Braucht eine Demokratie eine Festkultur?

1 Dmitry Yatsuk Braucht eine Demokratie eine Festkultur? Ein Essay von Dmitry Yatsuk zum Studierenden-Wettbewerb des Bundesministeriums des Innern 20...
Author: Pamela Hofmann
5 downloads 3 Views 545KB Size
1 Dmitry Yatsuk

Braucht eine Demokratie eine Festkultur? Ein Essay von Dmitry Yatsuk zum Studierenden-Wettbewerb des Bundesministeriums des Innern 2010 anlässlich des Jubiläums von Freiheit und Einheit Geboren als Sohn eines Weißrussen und einer Ukrainerin, hatte ich bis zum achten Monat meines Lebens mit Deutschen nichts zu tun. Und da fing es an. Ich wurde nämlich von einem „Wolga-deutschen“ Ehepaar getauft, natürlich, ohne dem Ereignis damals irgendeine Rolle beizumessen. (Damals zählten mir eigentlich völlig andere Sachen). Als ich später mal in der Schule vor dem Dilemma stand, Deutsch oder Englisch als Fremdsprache zu wählen, sagte mein Vater: -

Melde dich bei Deutsch an, deine beiden Opas sind ja wegen des Völkchens fast

ums Leben gekommen! -

Außerdem haben Goethe und Marx auf Deutsch geschrieben! - fügte meine

Mutter etwas hastig hinzu. In dieser zweiteiligen Argumentation steckt die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte. Dies findet auch im deutschen Festkalender seine Widerspiegelung: Der 1. Mai - Im Gehirn tauchen wie gerufen die deutschesten Idiomen auf in der Art „Was du heute kannst besorgen...“, „Übung macht den Meister“ und seltsamerweise der Konzernname Bosch. Der 27. Januar – Keiner riskiert mehr, seinem Kind den Namen Adolf zu geben. Der 17. Juni – Ich denke sofort an die Namen wie Hölderlin, Kant und... Boris Becker?! Der 3. Oktober – Meinen Kopf besuchen wilde Mottos „Good Buy, Lenin!“ und „Trabi ist doch ein Auto!“ So weit, so klar – großes Volk, komplizierte Geschichte, ein bisserl verrückter Kalender. Wenn ich den da mit einem weißrussischen oder russischen vergleiche, so kommen mir die unseren etwas lustiger oder auf jeden Fall weniger pathetisch vor. Dafür haben wir häufiger Anlass zum Feiern. Wenn man genauer hinguckt, so hat man fast den Eindruck, wir haben jeden Tag eine gute

2 Dmitry Yatsuk

Rechtfertigung, blau zu machen. In Smolensk schaute mein WG-Nachbar einen schönen Morgen bereits um 8 vorbei, um mich zu einem Schlamp einzuladen. Auf meine naive Frage, ob es da was zu feiern gab, sagte er mit Erstaunen: -

Na klar! Heute ist ja der internationale Tag der Pressefreiheit!

-

Aber du bist Bauarbeiter, Kolja!

-

Na und? Ich fühle mich trotzdem mit allen Journalisten der Welt solidarisch!

Außerdem ist man in Osteuropa sehr einig, wenn es darum geht, etwas zu feiern. Kommt der 23. Februar, der Tag des Heimatverteidigers, so werden alle Männer gratuliert, die es nur im Lande gibt! Auch diejenigen, die mit der Verteidigung der Heimat genauso viel zu tun haben, wie ich mit dem Bürgerkrieg in Mogadischu. Umgangssprachlich heißt er deshalb einfach: „Männertag“. Kommt der 8. Marz, so sind die Frauen daran, herzliche Glückwünsche zu empfangen, auch wenn so manche was dagegen hat. Frauen bekommen Gratulationen von dem eignen Mann, von dem Liebhaber, wenn es einen gibt, von Kollegen, von stockfremden Männern in der Straßenbahn – sie werden von dieser platzenden und spritzenden Liebe buchstäblich umlagert! Und das ist es, was hierzulande nicht so häufig vorkommt. Entweder feiern Deutsche in einem engen Familienkreis (Weihnachten, Ostern), oder in einer Interessenten-Community (z.B. Halloween). Kommt es zu roten Kalendertagen mit demokratisch-nationalem Flair, dann ist es häufig so, dass „irgendjemand, irgendwo feiert“ und die anderen zwar Bescheid wissen, aber so richtig Lust zum Mitmachen hat man auch nicht. Der

3.

Oktober

2009.

Am

Brandenburger Tor laufen die Riesen herum. In Berlin brodelt es. Paar Hundert Kilometer südlicher – mucksmäuschenstill. Stimmt, in Hochfranken ist ja auch ansonsten nicht viel los. Aber der Tag ist trotzdem Anlass genug, mindestens eine Flasche Sekt umzukippen. Nichts desgleichen. Um 10 gehen Hofer biedermeierlich selbstzufrieden schlafen.

3 Dmitry Yatsuk

Der 27. Januar. Ich brühe mir Kaffee im Studentenwohnheim der Hofer Beamtenhochschule. Im Nebenraum fängt ein Film über Adolf Eichmann an, so hab ich es ganz eilig. Klaus, mein Nachbar, schaut wenige Minuten später vorbei: -

Was gibt’s?

-

Nen Film über Eichmann.

-

Ach, über den Scheißnazi?

-

Genau.

-

Wie lange noch? Wir wollten grad bisserl zocken. Machst du mit?

-

Nö, Danke. Ich gucke mir lieber noch den Film hier an.

Klaus geht weg. Stimmt ja auch. Der Eichmann war ein Scheißkerl. Man hat ihn dafür aufgebammelt. Fertig. Zeit zum Zocken. Und das hat mit mir persönlich oder dem Klaus nichts mehr zu tun. So kultiviert wie er ist, weiß er bestimmt, was der 27. Januar für ein Tag ist. Aber was soll er damit? Eine Woche lang fasten? Oder den Bibi in Israel anrufen und sich höchstpersönlich entschuldigen?

Der 27. Januar ist ja KEIN Weihnachten. Es ist KEIN Anlass, den Champagner auszukorken. Man schickt KEINE Glückwunschkarten an die Verwandten. Man singt NICHT den „Tannenbaum“. Es sind generell KEINE Sitten mit dem Tag verbunden, die man konventionell ausüben sollte. Das Problem ist, dass man niemanden dazu zwingen kann, an einem gewissen Tag zu feiern oder zu trauern, wenn es einem nicht danach der Sinn steht. Entweder fühlt man sich als Europabürger oder nicht. 365 Tage pro Jahr. Auch wenn der Papandreou wieder mal Kohle kassieren will. Auch wenn ein bulgarischer Nachbar zum tausendsten Mal irgendeinen Schmachtfetzen abspielen lässt. Man fängt nicht am 9. Mai an, beim Aufwachen plötzlich an die Idee der europäischen Gemeinschaft zu glauben. Geht nicht.

Ich erinnere mich an einen schönen Sommertag in der Heimvolkshochschule Loccum, als wir uns unter der Leitung eines deutschen Lehrers mit dem Roman „Vorleser“ auseinandersetzen sollten. Man stellt uns den Mann vor, alle sind gut gelaunt, das Wetter ist sonnig, schöne Natur weit und breit und ansonsten ein ganz ordinärer Tag. Und der Lehrer hat Probleme, den Kurs anzufangen. Sein Gesicht schwitzt, seine Hände zittern, seine Stimme auch.

4 Dmitry Yatsuk

-

Der Typ hat ja anscheinend den kräftigsten Kater! – schmunzle ich meinem

Kumpel Edik hin. Plötzlich fängt der Lehrer an zu weinen. Einfach so, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Und auch lautlos. Seinem Gesicht laufen einfach Tränen runter. Die ganze Gruppe ist geschockt. Was soll denn das jetzt um Gottes Willen? -

Es tut mir so sehr Leid... Wir haben euch so viel Schmerz angetan! Ich wünsche

nur, ihr könnt uns mal verzeihen... Keiner sagt was. Alle starren ihre Notizbücher an. Ein gewöhnlicher, „blasser“ Kalendertag…

Wenn ich an all die holden Bezeichnungen im Festkalender denke, so scheint es mir manchmal, dass man sie an gewisse Tage angehängt hat, um an den Stellen im Jahresablauf sich orientieren zu können. Zumindest in meiner Familie sagt man nie „Anfang April“, „Ende Dezember“ oder „Mitte Mai“... In unserem gemütlichen Universum sind es „Kurz nach Ostern“, „Zu Weihnachten“, und „Zwischen dem VE-Day und Weras Geburtstag“. Klar, es gibt schon einen bestimmten Grund, wieso der „Arbeitstag“ am ersten Mai und der „Frauentag“ am achten März gefeiert werden. Die Amis gingen ja mal im Mai vor zig Jahren streiken und die Clara hatte schon immer Bock auf Partys, wusste aber nicht, womit mit dem Glück. Na und? Wenn jetzt die Bundeskanzlerin den 1. Mai zum Dirndltag verkündet, ist es mir der Anlass genug, einen Dirndl anzuziehen? Mir fällt bei diesem Gedanken mein Kommilitone Daniel ein, der mal im Juli Silvester gefeiert hat. Nein, Daniel ist kein Junkie und auch generell psychisch gesund. Na gut, vielleicht hat er an dem Tag was Schräges geraucht. Aber auf einmal fühlte er sich irgendwie „silvestrisch“. So hat er aus dem Wald einen Tannenbaum geholt, setzte allerhand Glitzerkram drauf, besorgte einiges zu saufen, lud so manche Kumpel ein und... Es hat geklappt! Ich selber war so weit, dass ich meine Eltern anrufen wollte, um sie zum Neujahr zu gratulieren. Na was für einen Neujahr, eigentlich? Schön, dass ich damals noch kein Handy hatte.

Festkalender ist also eine Falle. Ein Teufelswerk. Eine Chimäre. Festkalender wirkt ab und zu wie ein Loch in der Socke, wenn dich ein Mädel zum ersten Mal „kurz nach oben“ eingeladen hat - peinlich... -

Dimi, was wieherst du, wie ein Gascogne-Hengst? Heute ist ja Totensonntag!

-

Kopf höher, Junge! Fasching ist vor der Tür!

5 Dmitry Yatsuk

Was, wenn ich ausgerechnet heute nicht in der Laune bin, still zu halten? Oder wenn mir gerade jetzt zum Kotzen ist? Bin ich ein besserer Mensch, wenn ich am Totensonntag eine saure Miene behalte und zu Fasching in die Kneipe gehe und nicht umgekehrt? Respekt vor den Vorfahren, historisches Gedächtnis, Pflege von allgemeinen menschlichen Werten – das ist ja alles keine Frage des Datums, sondern die der Erziehung, der Einstellung und der emotionalen Innenwelt. Das

Thema

wurde

schon

seit

Ewigkeit zum Stein des Anstoßes zwischen mir und meinem Vater. Auf meine unreifen anarchistischen Überlegungen

sagte

er

schon

immer: - Der

Festkalender

ist

eigentlich das einfachste Beispiel für die

Umsetzung

des

Kontraktualismus. Die Gesellschaft hat Angst vor dem Ungeregelten und dem Uneingeordneten. Es ist lediglich ein Versuch, dem Chaos von unzählbaren emotionalen Zuständen, die ich, du und weitere Millionen von Menschen empfinden, eine zeitangebundene Form zu geben…

Ich bin müde vom Kritzeln. Und schenke mir ‘nen kühlen Becks frisch aus dem Kühlschrank ein. Der Schaum geht hoch. Auf den Glaswänden treten Kondensattropfen hervor. Ich mache einen Schluck. Herrlich! Ich glaube, ich mache den 2. Juni zu meinem persönlichen Bier-Tag. Nein, ich mache lieber HEUTE zu meinem Bier-Tag. Mag jemand lieber Cola? Ist kein Problem für mich. Man kann es durchaus simultan feiern. Ich – meinen Bier-Tag, und jemand – seinen Cola-Tag. Deutschland ist ja letztendlich ein demokratisches Land!

Quellenangabe für die Fotos: http://www.privetsochi.ru/tag/%D0%BF%D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA/ http://www.frankenpost.de/bilder/party/galerie/cme34674,0?fCMS=cb5eb211f332fe416154b35c4c38fbf3 http://elbosquedefantasia.wordpress.com/2009/11/02/dia-de-muertos-mexico/