BENJAMIN LUDWIG Ginny Moon hat einen Plan

BENJAMIN LUDWIG Ginny Moon hat einen Plan Hardcover 13,5 x 21,5 cm ISBN 978-3-95967-099-9 380 Seiten / erscheint 09/2017 Aus dem Amerikanischen von E...
Author: Dominik Kraus
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BENJAMIN LUDWIG Ginny Moon hat einen Plan

Hardcover 13,5 x 21,5 cm ISBN 978-3-95967-099-9 380 Seiten / erscheint 09/2017 Aus dem Amerikanischen von Edith Beleites 18,00 € [D] / 18,50 € [A]

Ginny Moon ist vierzehn Jahre alt, liebt Michael Jackson – und wenn sie nicht jeden Morgen neun Trauben frühstücken kann, droht der Tag in einer Misere zu versinken. Bei ihren dritten Pflegeeltern hat sie endlich ein Zuhause gefunden. Andere wären jetzt glücklich. Aber Ginny versteht die Welt nach ihrer eigenen Logik. Ob ihre leibliche Mutter nun gemeingefährlich ist oder nicht: Ginny muss sie finden. Dafür nimmt sie nicht nur Verfolgungsjagden mit der Polizei und die eigene Entführung in Kauf, sondern muss auch lernen, dass sich das Leben manchmal nicht in ungeraden Zahlen fassen lässt …

Benjamin Ludwig unterrichtet Englisch und Creative Writing und lebt mit seiner Familie in New Hampshire. Er und seine Frau sind selbst Adoptiveltern eines autistischen Teenagers. Ginny Moon hat einen Plan ist sein erster Roman. Inspiriert haben ihn Gespräche, die er mit Eltern beim Basketball-Training für © Amy Neswald

die Special Olympics geführt hat.

18:54, DIENSTAG, 7. SEPTEMBER Das elektronische Plastikbaby hört nicht auf zu weinen. Meine Herzenseltern sagten, es würde sich wie ein echtes Baby benehmen, aber das tut es nicht. Ich kann es nicht beruhigen. Nicht mal, wenn ich es in die Arme nehme und sachte wiege. Oder ihm die Windeln wechsle oder das Fläschchen gebe. Auch wenn ich sch-sch-sch mache oder ihm meinen Finger zum Nuckeln gebe, schaut es mich nur starr an und weint und weint und weint. Ich drücke es noch einmal an mich. Ist ja gut, ist ja gut, sage ich, aber die Worte sind nur in meinem Kopf. Dann versuche ich es mit all den Dingen, die Gloria immer getan hat, wenn ich wieder verrücktspielte. Danach halte ich sein Köpfchen und wippe auf und ab, auf und ab. „Alles wird gut“, sage ich. „Alles wird gut.“ Das heißt, ich singe es mehr, laut und leise, hoch und tief. Dann: „Tut mir leid.“ Das Baby weint immer noch. Ich lege es auf mein Bett, und als es noch lauter schreit, fange ich an, meine Babypuppe zu suchen. Die richtige. Dabei weiß ich, dass ich sie nicht mitgenommen habe. Sie ist noch in Glorias Wohnung, aber wenn ich Babys weinen höre, halte ich es nicht aus und muss sie suchen. Es ist wie ein Gesetz, das ich befolgen muss. Ich schaue in meinen Schubladen nach. Ich schaue in den Schrank. Ich suche überall, wo eine Babypuppe liegen könnte. Sogar in meinem Koffer. Er ist groß und schwarz und wie ein Kasten geformt. Ich ziehe ihn unter dem Bett hervor und öffne den Reißverschluss, aber meine Babypuppe ist nicht da. Ich hole tief Luft. Das Weinen muss aufhören. Wenn ich das elektronische Baby in den Koffer lege, alles mit Decken und Stofftieren auspolstere und ihn unters Bett zurückschiebe, kann ich es vielleicht nicht mehr hören, als würde ich das Geräusch in mein Gehirn verbannen. 63

Denn das Gehirn sitzt im Kopf, wo es so dunkel ist, dass niemand etwas darin sehen kann. Niemand außer mir. Und genau das werde ich tun. Ich lege das elektronische Baby in den Koffer und bedecke es mit Decken, einem Kissen und mehreren Stofftieren. Bestimmt hört es gleich auf. Denn zum Weinen braucht man Luft.

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19:33, DIENSTAG, 7. SEPTEMBER Ich habe geduscht, aber das elektronische Plastikbaby weint immer noch. Inzwischen hätte es still sein sollen, aber das ist es nicht. Meine Herzenseltern sitzen auf der Couch und schauen sich einen Film an. Meine Herzensmutter hält die Füße in einen Wassereimer. In letzter Zeit schwellen sie an, sagt sie. Ich gehe ins Wohnzimmer, stelle mich vor sie und warte. Weil sie eine Frau ist. Mit Frauen komme ich besser zurecht als mit Männern. „Na, Ginny?“, sagt sie, und mein Herzensvater drückt die Fernbedienung auf Pause. „Was gibt’s? Du siehst aus, als wolltest du etwas sagen.“ „Ginny“, sagt mein Herzensvater. „Hast du wieder an deinen Fingernägeln gepult? Du blutest ja.“ Das waren zwei Fragen auf einmal, also sage ich nichts. Dann fragt meine Herzensmutter: „Was ist los, Ginny?“ „Ich will das elektronische Plastikbaby nicht mehr haben“, sage ich. Sie streicht sich die Haare aus der Stirn. Ich mag ihre Haare. Im Sommer hat sie mir erlaubt, sie zu Zöpfen zu flechten. „Du warst jetzt fast eine Dreiviertelstunde unter der Dusche“, sagt sie. „Hast du denn versucht, das Baby zu beruhigen? Hier, nimm das, bis wir dir Pflaster geholt haben.“ Sie gibt mir eine Serviette. „Ich habe ihm das Fläschchen gegeben und es dreimal gewickelt“, sage ich. „Ich hab es in den Arm genommen und geschaukelt, aber es hat nicht aufgehört, also hab …“ Ich spreche nicht weiter. „Es ist ja bis hier zu hören“, sagt mein Herzensvater und horcht in den Flur. „Ich wusste gar nicht, dass es so laut werden kann.“ „Kannst du es bitte beruhigen?“, sage ich zu meiner Herzensmutter. Dann noch einmal: „Bitte!“ 65

„Ich freue mich, dass du um Hilfe bittest“, sagt sie. „Patrice wäre stolz auf dich.“ Durch den Flur höre ich das ununterbrochene Weinen und fange an, mich nach einem Versteck umzuschauen, weil ich mich daran erinnere, dass Gloria immer aus dem Schlafzimmer gekommen ist, wenn ich meine Babypuppe nicht beruhigen konnte. Vor allem, wenn sie einen Freund zu Besuch hatte. Manchmal, wenn ich sie kommen hörte und die Babypuppe geweint hat, bin ich schnell mit ihr aus dem Fenster geklettert. Ich umklammere die Serviette und schließe die Augen. „Wenn du es beruhigen kannst, bitte ich dich jetzt immer um Hilfe“, sage ich und schlage die Lider wieder auf. „Ich gehe mal nachsehen“, sagt mein Herzensvater. Er steht auf. Als er an mir vorbeigeht, weiche ich zurück. Dann sehe ich, dass es nicht Gloria ist. Er wirft mir einen merkwürdigen Blick zu und geht in den Flur, bevor ich höre, wie er meine Zimmertür öffnet. Das Weinen wird lauter. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war“, sagt meine Herzensmutter. „Wir wollten dich an ein Baby gewöhnen, aber es funktioniert nicht gerade so, wie wir uns das vorgestellt haben.“ So laut wie das Weinen jetzt aus meinem Zimmer dringt, kann es gar nicht mehr lauter werden. Dann kommt mein Herzensvater zurück und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. „Sie hat es in ihren Koffer gepackt“, sagt er. „Was?“, sagt meine Herzensmutter. „Ich musste dem Geräusch folgen, weil ich sie nirgendwo finden konnte. Ginny hat sie mit Decken und Stofftieren bedeckt, den Reißverschluss zugemacht und den Koffer wieder unters Bett geschoben.“ „Ginny, warum hast du das getan?“, fragt meine Herzensmutter. „Es hat nicht aufgehört zu weinen“, sage ich. „Ja, aber …“ 66

Mein Herzensvater unterbricht sie. „Wir werden alle noch verrückt, wenn wir die Sache nicht beenden. Ich hab ja versucht, das abzustellen, und ich hab es auch nicht geschafft. So kann es nicht weitergehen. Wir sollten Mrs. Winkleman anrufen.“ Mrs. Winkleman unterrichtet Gesundheitslehre. „Sie hat Ginny heute Morgen ihre Nummer gegeben, für Notfälle“, sagt meine Herzensmutter. „Auf einem Zettel. Schau mal in ihrem Rucksack nach.“ Er geht wieder durch den Flur und öffnet meine Zimmertür. Ich halte mir die Ohren zu. Als er wiederkommt, hält er meinen Rucksack in der Hand. Meine Herzensmutter findet den Zettel und greift zu ihrem Handy. „Mrs. Winkleman?“, höre ich sie sagen. „Hier ist Ginnys Mutter. Es tut mir leid, so spät noch anzurufen, aber wir haben ein Problem mit der Puppe.“ „Mach dir keine Sorgen, Herzenstochter“, sagt mein Herzensvater. „Es ist gleich vorbei. Dann kannst du dich fürs Bett fertig machen. Es tut mir leid, dass dich das Geschrei so mitnimmt. Wir dachten …“ Meine Herzensmutter beendet das Telefonat. „Sie sagt, die Puppe hat ein Loch im Nacken. Man muss eine Büroklammer reinstecken und einen Knopf drücken. Dann hört es auf zu weinen.“ Mein Herzensvater geht in sein Arbeitszimmer, dann wieder durch den Flur in mein Zimmer. Ich beginne zu zählen. Bei zwölf verstummt das Baby. Und jetzt kann ich wieder atmen.

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14:27, MITTWOCH, 8. SEPTEMBER In der vierten Stunde, da hatten wir Sozialkunde, kam Mrs. Lomos ins Klassenzimmer, um mir eine Nachricht zu überbringen. Sie ist meine Vertrauenslehrerin, trägt große runde Ohrringe und viel Make-up. „Deine Eltern kommen nachher zu einem Gespräch in die Schule“, sagte sie. „Hinterher nehmen sie dich mit nach Hause, also bleib einfach in Raum fünf bei Miss Dana, wenn es zum Schulschluss klingelt. Du kannst dann schon mit den Hausaufgaben anfangen, bis sie dich rufen. Sie wollen, dass du bei dem Gespräch dabei bist.“ Jetzt bin ich in Raum fünf. Hier bekomme ich Extrastunden in Sprache und Literatur, zusammen mit den anderen Schülern mit besonderen Bedürfnissen. Weil ich Autismus und Entwicklungsstörungen habe. Gestern hat mir keiner etwas von dem Gespräch erzählt. Ich glaube aber, dass es um das elektronische Plastikbaby geht. Heute muss Miss Dana die Schüler zum Schulbus bringen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe sie in der orangefarbenen Weste neben Bus Nummer vierundsiebzig stehen. Das ist mein Bus. Davor und dahinter stehen die anderen Busse. In Reihen aufgestellte Schüler steigen ein. Im Schulflur höre ich die Sportschüler auf dem Weg zum Training. Alison Hill und Kayla Zadambidge sind schon gegangen. Das sind die anderen beiden, die zusammen mit Larry und mir in Raum fünf Unterricht haben. Normalerweise fahren die Busse um halb drei ab, aber drei Minuten reichen mir nicht, um ins Internet zu gehen. Ich versuche es schon eine ganze Weile, aber ohne Lehrer darf ich es nicht. Bei Carla und Mike habe ich mir einmal Carlas Laptop unter den Pullover gesteckt und mich in den Wandschrank gesetzt. Ich hatte gerade erst Gloria LeBla… bei Google eingegeben, als die Tür aufging und Carla mich erwischte. Sie nahm mir den Laptop weg, und als ich aufstand, hat sie mich angeschnauzt, also geschrien und geflucht. 68

Das hat mir schreckliche Angst gemacht. Als ich in der Schule an einem Referat über Großkatzen gearbeitet habe, konnte ich bei Google eingeben: Gloria verkauft Maine Coone-Katzen. Denn damit verdient sie ihr Geld. Aber der Lehrer hat es gemerkt, und als sie mich auf die neue Schule in der Nähe meiner neuen Herzenseltern geschickt haben, meinten meine neuen Eltern, ich darf nicht allein ins Internet, zu meiner eigenen Sicherheit. Dann sagte Maura, sie und Brian liebten mich sehr und das Internet sei einfach nicht sicher. Das hat sie aber nicht gemeint, sondern: Wir wissen, dass du es benutzt, um Gloria zu finden. Meine Herzensmutter hat sogar recht, denn Gloria ist in der alten Wohnung bei meiner Babypuppe. Ich weiß aber nicht, in welcher Stadt. Ich muss herausfinden, ob sie meine Babypuppe gefunden hat. Aber vielleicht ist es schon zu lange her, und ich bin zu spät dran. Falls es noch nicht zu spät ist, muss ich die Puppe schnell aus dem Koffer holen und mich um sie kümmern, denn manchmal geht Gloria aus und bleibt dann tagelang weg. Außerdem kommen ihre Männerfreunde oft vorbei. Und sie wird oft wütend und schlägt dann um sich. Und dann gibt es noch Donald, wenn er mal da ist. Ich wünschte, ich könnte öfter hier sein, aber ich kann nicht, hat Crystal mit C immer gesagt, wenn ich ihr von den Sachen erzählt habe, die Gloria gemacht hat. Pass also gut auf deine Babypuppe auf, denn sie wird immer dein liebes kleines Baby sein, egal, was sonst passiert. Ich tauche aus meinem Gehirn auf und pule an meinen Fingernägeln. Larry kommt herein. Er legt seinen Rucksack auf einen Tisch, lehnt seine Armstützen an die Wand und setzt sich. Seine Armstützen sind so etwas wie Krücken, nur dass sie direkt am Körper befestigt werden. Larry sieht damit aus wie eine Heuschrecke. Er hat braune Haare und braune Augen. Meine Augen sind grün. Außerdem singt er die ganze Zeit und hasst Mathe, genau wie ich. „Hey, Baby“, sagt er. 69

„Ich bin kein Baby“, sage ich. „Ich bin dreizehn. Hast du das immer noch nicht begriffen? Das ist ermüdend.“ Ermüdend bedeutet, andere damit zu verärgern, dass man immer wieder dasselbe sagt. So wie Patrice mir immer wieder erzählt hat, in Glorias Wohnung sei ich selbst wie eine Babypuppe gewesen. Das sagte sie immer, wenn ich ihr klarzumachen versuchte, dass ich nachsehen müsste, ob es der Kleinen gut ging. Aber das hat sie überhaupt nicht verstanden. Larry streckt seinen Arm aus und gähnt. „Mann, bin ich müde! Es war so ein langer Tag. Und jetzt muss ich noch hierbleiben, bis meine Mom mich zum Volleyballtraining meiner Schwester abholt.“ „Mach doch deine Hausaufgaben, während du wartest“, rate ich ihm, genau wie Mrs. Lomos mir. Ich hole mein Buch für Sprache und Literatur aus dem Rucksack und schlage es auf Seite siebenundfünfzig auf. Da steht ein Gedicht von Edgar Allan Poe. „Nö“, sagt Larry. „Ich gehe mal auf Facebook. Seit gestern habe ich einen Account.“ Er steht auf, legt seine Armstützen wieder an und geht an den Computer. Ich beobachte ihn. „Bist du auch bei Facebook?“, fragt er, als er am Computer sitzt und auf der Tastatur herumtippt, ohne zu mir hinüberzuschauen. Ich schaue auf meine Hände. „Nein.“ „Dann wird’s aber Zeit, Baby.“ Er sieht mich an. „Komm, ich zeig’s dir. Alle coolen Kids sind bei Facebook, Digger.“ Larry sagt andauernd Digger. Ich glaube, es ist nur einer dieser Ausdrücke, die nichts bedeuten. „Ich darf nicht ohne Erwachsene ins Internet.“ „Ach ja, stimmt. Warum eigentlich nicht?“ „Weil Gloria im Internet ist.“ „Wer ist Gloria?“ „Meine biologische Mutter. Ich habe früher bei ihr gewohnt.“ 70

Dann sage ich nichts mehr. „Ist sie denn so leicht zu finden?“, fragt Larry nach einer Weile. Ich schüttele den Kopf. „Ich hab es schon dreimal probiert, bei verschiedenen Pflegefamilien, aber ich wurde immer unterbrochen.“ „Wie war noch mal ihr Name?“ „Gloria.“ Ich merke, dass ich aufstehe. Ich bin aufgeregt, aber auf eine gute Art, weil Larry mir helfen will. „Und wie weiter?“, fragt er. Ich beuge mich vor und sehe Larry über meinen Brillenrand hinweg an. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, aber sie fallen wieder nach vorn. Ich wünsche, ich hätte ein Haargummi dabei. „Gloria LeBlanc.“ Es ist lange her, dass ich diesen Namen ausgesprochen habe. Mein neuer Name ist nämlich Ginny Moon. Denselben Nachnamen haben meine Herzenseltern. Maura und Brian Moon. „Kannst du das mal buchstabieren?“, fragt Larry, und ich buchstabiere es. Larry tippt die Buchstaben ein, dann geht er beiseite und zeigt auf den Stuhl. Ich setze mich vor den Computer. Dann sehe ich sie. Gloria, die mich geschlagen hat, umarmt und dann geweint hat. Gloria, die mich so oft und so lange in der Wohnung allein ließ, mir aber aufregende Getränke gab, wenn wir auf der Couch saßen und uns Monsterfilme anschauten. Sie sagte, sie sei fit in der Birne, egal, was andere sagen, denn schließlich hätte sie auf dem Zweiten Bildungsweg ihr Abi geschafft, mit Pauken und Trompeten. Ich stellte mir eine Parade von Funkenmariechen in kurzen Röcken vor, die einem Tambourmajor hinterhermarschieren, winken und lachen. Gloria, der zweitfurchteinflößendste Mensch, den ich kenne. Gloria, meine biologische Mutter. Sie trägt jetzt andere Sachen, und ihre Frisur ist anders, aber 71

der ganze Bildschirm ist voller Fotos von Maine Coone-Katzen. Außerdem trägt sie immer noch eine Brille und ist so dünn wie ich. Seit ich neun war, habe ich sie nicht gesehen und nicht mit ihr gesprochen. Das letzte Mal, als die Polizei gekommen war. „Es tut uns leid, Ginny. Es tut uns wirklich leid.“ Jetzt bin ich dreizehn, aber am 18. September werde ich vierzehn, und das ist schon in neun Tagen, denn 18. September - 9. September ----------------------9 ============= Mit neun kam ich dann auch zu meinen ersten Pflegeeltern, aber nur für zwei Monate. Ich sollte sie meine Herzenseltern nennen, wie alle Erwachsenen, die mich aufnahmen. „Baby?“, sagt Larry. Er redet mit mir. Also tauche ich wieder aus meinem Gehirn auf. „Was?“, frage ich. „Willst du sehen, ob sie online ist, und mit ihr chatten?“ Wow! Ich weiß, chatten bedeutet reden. Larry zeigt auf einen Punkt am Bildschirm. „Klick das da an.“ Ich klicke, und es öffnet sich ein Feld, in das ich etwas tippen kann. „Schreib, was du ihr sagen willst“, sagt Larry. „Oder schreib nur hi, oder stell ihr eine Frage.“ Hi will ich nicht schreiben. Stattdessen frage ich, was ich jeden frage und was keiner nie nie nie versteht: Hast du meine Babypuppe gefunden? Dann warte ich. 72

„Du musst es noch abschicken“, sagt Larry. Aber ich kann ihn nicht richtig verstehen, denn die Bilder von der Polizei und Gloria und unserer Küche ziehen so schnell an mir vorüber, dass ich nichts anderes wahrnehmen kann. Ich tauche wieder tief in mein Gehirn ein, sehe Gloria, die von einem Polizisten mit dem Gesicht an die Wand gedrückt wird. Ich entdecke die aufgebrochene Tür und das Licht, das von draußen hereinströmt, und zwei Katzen, die hinausrennen. Ich weiß aber nicht mehr, welche es waren. „Hier“, sagt Larry. „Ich schicke es für dich ab.“ Ich sehe einen Pfeil, der sich über den Bildschirm bewegt, bis er auf Senden landet. Dann zähle ich, denn falls etwas passiert, muss ich wissen, wie weit ich zählen kann, bis es so weit ist – vor allem falls die Antwort kommt, auf die ich seit vier Jahren warte. Sechs Sekunden vergehen. Dann erscheinen Buchstaben unter der Zeile, die ich eingegeben habe. Sie werden zu: Bist du das, Ginny? Aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Ich will an meinen Fingernägeln pulen, kann aber nicht, weil da eine Frage auf dem Bildschirm steht und ich an der Reihe bin zu schreiben. Also schreibe ich: Ja, ich bin Ginny. Du hast meine Frage nicht beantwortet. Dann klicke ich auf Senden, wie Larry es mir gezeigt hat. Als Nächstes erscheint ein einziges Wort auf dem Bildschirm, und zwar: JA! Und dann: 73

JA WIR HABEN DEINE BABYPUPPE GEFUNDEN WO ZUM TEUFEL STECKST DU?! Ich möchte schreiben: Passt ihr gut auf sie auf? Aber meine Hände zittern so sehr, dass sie mir nicht gehorchen. Außerdem hat Gloria mir eine Frage gestellt. Ich öffne und schließe meine Hände dreimal, schiebe sie mir dann kurz zwischen die Knie und hebe sie wieder an. Dann tippe ich: In Raum fünf mit Larry. Gloria schreibt: WER IST LARRY WO WOHNST DU? Ich pule an meinen Fingernägeln. Ich muss, denn ich will nicht über Larry reden. Und meine Adresse will ich auch nicht nennen. Ich will nur über meine Babypuppe reden. Gloria hat zwar geschrieben, dass sie die Puppe gefunden haben, aber ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist und ob es meiner Puppe wirklich gut geht. Gloria ist nämlich unzuverlässig und lügt. Also schließe und öffne ich wieder meine Hände, zweimal, und konzentriere mich aufs Atmen. Dann schreibe ich: Larry ist mein Freund. Cedar Lane 57, Greensb Doch ich höre mitten im Wort auf, denn ich höre Miss Dana im Flur, die mit jemandem spricht. Mit einer anderen Lehrerin, nehme ich an. Das wiederum bedeutet, dass ich in ungefähr einer Minute erwischt werde. „Baby?“, sagt Larry fragend. Er steht hinter mir und klingt ungeduldig. Also schreibe ich schnell: 74

Ich muss aufhören. Ich drücke auf Senden und würde am liebsten noch hinzufügen: Kannst du mir meine Babypuppe bitte bitte bitte bringen? Aber es ist zu spät, und Miss Dana kann jede Sekunde reinkommen. Ich stehe schnell auf und gehe vom Computer weg. Kurz darauf berührt mich jemand an der Schulter, und ich weiche zurück. Beinahe falle ich hin. Als ich sehe, dass es bloß Larry ist und niemand mir wehtun will, nehme ich die Arme wieder herunter, die ich mir vor den Kopf gehalten habe, und schaue auf die Stelle am Bildschirm, wo wieder Buchstaben erscheinen: WALDKATZE.COM Danach: DA FINDEST DU MICH WENN DU WILLST. Und dann: VERGISS ES ICH MACHE MICH GLEICH AUF DEN WEG BIN MORGEN DA. Ich schaue weg. Ich kann Gloria nicht sehen, nicht ihre Wohnung, nicht meine Babypuppe. Ich sehe nur Larry. Einen Arm hat er von der Stütze befreit und reckt sie in die Luft. „Hey“, sagt er. „Alles in Ordnung mit dir? Los, wir müssen uns setzen und die Bücher rausholen!“ Dann beißt er sich auf die Lippen. „Ich schalte den Computer jetzt aus. Verrate uns bloß nicht, indem du jetzt ausflippst oder so.“ Er legt die Hand auf die Maus, klickt auf Logout und dann auf das X in der rechten oberen Ecke des Bildschirms, bevor er zu seinem Tisch geht 75

und Platz nimmt. Ich setze mich auch, reibe mir die Hände, als könnte ich sie waschen, und schaue auf das Bild von Edgar Allan Poe. Miss Dana kommt herein. „Ginny, deine Eltern sind da“, sagt sie. „Sie warten in Mrs. Lomos’ Büro.“ Ich stehe auf, nehme meinen Rucksack und verlasse den Raum. Im Flur fange ich an zu rennen, wobei ich mit einer Hand an der Wand entlangfahre, weil ich das Gefühl habe, umzufallen, wenn ich mich nicht an irgendetwas festhalten kann. Ich renne und renne und renne. Ich bin immer noch ganz aufgeregt. Und ich habe Angst. Denn Gloria kommt. Hierher, in meine Schule.

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14:50, MITTWOCH, 8. SEPTEMBER Meine Herzenseltern stehen vor dem winzigen Büro von Mrs. Lomos. „Komm mit in den Konferenzraum, Ginny“, sagt Mrs. Lomos. Wir brauchen fünf Schritte auf die andere Seite des Flurs. Meine Herzenseltern setzen sich an den Konferenztisch, also setze ich mich auch. „Hi, Ginny“, sagt meine Herzensmutter. „Hi“, antworte ich. Sie legt die Hände auf den dicken Bauch, der inzwischen die Form eines Basketballs hat. Auch mein Herzensvater hat einen dicken Bauch und ein rundes Gesicht, aber er trägt keinen weißen Bart und hat auch keine rote Kirschnase. „Ginny, deine Eltern sind gekommen, um darüber zu reden, was gestern mit dem elektronischen Baby passiert ist“, sagt Mrs. Lomos. Ich warte darauf, dass sie mit dem Reden anfangen, aber das tun sie nicht. „Sie sagen, du hast es in einen Koffer gesperrt“, sagt Mrs. Lomos. „Stimmt das?“ „Meinen Sie das elektronische Plastikbaby?“, frage ich. Mrs. Lomos sieht mich merkwürdig an. „Ja, natürlich.“ „Dann ja“, sage ich. „Warum hast du das getan?“ Ich drücke die Lippen aufeinander, damit mir niemand ins Gehirn sehen kann. Dann sehe ich Mrs. Lomos über die Brillenränder hinweg an. „Weil es geweint hat.“ „Da hast du also beschlossen, es unter den Decken zu verstecken und im Koffer einzuschließen?“ „Nein“, sage ich. „Ich habe den bunten Quilt vorher rausgenommen.“ Es ist das Einzige, was ich aus Glorias Wohnung mitgenommen habe. Gloria hat ihn selbst gemacht, und ihre französische Mutter hat ihr dabei geholfen, als sie nach meiner Geburt mit mir nach Kanada geflohen war. Zusammen haben 77

sie den Quilt für mich gemacht, extra für mich. Und ich habe ihn dazu verwendet, meine Babypuppe darin einzuwickeln. „Verstehe. Aber warum hast du nicht versucht, das Baby zu beruhigen?“ „Das elektronische Plastikbaby? Aber das habe ich doch! Ich habe immer sch-sch-sch gemacht, genau wie man es soll, und ich habe versucht, ihm meinen Finger zum Nuckeln zu geben, aber das Loch in seinem Mund war nicht groß genug. Ich habe ihm auch das Fläschchen gegeben.“ „Und das hat nichts genützt?“ Ich schüttele den Kopf. „Hast du noch etwas anderes versucht, um das Baby zu beruhigen?“, fragt mein Herzensvater. Wieder drücke ich die Lippen zusammen und schüttele noch einmal den Kopf. Lügen tut man nämlich mit offenem Mund. Eine Lüge ist etwas, das man ausspricht. „Bist du dir sicher?“, fragt er. „Denk doch noch einmal nach.“ Also denke ich nach. Darüber, dass ich den Mund geschlossen halten sollte. „Im Inneren des elektronischen Babys steckt ein Computer, Ginny“, sagt Mrs. Lomos. „Er zählt, wie oft das Baby gefüttert und gewickelt wurde und wie lange es geweint hat. Der Computer zeichnet sogar Hiebe und Erschütterungen auf.“ Alle sehen mich an. Alle. Meine Herzenseltern sitzen nebeneinander auf der anderen Seite des Tischs. Ich weiß nicht, was Hiebe und Erschütterungen sind, aber keiner fragt etwas, also lasse ich den Mund weiter zu. Mein Herzensvater holt einen Zettel aus der Tasche. „Der Computer sagt, das Baby wurde dreiundachtzig Mal geschlagen und viermal geschüttelt.“ Er legt den Zettel auf den Tisch. „Hast du das Baby geschlagen, Ginny?“ „Das elektronische Plastikbaby“, sage ich, obwohl wir die Regel haben, dass wir uns gegenseitig nicht verbessern. 78

„Es spielt keine Rolle, ob das Baby echt ist oder nicht“, sagt er. „Wir hatten dich gebeten, dich zu kümmern. Wir können doch nicht …“ „Brian“, sagt meine Herzensmutter. Und dann zu mir: „Es ist nicht in Ordnung, ein Baby zu schlagen oder zu schütteln, Ginny. Auch kein unechtes Baby. Verstehst du das?“ Ich mag meine Herzensmutter sehr. Sie hilft mir jeden Abend nach dem Essen mit den Hausaufgaben und erklärt mir Dinge, die für mich sonst keinen Sinn ergeben. Außerdem spielt sie Halma mit mir, wenn ich aus der Schule komme. Deswegen sage ich: „Damals in der Wohnung von Glo…“ „Wir wissen, was da passiert ist“, unterbricht sie mich. „Und es tut uns sehr leid, dass sie dir wehgetan hat. Aber es ist nicht in Ordnung, einem Baby wehzutun. Deswegen musst du noch einmal mit Patrice sprechen. Sie wird dir helfen zu lernen, wie du eine gute große Schwester sein kannst.“ Patrice ist Psychologin. Ihr Spezialgebiet ist die Familientherapie. Seit der Adoption im Juni habe ich sie nicht gesehen. Vorher wohnte ich schon ein Jahr lang bei meinen Herzenseltern in ihrem Blauen Haus. Damals bin ich auch auf die neue Schule gekommen. Was mich daran erinnert, dass Gloria sich gleich auf den Weg macht. Ich weiß nicht, wie lange sie hierher braucht. Ich weiß auch nicht, ob sie es schafft, bevor ich das nächste Mal mit Patrice spreche. Das ist aber wichtig, denn ich muss immer wissen, wann etwas passiert, damit ich mitzählen und auf die Uhr schauen kann, um sicherzustellen, dass alles so abläuft, wie es soll. Ich pule an meinen Fingernägeln und frage: „Wann gehe ich denn zu Patrice?“ „Wir rufen sie heute an und fragen, wann sie einen Termin frei hat“, sagt meine Herzensmutter. „Vielleicht Anfang nächster Woche. Bestimmt findet sie Zeit für dich.“

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14:45, DONNERSTAG, 9. SEPTEMBER Gloria ist heute nicht zur Schule gekommen. Ich habe gewartet und gewartet, bis meine eigene und alle anderen Uhren 14:15 zeigten und die Schule zu Ende war. Nach dem Klingeln bin ich mit den anderen Schülern zum Bus gegangen. Deswegen bin ich ganz durcheinander. Obwohl ich jetzt gerade eigentlich wegen etwas Dringenderem durcheinander bin. Patrice sagt, dringender bedeutet wichtiger als etwas anderes. Das Dringendere ist, dass jemand hier im Blauen Haus wütend ist. Ich muss herausfinden, um wen es sich handelt. Deswegen bleibe ich einen Moment lang auf den Stufen vor unserer verglasten Veranda stehen. Noch immer trage ich meinen Rucksack und halte mein Flötenetui in der Hand. Unser Briefkasten ist umgefallen, und Reifenspuren sind auf dem Rasen zu sehen. Das bedeutet, jemand hat Gummi gegeben. Gummi geben bedeutet, dass ein Fahrer vor Wut viel zu schnell fährt. Ich frage mich, wer das war, und als ich wieder aufschaue, sehe ich das Auto meines Herzensvaters in der Einfahrt neben dem meiner Herzensmutter stehen. Normalerweise ist er um diese Zeit bei der Arbeit. Er ist Beratungslehrer an einer Highschool. Mit einem Finger rücke ich meine Brille gerade und schaue noch einmal auf die Reifenspuren. Ich erinnere mich, dass uns um 14:44, kurz bevor der Bus vor dem Blauen Haus anhielt, zwei Polizeiwagen entgegenkamen. Ich habe die Luft angehalten, bis sie vorbeigefahren waren. Ich mag keine Polizisten. Sie sehen alle gleich aus. Als ich dann aus dem Bus stieg, sah ich den kaputten Briefkasten und die Reifenspuren. Ich öffne die Tür zur verglasten Veranda und rieche Zigarettenrauch. Im Blauen Haus raucht aber niemand. Der Geruch erinnert mich an Glorias Wohnung. 80

Ich gehe hinein. Meine Herzensmutter steht in der Küche an der Spüle, in der einen Hand ein Glas Wasser, die andere liegt auf ihrem runden Bauch. Ihre Haare sehen ungekämmt aus, und unter den Augen hat sie dunkle Ringe. Ohne mich anzusehen, sagt sie: „Hi, Ginny. Stell deine Sachen ab. Wir müssen uns unterhalten. Lass uns ins Wohnzimmer gehen.“ Ich bringe meinen Rucksack und das Flötenetui in mein Zimmer. Dann gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich auf die Couch. „Hallo, Herzenstochter“, sagt mein Herzensvater. Er steht am Fenster. „Wie war die Schule? Irgendwas Interessantes passiert?“ „Nein“, sage ich. „Aber ich würde gern wissen, wer von euch beiden wütend ist.“ Sie sehen einander an. „Wütend?“, fragt mein Herzensvater. Ich nicke. „Warum sollte denn einer von uns wütend sein?“ „Weil da vorne im Rasen Reifenspuren sind. Wer von euch hat das gemacht?“ „Moment mal!“, sagt er. „Weil du Reifenspuren im Rasen gesehen hast, denkst du, dass einer von uns wütend ist?“ Wieder nicke ich. Meine Herzensmutter lächelt und atmet kräftig aus. „Das scheint ja einfacher zu sein, als wir dachten“, sagt sie. „Die Reifenspuren stammen nicht von uns, Ginny.“ Das verstehe ich nicht. Ich überlege, was es bedeuten könnte. „Zurück zur ersten Frage“, sagt mein Herzensvater. „Hast du heute in der Schule etwas Interessantes erlebt?“ „Nein“, wiederhole ich. „Hast du mit jemandem telefoniert?“ „Nein.“ „Hast du Besuch bekommen?“ „Nein.“ 81

„Hat jemand nach deiner Adresse gefragt?“ „Heute?“ Mein Herzensvater wirft meiner Herzensmutter einen kurzen Blick zu, dann sieht er wieder mich an. „Ja, heute.“ „Dann nicht.“ „Dann nicht? Und was war gestern? Hat dich gestern jemand nach deiner Adresse gefragt?“ Das sind zwei Fragen auf einmal, und ich weiß nicht, welche ich beantworten soll. Wir haben abgemacht, dass man mir immer nur eine Frage stellt, weil ich nur dann weiß, worauf ich antworten soll. Schließlich habe ich ja nur einen Mund und kann nicht wissen, welche Frage dringender ist. Also schüttele ich den Kopf und presse die Lippen ganz fest aufeinander. Sicherheitshalber. Meine Herzensmutter sieht meinen Herzensvater an, legt das Kinn in die Hände. „Wie, zum Teufel, hat sie uns dann gefunden?“ „Wie, zum Teufel, hat wer uns gefunden?“ „Die Person, die vor unserem Haus Gummi gegeben hat“, sagt mein Herzensvater. „Aber mach dir keine Sorgen, sie ist wieder weg. Dafür hat die Polizei gesorgt.“ „Dann seid ihr wegen des elektronischen Plastikbabys nicht mehr wütend auf mich?“ Er sieht mich ganz merkwürdig an. „Wütend ist nicht das richtige Wort, Ginny. Wir haben uns nur Sorgen gemacht.“ Ich frage mich, ob sie lügen. Gloria lügt andauernd. Dann überlege ich, ob sie vielleicht herausbekommen haben, dass Gloria sich auf den Weg gemacht hat. Denn wenn sie das wüssten, wären sie bestimmt wütend. Ich pule an meinen Fingernägeln und schließe die Augen. „Würdet ihr mir bitte, bitte, bitte sagen, wer von euch wütend ist?“ Ich muss es wissen, denn wütende Menschen können gefährlich werden und einen schlagen. „Das haben wir dir doch schon gesagt, Ginny“, sagt meine Herzensmutter. „Keiner hier ist wütend. Du bist in Sicherheit. 82

Über die Reifenspuren können wir ein andermal sprechen. Warum machst du so ein Gesicht? Geh dich waschen und zieh dich um. Nächste Woche fährst du auf den Apfelhof, und bald hast du Geburtstag. Und am Mittwoch gehst du zu Patrice. Wir haben schon mit ihr gesprochen und einen Termin vereinbart. Vielleicht trägst du ihn dir im Kalender ein.“ Das war keine Frage, also sage ich nichts. Außerdem stimmt das mit dem Apfelhof gar nicht. Am 21. September machen wir einen Klassenausflug dahin, nicht nächste Woche. Und jetzt weiß ich nicht mal mehr, was mir solche Sorgen gemacht hat, aber als ich aufschaue, lächeln meine Herzenseltern mich an, und ich lächele zurück. „Willst du, dass ich dich mal umarme, Ginny?“, fragt meine Herzensmutter. Das wäre schön. Sie muss sich weit vorbeugen, weil ihr Bauch so dick ist. „Jetzt zieh dich um“, sagt sie. Ich gehe in mein Zimmer, ziehe die Schuluniform aus und etwas Bequemes an. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich wieder die Reifenspuren. Da fällt mir wieder ein, worüber ich mir Sorgen gemacht habe. Manchmal kann ich Dinge nicht gleich zu Ende denken. Ich werde abgelenkt und vergesse, womit ich mich näher beschäftigen sollte oder wollte. Oder ich tauche so tief in mein Gehirn, dass ich vergesse, was ich wissen sollte. Immerhin weiß ich jetzt, dass hier im Blauen Haus niemand wütend ist. Niemand hat geschrien, niemand hat mich geschlagen. Die Reifenspuren stammen von einer anderen Person, die aber wieder weg ist. Darum brauche ich mir also keine Sorgen zu machen und kann mich stattdessen auf Gloria vorbereiten. Ich lege mir einen Plan zurecht: Wenn sie zur Schule kommt, laufe ich dem Grünen Auto entgegen, um nachzusehen, ob sie meine Babypuppe mitgebracht hat. Falls nicht, werde ich mit 83

Gloria zu ihrer Wohnung zurückfahren, obwohl ich da eigentlich gar nicht hinwill und weiß, was mir da passieren kann. Aber ich muss nachsehen, ob die Babypuppe noch im Koffer liegt. Falls dem so ist und ich nicht zu spät dran bin, nehme ich sie heraus und kümmere mich um sie. Ich weiß, dass Gloria sich nicht verändert hat. Nicht mit all den Drogen und Katzen und fremden Männern. Ich weiß auch noch, was sie mit mir gemacht hat, wenn ich zu laut war. Aber das Schlimmste ist Donald. Er wird furchtbar wütend sein, wenn er herausbekommt, was ich getan habe. Er wird mich töten. Das hat Gloria selbst gesagt. Und das glaube ich ihr, obwohl sie oft lügt. Immer wenn Gloria weggefahren ist, um neue Maine CooneKatzen zu holen oder ihren Dealer zu treffen, hat die Babypuppe mir Gesellschaft geleistet, und jetzt ist die arme Puppe ganz allein in der Wohnung. Ich weiß nicht, ob man etwas hören kann, wenn man in einem verschlossenen Koffer steckt. Und wartet. Also muss ich nach ihr sehen. Wenn ich dann auf das Grüne Auto zulaufe, hat Gloria vielleicht gerade eine gute Phase. Vielleicht steigt sie aus, umarmt mich und sagt: „Heilige Scheiße, Ginny, wie groß du geworden bist! Aber deine Augen sind immer noch grün. Obwohl du adoptiert wurdest und deinen Namen geändert hast, bleiben deine Augen immer grün. Genau wie meine.“ Ich hoffe, sie hat recht.

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6:45, FREITAG, 10. SEPTEMBER Es ist 6:45, also Zeit, zur Schule zu gehen. Ich habe mir schon den Rucksack umgeschnallt und meine Uhr umgebunden. Die Uhr habe ich immer am Arm, außer unter der Dusche. Mein Herzensvater bringt mich bis zur Straße. Normalerweise bleibt er in der verglasten Veranda stehen und winkt mir nach, wenn ich zum Bus gehe, aber heute wollte er mitkommen. Wir gehen über den Rasen auf die Stelle am Ende unserer Einfahrt zu, wo der Bus immer hält. Dabei kommen wir auch an den Reifenspuren vorbei. Daneben entdecke ich eine weiße Plastikschachtel und hebe sie auf. Es ist eine Schachtel Tic Tacs, in der noch fünf von den kleinen Pfefferminzbonbons sind. Ich schaue mir die Schachtel näher an und zähle die Tic Tacs noch zweimal. Dann schüttele ich sie, und es rasselt. „Was hast du da?“, fragt mein Herzensvater. Ich antworte nicht. Gloria hat immer Tic Tacs geluscht. Sie roch nach Tic Tacs und Zigaretten. Die weißen mochte sie am liebsten. Dann fällt mir ein, dass die Veranda gestern nach Zigarettenrauch gerochen hat. Ich sehe meinen Herzensvater an, schüttele die Schachtel noch einmal und zeige darauf. „Die sind von Gloria.“ Er atmet tief durch und nickt. „Ja, das kann sein.“ Dann nimmt er die Schachtel an sich, vorsichtshalber, sagt er, weil die Bonbons vielleicht schmutzig geworden sind. Dabei habe ich ihm versichert, dass ich sie sowieso nicht essen wollte. „Wie sind sie hierhergekommen?“, frage ich. „Nun …“, fängt er an, aber dann spricht er nicht weiter. Das bedeutet, Gloria war hier, im Blauen Haus. Gestern. Die Reifenspuren stammen von ihr. Sie war die wütende Person. Sie ist hierhergekommen, als ich in der Schule war. Dann hat sie Gummi gegeben und ist wieder weggefahren. Sie ist also zum verkehrten Ort gekommen, und ich kann nicht auf den Schul85

parkplatz laufen und nachsehen, ob sie meine Babypuppe mitgebracht hat. Ich kann auch nicht mit in ihre Wohnung fahren und im Koffer nachsehen. Um sicherzugehen, frage ich: „War Gloria gestern im Blauen Haus?“ „Ja“, sagt mein Herzensvater. „Gloria war gestern im Blauen Haus.“ „Hat sie meine Babypuppe mitgebracht?“ Er sieht mich ganz merkwürdig an. „Nein. Hör mal, Ginny, ich weiß, dass du nichts mehr davon hören willst, aber wenn du eine neue Puppe haben möchtest, kaufen wir dir eine. Sollen wir gleich heute Nachmittag ins Spielzeuggeschäft gehen?“ „Nein, danke.“ Ich benutze meine freundliche Stimme, obwohl ich ziemlich wütend werde, wenn Leute mich fragen, ob ich eine Spielzeugpuppe haben möchte. „Wann kommt sie wieder?“ „Sie kommt nicht wieder. Sie hat deiner Herzensmutter einen ziemlichen Schreck eingejagt und eine Szene gemacht. Sie hat sogar unseren Briefkasten umgefahren.“ Ich weiß nicht, was eine Szene machen bedeutet, aber ich weiß, dass Gloria laut herumschreit, wenn sie wütend ist, und dann immer streiten will. Sie macht dann auch Sachen kaputt und schlägt Leute. Ich sehe zum Briefkasten hinüber. Er liegt ganz verbeult auf dem Boden, und die Klappe steht offen. Wie ein Mund, der sich nicht bewegt. „Ginny?“ Ich tauche aus meinem Gehirn auf. „Ja?“ „Ich sagte, dass sie nicht zurückkommt. Die Polizei war hier und hat es ihr verboten.“ Aber ich weiß, dass Gloria nicht auf das hört, was die Polizei sagt. Sie windet sich heraus. Ich weiß, dass sie zurückkommen will und ich ihr helfen muss, mich zu finden. Ich muss herausfinden, ob ich zu spät dran bin. Obwohl ich Angst habe. Und 86

obwohl Gloria gewalttätig und unzuverlässig sein kann. Das hat ein Sozialarbeiter gesagt. Ich muss einfach wissen, wie es meiner Babypuppe geht. Ich höre den Bus um die Ecke kommen. „Nach der Schule können wir weiter darüber sprechen“, sagt mein Herzensvater. „Möchtest du das?“ Als ich den Bus sehe, fange ich an zu zählen. „Ginny?“ „Da kommt der Bus.“ „Ja, das sehe ich. Wir reden nach der Schule weiter, wenn du möchtest.“ Nach dreizehn Sekunden hält der Bus am Straßenrand. Mein Herzensvater drückt mir die Schultern. Ich weiche nicht zurück. Es ist okay, wenn er das tut. Einmal hat er mich nämlich gefragt, ob er mich umarmen darf. Ich habe Nein gesagt. Da hat er gefragt, ob er mir die Schultern drücken darf, und das habe ich ihm erlaubt. Meine Herzensmutter darf mich umarmen, wenn sie vorher fragt, aber mein Herzensvater ist ein Mann, deswegen darf er mir nur die Schultern drücken. Meine Gedanken überschlagen sich. Bilder rasen auf mich zu wie Hände, die mich schlagen wollen. „Ginny?“, sagt mein Herzensvater. „Auf Wiedersehen“, sage ich und steige in den Bus.

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8:04, FREITAG, 10. SEPTEMBER Vor der Schule wartet Mrs. Lomos auf dem Gehweg, genau da, wo der Bus hält. Heute trägt sie Ohrringe, die wie silberne Birnen aussehen. „Guten Morgen, Ginny“, sagt sie, als ich aus dem Bus steige. „Guten Morgen“, sage ich, denn das sagt man, wenn ein anderer Guten Morgen gesagt hat. Manchmal sage ich dann auch noch Wie geht’s?, aber im Moment denke ich nur daran, wann ich Larry darum bitten kann, für mich ins Internet zu gehen, wo ich Gloria sagen kann, wo wir uns treffen können. Sie ist ja nicht zur Schule gekommen, obwohl sie das getan haben sollte. Deswegen muss ich ihr helfen, es wiedergutzumachen. Ich glaube, die Bibliothek ist ein ziemlich guter Ort, um ins Internet zu gehen, weil sich dort manchmal keine Lehrer aufhalten. „Das ist Mrs. Wake, Ginny“, sagt Mrs. Lomos. Ich schaue von meinen Händen zu der Frau auf, die neben Mrs. Lomos steht. Sie ist alt, trägt eine Brille und einen weißen Pullover. Ein Michael Jackson-T-Shirt trägt sie nicht. Ich mag Michael Jackson, weil er anders ist als die Männer sonst. Er ist nicht groß und nicht laut und macht mir keine Angst. Er ist der netteste Mann der Welt, und wenn ich seine Musik höre, komme ich mir vor, als stünde ich in einem Kreis mit kleinen weißen Schuhen an den Füßen, und wenn ich mich so fühle, würde ich am liebsten die Beine in die Luft werfen, so hoch springen, wie ich kann, und mich drehen und bei der Landung die Schultern heben und „Oooh!“ rufen. Aber es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, wie ich mich fühle. Patrice sagt, das ist Teil meiner Beeinträchtigung. „Mrs. Wake begleitet dich heute im Unterricht“, sagt Mrs. Lomos. „Kommt sie auch mit in die Bibliothek?“, frage ich. Mrs. Lomos schaut mich merkwürdig an. „Ich glaube nicht, 88

dass du heute in der Bibliothek Unterricht hast, Ginny. Was willst du denn dort?“ „Da stehen bestimmte Bücher“, sage ich, aber da stehen auch Computer. „Ja, das stimmt. Vielleicht kann Mrs. Wake dir bei der Auswahl helfen.“ Mrs. Wake lächelt mich an, aber ich lächele nicht zurück. „Hallo, Ginny. Ich freue mich, dich kennenzulernen.“ In der ersten Stunde habe ich wieder Sprache und Literatur. Mrs. Wake sitzt die ganze Zeit neben mir und versucht, mir bei Fragen über einen Mann namens Nathaniel Hawthorne zu helfen. Zur zweiten Stunde gehe ich mit Larry, Kayla Zadambidge und Alison Hill in Raum fünf. Als wir uns hingesetzt haben, lässt Mrs. Wake mich endlich allein und geht auf die Toilette. „Ich muss noch mal ins Internet“, sage ich zu Larry. Er zuckt mit den Schultern und zeigt auf einen Computer. „Da steht doch einer, Digger.“ Dann singt er eine Zeile aus einem Song, bei dem es darum geht, dass man sich einfach holen soll, was man will. „Aber bekommst du dann keinen Ärger?“, sagt er, nachdem er geendet hat. Ich will ihm gerade sagen, dass er für mich ins Internet gehen soll, als Miss Dana hereinkommt. Sie setzt sich an ihren Tisch und erklärt uns noch einmal, wie wir ein Aufgabenbuch führen sollen. Deswegen habe ich keine Gelegenheit, Larry zu erklären, dass ich keinen Ärger bekomme, wenn er für mich ins Internet geht. Später werde ich ihm sagen, dass es mir reicht, ihm einfach nur über die Schulter zu sehen, wenn er auf Facebook oder Waldkatze.com geht. Aber Miss Dana redet und redet, auch Mrs. Wake kommt wieder herein. Also verstecke ich meinen Geheimplan erst mal in meinem Gehirn und halte den Mund geschlossen, damit ihn keiner sehen kann. Um 9:42 gehen wir zur Pause in unser Klassenzimmer. Mrs. Wake begleitet mich. Um 9:55 habe ich Bandprobe. Mrs. Wake begleitet mich. 89

Im Musikraum setzt sie sich an die Tür. Ich gehe an meinen Platz und packe meine Flöte aus. Mr. Barnes, der Musiklehrer, sagt, das Erntedankkonzert findet am Montag, dem 18. Oktober, statt. Wir sollen vier Lieder spielen, zwei über den Herbst, eins über Halloween und eins über den Herbstmond. Um elf wird es Zeit für Sozialkunde. Mrs. Wake folgt mir durch den Flur, an der Cafeteria und den Schließfächern vorbei. Im Sozialkunderaum setzt sie sich links neben mich. Ich passe auf, dass mein Mund geschlossen bleibt, damit niemand sehen kann, woran ich gerade denke. Miss Merton, die Sozialkundelehrerin, schreibt etwas an die Tafel. Das tut sie jeden Tag. Eigentlich sollen wir es in unsere Hefte abschreiben. Ich sehe Mrs. Wake an. „Ich habe das Heft nicht dabei.“ Das stimmt sogar, aber ich meine das Naturkundeheft. „Wo ist es denn?“, fragt Mrs. Wake. „In Raum fünf.“ Mrs. Wake schaut an die Tafel. Miss Merton hat schon drei Sätze geschrieben. Die anderen Schüler schreiben sie ab. „Musst du denn unbedingt in ein bestimmtes Heft schreiben?“ „Ja“, sage ich. „Na gut. Ich gehe schnell und hole dein Heft. Inzwischen schreib den Text von der Tafel einfach auf ein loses Blatt Papier. Wir können es dann in dein Heft kleben, wenn ich zurück bin. Welche Farbe hat dein Heft denn?“ Ich muss überlegen. „Grün“, sage ich dann. „Es liegt in meinem Regal.“ Mrs. Wake geht. Als sie die Tür hinter sich zumacht, melde ich mich. Miss Merton fragt, was ich will. „Darf ich auf die Toilette gehen?“, frage ich. „Ja, aber melde dich bitte erst ab.“ Ich stehe auf, gehe zur Tür und trage mich in die Abwesenheitsliste ein. Dann gehe ich Richtung Bibliothek. Sie ist nur drei Türen entfernt. Ich bin schon fast da, als jemand „Ginny?“ ruft. 90

Ich drehe mich um. Es ist Miss Merton. „Zu den Toiletten für die achten Klassen geht es in die andere Richtung“, sagt sie. „Die neben der Bibliothek sollt ihr nicht benutzen, die sind nur für Lehrer.“ Am liebsten würde ich So ein Mist! sagen, weil ich mich jetzt doch nicht an den Computer setzen und mit Gloria chatten kann. Schon seit vier Jahren halten mich die Lehrer und Herzenseltern schon davon ab, allein ins Internet zu gehen. Eine Zeit lang hatte ich aufgegeben und stattdessen versucht, wegzulaufen oder das richtige Telefonbuch zu finden, aber das hat alles nicht funktioniert. Ich muss fit in der Birne sein und es endlich schaffen. Ich bin so wütend, dass ich schreien könnte. Aber das tue ich nicht. Stattdessen gehe ich durch den Flur zurück, vorbei an Miss Merton und Mrs. Wake, die aus dem Raum fünf auf mich zukommt. „Wo willst du denn hin, Ginny?“, fragt sie. „Miss Merton hat mir erlaubt, auf die Toilette zu gehen.“ „Gut. Dann wollen wir uns beeilen, damit du schnell wieder an Sozialkunde teilnehmen kannst. Dein Heft habe ich übrigens gefunden.“ Sie hält es hoch, damit ich es sehen kann. „Allerdings scheint es das für Naturkunde zu sein. Lass uns nachher mal in deinem Rucksack nachsehen, ob da nicht noch ein anderes ist.“

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9:08, SAMSTAG, 11. SEPTEMBER Am Wochenende stehe ich um neun auf. Ich brauche bloß zwei Minuten, manchmal drei, um mich zu strecken, meine Brille aufzusetzen, meine Uhr umzubinden und ein Glas Wasser zu trinken, bevor ich ins Badezimmer gehe. Danach gehe ich in die Küche. Vor dem Kühlschrank bleibe ich stehen und horche, kann aber nichts hören. Im Kühlschrank sind Weintrauben und Milch und noch viele andere Sachen, aber ich brauche erst mal nur Weintrauben und Milch. Mit neun Weintrauben und einem Glas Milch beginnt mein Frühstück, aber wir haben die Regeln: den Kühlschrank nicht allein öffnen und erst fragen, bevor ich mir etwas zu essen nehme. Ich bleibe stehen und warte. Meine Herzenseltern würden sagen, dass ich lauere. So nennen sie es, wenn ich ganz dicht vor etwas stehen bleibe und warte. Dann kommt meine Herzensmutter herein. Ihre Haare sind noch nass, aber sie trägt schon Make-up. So früh am Morgen tut sie das nur, wenn sie irgendwohin muss. „Guten Morgen, Ginny. Heute bekommen wir Besuch.“ „Ich mag keine Überraschungen“, sage ich. „Es ist kein Fremder, sondern Patrice.“ Patrice versteht fast alles, was ich ihr erzähle. Sogar Dinge, die ich ihr nicht erzähle. Ich mag sie sehr, aber sie kann in mein Gehirn sehen. Ich muss also vorsichtig sein und den Mund geschlossen halten, wenn ich gerade nichts sage. „Wann kommt sie?“, frage ich. „In etwa einer Stunde, gegen zehn. Sie dachte, es wäre schön, dich mal am Wochenende zu besuchen.“ Patrice war noch nie im Blauen Haus. Sonst habe ich sie immer in ihrer Praxis getroffen, aber ich möchte ihr gern mein Zimmer und meine Michael Jackson-Sachen zeigen. Außerdem möchte ich ihr von Gloria und den Reifenspuren und den Tic Tacs erzählen. Nur meinen Geheimplan mit Facebook oder 92

Waldkatze.com behalte ich für mich, weil sie es sonst vielleicht meinen Herzenseltern weitersagen würde. Um zehn fährt Patrices Auto in unsere Einfahrt. Patrice steigt aus. Sie trägt ihren lila Flauschpullover, ihre Haare sind jetzt wieder kurz. Ich laufe ihr entgegen und umarme sie. Keiner von uns beiden weicht zurück. „Wie geht es meiner abenteuerlustigen Freundin?“ Damit meint sie mich. Sie nennt mich ihre abenteuerlustige Freundin, weil sie immer gerufen wurde, wenn ich von meinen anderen Herzenseltern weggelaufen war, und auch die Sachen mit Gloria in ihrer Wohnung hat sie miterlebt. „Danke, gut.“ Ich stehe einfach nur da und schaue sie an. „Bringst du mich rein?“, fragt Patrice. „Dann unterhalten wir uns erst mal ein bisschen mit deiner Herzensmutter, okay? Danach kannst du mir dein Zimmer zeigen. Und sag mal, habe ich es richtig verstanden, dass du dir morgen die großen Schiffe anschauen darfst?“ Ich führe Patrice ins Haus, wo sie meine Herzensmutter begrüßt. Sie sprechen über das Baby im Bauch meiner Herzensmutter. Patrice fragt mich: „Wirst du deiner Mom helfen, sich um Baby Wendy zu kümmern?“ Ich weiß nicht, wie Baby Wendy aussehen wird, aber ich nehme an, dass wir ihr kleine Strampelhöschen anziehen. Meine Babypuppe hatte kein Strampelhöschen, aber ich wollte immer gern eins für sie haben. Gloria meinte, das könnten wir uns nicht leisten. Michael Jackson hatte einen Affen namens Bubbles, der ein Strampelhöschen wie ein richtiges Baby getragen hat. Denn als Michael Jackson ein kleiner Junge war, hat er sich so sehr einen Affen gewünscht, dass er seine Mutter immer und immer wieder gebeten hat, ihm einen zu kaufen, und dann muss sie wohl irgendwann gesagt haben: Na gut, Michael Jackson, du bekommst einen Affen. Ich kenne Fotos, auf denen er Bubbles genauso im Arm hält wie ich meine Babypuppe. 93

Aber dann wurde Bubbles irgendwann so groß und kräftig, dass er sich von Michael Jackson nicht mehr wie ein Baby halten oder zu Bett bringen ließ. Da musste Michael Jackson ihn weggeben, denn sonst hätte Bubbles ihn vielleicht attackiert. Er hat ihn in einen Zoo gebracht. Da lebt Bubbles jetzt in einem großen Käfig und kann niemanden verletzen. Das habe ich im Fernsehen gesehen. „Ginny?“ „Was?“ „Möchtest du deiner Mom mit Baby Wendy helfen, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkommt?“ „Ja.“ „Das ist schön“, sagt Patrice. „Du kannst deiner Mom Sachen bringen, wenn sie das Baby im Arm hat. Und wenn das Baby größer wird, könnt ihr miteinander spielen. Bestimmt möchte Wendy genauso werden wie du und alles tun, was ihre große Schwester tut. Freust du dich darauf, eine große Schwester zu sein?“ „Eigentlich schon.“ „Gut“, sagt Patrice. „Weißt du, warum ich heute hier bin, Ginny?“ „Weil du dir mein Zimmer ansehen möchtest.“ „Das auch. Aber hauptsächlich bin ich gekommen, um mit dir ein paar Dinge zu besprechen. Ich weiß, dass Gloria vor zwei Tagen hier im Blauen Haus war.“ „Am Donnerstag, dem 9. September, als ich in der Schule war. Sie ist total unzuverlässig.“ Dann sage ich nichts mehr und achte darauf, den Mund geschlossen zu halten. In meinem Gehirn schwirrt eine Menge, was Patrice nicht sehen soll. Sie sieht mich merkwürdig an. „Dass du es so ausdrückst, ist ja interessant. Hast du sie gesehen?“ Ich schüttele den Kopf. „Ich frage mich, wie sie dich gefunden hat. Weißt du es?“ 94

Wieder schüttele ich den Kopf, aber dann geht mein Mund auf, und ich sage: „Sie hat Reifenspuren auf unserem Rasen und unseren Briefkasten kaputt gemacht. Entweder war sie also stinksauer oder zugedröhnt. Außerdem hat sie eine Szene gemacht. Ich habe sie nicht gesehen, als ich aus dem Bus gestiegen bin, aber mein Herzensvater meinte, dass sie die Babypuppe nicht mitgebracht hatte.“ Patrice lacht, aber auf eine freundliche Art. Manchmal lachen Menschen auch auf eine gemeine Art oder um sich über einen lustig zu machen. Oft kann ich den Unterschied nicht erkennen. „Wow“, sagt sie. „Das muss ja ziemlich aufregend gewesen sein.“ Ich nicke, sage aber nichts, weil Patrice ja keine Frage gestellt hat. Meine Herzensmutter seufzt. „Zeig Patrice doch dein Zimmer, Ginny.“ Also gehen wir in mein Zimmer, und ich zeige ihr meine Sachen. Sie schaut sich die Bilder auf meiner Kommode und die Geburtsdaten und Ferientermine an, die ich in meinen Kalender eingetragen habe. „Haben deine Herzenseltern dir gesagt, dass Gloria nicht zum Blauen Haus zurückkommen wird?“ „Ja. Sie sagen, die Polizei hat es ihr verboten.“ Patrice steht mitten in meinem Zimmer, dreht sich um sich selbst und schaut sich alles an. Ich stehe an der Tür. „Richtig“, sagt sie. „Gloria hat eine Menge Ärger gekriegt, weil sie hergekommen ist. Sie wollte ins Haus einbrechen und hat deiner Herzensmutter Angst gemacht. Da hat deine Mom deinen Dad und die Polizei angerufen, und als die Polizei kam, mussten sie Gloria regelrecht rausschmeißen. Dein Herzensvater ist sofort aus der Schule hergekommen. Dann haben deine Herzenseltern das Jugendamt angerufen, das eine Richterin eingeschaltet hat, und dann … Also jedenfalls darf Gloria nie wieder hierherkommen. Darüber wollte ich mit dir reden und dich fragen, wie es dir damit geht.“ 95

An eine Richterin erinnere ich mich noch. Es war eine Frau mit einem großen schwarzen Cape, in dem sie so aussah wie die Lehrer in Harry Potter. Ich meine die Filme, nicht die Bücher. Filme mag ich lieber, weil sich die Menschen im Film bewegen. Die Richterin habe ich am 21. Juni gesehen, das war der Tag der Adoption. Es gibt eine Regel, nach der man tun muss, was ein Richter oder eine Richterin sagt. Meine Richterin sagte jedenfalls, dass ich nicht in Glorias Wohnung zurückdarf und dass Gloria nicht erfahren darf, wo ich wohne. Aber sie wusste natürlich nicht, wie hinterhältig sie sein kann. Und Patrice weiß es auch nicht. „Ginny?“ „Was?“ „Tut mir leid. Ich hätte meine Frage klarer formulieren sollen. Wie fühlt es sich für dich an, dass Gloria vor zwei Tagen hier war?“ Patrice spricht andauernd über Gefühle und hat mir beigebracht, wie das geht. Deswegen sage ich: „Schlecht. Meine Babypuppe ist ganz allein.“ Dann sehe ich Patrice über meine Brillenränder hinweg an, um zu prüfen, ob sie versteht, was ich meine. „Ich weiß, dass dir deine Babypuppe wichtig war. Erinnerst du dich daran, worüber wir bei unserem letzten Gespräch geredet haben? Dass du ein bisschen wie deine Babypuppe warst, damals in Glorias Wohnung, als du andauernd allein gelassen wurdest. Aber jetzt bist du sicher. Fühlst du dich sicher?“ „Ja“, sage ich, aber im Moment ist es mir gar nicht wichtig, ob Gloria mir wehtut oder Donald seine Pistole rausholt. Ich will einfach nur wissen, was aus meiner Babypuppe geworden ist, nachdem die Polizei mich aus der Wohnung geholt hat. Ich will wissen, ob jemand sie in dem Koffer gefunden hat oder ob ich zu spät dran bin. „Gut. Und wenn es so bleiben soll, darfst du niemals zu Gloria ins Auto steigen. Niemals, hörst du? Egal, was sie sagt. Kannst du mir das versprechen?“ 96

Ich halte den Mund fest geschlossen, aber ich nicke. „Ich weiß, dass ich das schon mal gesagt habe, aber du hattest wirklich Glück, lebend aus Glorias Wohnung herauszukommen. Wenn sie hierherkommt und du zu ihr ins Auto steigst, wäre es eine Entführung. Weißt du, was das bedeutet?“ Ich schüttele den Kopf. „Es bedeutet, dass jemand einen anderen Menschen stiehlt. Wenn du mit Gloria mitgehst, stiehlt sie dich. Und Stehlen ist gegen das Gesetz. Verstehst du das?“ Ich nicke. Dreimal. Die Vorstellung, von Gloria entführt zu werden, gefällt mir. Ich würde endlich in die alte Wohnung kommen und dann sofort in mein Zimmer laufen, um im Koffer nachzusehen. „Ich wollte dich auch noch fragen, was mit der Babypuppe aus der Schule passiert ist“, sagt Patrice. „Du meinst das elektronische Plastikbaby?“ „Genau. Ich höre, du hast es geschlagen und dann in einen Koffer gesperrt. Warum?“ „Weil es nicht aufgehört hat zu weinen.“ „Aber es gibt doch andere Möglichkeiten, ein Baby zu beruhigen, oder?“ „Ja, klar“, sage ich. „Man kann ihm Milch geben oder es hochnehmen und schaukeln. Und wenn man keine Milch hat, kann man ihm den Finger zum Nuckeln geben. Und ihm etwas vorsingen. Man kann ihm auch die Windeln wechseln oder es baden. Oder man hält es sich einfach an den Körper.“ Patricia sieht mich merkwürdig an. „Du weißt ja eine ganze Menge über Babys. Wo hast du das alles gelernt?“ Ich schließe die Augen und brülle: „Das habe ich alles mit meiner Babypuppe gemacht!“ Dann sehe ich Patrice an, um zu prüfen, ob sie mich verstanden hat. „Du brauchst nicht zu schreien“, sagt sie. „Deine Babypuppe war kein echtes Baby, also musst du diese Dinge woanders gelernt haben. Hast du so etwas vielleicht im Fernsehen gesehen?“ 97

Ich schüttele den Kopf. „Meine Babypuppe war ein richtiges Baby.“ „Das stimmt nicht, Ginny. Gloria hatte keine anderen Kinder. Ich habe deine Akte tausendmal gelesen. Du warst das einzige Kind in der Wohnung. Hattest du vielleicht einen kleinen Cousin oder eine Cousine? Ich weiß, dass deine Tante euch manchmal besucht hat.“ „Crystal mit C“, sage ich. „Richtig, Crystal mit C. Hatte sie ein Baby?“ Ich schüttele den Kopf und bin zu wütend, um etwas mit dem Mund zu sagen. „Jedenfalls haben deine Herzenseltern und ich eine neue Regel aufgestellt. Es ist die wichtigste von allen. Wenn Baby Wendy geboren ist, darfst du sie nicht anfassen. Du musst erst noch lernen, wie man mit einem Baby umgeht. Es ist schlimm, wenn jemand eine Puppe schlägt und im Koffer einsperrt, sogar wenn es kein echtes Baby ist. Man darf keine Babys im Koffer stecken, verstehst du?“ Ich pule an meinen Fingernägeln, bis Blut kommt. Ich sehe den Blutstropfen größer werden, bis er mir über den Daumen läuft. „Ginny?“ Ich schaue auf und lege die Hände auf den Rücken, wo keiner sie sehen kann.

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23:03, SONNTAG, 12. SEPTEMBER Ich liege im Bett, atme schnell und versuche, mich zu beruhigen. Heute waren wir in Portland, um die großen Schiffe anzuschauen. Und das Feuerwerk. Es war unser letzter Ausflug, hat meine Herzensmutter gesagt, bevor sie das Baby bekommt. Ich hatte meine Uhr zu Hause gelassen, weil ich gestern mit Giftefeu in Berührung gekommen bin und einen Ausschlag an den Händen und Handgelenken hatte. Ich dachte, es wäre nicht so schlimm, keine Uhr zu tragen, denn meistens ist ja irgendeine Uhr in der Nähe, aber dann war ich abgelenkt, weil das Feuerwerk so laut und rauchig war und um mich herum alle „Oooh!“ und „Aaah!“ gemacht haben, als wären sie Gespenster. Auch der Rauch hat gespenstig ausgesehen. Nach einer Weile habe ich aber gelernt, dass man das Feuerwerk und den Rauch ins Gehirn einschließen kann, wenn man gleich danach die Augen zumacht. Dann bleibt der Anblick in einem drinnen. Das habe ich getan, als wir zum Auto zurückgegangen sind. Deswegen habe ich auch nicht gleich gesehen, wie spät es war. Mit geschlossenen Augen saß ich auf meinem Platz, lehnte den Kopf ans Fenster und betrachtete immer noch die blauen, grünen, roten und weißen Feuerwerksfontänen in meinem Gehirn. Nur die Musik war jetzt anders. Beim richtigen Feuerwerk kam die Musik aus großen Lautsprechern, mit Flöten und Trommeln. Im Auto dagegen schalteten meine Herzenseltern das Radio ein, und da sang jemand über ein Mädchen, das nicht einmal Billie Jean oder Dirty Diana hieß, sondern Caroline oder so. Also schlug ich die Augen auf und sagte: „Können wir nicht lieber Flöten und Trommeln hören? Ich versuche, mir das Feuerwerk anzusehen.“ Meine Herzensmutter sagte: „Aber Süße, das Feuerwerk ist vorbei.“ Da habe ich auf der Uhr vorne im Auto gesehen, dass es 22:43 war, schon lange nach neun. 99

Ich fing an, an meinen Fingernägeln zu pulen. „Wisst ihr, wie spät es ist?“ „Zehn Uhr vierundvierzig“, sagte meine Herzensmutter. Ich schaute auf die Uhr, und sie hatte recht. Die Anzeige war von 22:43 auf 22:44 umgesprungen. „Oh, Mist!“ Ich biss mir auf die Lippen. „Ich sollte längst im Bett sein.“ In meinem Kopf schrieb ich: Bettzeit = 21:00 „Das ist schon in Ordnung“, sagte mein Herzensvater. „Ab und zu kann man mal später zu Bett gehen.“ „Aber es ist nach neun“, sagte ich. „Stimmt“, sagte meine Herzensmutter, und es klang, als wollte sie noch etwas sagen, aber das tat sie nicht. Sie saß einfach nur auf dem Beifahrersitz, während im Radio jemand ein Lied sang, in dem lauter Zahlen vorkamen, 24 und 6, 2 ,4. Die Uhr vorne im Auto zeigte 22:45. Keine dieser Zahlen passte zu denen in meinem Kopf: 21 und 00. „Ich muss sofort ins Bett“, sagte ich. „Willst du nicht noch etwas aufbleiben und fernsehen?“, fragte mein Herzensvater. Um zu dekomprimieren. Dekomprimieren bedeutet so etwas Ähnliches wie deeskalieren, also praktisch: sich Zeit nehmen, um sich zu beruhigen. Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss sofort ins Bett, wenn wir nach Hause kommen.“ Um neun muss ich zu Bett gehen, und zum Frühstück brauche ich neun Weintrauben. Ich war neun, als die Polizei kam. „Was ist mit Zähneputzen?“, fragte mein Herzensvater. „Willst du das nicht zuerst tun?“ Das ist auch so eine Regel: vorm Zubettgehen Zähne putzen. Ich mag Regeln. „Ja, gut“, sagte ich. „Ich putze mir die Zähne, gehe auf die Toilette und wasche mir die Hände. Dann hole ich ein Glas Wasser, stelle es auf meinen Nachttisch und 100

ziehe mir einen Pyjama an. Danach gehe ich zu Bett.“ „Welchen Pyjama willst du denn heute anziehen?“, fragte meine Herzensmutter. „Den mit den Katzen oder den mit den Äffchen?“ „Den mit den Katzen. Der mit den Äffchen ist für montags.“ Dann musste ich an meine Babypuppe denken und habe ihr ein Schlaflied gesungen. Obwohl sie mich nicht hören konnte. In meinem Kopf sah ich nämlich immer noch das Feuerwerk und dazwischen meine Babypuppe. Ich fing an, „I’ll be there“ von Michael Jackson zu singen. Mein Herzensvater schaltete das Radio mit dem Song über die unpassenden Zahlen aus, und meine Herzensmutter bedeckte die Uhr vorne im Auto mit der Hand. Als die Stelle kam, wo Michael Jackson über seine Schulter guckt, machte ich „Oooh!“, genau wie er. Das klang nicht ganz so wie bei einem Gespenst, aber immerhin. Dann guckte ich über meine Schulter, und in meinem Kopf sah ich, wie der kleine Michael Jackson Bubbles durch das Käfiggitter im Zoo umarmt. „Du machst das ganz prima, Herzenstochter“, sagte mein Herzensvater. Noch ist es in Ordnung, wenn sie mich so nennen, denn noch sind wir ja zusammen. Ich bin gern ihre Herzenstochter, und wenn es vorbei ist, werde ich sie vermissen. Aber es ist lange, lange nach neun. Nach neun Uhr und nach meinem neunten Lebensjahr. Ich will nicht dahin zurück, wo ich ständig Angst hatte, aber ich muss, muss, muss.

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