischen. Nur wenn die Selben mit mir, dem Anderen, zusammenarbeiten, können wir das Licht erschaffen, welches du suchst. Doch ist dies nicht zu meistern, denn die Selben begegnen den Anderen nie. Keiner von uns kann des anderen Welt betreten oder Dinge von der einen, in die nächste tragen. Es ist keine Mischung der Stoffe möglich.« berichtete der greise Junge. »Aber ich bin hier. Ich kann die Schwelle übertreten!« warf der Rotfuchs ein. »Weil du ein Ganzer bist. Als Mensch trägst du das Irdische und das Überirdische in dir. Ich weiß, wie dein Vorschlag lautet, aber es bleibt unmöglich. Ohne - 50 -

ein, speziell für meinen Reinstoff geschaffenes irdisches Gefäß, kannst auch du es nicht über die Schwelle tragen. Jedoch vermögen die Alchemisten es nicht, dies Behältnis zu erschaffen, da sie nicht wissen, für welchen Stoff sie es machen sollen und würde das Gefäß ohne den Reinstoff als Inhalt diesen Raum erreichen, würde es zerfallen, wie mein reines Licht außerhalb dieser Wände. Es bleibt einerlei. Was einmal geschaffen wurde, kann nicht auf selbe Weise noch einmal erschaffen werden. * Du musst einen anderen Weg finden und habe keinen Kummer, du begehst in schon längst.« versicherte der Andere. Sirálos wollte noch etwas fragen, doch der junge Greis schüttelte sein schimmerndes Haupt und gebot ihm zu schweigen. Im allernächsten Moment stand der Rotfuchs neben seinen Freunden auf der Tränenbarke, die schnell durch die Himmel pflügte, die Insel Splendor Solis schon weit hinter sich. Wie schon einmal, saßen alle bei Tisch zusammen. Doch sie schauten sich nur groß an. Niemand vermochte dem Gegenüber von seinen persönlichen Abenteuern zu erzählen. So genossen sie schweigend ihr wohliges Miteinander. Selbst die Nebelkrähe saß bei ihnen und zu Sirálos’ Freude, fühlte er eine freundschaftliche Wärme von ihr ausgehen, die auch den Kapitän mit einschloss. Als sich schließlich alle zur Ruhe legten, während ihr Schiff immer weiter in das unbekannte Universum fuhr, fern von der Heimat, selbst fern von dem eigenen Weltenall, träumte der Rotfuchs von Vater und Mutter, von einer Uhr, die im Bauch eines Schiffes voranschritt und von einem Klumpen Lehm, der ihn verwirrte, da er aussah wie ein kleines Mädchen mit Flügeln.

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Anmerkung des Autors: Dies ist eine tiefe Wahrheit und in dieser Erzählung nicht zum ersten Mal verankert. Andere Weise in anderen Märchen, sprachen gleiche Sätze. Da es mir hier jüngst begegenete,

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15 Das Kind aus Lehm

Sirálos

wurde von Kälte und blendender Helligkeit geweckt. Schläfrig erhob er sich

von seinem Lager und blickte durch eines der Bullaugen. Die Tränenbarke hatte die seidige Finsternis der Sternenwelt verlassen, ein neues Land betreten und glitt nun sanft über Hügel und Felder, die sich mit dicken, flauschigen Decken aus Schnee zukuschelten. Eine helle Wintersonne stand über den weißen Bergen am Rand der Welt und leuchtete durch silbrig glänzende Luft, die kühl und klar durch die laufenden Nasen unserer Freunde drang, die sich inzwischen alle an Deck eingefunden hatten, um sich besser umsehen zu können. Ihr Schiff rutschte weiter, von den Eisfeldern getragen und erreichte schließlich einen zugefrorenen Fluss. Das glänzende Boot, das noch immer jenes Leuchten ins sich trug, welches sich auf dem Weg nach Splendor Solis eingenistet hatte, passierte eine Enge, umrahmt von hohen Felsen, deren Frost glitzerte, wie herabgefallene Sterne. Am Ende der Schneise konnten sie einen großen, blauen See glasklar und ruhig daliegen sehen, dessen Wasser nur am Ufer gefroren war. Der Rotfuchs wusste nicht genau, woher dies kam, aber er sah einladend aus, dieser See. In ihm stand eine Insel, auf der Kirschbäume blass blühten. Die einzigen Pflanzen, überhaupt das einzige Zeugnis von Lebendigkeit, dessen die Reisenden bisher sichtig geworden waren. Die Mulmenelse, kam aus den Unterkünften herauf, hatte ihre Gewänder eng um sich geschlungen und trug einen Mantel aus Nebel, den sie sich aus einigen Brettern des Beibootes gefertigt hatte. Sie reichte Sirálos und Na’Uta jeweils einen dampfenden Becher Kakao und gönnte sich auch selbst einen. Der Rotfuchs wollte eben den ersten Schluck nehmen, als ihm auffiel, dass sie beobachtet wurden. Sie waren aus dem Engpass noch nicht hinausgefahren und da er den Becher von der Nebelkrähe entgegengenommen hatte, hatte er kurz den Blick von der Kirschbauminsel abgewendet, nur dadurch war es ihm aufgefallen. Die Felswände, die die Tränenbarke umschlossen, hatten Gesichter. Manche hielten die Augen geschlossen oder sahen starr woanders hin, doch einige folgten dem möchte ich besonders eines nennen: C. S. Lewis »Prinz Kaspian von Narnia«, Brendow & Sohn, Moers 2006, Seite 127

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Schiff. Ein Antlitz bewegte etwas in Sirálos. Die Augen dessen waren tiefer, als die der anderen. Es blickte ihm direkt ins Herz. Ein Mädchen war es, so schien es dem Rotfuchs. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, breite Nasenflügel und einen kleinen, entzückenden Mund. Ihre Augen lächelten seltsam, was wohl daran lag, dass sie die Form von auf den Spitzen stehenden Halbmonden hatten. Sirálos lief dem Bildnis hinterher, in dem er zum Heck des Schiffes eilte.

Kurz bevor die Tränenbarke vorbei war, zog das Gesicht im Fels ihre Stirn in entschlossene Falten, es tat ein Getöse, wie wenn Berggestein durch gefrorene Wasseradern auseinander gesprengt wurde und mit einem eleganten Satz landete das Mädchen auf dem Schiff, welches sogleich unter dem neuen Gewicht ächzte. Wie eine Göttin der altvorderen Zeit, stand sie nahe der Reling und blickte auf die Mannschaft hinunter. Sie war noch ein Kind, doch größer als Menschen es waren. Sie überragte Na’Uta um einen halben Kopf. Sie trug keine Kleidung, doch feine Rillen, die ihren Körper in engen Bahnen umdrehten, symbolisierten so etwas wie Leinen, in denen sie gewickelt schien. »Sie ist ein Golem!« flüsterte die Mulmenelse überwältigt hinter Sirálos. Er wandte sich ihr leicht zu, wobei er das Mädchen nicht aus den Augen ließ, so hingerissen war er von ihrem Anblick. »Ein was?« zischte er ebenso leise wie die Krähe es getan hatte. »Sie ist ein künstliches Wesen, ohne sterblichen Vater oder Mutter. Sie wurde aus Lehm geformt. Alles an ihr, vom Gesicht, der Kleidung und den Haaren, bis zu den Zehen und dem Kopfschmuck ist aus Tonerde.« Auch Na’Uta mischte sich jetzt ein: »Ich dachte, es gäbe die Golems gar nicht. Ich hielt das immer für Legenden.« Er war sichtlich beeindruckt, da sein Erstaunen jegliche Brummigkeit einbüßte, die er sonst üblicherweise an den Tag legte. »Das dachte ich auch«, gab die Nebelkrähe zurück. »Aber offenbar, haben wir uns beide geirrt.« Sirálos blickte sie nun doch groß an. Natürlich hatte er nie von diesen Legenden gehört, hierfür war er zu jung. Neugier wallte in ihm auf, wollte er doch erfahren, was diese Märchen über das Mädchen sagten und andererseits, war es ihm völlig gleichgültig, was sie war. Hauptsache sie war hier. »Den alten Erzählungen nach, wird ein Golem von einem Gelehrten oder einem Magier erschaffen, um ihm zu dienen. Mittels eines geheimen, mächtigen Wortes, - 53 -

welches dem Golem auf die Stirn geschrieben wird, schenken die Meister ihnen Leben. Wischen sie dies Wort weg oder verändern sie ihren Sinn, fallen die Figuren wieder in die Totenstarre zurück, die ihrem Element gebührt«, berichtete die Mulmenelse. »Ich sehe kein Wort auf ihrer Stirn und sie sieht nicht aus, als sei sie nur ein Kunstwerk, wenn ihr Bildhauer auch große Fertigkeiten hatte«, gab Sirálos zu bedenken. Er wollte mit dem Mädchen gerne reden, das ihn weiterhin unbeeindruckt betrachtete. Es war nicht zu sagen, ob es sie interessierte was die Menschen um sie herum redeten, es war auch nicht ersichtlich, ob sie ihnen lauschte oder sie vielleicht überhaupt nicht verstand. Der Rotfuchs wollte gerne mit ihr sprechen, von ihr erfahren, was sie war und warum er so heftig auf sie reagierte. Jedoch, als ob der Kapitän ihm seinen Wunsch an der Nasenspitze abgelesen hätte, erzählte nun auch er von den alten Sagen. »Golems sind stumm, kleiner Rotfuchs«, meinte er. »Sie erfüllen schweigend die Aufgaben eines Hausknechts, ohne Herz oder Seele. Alles was sie tun, geschieht unter Zwang und der Furcht, zurück ins Nichts versenkt zu werden.« Sirálos wollte diesen Geschichten nicht glauben. Ihr Meister hatte dem Mädchen eng geflochtene Zöpfe geformt, in denen er goldenen Schmuck und Glasperlen eingewirkt hatte. Sie trug einen breiten Streifen, der wohl Stoff darstellen sollte, auf der Stirn, dieser wand sich nach unten, schmiegte sich um ihren Hals und floss dann übergangslos in das Gewand hinein, welches von ihrer Haut nicht zu unterscheiden war. Feine Ornamente und zierliche Linien, die in den feuchten Ton geritzt worden waren, zeichneten Zierrat und Prunk in das Stirnband. Dünner Golddraht war darin eingelegt und bildete einen glänzenden Ring um den Kopf des monströsen Kindes. Ein aufrechtstehendes Goldplättchen über ihrem Nasenrücken, fing das Licht der Sonne ein. Sie war besonders! Keines der anderen Gesichter war so fein gearbeitet, mit so vielen Details bedacht oder derart ausstaffiert. Etwas in ihr strahlte Wärme aus und der Rotfuchs konnte nicht an ein seelenloses Wesen glauben. Was war mit Bello? War er nicht auch nur ein von Memento geschaffenes Objekt? Und hatte er nicht bereits viele Male Herz bewiesen? Wo sollte der Unterschied sein? Sirálos fühlte sich von den Behauptungen der Legenden persönlich angegriffen, dies war nicht zu übersehen. »Bello, bist du lebendig?« richtete der Rotfuchs das Wort an den Papagei. Na’Uta räusperte sich hörbar. »Selbstverständlich!« klingelte der Metallvogel überrascht. »Bei ihm ist das etwas anderes!« sagte der Kapitän reserviert. - 54 -

»Warum?« fauchte Sirálos. »Er übernahm das Leben eines Kindes, dessen Körper gebrochen war und im Sterben lag. Zauber aus anderen Welten halten ihn an einen stecknadelgroßen Stern gebunden, der in seiner Brust pulsiert. Ich habe ihm nur eine neue Hülle geschaffen, das Leben war schon vorher da. Hier, ist es anders herum und dies ist unmöglich!« wetterte er nun und seine Röte im Gesicht kam nicht vor Zorn oder Kälte, sondern weil er zum ersten Mal ein altes Geheimnis ausgesprochen hatte, ohne es gewollt zu haben. Die Tränenbarke war indes weit auf den See hinausgefahren und hätten die Freunde hingesehen, wären ihnen zwei Dinge aufgefallen: Zum einen die gewaltige Größe des Landes, das sich bis zum Horizont erstreckte, weit über die Grenzen des Sees hinaus. Zum anderen, dass die weiße Berggruppe die den See umlagerte, ein titanengleiches Ungeheuer war, das lieber nicht geweckt werden sollte. Aber sie sahen nicht hin und stritten sich stattdessen weiter.

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16 Terralutum

Na’Uta hackte auf Sirálos herum, dass er träumerisch und naiv war. Allzu leichtfüßig folgte er seinem Herzen und vergesse dabei die Tatsachen! Und: Nein! Sie konnten dieses Monsterkind nicht auch noch mitnehmen, sie hatten ja so schon kaum Proviant für sich selbst, die Alchemisten hatten ihnen nicht eben viel mitgegeben! Ist ihm doch egal, dass Golems nichts aßen! Das Mädchen bleibt nicht hier! Der Rotfuchs giftete hingegen zurück, dass seine Hoffnungen sie erst auf die Reise geführt und ihn, Memento, überhaupt erst aufgeweckt hatten. Zudem verstand er nicht, warum Na’Uta nicht begreifen konnte, was es bedeutete, dass ein Kind aus Lehm und Erde diese Tiefe in den Augen besaß, lächeln und sich bewegen konnte. Es hieß, dass egal was passiert, ob sie nun das Abendlicht je wiederfanden oder nicht, die Menschen von Ur nicht dazu verdammt waren hoffnungslos abzustumpfen. Selbst Steine zeigten ihm, Sirálos, die ganze Palette menschlichen Gefühls und dies reichte dem Rotfuchs als Beweis, dass diese Wärme auch wirklich da war. Natürlich dachte er eigentlich unentwegt an Mutter und Vater, doch dies wollte er dem Kapitän nicht gestehen, solange dieser so aufbrausend war. Sirálos war im Leben noch nie wirklich laut geworden, doch hier, in dieser kalten Gebirgslandschaft mit ihrer traurigen Schönheit, wurde er es und seine Stimme hallte und echote von den schneebedeckten Felsen zurück und verhundertfachte sich in ihnen zu einem lauten Krachen.

Die Mulmenelse in ihrem Nebelmantel tätschelte derweil Bellos Köpfchen und fixierte das Golemmädchen mit ihrem Blick, als wüsste sie noch nicht so recht, was sie von alledem halten sollte und wie hätte sie dies auch können? Das Kind stand noch da wie zuvor, hatte sich kaum gerührt. Nur ihre Augen sahen nicht mehr zu Sirálos hinunter, sondern zu den Gebirgen um den See und wenn sich die Lumpenelse nicht täuschte, lag ein Ausdruck der Besorgnis in den schwarzen Perlen, die ihr Meister ihr als Pupillen eingefügt hatte. Wie alt mochte sie wohl wirklich sein, fragte sich die Nebelkrähe. Vielleicht tausend Jahre? Oder gar noch älter? Auf ewig ein kleines Mädchen in einem großen Körper? ... - 56 -

Das Kind aus Erde wandte sich wieder den Streitenden zu und ging schließlich ganz unverhofft in die Knie. Sirálos und Na’Uta hielten augenblicklich inne. Sie sah dem Rotfuchs in die honigfarbenen Augen und legte ihm ihre linke Hand ins feuerrote Haar. Seine eine elfenbeinfarbene Strähne raschelte leise in der kalten Luft, verzückt von dieser zärtlichen Berührung. Das Mädchen sprach keinen Ton, hielt die Lippen fest verschlossen und doch hörte Sirálos eine liebliche, volle Stimme in seinem Kopf, die ihm ihren Namen verriet: Terralutum. In einem Bilderstrom, der durch seinen Geist jagte, verriet sie ihm, dass ihr Schöpfungswort nicht auf der Stirn stand, sondern in ihrer Brust verborgen lag. Ihre Meisterin, vor langer, langer Zeit, hatte sie nicht, wie die anderen ihres Volkes als Sklavin geschaffen, sondern als Zerstreuerin der Einsamkeit jener alten Dame. Auf ein Stück Papier schrieb sie dereinst das Zauberwort und legte es Terralutum in den Mund. Mit einem langen Stock schob sie es immer weiter nach unten, drückte es in den noch weichen, feuchten Lehm, bis es Terralutum in der Brust brannte und sie die stumme Kraft des Wortes spürte, wie einen Herzschlag. Danach versiegelte die Alte ihr den Rachen mit einer Lehmzunge, die Terra jedoch nie zu gebrauchen lernte. Ihre Lippen waren nur zum Lachen da. Sie redete wortlos mit der alten Meisterin, durch Berührungen, durch ihre Gesichtszüge und Hände, selten schrieb sie, obwohl sie es konnte, oft hingegen machte sie von einer übernatürlichen Gabe gebrauch, der Kunst Gedanken in Bildern zu versenden. Die alte Hexe hatte in ihr diese Fähigkeit angelegt, indem sie für Terras Kopf nur Lehm verwendet hatte, den sie unter tiefreichenden Wurzeln fand und einige Fasern dieser Wurzeln mit verarbeitete. Die grabenden Füße aller Pflanzen, sind der Nachrichtendienst der Welt, sie empfangen alles, so hatte die Alte stets gesprochen. Dann trieb das Land immer weiter von der Sonne weg und es wurde kälter und kälter. Die Menschen zogen aus, um neue Orte zu finden und als die Alte ihren letzten Schlaf zu träumen begann, waren die Golems die einzigen die noch geblieben waren. Ihre Existenz war nun ohne jeden Sinn und Zweck und so gingen sie in die Felsen und in den Boden zurück aus dem sie entstanden waren. Terra hatte jedoch andere Pläne, sie hatte eigene Wünsche, etwas was sonst kein Golem besaß und nur widerwillig ging sie mit den anderen mit. Nun wechselten die Bilder in Sirálos Kopf die Farben, er konnte sehen, wovon Terra träumte. Und er erkannte die Szene wieder. Terra flog vogelwild und frei mit - 57 -

glänzenden Schwingen über einen warmen Nachthimmel. Unter ihr waren grüne Auen, Wälder, Täler und Flüsse und viele Tiere sahen zu ihr herauf und bestaunten ihren kühnen Flug. Sirálos kannte diese Bilder, er hatte von Terras Flug geträumt, ehe die Tränenbarke dies Land erreichte und nun wusste er, dass er das Schiff im Schlaf gelenkt hatte. Doch war es sein Wille gewesen? Oder hatte sie ihn zu sich gerufen, damit sie endlich fliehen konnte? Sirálos’ Herz pochte heftig, als die Bilder aufhörten in ihn hineinzufluten und Terra ihre Hand wieder aus seinen weichen Haaren nahm. Jetzt wusste er, was er gefühlt hatte, als er sie gesehen hatte, warum er sie nicht hatte aus den Augen lassen wollen. Sie waren verwandt in ihrem Schicksal. Wie Ur, war diese Welt hier in Kälte und Eis versunken und wie er, suchte sie nach Wärme und war die letzte ihrer Art, die dazu im Stande war. Fast schien es ihm, als würde Terras Land und Ur zwei Enden einer Brücke sein und beinahe hätte er sich nach seiner Mutter umgeblickt, die diesen See sicher erschaffen hatte, während der Vater auf der anderen Seite, in Ur, die Kinder des Lehms bewachte. Ihn schwindelte etwas von seinem Traum und die vielen Hände seiner Freunde stützten ihn, damit er nicht umfiel.

Währenddessen hatte das Echo der lauten Auseinandersetzung von vorhin die Berggipfel erreicht. Manche unter ihnen waren tatsächlich aus Stein, Fels, Schnee und Geröll, aber einige der hohen Spitzen und Gebirgspässe waren Auswucherungen und Knochenkamm, Hörner und Warzen eines gewaltigen Ungetüms, aus den Tagen der Weltenschöpfung. Seine Ausdünstungen waren es, die dem Land die Kälte brachten, die es der Sonne fern hielten. Ein riesiger Wurm, mit giftiger Schwanzspitze und wässrigen Augen. Sein vertikales Maul, welches von den Stirnhöhlen bis in die Hautlappen am Hals – die ihm ein reichlich träges und dummes Aussehen verliehen – reichte, hatte siebzehn Reihen nadelspitzer, messerscharfer Zähne. Das Monster bewegte sich auf zehn Beinen vorwärts. Die zwei vordersten waren dick und stämmig, wie die eines Krokodils, die folgenden sechs dünn und drahtig, fast nur Knochen und Knorpel und glänzten metallisch wie bei einem Insekt. Die letzten zwei hatten drei lange Fingerknochen, die tief in der Erde zu graben vermochten. Über dem gesamten Rücken des Wurms, der sich im Halbrund um den See gelegt hatte, waren Hörner verteilt, die unseren Freunden von weitem, wie Berge im verschneiten Gebirge vorgekommen - 58 -

waren. Das Monster hatte lange nichts mehr anderes gefressen, als Erde, Sand und Stein und Jahrhunderte schlief es nun schon. Als es sich dereinst niedergelassen hatte, war noch kein See neben ihm gewesen. Als der Schall des Echos über seinen gebirgigen Rücken flog und sich allenthalben am Felsen brach, vibrierte etwas in dem Biest. Es grollte und schmatzte. Die Tränenbarke mochte ein kleiner Schmaus sein, nicht größer, als eine Fliege, doch wer würde auf diese herrliche Praline verzichten, die so willfährig in seine Nähe kam und ihn weckte?

Ein Beben ging durch die Lande und warf leise Wellen auf den See, welche die Tränenbarke zur Seite schaukeln ließen, die noch immer die Insel mit den immer blühenden Kirschbäumen ansteuerte. Es war kein heftiger Schubs, doch kam er so plötzlich in der Stille, dass nun alle, die Sirálos hatten halten wollen selbst auf die Planken flogen und sich erstaunt ansahen. Nach einem kurzen Moment der absoluten Ruhe, ging ein Getöse durch die Welt. Die Berge verschoben sich, die Wasser des Sees wurden unruhig, brausten und bäumten sich auf, selbst der Himmel verfinsterte sich. Etwas erhob sich aus einer ungeahnten Tiefe.

»Seht doch! Die Berge wachsen ja in die Höhe!« rief Bello klingelnd und wies zu dem Gebirge, dessen Schatten länger und länger wurden und die Welt in Dunkelheit tauchten. Na’Uta hatte indes alle Mühe das Schiff nicht kentern zu lassen, da immer mächtigere Wellen den Dreimaster wie ein Spielzeug hin und her warfen.

Das Ungetüm erhob sich aus seinem Grab und der See stürzte von seinem Rücken in Bächen in die dunkle Schlucht, die sein sich erhebender Körper hinterließ. Sein Bett, wenn man so will, in welchem es die Zeiten überdauerte. So wurde die Tränenbarke sowohl in die Höhe gerissen, als auch in die Untiefen gezogen und zugleich von haushohen Wellen überspült. »Es ist erwacht«, flüsterte Terra in schemenhaften Bildern voller unheimlicher Schatten im Geist des Rotfuchses und Furcht und Entsetzen machte sich auf ihrem irdenen Gesicht breit. Doch erst als das Monstrum brüllte und sein zahnbewehrtes Maul nach rechts und links aufklappte und der Schrei Lawinen in allen Ecken und Enden dieses Landes losbrach, begriffen der Kapitän, der Papagei, die Mulmenelse und Sirálos, was diese Unbilden hervorgerufen hatte. Augenblicklich stürmte die Angst auf - 59 -

sie ein und umschloss mit eisigen Zangen die Gemühter unserer Freunde. Wie gelähmt starrten sie in das Antlitz dieses hässlichen Lindwurms, der eine ganze Welt auf dem Rücken trug.

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17 Das Meer der Finsternis

Sirálos erwachte als erster aus der Starre. »Wir müssen fliegen!« rief er Na’Uta zu, der in beharrlicher Entgeisterung, den starken Seegang ignorierend, auf den Schlund des Wurms blickte, welcher sich immer weiter öffnete und näher und näher rückte. Der Wurm konnte sie sehen, da seine Augenbälle sich ins innere seines Rachens gedreht hatten und er fixierte nun das kleine Schiff, als hinge sein Leben davon ab, es zu verspeisen. »Fliehen, ist wohl treffender!« schnatterte Bello. »Nun macht schon, Na’Uta, Sirálos! Befehlt dem Schiff so schnell wie möglich abzuheben und zu verschwinden!« Doch Sirálos konnte sich darauf nicht konzentrieren. Der Kapitän muss es alleine schaffen, dachte er, denn er war ganz befangen von den Augen, die ihn aus dem Maul anstarrten. »Es sieht verzweifelt aus, findet ihr nicht?« meinte er, während er zurückblinzelte. In diesem Moment hob die Tränenbarke ab und stieg in die Lüfte. Doch es war zu spät. Dadurch spielten sie dem Lindwurm nur zu, denn sie schwebten ihm direkt ins Maul. Als seine Zähne sich um das Schiff schließen wollten und sich begannen durch die Regentropfen zu bohren, entwich Sirálos ein Licht, so hell, dass alle in Liebe geblendet waren. Das Strahlen war viel mächtiger, als der Blitz, der seinen Fingern in der Taverne von Einfacher-Weg entwichen war und es entfachte in dem Monster einen solchen Schmerz, dass es das Schiff wieder freigab. Es war ein Stechen im Herzen, was das Ungetüm vor Schreck dazu bewegt hatte. Ein urplötzlich aufgetauchter, flehender Wunsch geliebt zu werden, dass es jeder Tortur brennender Eisen gleich kam und diese noch übertraf. Der Rotfuchs schlug Wellen golddurchwebten Gefühls, welches sich in blendender Wärme zeigte.

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Es rührte alles und jeden. Die Bäume, den Schnee, die Regentropfen der Tränenbarke, die Luft in den Lungen seiner Freunde, den Fels und das Gestein. Zuerst war es schön, doch dann wurde es auch für seine Gefährten zunehmend unerträglicher. Sie verspürten eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat in sich, die nicht hätte größer sein können und der Lindwurm warf sich, geschüttelt durch seine Verzweiflung zurück auf die Erde, mit solcher Wucht, dass das winterkalte Land entzwei brach. Die Wasser des Sees, die Insel der Kirschbäume und nach und nach aller Schnee und alles was Berg, Stein und Erde war, folgte dem Ungeheuer tosend, rutschend, schäumend und krachend in den tiefsten Abgrund des Universums. Erst als die Sterne und Planeten an der Tränenbarke vorbeirauschten, um sich ebenfalls, wie die Bruchstücke von Terras Land zuvor, in die Schlucht zu werfen, verlosch Sirálos Licht und der Sog stoppte. Um sie herum war nichts mehr, als der schwarze Ozean des Alls und dessen ebenso schwarzer Himmel. Sie trieben auf einem Meer der Finsternis und Zeit hatte fortan keine Bedeutung mehr, da es keinen Raum mehr gab, an dem sie sich hätte messen können. Und die große Uhr im Bauch des Schiffes, die während all der letzten Abenteuer schnell weitergelaufen war, blieb eine Minute vor ihrem letzten Schlag stehen.

Hätten unsere Freunde es berechnen können, wäre von ihnen bemerkt worden, dass Monate an den tränenden Planken ihres Schiffes vorbeistrichen. Doch sie registrierten es nicht. Überhaupt bewirkte die dunkle Masse des finsteren Ozeans eine seltsame Abgestumpftheit. In den vergangenen Wochen hatten sie sich immer weniger unterhalten, bis sie es schließlich ganz bleiben ließen und jeder in seiner Ecke mit sich selbst ins Schweigen verfallen war. Dadurch war es kalt auf der Tränenbarke geworden, doch auch dies blieb den Gefährten lange verborgen. Die einzige, die darüber Gefühlsregungen hatte, war Terralutum. Sie hatte so gehofft mit Sirálos an ihrer Seite dem ewigen Winter und dem drückenden Nichtssagen entfliehen zu können und sah sich nun vermehrt in der gleichen Situation aufs Neue gefangen. Während die anderen Vier einfach in ein Nichts stürzten, ein Nicht-Interesse, ein Nicht-Hunger, eine Nicht-Sehnsucht und Unlust und grabestiefe Antriebslosigkeit, welche schließlich das schöne Schiff zum Stillstand brachte und unnutz machte, verlor - 62 -

sich Terra in Gram und Traurigkeit über ihr eigenes Schicksal. Als seien die Segel durch die Schleier des Todes ausgetauscht worden, lag alles und jeder auf der treuen Tränenbarke in derselben Düsternis, wie sie vor und hinter, über und unter, Drumherum und zu allen Seiten des Schiffes lag. Es war, als habe Sirálos’ Licht zunächst etwas entzündet was gut war, aber dann mit so heftiger Flamme gebrannt, dass dieses Gute und alles andere nahezu restlos versenkt war. Die beschwingende Sehnsucht nach Heimat, war so dem Trübsinn gewichen und dem Glauben, sie ja doch nicht mehr zu erreichen.

Und dieser Zustand dauerte an und dauerte an und dauerte an ...

Es war derart beängstigend geräuschlos, so beklemmend dunkel, dass sich unsere Freunde kaum noch zu bewegen trauten. Die Nebelkrähe glaubte sich sogar daran zu erinnern allein auf dem Schiff zu sein. Da außer die eigene Stimme, die niemand benutzte, nichts anderes ein Geräusch mehr tat, war Bello zunehmend davon überzeugt nicht mehr zu existieren und erlebte daher größte Momente der Angst und Na’Uta hätte seine Pfeife darauf verwettet, dass er seit seiner Geburt blind sei und seine Augen noch nie etwas im Leben geschaut hatten. Alle Bilder in seinem Kopf, so dachte er, sind wohl bloß meine Vorstellung von der Welt. Vielleicht waren die Bäume gar nicht grün, sondern violett und gepunktet und das Wasser nicht blau, sondern rot und wenn es still da lag, gelb kariert. Aber eigentlich war dies doch völlig gleichgültig... Die letzte Speise hatte jeder für sich und zu unterschiedlichen Zeiten eingenommen, doch für jeden war es schon lange her. Bello und Terra kannten Hunger und Durst nicht, doch die Mulmenelse, der Rotfuchs und der Kapitän hätten schon seit langem wieder etwas gebrauchen können. Sirálos jedoch bemerkte seinen darbenden Körper nicht mehr, Na’Uta vertraute so auf seine Blindheit, dass er meinte sich nicht mehr im Dunkeln orientieren zu können und die Nebelkrähe hatte schlicht vergessen, dass es noch einige brauchbare Nahrungsmittel auf dem Schiff gegeben hätte, wenn auch nur noch recht wenige.

Und so trieben sie in ihrem Inneren weiter dahin, während die Tränenbarke unverrückbar ihre feste Position hielt und die Segel schlaff herunterhängen ließ.

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Die Tage und Wochen vergingen, bis plötzlich, absolut unverhofft ein lautes und unbekanntes Geräusch die Mannschaft aus ihren Gedanken riss. Die Mulmenelse sog mit spitzen Lippen und weit aufgerissenen Augen scharf Luft ein, so sehr erschreckte sie sich, dass sie nicht mehr allein war... Der ohrenbetäubende Donnerschlag war in Wirklichkeit ein Wispern, ein so leises Flüstern, dass Du es kaum verstanden hättest. Es war Sirálos der gesprochen hatte und jemanden leise Antwort gab. Terralutum war von ihrem Platz gewichen und hatte sich auf die Suche nach dem Rotfuchs gemacht. Auch wenn sie eigentlich gut im Dunkel sehen konnte, strafte sie diese dickflüssige Finsternis doch mit der gleichen Blindheit, wie alle übrigen. Aber sie fand ihn durch seinen Geruch. Die Nebelkrähe roch immer etwas feucht und modrig, der Papagei nach glänzendem Metall, der Kapitän nach Seeluft und Tabakrauch. Der Rotfuchs jedoch nach dem kristallklaren Wasser eines Bergquells und nach der heißen Spätsommersonne auf eben erst in herbstlichen Farben erglühendes Blattwerk. Es war für Terra daher ein leichtes Unterfangen ihn zu finden. Zudem war es überall auf dem Schiff sehr kalt, alle, selbst der mechanische Papagei frohren, so auch Sirálos. Doch um ihn herum war immer ein Kreis aus unsichtbarem Licht, der ein wenig wärmer zu sein schien, als alle übrigen Orte. Dieses Wohltuende war es auch gewesen, was Terralutum davon überzeugt hatte sich von der Felswand zu lösen und ihr Glück in seiner Nähe zu suchen. Und nun hatte sich Terra neben Sirálos an die Reling gelehnt, groß und schwer wie sie war, und sprach in geisterhaften Bildern unendlich leise aus, was in ihrem Herzen vorging. Der Rotfuchs lauschte und besah sich diese eindringenden Impressionen von weiter Ferne. Er hatte sich so tief in sich selbst zurückgezogen, dass er erst einige Sprossen der inneren Stiege hinaufklettern musste, um Terra auch zu verstehen. Doch der Aufstieg war mühselig und schmerzhaft, denn je höher er kam, desto stärker spürte er die Kälte, den Hunger und Durst ... und das marternde Gefühl gescheitert zu sein.

Terra erzählte ihm noch einmal ihre Geschichte und die Hoffnungen die sie hatte, als sie auf dieses Schiff sprang, in allen Einzelheiten. Eigentlich wusste sie gar nicht so recht warum sie dies tat, vielleicht, um zu zeigen, dass noch jemand da war. Jemand, der Sirálos ähnlich war und ihn brauchte. Als sie von ihrer Traurigkeit berichtete und der Angst, dass nun alles so werde, wie es für sie schon war, hörten die Ohren aller Freunde ein leises, schürfendes Schluchzen. - 64 -

Der Rotfuchs konnte dieses Weinen nicht ertragen. Mit aller Gewalt zwang er sich zurück und legte seine vor Kälte schmerzenden und starren Arme um Terra, um sie zu trösten. Flüsternd begann er ihr Mut zuzusprechen, den er selbst kaum mehr hatte. In immer schöneren Farben erzählte er ihr von Ur, wie er es selbst nie gesehen hatte und entfachte damit die Glut neu. Wie, als sein Licht den Lindwurm vertrieben hatte, spürte er in sich eine sehnsüchtige Liebe neu aufflammen. Eine Liebe zu Terra, zu seinen Freunden und natürlich zu Ur. Wie schön es dort wäre, wenn das Licht wieder scheinen würde und Sirálos selbst erinnerte sich plötzlich daran, welche Hoffnungen Terra in ihm geweckt hatte: Stein und Erde konnte fühlen und lieben, wie also könnten die Ur’ianer verloren sein, selbst wenn sie sich in Felsen verwandelten? Mit jedem seiner Worte überzeugte er sich selbst von ihrem Glück eine solche Heimat auf sie wartend zu wissen und auf Terralutums goldenem Stirnschmuck spiegelte sich der erste Stern seit Monaten. Durch die lange Dunkelheit wirkte er hell und strahlend und die Freunde erkannten sich wieder gegenseitig. Der Rotfuchs erzählte immer noch von dem Königreich in seinem Herzen und der Kapitän stimmte erst zögerlich, dann in vollen Zügen mit ein, berichtete von früher, von den Legenden, wie es war, als das Licht noch da war. Er erzählte von der Stadt, in dessen Turmspitze er seine Werkstatt hatte. Bello konnte mit einem Mal wieder klingeln und fliegen und zwitscherte von den Bäumen und Blumen und herrlichen Landschaften. Selbst die Lumpenelse, deren Schnabel Ur nie gesehen hatte begann vom Morgenreif zu berichten, in dem sich in allen Farben die Strahlen der aufgehenden Sonne brachen. Und nach einiger Zeit war der Himmel über ihnen voller Sterne, die sich im Meer spiegelten, welches kaum mehr finster schien. Es war sogar so warm geworden, dass Na’Uta seine Kapitänsjacke auszog und lässig über die Schulter legte. Ausgelassen, voller Freude auf die Heimat lachten die Freunde und erfüllten die Stille mit dem schönsten Glücksgeräuschen dieser Welt. Die Segel der Tränenbarke bauschten auf und brachten das große Schiff wieder in Bewegung. »Danke, Terra!« sagte Sirálos und alle anderen bedankten sich auch bei ihr, sogar der Kapitän, der jetzt wohl einsah, dass es wichtig gewesen war, sie mitzunehmen. »Danke, dass du dich mir mitgeteilt hast. Dadurch konnten wir alle uns für Zuhause erwärmen und dadurch hast du uns vor dem Erfrieren, Verhungern und dem Aufgeben gerettet«, verkündete der Rotfuchs feierlich und stand selig auf, kletterte in

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das Krähennest und bedankte sich auch bei den Sternen, die gekommen waren ihm zu helfen. Bello flatterte zu ihm und ließ sich scheppernd in seinem rotem Haar nieder, glänzend reflektierte er das Sternenhell und die Tränenbarke hielt Kurs auf die Heimat, denn wie der Andere gesagt hatte, trugen nun auch Sirálos’ Freunde die Liebe für Zuhause im Herzen, die nötig war, damit diese Fahrt gelang.

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18 Das Golfspiel

Es

war ein tonloser Ruf, ein stilles Flehen, eine leiser Schrei um Hilfe, denen die

Sternenbilder gefolgt waren, sodass sie eins ums andere ihre leuchtenden Pünktchen der Tränenbarke entgegengeschickt hatten. Es war eine Erinnerungshilfe für Sirálos gewesen. Auch, wenn der Andere gesagt hatte, seine Freunde würden die Länge und den Ausgang der Reise bestimmen, so hieß dies jedoch nicht, dass er, der Rotfuchs, in den unbegreiflichen und unheimlichen Hintergrund des Nichts treten durfte. Sein Licht, welche Form auch immer es annehmen mochte, war die alleinige Möglichkeit seine Gefährten liebend zu machen und für die Heimat zu erwärmen. Und das mussten sie, denn ihre Hoffnung, gepaart mit seinem Vertrauen, waren die Mittel das Abendrot zurückzubringen. So jedenfalls, glaubte er den Anderen verstanden zu haben und nun waren die ersten Schritte in die richtige Richtung getan. Während er noch im Krähennest, mit Bello auf dem Kopf, darüber nachsann, erwachten die Sterne zum Leben. Die unbändige Freude zuvor auf Deck, hatte die Sternenbilder aufgeweckt. Das Meer beschrieb eine steile Aufwärtskurve, bis es sich mit dem Himmel verschmolz und sie eins waren und so trieb die Tränenbarke zum wiederholten Male zwischen den Giganten des Himmels entlang, die jetzt mit dem Finger auf sie zeigten und sich über die Abenteuer der Freunde ausgelassen austauschten. Aber Sternenbilder sind so groß, dass sie ungewollt gefährlich sein können, wenn sie unbesonnen sind und als das Schiff in Reichweite des golfenden Fußschemels kam, mussten sich unsere Freunde erneut davon überzeugen lassen.

Ein Komet mit Feuerschweif diente dem Sternenbild als Golfball und mit einem gut gezielten Schwung des Schlägers beförderte es diesen haarscharf an der Tränenbarke vorbei. Sogleich wurde der Golfballkomet von dem streitenden Hochzeitspaar im Foxtrott aufgegriffen, kam unter dem Absatzschuh der Braut glühend zum Halt und wurde dann von ihr, wie ein Fußball, zum nackten Ritter ohne Ehre geschossen, der ihn just mit dem Schwert in zwei Teile hieb. Ein Brocken wurde auch von ihm mit dem Fuß bearbeitet, der andere mit gewagtem Aufschlag auf dem Schwert zu einer Art - 67 -

Tennisspiel missbraucht. Jedes der Geschosse verfehlte das wackere Schiff nur um wenige Millimeter und die feurigen Schweife brachten die Tränen leicht zum kochen, wodurch es unangenehm heiß auf dem Boot wurde. Durch das schnelle Vorbeisausen der Bälle geriet das Schiff zusehends ins strudeln und schlug heftige Purzelbäume.

Als seien sie selbst der Spielball trudelten und kreiselten sie umher und die Freunde hatten Mühe nicht über Bord zu gehen. Na’Uta und Sirálos sahen sich aufmerksam um und gaben, sobald sie einen Kometen auf sich zurauschen sahen, dem Schiff schnell leise Befehle. Da das Wurfgeschoss jedoch noch weiter zerfiel und der Fußschemel immer mehr Golfbälle dieser Art ins Spiel brachte, wurde die Situation immer brenzliger. Einmal spaltete sich das Schiff in der Mitte auf, da Sirálos den Befehl »Nach unten!«, Na’Uta jedoch »Na oben!« gab. Mit fiel Willensstärke und Konzentration schafften sie es die beiden auseinanderdriftenden Teile wieder zu einem vollständigen Schiff zusammenzufügen. In diesem Moment geschahen allerdings mehrere Dinge zugleich: Das Sternengebilde des Schlittschuhläufers mit dem Loch in der Brust, welches sich darauf spezialisiert hatte Löcher in anderen Dingen zu finden, zeigte dem golfenden Fußschemel ein schwarzes Loch in der kuppelförmigen Außenwand des Universums. Der Fußschemel, davon begeistert ein so hervorragendes Ziel zu haben, schnappte sich einen neuen Felsbrocken und beförderte ihn mit seinem Schläger in Richtung jenes Durchbruchs. Die Tränenbarke befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Reparatur und genau zwischen dem Golfkometen und dem schwarzen Loch. Sirálos und Na’Uta heilten eben den letzten gewaltigen Riss, als der Komet auf sie prallte und mit sich in das Loch riss. Im Bauch des schönen Dreimasters tat der große Zeiger seinen letzten Sprung. Es ertönte ein gewaltiger, dumpfer, bronzener Gong und die Tränenbarke zerfiel zu feinstem Regen, der wie silberner Staub auf der schroffen Gesteinsstruktur des Himmelskörpers glänzte. Die befreiten Fische schlugen wild mit den Schwänzchen auf. Der Komet indes hatte nicht nur die Gefährten aufgefangen, denen sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden war, sondern raste, mit ihnen als Kühlerfigur, einen langen Tunnel entlang. Die Schiffbrüchigen klammerten sich mit aller Kraft an seinen steinigen Kanten und Vorsprüngen fest, um bei dem schnellen Flug nicht verloren zu gehen und die Sterne rauschten in dem schlauchartigen Korridor um

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ihre Ohren, bis der Brocken ungünstig auf der anderen Seite im viel zu engen Ausgang stecken blieb.

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19 Der König der Schaumschläger

Etwas benebelt von dem harten Aufschlag auf den heißen Steinklumpen, der jetzt, da er sich nicht mehr bewegte glücklicherweise rasch abkühlte, sahen sich die Freunde ängstlich nach einander um, ob es auch jedem gut ginge. Alle hatten sie ein paar Schrammen und zerzauste Haare, aber die Tropfen der Tränenbarke hatten den feurigen Kometen wenigstens gelöscht gehabt, so dass sich niemand von ihnen ernsthaft verbrannt hatte.

Sirálos krabbelte zu dem Rand des Tunnelausgangs, den ihr Komet nun eben verstopfte, und befingerte ihn neugierig. Noch dachte er nicht daran, dass nun wirklich alles verloren war. Noch erinnerte er sich nicht daran, dass der Zerfall des Schiffes, das Ende der Reise und damit das Versiegen der Möglichkeit auf Rettung bedeutet hatte. Seine Finger huschten eilig über den Kranz, der den Kometen hielt und streichelten ihn untersuchend. Es war ein weicher Rand, fleischig, mit feinen Haaren darauf und als Sirálos sich umblickte und ein gigantisches Auge erkannte, begriff er schnell, dass das Dach des Universums der Walfisch war, in dessen Maul sie verschwunden waren, als sie Splendor Solis gesucht hatten. Nun waren sie durch seinen Rüssel wieder daraus hervorgetreten und tanzten ihm sozusagen auf der Nase herum, was ihm wohl nicht sonderlich schmeckte. Der Rüsselwal holte durch den Mund tief Luft, kniff die Augen zusammen, Sirálos schrie seinen Freunden entsetzt »FESTHALTEN!!!« zu und der Fisch presste all die genommene Luft durch den Rüssel heraus. Wie eine Rakete schossen sie und der Komet aus dem Nasenloch heraus und flogen schon wieder mit einer solch gewaltigen Geschwindigkeit durch das All, dass es ihnen in den Ohren rauschte, ihnen ganz übel wurde, sie die Augen zusammenkniffen und sich eine dünne Eisschicht auf ihre geröteten Gesichter legte.

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Getragen von einem unsichtbaren Sturm, flogen sie, ohne es zu sehen, an den Inseln vorbei, wo sie einstmals Proviant genommen hatten, ließen die leuchtende Stadt Einfacher-Weg an sich vorbeizischen, schossen unbeschadet durch den gläsernen Wald, der Na’Uta gefangen gehalten hatte, rauschten durch die Zacken der Krone vom Sabberkönig Recordari und zerschmetterten mit Karacho einen gesamten Flügel des herrlichen

Schaumpalastes,

der

mit

vielen

Fenstern

und

Kuppeln

aus

regenbogenfarbenen Seifenblasen in die Wolken gebaut war und stellenweise einer gewaltigen Hochzeitstorte glich. Zu ihrem unbeschreiblichen Glück, taten sie sich kein Weh, als sie durch mehrere Wände und Fensterscheiben krachten und jeder in anderen Zimmern und Sälen landend, rutschend und schlitternd zum liegen kamen. Denn der Schaum, aus dem das herrschaftliche Bauwerk errichtet war, war weicher als Watte und jede Wand, die sie in ihrem Aufprall mitnahmen bremste und federte ihren Flug mehr und mehr, bis sie sanft, wie auf Daunenfedern zum Innehalten gelangten. Nur der Komet war zu schwer für die Konstruktion des Palastes und brach noch zusätzlich einen Krater hinein, als er, bereits im Stillstand, schließlich noch durch den Boden und durch sämtliche Stockwerke bis durch die Wolkendecke hindurchkrachte und irgendwo in der Tiefe verschwand.

Benommen, viel zu oft in den letzten Tagen, wie er fand, öffnete Sirálos die vom Flug verklebten Augen. Er fand sich in einem hübsch eingerichteten kleinen Raum voller Damenkleider wieder, die alle aus Seifenblasen, Watte, Badeschaum und Wolkenfetzen, Meeresgischt und Pulverschnee genäht zu sein schienen. Auf einer Frisierkommode saß eine hochmütig dreinblickende junge Frau, die verdrießlich immer wieder zwischen ihm und einem Loch in der Wand blickte, welches verdächtig seinem Körperumriss glich. Das Fräulein war leicht durchsichtig und hatte eine sehr gerade Nase, deren Flügel bedrohlich bebten, als sie angewidert auf den Rotwuchs hinabblickte, der verstohlen bemerkte, dass seine unfreiwillige Gastgeberin wohl gerade damit beschäftigt gewesen war sich anzukleiden und noch nicht sehr weit gekommen war, als er durch ihre Wand gebrochen kam. Sie musste vor Schreck auf ihr Frisiertischen gesprungen sein, kombinierte Sirálos verlegen. Er richtete sich auf und stotterte eine beschämte Begrüßung. »Hallöchen!« er winkte zaghaft und setzte sein bestes Lächeln auf. Sie antwortete darauf in ihrer eigenen Art. Sie öffnete den Mund wie ein Fisch und eine

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große Seifenblase kam daraus hervor. Mit einer Haarnadel zerstach sie diese mit wütendem Blick und ohrenbetäubend gab die Blase ihre Stimme frei. »WAAAAACHEEEE!!!!« brüllte sie in einer Lautstärke die Sirálos weder dem durchscheinenden Frauchen, noch der zarten Seifenblase zugetraut hätte und seine Ohren gehörig klingeln ließen, als habe sich Bello in ihnen ein Nest gebaut. Dreiundsiebzig Männer der Leibgarde erschienen, durchscheinend wie das Fräulein, jedoch vollständiger bekleidet und mit spitzen Lanzen ausgestattet. Wie in einem einstudierten Tanz umringten sie Sirálos mit vorgestreckten Waffen, die nun alle auf ihn wiesen. Der Hauptmann war hoch dekoriert und trug eine Art Topfpflanze aus Bisset auf dem Kopf, offenbar Zeichen seines Ranges. Er eilte zu dem Prinzeschen hin – Sirálos wusste natürlich nicht, ob sie eine war, aber sie verhielt sich so, fand er – und die beiden tauschten sich geschwind aus. Dieses Gespräch war im Übrigen ein wundersames Schauspiel. Jeder von ihnen blubberte abwechselnd Blasen hervor, doch wurden diese nicht wie zuvor zerstochen, sondern sie steckten die Blase des anderen in den eigenen Mund. Das Prozedere gab keinen Laut von sich, aber der Rotfuchs vermutete, dass sie dadurch die Stimme des Gegenübers in ihrem Kopf oder in ihren Ohren hören konnten und geschickter Weise auch noch dafür sorgten, dass den Umstehenden der Inhalt ihrer Konversation völlig verborgen blieb. Als sie fertig waren drehte sich der Kommandant zu seinen Männern herum, brachte eine Blase hervor und zerstach sie mit seinem Degen. Sofort schallte seine lächerlich dünne und hohe Fistelstimme durch die Luft, welche den Befehl gab Sirálos zum Richtsaal zu bringen. Allsogleich setzten sie sich in Bewegung führten den Gefangenen durch die Gänge. Das halbbekleidete Fräulein sah ihm schnippisch Grinsend hinterher und schickte sich dann an, endlich einer vernünftigen Erscheinung habhaft zu werden.

Bei ihrem Marsch Richtung Richtsaal stießen noch mehr Wachen auf sie zu, samt einen in Ketten gelegten Na’Uta, der sich offenbar heftig gegen die Gefangennahme gewehrt hatte und einen in einen Käfig aus Hagelkörnern gesperrten Bello. Zudem mussten sie öfter Umwege gehen, da sie durch die gewohnten Gänge mehr als einmal auf die Krater trafen, welche die rasante Landung unserer Freunde in den Palast gerissen hatten. Durch die Fenster und Einsturzlöcher schien eine matte silbrige Sonne mit wenig Kraft. Sirálos erblickte Bauarbeiter, die sich bereits daran gemacht hatten das Bauwerk wieder Instand zu setzten. Dabei schlugen sie aus dem Nichts mit Schneebesen und Quirl eine wirbelnde, wolkige Masse hervor und rührten in ihr herum, bis sie die schaumige - 72 -

Konsistenz des Mauerwerks hatte und fügten es nahtlos an den Bruchstellen an. Danach glätteten sie es mit Löffel oder nahmen Überschüssiges beiseite. Am befremdlichsten an diesem Anblick war jedoch, dass sie, sobald eine Arbeit gelungen, sich dafür selbst in die Brust warfen und beglückwünschten. Mit lauten Seifenblasen prahlten sie über ihre Kunstfertigkeit und jeder brüstete sich selbst der Beste seines Handwerks zu sein.

Auch der herrliche Richtsaal mit eine der vielen gläsernen Kuppeln erwies sich als Ruine, daher wurden die Gefangenen in das königliche Badezimmer geführt, wo seine Majestät gerade ein Blubberblasenbad nahm, welches freilich nur durch sein Parfüm vom Rest des Bauwerks zu unterscheiden war. Neben dem gewaltigen Badebassin standen die unglücklich dreinschauende Terra (ebenfalls in Ketten und durch ihr Gewicht bis zur Hüfte durch den Boden gesunken) und die Nebelkrähe, deren aufgebauschte, fließenden Lumpengewänder, die an manchen Tagen aussahen wie Gewitterwolken, dem König scheinbar besonders gut gefielen, da er aus seinem Badewasser heraus das Kleid immer wieder streichelte. Der Monarch selbst unterschied sich eigentlich kaum von seinen Seifenblasen, zumindest war er genauso rund und sein flauschiger Backenbart ließ ihn dazu noch sehr weich aussehen. Die Idee kindlicher Gutmütigkeit kam Sirálos in den Sinn, als er bemerkte, dass der König Schwimmflügelchen an den Armen trug und in einem Schwimmreifen saß, der einen langen, weißen Schwanenhals vorne dran hatte. Ein Eindruck der täuschte, wie sich bald herausstellen sollte.

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20 Der Urteilsspruch

»So!

Ihr meint also, ihr könnt das Reich der Schaumschläger herausfordern,

ja?« fragte der König seltsam vergnügt aus seiner Badewanne heraus, indem auch er eine Blase aus seinem Mund zum Platzen brachte. »Nein, dass war eigentlich nicht unsere –« ›Absicht‹, hatte Sirálos noch sagen wollen, doch der König lachte laut auf (auch hierfür war eine Blase nötig). »Und jetzt glaubt ihr auch noch besser lügen zu können als wir!« kicherte der Herrscher in seinem Schaumbad. Sirálos entschied sich nichts weiter darauf zu antworten und die anderen schienen mit ihm einer Meinung, auch wenn Bello zornig klingelte. »Also, wollen mal sehen, wollen mal sehen«, schmatzte der König und forderte den Hauptmann auf ihm zu berichten. War dies geschehen, so schwamm der planschende Monarch einige Runden, spielte mit dem Gummischwan an seinem Schwimmreifen und kam schließlich zu einem Urteil. »Der bärtige Kerl, der gekleidet ist, wie ein Schiffskapitän, ist durch unsere Prunkhalle, die Räume der Ahnen und der Blasenwerkstatt geflogen und hat all diese Räumlichkeiten restlos zerstört. Bei seiner Gefangennahme zeigte er sich widerspenstig und pustete mit voller Lunge dreizehn meiner Schäumenden – dies sind meine Leibgarde! – über den Balkon im fünfhundertsten Stock in den Himmel hinaus. Zur Strafe wird man dir den Mund mit Wolkenrohmasse verkleben und bei dem nächsten Gewitter in einem Korb zu den Blitzen hinabsenken. Wenn du dies überlebst, bist du frei und kannst sehen, wie du auf die Erde hinunterkommst und deinen schändlichen Mund wieder frei bekommst.« verkündete der König voller Freude dieses Spektakel sehen zu dürfen. Sirálos schaute entsetzt zwischen dem Herrscher und Na’Uta hin und her. Der Kapitän, der einmal ein Uhrmacher war, ließ sich jedoch keine Angst anmerken. Sirálos meinte

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in ihm immer noch das Licht der Hoffnung glänzen zu sehen, welches dem Kapitän sicher zuflüsterte, dass alles gut gehen würde. Der Rotfuchs konnte nur hoffen, dass sein Licht damit recht behielt, während der Richtspruch weiter verkündet wurde. »Der Papagei aus goldglänzendem Metall flog durch die Dächer der drei übereinanderliegenden Küchen im Westflügel. Er erleichterte uns damit endlich den so nötigen Schlot einzubauen und darf sich daher auf ein Leben in meiner Sammlung merkwürdiger Objekte im elften Untergeschoss freuen, wo er von mir in zwei bis drei Wochen vergessen wird. Danke für deine Hilfe kleiner Freund«, zwinkerte er Bello zu und wandte sich umgehend an Terralutum. »Das seltsame, stumme Geschöpf hier, zerstörte allein sechsundneunzig Etagen im Südflügel und brauchte offenbar dieses Trümmerfeld, um sicher zu landen. Zudem riss es auf dem Weg zum Gericht allenthalben Löcher in unsere Korridore und kann auch jetzt seinen Zerstörungseifer nicht unterdrücken und lässt seine Beine in die Zofenkammer meiner fünften Tochter baumeln. Für diese Frechheit werden wir dir dein geheimes Wort entfernen Golem! – Jaha! Ich weiß wohl was du bist, Kind. Schließlich bin ich der beste König der Welt! Und König über das weiseste und edelmütigste Volk! – Danach werfen wir deine Lehmglieder auf die Erde hinunter, auf dass sie dort zerschellen mögen.« Terra schickte Sirálos Bilder, dass er sich nicht sorgen solle, diese Wesen würden ihr Wort nicht finden können. Doch die gesendeten Bilder flackerten und zeigten dem Rotfuchs überdeutlich, wie sehr sich Terra ängstigte. Mit süßester Stimme wand sich der Badende jetzt der Mulmenelse zu. »Wie ich hörte, hat sich hinter Euch, Schönste, das gerissene Loch im Palast sofort geschlossen und ihr habt lediglich meine Frau aus dem Fenster gestoßen, zwar wohl nur aus Versehen, aber dennoch eine Glanztat! Zudem tragt Ihr dieses herrliche Gewand aus gewebtem Nebel, einer Königin würdig. Wollt Ihr an meiner Seite bleiben Verehrteste?« flötete er. Die Lumpenelse setzte sich zu ihm auf den Rand des Bassins und beugte sich vor. »Aber sicher mein hoher, nobler Herr«, schmeichelte sie ihm und kraulte dabei seinen Bart. »Doch, wollt Ihr mir zu Euren Antrag nicht auch etwas schenken?« »Gierig!« platzte es aus der Seifenblase des Königs hervor. »Das mag ich! Ja, nun, was wünscht Ihr Euch?« »Begnadigt meine Freunde, oh großer, prächtiger Schaumkönig!« singsangte sie, legte ihren Arm um den fleischigen Nacken des Mannes und stupste seine winzige Nase. - 75 -

»Niemals!« verkündete dieser lachend. Die Mulmenelse fuhr zurück und war kalt wie Eis, als sie nun seinen Antrag zurückwies. »Bitte. Dann müsst Ihr wohl auf mich als Eure Frau und Königin verzichten!« Na’Uta blickte die Mulmenelse mit vor Stolz geschwollener Brust an. Der König, dem nicht oft etwas abgelehnt wurde, blickte nun sehr zornig um sich. »Dann wirst du ebenfalls in die Blitze geworfen!« schnappte er und stampfte in seinem Badewasser dumpf auf. »So und nun hinfort!« brüllte er. Der Hauptmann brachte eine Blase hervor und zerstach sie abermals mit dem Degen. »Mein Herr, was ist mit diesem hier?« fragte er und gab Sirálos einen Schubs nach vorne, so dass dieser fast in die große Wanne geflogen wäre. »Ah! Ja, richtig!« Der König sah Sirálos auf merkwürdige Weise an. Fast fühlte der Rotfuchs die Blicke des Herrschers ihn körperlich durchbohren. »Der Lustmolch hat die Wohnräume meiner achten Tochter ruiniert, ihr Ankleidezimmer verwüstet und ihr aufgelauert, als sie fast unbekleidet war.« Dies war doch eine sehr einseitige Sichtweise, fand Sirálos. »Aber dies ist nicht alles, nicht wahr?« setzte der König neu an und kam dem Rotfuchs bedrohlich nahe. »Du bist der Sohn der erstarrten Nymphe und des schlafenden Waldgottes, richtig? War es nicht deine Aufgabe Ur das Abendlicht wiederzubringen? Antworte!« schnauzte er den Rotfuchs an. »Ja, der bin ich und ja, dies war meine Aufgabe«, flüsterte Sirálos. »Und? Warst du erfolgreich, Jungelchen?« zischte der Herrscher im Schwimmreifen. »Nein«, flüsterte Sirálos noch leiser. »Ich habe es nicht geschafft.« »Hattest du nicht ein Schiff gehabt, welches dir ein Stundenglas über die Zeit war, in welche eine Rettung Urs möglich war?« fragte der König weiter, obschon klar war, dass er die Antworten darauf kannte. »So ist es«, wisperte Sirálos und wurde immer kleiner vor dem runden Schaumschlägerkönig. »Und hast du es noch? Oder ist es zerfallen?« drang der König weiter in ihn ein. »Zerfallen«, schluchzte Sirálos, als stünde er vor dem tadelnden Vater, der den strafenden Mahnfinger erhoben hatte. »Das heißt, du bist gescheitert? Alle Hoffnung ist dahin? Ur wird sich nie wieder erwärmen und das Abendrot sich nie wieder in unseren Fenstern spiegeln und unsere Wolken leuchtend machen?« spuckte der König und Sirálos wurde klar, dass das - 76 -

Schaumschlägerreich im Himmel über Ur existierte und deren Bewohner vielleicht sogar die Wolken des Himmels durch ihre Rührstäbe und Schneebesen erschufen. Er war so dicht zuhause, so nah an Mutter und Vater ... »Dein Schweigen ist mir Antwort genug!« wetterte der Monarch. »Die Nacht ist über uns gekommen und das Mondlicht lässt unseren Palast, oder dies, was ihr davon übrig gelassen habt, glitzern, wie einen Diamanten. Das möchte ich nicht verpassen und mir ansehen. Daher wirst du in den Kerker geschmissen. Zweihundert Mann sollen dich und jeden deiner Gefährten bewachen, damit du nicht einfach unsere Wände einreißt. Morgen Abend, zu der Stunde zu der sich der Himmel eigentlich röten sollte, hättest du nicht versagt, werden wir dich dann ausbluten lassen, damit das Rot wenigstens in unsere Hallen zurückkehrt. Deine Freunde dürfen dabei zusehen, danach wird dem Golem der Name entfernt und die anderen beim nächsten Gewitter ins Freie gesetzt, wie es das Urteil verheißt. Und jetzt geht mir aus den Augen, ich umgebe meine Herrlichkeit nicht gerne mit Versagern und Nichtskönnern. Wir haben heute Nacht Wolken zu brauen, damit sie sich morgen mit Blut füllen können! FÜHRT SIE AB!«

Daraufhin wurden sie in die Kerker gebracht. Jeder von ihnen in eine andere Zelle, am anderen Ende des Palastes und jeder von ihnen wurde von mehr als zweihundert bewaffneten Schaumschlägern bewacht. Sirálos rollte sich auf dem Boden seiner Zelle zusammen und weinte leise Tränen. Nicht über sein Urteil, sondern darüber, dass er seine Freunde in diese missliche Lage geführt hatte und sie nun verlieren würde; darüber, dass er Vater und Mutter nun gewiss nie wieder sehen und auch nicht erwecken würde und darüber, dass er die Ur’ianer so enttäuscht hatte und ihnen nun nicht mehr sagen konnte, dass sie sich selbst retten können, da auch irdenes Gestein Liebe empfinden kann. Seine kupfernen Tränen färbten den Boden nach einer Weile Dunkelgold, als ob sein ganzes Licht in ihnen schwimmen würde und nachdem er fertig geweint hatte, fühlte er sich leer und ganz fremd. Es war ihm, als wäre er ein Unselbst und trüge nun das gesamte Meer der Finsternis, dem sie so gut entronnen waren, in sich. Ohne zu blinzeln starrte er die nächsten Stunden in den güldenen Tränensee ohne sich über dessen Farbe überhaupt zu wundern, ihm war klar, dass dort am Boden seine letzten Reste Hoffnung schwammen. Aber es war nicht schlimm, denn nun konnte er sie ja ohnehin nicht mehr weitergeben, also brauchte er sie auch nicht mehr.

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Die ganze Nacht trug er nur ein klares Bild vor Augen: Die Menschen mit den steinernen Gesichtern, die Meister Memento und ihn am Ufer verabschiedet hatten.

Er hatte es nicht geschafft ihre Gesichter zu erhellen...

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21 Fiat Lux

Auf

der anderen Seite des riesigen Palastes richteten sich viele Sperrspitzen auf

Terralutums Brust. Misstrauisch beobachteten die Schäumenden wie Terra das goldene Schmuckplättchen von ihrer Stirn nahm und sich dessen spiegelnde Fläche musternd vor die Nase hielt. Die Wachen konnten nicht erkennen, was das Golemmädchen sah. Denn in der glänzenden Scheibe erschaute sie Sirálos in seiner Zelle sitzend, als sähe sie durch die Pfütze aus Tränen zu ihm hinauf.

Als sie gemeinsam die Sterne zurückgerufen hatten, war zwischen ihnen eine besondere Verbindung entstanden, dies hatte Terra damals sogleich tief in sich gespürt.

Sirálos machte in ihrem goldenen Spiegel ein so unendlich trauriges Gesicht, so bar jeglicher Hoffnung, dass Terralutum zum ersten Mal in ihrer endlosen Existenz die seiden behandschuhten Finger des Todesengels sich kalt um ihr irdenes Herz krallen fühlte. In Terras Land waren, bevor das Eis über die Welt gekommen war, die größten Sänger

die

wundervollen,

mit

Perlen

geschmückten

blauen

Schwäne

des

Kirschbaumsees gewesen. Einmal im Leben ihr vielstimmiges Lied zu hören, war Ziel vieler Menschen gewesen. Jedoch waren diese Chansons immer tragisch, denn jeder der blauen Schwäne sang nur ein einziges Mal im Leben und war sein Musikstück beendet, starb er und verwandelte sich in eine Erinnerung an etwas Geträumtes. Sirálos’ grämender Blick ließ auch Terra trocken schluchzen, bis in ihrem Rachen der harte Lehm aufbrach. Wärme drang aus ihrem Herzen hervor und füllte die entstandenen Risse mit geschmeidiger Weichheit.

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So hatte sie ihre Stimme gefunden im Angesicht größten Schmerzes, der nicht ihr eigener war und nur für den Rotfuchs stimmte sie ihre erste Melodie an und sang für Sirálos sein Todeslied. Erst ganz leise und nur für sich, dann immer lauter, klagender, streichelnder, zerbrechlicher, kräftiger, tröstender, samtener ... bis sich die Töne höher und höher schraubten und Verzierungen vornahmen, die noch nie ein Ohr in den Wäldern und Ländern von Ur gehört hatte und auch im gesamten Wolkenmeer jemals vernommen worden war. Terras Gesang entfachte in allen Köpfen die sie hörten, Bilder voll Zartgefühl und Liebe für den Rotfuchs. Sie sang wortlos und ohne Gedanken, drückte alles Gefühl aus, welches in ihr war, wob Klangfaden um Klangfaden in einen silbernen Stimmteppich hinein, hell und klar, als hätte sie im Leben nie etwas anderes gewollt, als für Sirálos zu singen. Die verzauberten Melodien hallten durch den gesamten Schaumpalast, durch jeden Raum, durchbrachen die Wolken und erreichten sogar die Vögel in den Bäumen von Ur, bis hinunter zu der Lichtung wo Sirálos’ Vater schlief und auch bis in Sirálos Kerker, vor dem in die Augen etlicher der Schäumenden Tränen traten, die vor seiner Zelle wachten.

Sirálos spitzte die Ohren und sog den überirdischen Klagegesang in sich auf. Er sah hinab auf die leuchtende Lichtpfütze seiner geweinten Tränen und sah Terras Gesicht in ihr. Ohne sein Zutun bewegte sich seine Hand zu dem goldenen See hin und berührte dessen Oberfläche und Terra, die dies in ihrem Schmuckstück sah, legte ebenfalls ihre Hand auf es und meinte augenblicklich Sirálos warme Finger in ihren kühlen spüren zu können.

So deutlich, als wäre ihr Besitzer direkt neben ihm, hörte der Rotfuchs eine Stimme in seinen Ohren. Aber es war nicht Terralutums, sondern die des Anderen. »Du trägst das Potential in dir, als Sieger aus dieser Geschichte hervorzugehen, als Held! Alles was du tun musst, ist vertrauen. Dies ist der einfachste Weg und zugleich auch die schwierigste Aufgabe auf deiner Reise.« Es mochte nur eine Erinnerung sein, die sich in ihm wiederholte, doch Sirálos hatte dennoch das Gefühl, der Andere wäre mit ihm im Raum und würde ihm die Quelle seiner Macht zeigen. Ein Blitz, der alle erweckte, war aus seinen Fingern in Einfacher-Weg hervorgebrochen, als er die Liebe zu seinen Freunden, im Antlitz der Gefahr sie zu verlieren, tief in sich - 80 -

gespürt hatte. Ein mächtiges Licht hatte sie gerettet, im selben Augenblick, als er Mitgefühl mit dem Lindwurm hatte, der sie zu fressen drohte. Dort hatte er es erkannt! Es gab kein existierendes Geschöpf, nicht einmal ein Ding oder Gegenstand vielleicht, welches nicht fähig war zu fühlen und zu lieben. Das Abendrot von Ur war der Inbegriff aller wertschätzenden Empfindungen. Ein Mord, war kein Ersatz dafür und würde es nie sein. Die Schaumschläger mussten dies in sich spüren lernen, sonst würden sie immer härter und kälter werden, wie es die Menschen von Ur wurden und schwer vom Himmel herabstürzen. Dann würde der Himmel sprichwörtlich auf Ur hinabfallen und das Land würde untergehen, wie Terras untergegangen war. Sirálos musste lieben und vertrauen. Nur Liebe machte die Dinge leicht! So öffnete er sein Herz, welches derart leer geworden war. Doch diese Leere bot Raum und ermöglichte ihm nun, alles und jeden darin einzulassen, genug Platz hierfür gab es jetzt. Und es strahlte heiß in seiner Brust und ohne es zu merken brach aus jeder Faser seines Seins goldenes Licht hervor. Es begann zwischen seinen und Terras Händen und die Tränenpfütze verdampfte zu Goldstaub, der ihn sonnig umwirbelte. Immer mehr Licht floss aus ihm heraus und seine glänzenden Strahlen durchdrangen die Wände seiner Zelle, blendeten und erwärmten die Wachen vor der Tür. Es drang durch die Hallen, Treppen, Flure. Es floss über die Balkone und Terrassen. Sprudelte aus den Brunnen in den Gärten des Schaumpalastes, sickerte durch alle Stoffe, Teppiche und unter jedem Türschlitz hindurch. Es durchtränkte alle Speisen, durchflutete alle Wolken, verwandelte alle Seifenblasen in kleine Sonnen ... Jeder der von dem Licht berührt wurde, fühlte sich angenommen, geliebt, geborgen, umsorgt und beschützt. Sie alle waren in Sirálos Herz genommen und jede Trennung, jede Barriere schwand dahin. So verglühten die Kerkergitter und –tore, die Fesseln schmolzen und Sirálos’ Freunde fanden sich befreit. Die Schäumenden spürten keinen Drang mehr sie zu bewachen, denn sie konnten sich nicht mehr vorstellen, dass irgendetwas gefährlich sein mochte oder verdient hatte so schlecht behandelt zu werden. Auf den Strahlen dieser unendlichen Geborgenheit, wurden Na’Uta, Bello, die Mulmenelse und Terra auf die Erde getragen. Terra landete neben den Eierschalen von Sirálos’ Geburt, die Mulmenelse in einem nebeligen Moor, in welchem sie sich sogleich heimatlich fühlte, Bello und Na’Uta fanden sich in der Stadt unter dem Meer wieder und kletterten in ihre Turmspitze hinauf, die als einziges Gebäude am Ufer in der Welt über der Welt stand. Na’Uta setzte seinen Freund den Papagei auf die Werkbank und - 81 -

nahm Verkleidung und Bart des Kapitäns ab, den dicken Bauch heraus und verwandelte sich in den alten, stillen Meister Memento zurück, den besten Uhrmacher von Ur. Besorgt trat er an sein Fenster und sah zum Himmel hinauf. War auch Sirálos zurückgekehrt? Auch Terra sah zu den glühenden Wolken hinauf und die Pfütze voll Untiefe, in welche Sirálos sich dereinst betrachtet hatte, folgte ihrem Blick und war nicht schlecht erstaunt über das Leuchten dort oben. Wo war Sirálos?

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22 Das Opfer

Vor vielen, vielen Jahren, als der König der Schaumschläger noch ein junger Prinz war, war sein Hochmut schon sehr ausgeprägt. Überzeugt davon, dass sein liebenswürdiger Vater ein Schwachkopf sei, der dem Glanz seines Reiches ein unwürdiger Herrscher war, tötete der Prinz den alten, gutmütigen König und setzte sich selbst auf den Thron. Bald schon gierte das Herz des jungen Königs nach den Reichtümern des Himmels und er begann seine Sammlung zusammenzutragen, zu der auch Bello gehören sollte. Mit jeder neuen Errungenschaft vergaß er eine jener, die er schon besaß und so häuften sich seine Schatzkammern, doch der König glaubte sie immer leer. Er war mit so wenig Gefühl für die Liebe geboren worden, dass er durch seine Handlungen bald alles vernichtete, was er von dem Wenigen an Herzlichkeit besessen hatte. Stattdessen steigerte sich seine Gier ins Unermessliche und mit ihr seine Grausamkeit. Er war es, der schließlich das Abendrot vom Himmel stahl. Doch in seinen Händen wurde es bald kalt und zerbrach zu schwarzem Glas. Im Verlöschen verschenkte das Licht seine letzte Gabe an den eigenen Dieb: Die Fröhlichkeit. Alles was der König von da an tat, bereitete ihm große Freude, doch die Lücke der Liebe, konnte das Licht nicht mehr füllen und so begehrte der König weiter Dinge, die nicht sein waren und noch grausamer trachtete er diese in Besitz zu nehmen, da es ihm nun zusätzlich noch wahre Freude vermittelte. Traurigerweise, war dies der Grund dafür, dass Sirálos’ Glanz bei ihm keine Wirkung zeigte. Er hatte ein solch heiliges Strahlen schon einmal berührt, missbraucht und zerstört. Zudem konnte das Licht ihm nichts geben, denn es erfüllte nur die tiefsten Sehnsüchte und der kalte Herrscher hatte keine größere Sehnsucht, als zu besitzen, um sich selbst zu erhöhen, nicht um auch etwas zurückzugeben. Derart hoffnungslos verdorbene Leute sind selten, aber es gibt sie und sie haben ihre Geschichte und ihren Sinn in derselben.

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Der König der Schaumschläger eilte nun also mit den habgierig erhobenen Händen der Maßlosigkeit durch das Schloss, immer schneller und näher auf die Quelle des Leuchtens zu. Er stolperte und stieg über seine seligen Soldaten und stand bald vor dem Kerker, in dem aber der Rotfuchs nicht mehr war und er rannte weiter, bis er, binnen kürzester Zeit Sirálos gefunden hatte, der auf einem Balkon stand, glühend liebte und dabei zusah, wie seine Freunde Ur sicher erreichten. Als der Monarch nun jedoch die Quelle des Lichts erkannte, wurde er zornig. Der Junge hatte ihn belogen, er hatte gesagt, er hätte das kraftvolle Abendlicht nicht gefunden! Er wollte es haben! Es gehörte ihm! So ein Glanz gebührte nur dem König des Himmels! Es war sein! Und wild geworden zog er seinen verzierten, königlichen Dolch und hieb oft und heftig auf Sirálos ein. Ein Laut der Überraschung entschlüpfte den Rotfuchs und im Niedersinken sah er sich nach seinem Angreifer um. Der König schöpfte mit beiden Händen das funkelnde Blut und trank es und schmierte es sich in das Gesicht, er wollte leuchten, strahlen, wie es der Junge getan hatte. Doch kaum lag der Rotfuchs schwach am Boden, erlosch das Licht augenblicklich und der Himmel war wieder grau und finster.

Sirálos war noch nicht tot, doch er lag im Sterben. Terra konnte es fühlen und ihr Ruf ließ Ur erbeben und weckte die Erde, Stein und Sand; und die Erde weckte die Wurzeln der Bäume, Gräser und Pflanzen aller Art und jeder reckte seinen Kopf in den Himmel.

Ein Ozean aus Blut floss aus Sirálos heraus und tränkte den Palast, bis er aussah, wie aus Granat und Rubin. Es tränkte die Wolken, bis sie ganz schwanger waren von dem goldroten Saft und der König verzweifelte, da er nicht glänzte und leuchtete. »Was soll das? Was soll das? Ich leuchte nicht, scheine nicht, friere noch! Aber ich bin doch der König des Himmels, mir gebührt die Ehre zu glänzen«, und er schüttelte den schwachen Rotfuchs vor dem er kniete, der so blass und klein aussah, kaum mehr als ein kleines Kind, schneeweiß und mit Gliedern aus rotem Glas. »Was soll ich tun?«, rief er. »Wie kann ich warm sein und strahlen?« »Mit Liebe«, flüsterte Sirálos im Sterben. »Du musst lieben, über dich selbst hinaus und Ur retten.«

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»Was liegt mir an Ur?« spuckte der König. »Außerdem wäre es ohnehin zu spät. Mementos Uhr ist abgelaufen. Du kamst zu spät! Ur kann nicht gerettet werden!« »Es ist nie zu spät zum lieben«, wisperte der Rotfuchs. »Hoffnung kommt immer rechtzeitig. Und was nützt dir eine Krone, wenn niemand zu dir aufschaut? Was nützt es König zu sein, wenn es niemanden gibt, der dir zur Seite steht, da jeder an deiner Seite erfriert?« »Du erfrierst nicht!« sagte der König, halb geknickt, halb zornig über das vorlaute Kind, welches zu schwach zum Stehen war, welches krank war und starb. Was hatte dieser Schwächling von einem Bengel ihm zu sagen? Was hatte er ihm über Liebe zu erzählen? »Ich erfriere nicht, weil ich das Meer der Finsternis siegreich durchfahren habe. Ich erfriere nicht, weil ich geliebt wurde und es vermag zu lieben ... sogar Euch, mein König, kann ich lieben.« Sirálos legte dem König seine Hand auf die Wange. »Vom Himmel aus, siehst du meine Eltern und Freunde, gib für mich auf sie acht und du wirst im Herzen dein eigenes Licht finden!« Dies waren die letzten gesprochenen Worte des Rotfuchs Sirálos, Kind der erstarrten Wassernymphe mit Haaren aus Mondlicht und Sohn des Grünen Mannes, Herrn über die Wälder und allen wachsenden Lebens.

Der Herrscher fühlte etwas in sich brennen und das goldschimmernde Blut von Sirálos auf sich kochen. Eine Explosion in seinem Inneren schmerzte weißglühend und warf ihn nieder. Seit er ein kleines Kind war, kaum mehr als ein Baby, hatte er dieses Feuer nicht mehr spüren müssen. Es rann durch seine Venen, zersprang in seinen Haarspitzen, brannte unter seiner Haut und heizte ihn auf. Seine verstorbene Frau drang ihm in den Kopf, seine sechsundzwanzig Töchter, schien er zum ersten Mal im Leben zu sehen und plötzlich fühlte er etwas für sie. Auch sah er all jene, die unter seiner Hand oder durch seinen Befehl den Tod gefunden hatten, bis zuletzt im Geiste, wie auch in Wirklichkeit das Bild des verbluteten, lichtberaubten Rotfuchs vor ihm stand. In stiller Andacht nahm er seine Krone vom Kopf und setzte sie dem Rotfuchs auf das blutverklebte Haar. »Ich bin nicht würdig dein Licht zu tragen und nicht würdig König des Himmels zu sein. Deine Wärme verbrennt mich zu Asche!« ächzte er. »Du jedoch, hast die Kraft in dir die Welt zum Guten zu wandeln. Ich nehme dein Opfer auf mich!« Mit diesen

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Worten sank der Schaumkönig neben den Rotfuchs nieder und löste sich in Seifenblasen auf, die in den Himmel schwebten und Sirálos spürte neues Leben in sich. Was einmal war, kann nicht auf selbe Weise noch einmal sein.* Der Rotfuchs stand nicht wieder auf, aber er lebte. Sein Blut fiel von den Wolken auf Ur nieder und verwandelte sich in sprühenden Funkenregen, als es Erde, Fels, Baum und Strauch berührte. Es erwärmte die Luft, ließ die Bäume grünen und kräftiger werden, weckte den Herren Winter, schmolz das Eis des Stillstands und öffnete die Knospen des Wandels. Die Wolken brachen auf und die Sonne senkte sich schon dem Abend, doch in diesen Moment, floss Sirálos leuchtendes Blut in das Schauspiel des Himmels hinein und verwandelte das Licht in Abendrot, welches den Tag verglühen ließ, ehe die Nacht anbrach. Somit brachte der Rotfuchs das ersehnte Mirakel in die Welt zurück. Und jedes Tier, jeder Mensch und jeder Fels sogar, war zu Tränen gerührt und folgte dem herrlichen Lichtspiel am Himmel. Jeder war sich sicher, dass das Abendlicht aus der älteren Zeit nie so schön war, wie dieses erste der jüngeren Zeit. Binnen kurzer Augenblicke war alles Eis verschwunden und die Mutter befreit. Der Vater reckte sich mit junger Kraft aus der Erde und fühlte sich munter und ausgeruht, kräftig und bereit für die Welt. Seine Augen waren nicht mehr schlammfarben, sondern von feurigem Grün. Auch seine ganze restliche Gestalt wirkte weniger verknöchert und alt, sondern grün, jung und frisch. Die Äste seiner Haare waren weich und gräsern geworden und ein kraftvolles Strahlen ging von ihm aus, das seinen Sohn stolz machte.

Körperlos, nur Geist und Seele glitt Sirálos als Licht über den Himmel und wohnte als Wärme und Freude in allen Herzen, aber besonders in denen seiner Eltern und dem von Terra, die nun nicht mehr stumm war. Sie hatte ihren Klang gefunden, zur selben Zeit, da der Rotfuchs nicht mehr mit menschlicher Stimme sprach. Er schaute seinen Freunden zu, wenn sich die Mulmenelse, Terralutum, Bello und Tempusius Memento, der mal ein Kapitän war, trafen, um über die alten Abenteuer zu erzählen. Er war ihnen dann ganz nah und Meister Memento deckte immer auch für Sirálos ein und sorgte dafür, dass auf dem Teller des Rotfuchs stets genügend Kekse lagen, deren Duft er in sich aufsog. *

vgl. Anmerkung Seite 52

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Jeden Abend blickte Sirálos auf Ur hinab und streichelte vom Horizont aus mit warmen Fingern die Gesichter seiner Lieben. Er erkannte, dass er die Kraft der Sonne im Herzen getragen hatte – schon immer und die ganze Zeit über. Denn nicht nur das Rot des Abends war nach Ur zurückgekehrt, sondern seit Sirálos in den Himmeln wohnte, war die Sonne um einiges kräftiger, goldener und wärmer, als hätte auch sie den Winterschlaf gut hinter sich gebracht. So verabschiedete der Vater nach kleiner Weile den Herren Winter wieder, in dessen klarer Luft das Morgen- und das Abendlicht am herrlichsten schillerte. Und der Vater weckte hiernach die Jungfrau Frühling auf und imkerte aus ihren Blüten einen besonderen Honig. Er gab Milch von den Sternen bei und machte die Paste mit Sonnenlicht geschmeidig. Die so entstandene Creme gab er seiner Findeltochter Terralutum, der Wundersängerin, Retterin des Lichtretters Sirálos, genannt Rotfuchs. Mutter und Vater formten aus Wasser und Lehm Flügel für Terra, die mit ihren Gaben zu jedem einzelnen Einwohner von Ur flog und das Gemisch auf deren steingraue, brüchige Haut strich, die sich augenblicklich ausheilte und das neu gewonnene Licht bis in die Seele vordringen ließ. Alles was lebte wurde durch diese Behandlung neu geboren. Jeder dankte Sirálos, wenn er oder sie zum Himmel hinaufblickten, dankten Terra, wenn sie zu Sirálos in den Himmel flog und ein Lachen der Freude und Herzenswärme ging durch die Wälder und Siedlungen von Ur. Es schallte in das umspannende All hinaus und noch viel weiter, als die Tränenbarke je hätte fahren können, bis an den Rand des Kosmos und auch darüber hinaus. Seither hallt es durch alle Welten und du hörst es, wann immer du dich urplötzlich über mauselochkleine Dinge zu freuen beginnst, von denen du eigentlich glaubst, sie hätten keine große Bedeutung. Wie etwa ein seltsam geformter Stecken vielleicht oder das Singen eines ulkigen Vogels oder unter Umständen einfach die tiefe Stille, die dich vermag ganz mit dir selbst zu füllen.

ENDE

21. Dezember 2010 11 : 12

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