Hat der Papst einen Plan? Das Rundschreiben Evangelii gaudium als Dokument der Kirchenreform

Hat der Papst einen Plan? Das Rundschreiben Evangelii gaudium als Dokument der Kirchenreform Vortrag in Göttingen, 18.03.2014 Prof. Dr. Gerhard Kruip...
Author: Markus Thomas
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Hat der Papst einen Plan? Das Rundschreiben Evangelii gaudium als Dokument der Kirchenreform Vortrag in Göttingen, 18.03.2014

Prof. Dr. Gerhard Kruip

Gliederung

Gliederung 1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus 2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche 3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013 4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium 5. Schlussfolgerungen

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus

Geboren 17.12.1936 in Buenos Aires/Argentinien Eltern italienische Einwanderer Ausbildung zum Chemietechniker 1958 Eintritt in den Jesuitenorden 1969 Priesterweihe Prägung in seiner Theologie durch Lucio Gera (Befreiungstheologie, Theologie des Volkes, 2012 begraben in bischöflicher Krypta der Kathedrale von Buenos Aires) 1973-79 Provinzial der argentinischen Jesuitenprovinz (Militärdiktatur in Argentinien 1976-1983: „Schmutziger Krieg, 30.000 Verschwundene, Fall der Jesuiten Franz Jalics und Orlando Yorio) 1986 Aufenthalt in St. Georgen (Jesuitenhochschule in Frankfurt/Main)

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1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus

1992 Weihbischof in Buenos Aires 1998 Erzbischof von Buenos Aires (Bescheidener Lebensstil, Einsatz für die Armen, Pastoral in Armenvierteln) 2001 Ernennung zum Kardinal 2005 Konklave 2005 2007 Leiter der Redaktionskommission für Schlussdokument von Aparecida (CELAM V) (2 Leitbegriffe: Pastorale Umkehr, Samaritanische Kirche) 2009/2010 Konflikt mit Rom wegen Ernennung von Víctor Manuel Fernández zum Rektor der UCA (Katholische Universität Argentiniens) 2010 Politischer Konflikt mit Präsidentin Kirchner: Gegen gleichgeschlechtliche Ehe, aber für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft 13.3.2013 Im 5. Wahlgang Zweidrittelmehrheit der Stimmen: Wahl zum Papst 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

Gliederung

Gliederung Vorbemerkungen 1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus 2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche 3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013 4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium 5. Schlussfolgerungen

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2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche

Memorandum 2011 Auslöser Missbrauchsskandal Reformthemen: • Beteiligung: mehr Mitentscheidung von Laien • Gemeinde: Kirche muss vor Ort bleiben, „verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt“ • Rechtskultur • Gewissensfreiheit (auch gleichgeschlechtliche Partnerschaft und wiederverheiratete Geschiedene) • Versöhnung (gegen rigorose Moral ohne Barmherzigkeit) • Lebensnaher Gottesdienst, vielfältige Gottesdienstformen Vor allem: offener Dialog! 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche

Dialogprozess Bisherige Treffen: • 2011 Auftakt in Mannheim • 2012 „Diakonia“ in Hannover • 2013 „Liturgia „ in Stuttgart • 2014 „Martyria“ wo? • 2015 Abschluss zum Jubiläum des Konzilsende Probleme • Unverbindlichkeit • Keine Kontinuität • „Heiße Themen“ werden zurückgedrängt • Uneinigkeit der deutschen Bischöfe • Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Position Roms (vgl. Kardinal Müller vs. Papst) 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche

Wichtig: nicht nur Themen in Deutschland! Weltweite Probleme • Sexueller Missbrauch • Intransparenter Umgang mit Geld (Vatikanbank, Limburg …) • Zölibat • Ausschluss der Frauen von wichtigen Ämtern • Stärkere Distanz zur jungen Generation (u.a. wegen Sexualmoral) • Fehlende Kreativität in Theologie, Liturgie und Kommunikation über den Glauben • Wachsende Distanz zwischen Selbstverständnis heutiger Menschen und offizieller Position der katholischen Kirche Hintergrundproblematik: Sakralisierung der hierarchischen Struktur und der Amtsträger, Kirche keine „lernende Organisation“ Wenig Prozesse der Fehlerwahrnehmung und –korrektur durch mehr Informationsfluss von unten nach oben und mehr Beteiligung der Laien Demotivierung vieler Ehrenamtlicher 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

Gliederung

Gliederung Vorbemerkungen 1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus 2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche 3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013 4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium 5. Schlussfolgerungen

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3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013

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Ansprache des Papstes im Vorkonklave: Kritik an einer selbstreferentiellen Kirche Nach der Wahl: nur weißes Gewand, „Guten Abend“, „Bischof von Rom“, Bitte um Gebet der Gläubigen, Rückfahrt in Unterkunft mit dem Bus Papstname Franziskus (Kardinal Hummes: „Vergiss die Armen nicht!“) Hotelrechnung selbst bezahlt, wohnt im Gästehaus, isst in der Kantine, trägt eisernes Brustkreuz, schwarze Schuhe, Verzicht auf Luxusautos, einfache Messgewänder Am Gründonnerstag Fußwaschung jugendlicher Gefangener Leerer Stuhl bei Konzert Anfang Juli Immer wieder Herzliches und körperbetontes Zugehen auf Menschen Weltjugendtag in Río

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3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013

In Kantine Philippinischer Kardinal Luis Tagle: „Heiliger Vater, darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Der Papst: „Aber bitte doch, Heiliger Sohn“ (Tagesspiegel, 21.6.13) Weg frei gemacht für Seligsprechung von Bischof Oscar Arnulfo Romero Juni 13: Treffen mit der CLAR: „Vielleicht bekommt ihr sogar einen Brief der Glaubenskongregation mit dem Vorwurf, dies oder das gesagt zu haben. Beunruhigt euch nicht. Erklärt, was ihr erklären müsst, aber macht weiter. Öffnet Türen, macht etwas, wonach das Leben ruft. Ich ziehe eine Kirche vor, die Fehler macht, als eine, die krank wird, weil sie sich einschließt.“

Anfang Juli 13: Lumen fidei (Enzyklika mit Text von Benedikt XVI.) Mitte Sept.: Interview mit Jesuitenzeitschriften 12.09.13 Umarmung von Gustavo Gutiérrez bei Privataudienz Einsetzung eines achtköpfigen Kardinalsrates, Planung einer Reform der Kurie Mehr Kontrolle und Transparenz bei der Vatikanbank, eigenes „Finanzministerium“, Haushaltsplan Problem Limburg Ernennung von Bischof Müller zum Kardinal Viele Gesten! Aber wie steht es um Personalentscheidungen, Strukturentscheidungen, Lehrentscheidungen? 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

Gliederung

Gliederung Vorbemerkungen 1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus 2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche 3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013 4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium 5. Schlussfolgerungen

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Erste Beobachtungen Keine Enzyklika, sondern eine „Exhortatio“ Geschrieben auf der Grundlage der Beratungen der Bischofsynode 2012 (vgl. Nr.16) Kleine Zitationsstatistik: Johannes Paul II

51

Johannes XXIII

3

Propositio

32

Augustinus

3

Benedikt XVI/JR

26

Int. Theologenkomm.

3

Paul VI

24

Irenäus v. Lyon

2

Vaticanum II

19

Plato

1

CELAM

14

Guardini

1

Thomas v. Aquin

14

CIC

1

Nationale BiKonf

10

KKK

1

Kompendium KSL

7

Nican Mopóhua

1

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium Wichtige Zitate Benedikts XVI. Anm. 11: Feuer des Heiligen Geistes als Lebensprinzip der Gemeinden Anm. 13: Kirche wächst durch „Anziehung“ Anm. 32: Aufbruch zu den Peripherien Anm. 52: Option für die Armen Anm. 63: grauer Pragmatismus des kirchlichen Alltags Anm. 67: Wüste, Entdeckung der Freude Anm. 81: Kirche als Werkzeug der Gnade, Initiative kommt immer von Gott Anm. 102: Lob der Volksfrömmigkeit Anm. 132: „Rede in Gleichnissen“ -> neue Symbole, neue Zeichen, verschiedene Formen Anm. 135: Wort Gottes muss immer Mittelpunkt des kirchlichen Handelns sein. Kirche muss sich evangelisieren lassen. Anm. 138: Bibelstudium Anm. 144: für Kirche wesentlich: Dienst der Liebe Anm. 150: Kirche darf im Ringen um Gerechtigkeit nicht abseits stehen. Anm. 165: Option für die Armen christologisch begründet Anm. 173: „strukturellen Ursachen der Fehlfunktionen der Weltwirtschaft“ Anm. 175: Liebe als Prinzip auch für gesellschaftliche Zusammenhänge (Makro-Beziehungen) Anm. 186: Licht, das der Glaube schenkt Anm. 197: Evangelisierung und interreligiöser Dialog Anm. 203: Betonung der Religionsfreiheit Anm. 209: Abwendung vom Nächsten macht auch für Gott blind

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Persönliche Motivation, innere Haltung, Selbstrelativierung 7: Ich kann wohl sagen, dass die schönsten und spontansten Freuden, die ich im Laufe meines Lebens gesehen habe, die ganz armer Leute waren, die wenig haben, an das sie sich klammern können. 184: Außerdem besitzen weder der Papst noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme. Ich kann hier wiederholen, was Paul VI. in aller Klarheit betonte: » Angesichts so verschiedener Situationen ist es für uns schwierig, uns mit einem einzigen Wort zu äußern bzw. eine Lösung von universaler Geltung vorzuschlagen. Das ist nicht unsere Absicht und auch nicht unsere Aufgabe. Es obliegt den christlichen Gemeinden, die Situation eines jeden Landes objektiv zu analysieren. « [Zitat Paul VI.]

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Ausgangspunkt 1: praxeologisches Glaubensverständnis -> Weltgestaltung aus Glauben zugunsten der Armen 179: Das Wort Gottes lehrt uns, dass sich im Mitmenschen die kontinuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden von uns findet: » Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan « (Mt 25,40). […] Was diese Texte ausdrücken, ist die absolute Vorrangigkeit des „Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu“ als eines der beiden Hauptgebote, die jede sittliche Norm begründen, und als deutlichstes Zeichen, anhand dessen man den Weg geistlichen Wachstums als Antwort auf das völlig ungeschuldete Geschenk Gottes überprüfen kann. Aus diesem Grund » ist auch der Dienst der Liebe ein konstitutives Element der kirchlichen Sendung und unverzichtbarer Ausdruck ihres eigenen Wesens «. [Zitat Benedikt XVI.] 183: Folglich kann niemand von uns verlangen, dass wir die Religion in das vertrauliche Innenleben der Menschen verbannen […] Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen. 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Ausgangspunkt 2: Option für die Armen 187: Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen. 188: […] das beinhaltet sowohl die Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben […], als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität […]. 194: Das ist eine so klare, so direkte, […] Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren. Die Reflexion der Kirche über diese Texte dürfte deren ermahnende Bedeutung nicht verdunkeln oder schwächen, […] Jesus hat uns mit seinen Worten und seinen Taten diesen Weg der Anerkennung des anderen gewiesen. Warum verdunkeln, was so klar ist? Sorgen wir uns nicht nur darum, nicht in lehrmäßige Irrtümer zu fallen, sondern auch darum, diesem leuchtenden Weg des Lebens und der Weisheit treu zu sein. 198: Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): Gegen Traditionalismus und Kontrollwahn 6: Es gibt Christen, deren Lebensart wie eine Fastenzeit ohne Ostern erscheint. 33: Die Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale Kriterium des „Es wurde immer so gemacht“ aufzugeben. 44: Die Priester erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das mögliche Gute zu tun. 47: Die Eucharistie ist […] nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): Gegen Ängstlichkeit, zu viel Bürokratie und zu starke Konzentration auf die Sakramentenspendung 49: Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. […] Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: » Gebt ihr ihnen zu essen! « (Mk 6,37). 63: Außerdem müssen wir zugeben, dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eigene Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet, das auch manchen Strukturen und einem wenig aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfarreien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder einem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die einfachen oder auch komplexen Probleme des Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vielerorts besteht eine Vorherrschaft des administrativen Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung. 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): gegen Traditionalismus und kirchlichen Egoismus 70. Es stimmt auch, dass der Schwerpunkt manchmal mehr auf äußeren Formen von Traditionen einiger Gruppen oder auf hypothetischen Privatoffenbarungen liegt, die absolut gesetzt werden. Es gibt ein gewisses, aus Frömmigkeitsübungen bestehendes Christentum, dem eine individuelle und gefühlsbetonte Weise, den Glauben zu leben, zugrunde liegt, die in Wirklichkeit nicht einer echten „Volksfrömmigkeit“ entspricht. Manche fördern diese Ausdrucksformen, ohne sich um die soziale Förderung und die Bildung der Gläubigen zu kümmern, und in gewissen Foällen tun sie es, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen oder eine Macht über die anderen zu gewinnen.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): gegen die Überheblichkeit der vermeintlich Frommen 94. […] der selbstbezogene und prometheische Neu-Pelagianismus derer, die sich letztlich einzig auf die eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind. Es ist eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): gegen zu starke Konzentration auf Liturgie und ein kirchliches „Managertum“ 95. Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich in vielen Verhaltensweisen […]. Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. […] Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche oder politische Errungenschaften vorweisen zu können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem Management praktischer Angelegenheiten verbunden ist, oder darin, sich durch die Dynamiken der Selbstachtung und der Selbstverwirklichung angezogen zu fühlen. Sie kann auch ihren Ausdruck in verschiedenen Weisen finden, sich selbst davon zu überzeugen, dass man in ein intensives Gesellschaftsleben eingespannt ist, angefüllt mit Reisen, Versammlungen, Abendessen und Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einem Manager-Funktionalismus, der mit Statistiken, Planungen und Bewertungen überladen ist und wo der hauptsächliche Nutznießer nicht das Volk Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenkritik (Analyse): „Weltlichkeit“ unter dem Deckmantel der Frömmigkeit: schreckliche Korruption mit dem Anschein des Guten 97: Wer in diese Weltlichkeit gefallen ist, schaut von oben herab und aus der Ferne, weist die Prophetie der Brüder ab, bringt den, der ihm Fragen stellt, in Misskredit, hebt ständig die Fehler der anderen hervor und ist besessen vom Anschein. Er hat den Bezugspunkt des Herzens verkrümmt auf den geschlossenen Horizont seiner Immanenz und seiner Interessen, mit der Konsequenz, dass er nicht aus seinen Sünden lernt, noch wirklich offen ist für Vergebung. Es ist eine schreckliche Korruption mit dem Anschein des Guten. Man muss sie vermeiden, indem man die Kirche in Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht, in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission, in den Einsatz für die Armen. Gott befreie uns von einer weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen!

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenreform: ecclesia semper reformanda 24: Sie [die Kirche] empfindet einen unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten – eine Frucht der eigenen Erfahrung der unendlichen Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und ihrer Tragweite. Wagen wir ein wenig mehr, die Initiative zu ergreifen! […] Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen, […] indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung kommt. So haben die Evangelisierenden den „Geruch der Schafe“, und diese hören auf ihre Stimme. […] Wenn der Sämann inmitten des Weizens das Unkraut aufkeimen sieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik. 26: Das Zweite Vatikanische Konzil hat die kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst […]. Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können; gleicherweise können die guten Strukturen nützlich sein, wenn ein Leben da ist, das sie beseelt, sie unterstützt und sie beurteilt. Ohne neues Leben und echten, vom Evangelium inspirierten Geist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ wird jegliche neue Struktur in kurzer Zeit verderben.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenreform: neues Bischofsbild, Reform des Papsttums 31: Der Bischof muss immer das missionarische Miteinander in seiner Diözese fördern, indem er das Ideal der ersten christlichen Gemeinden verfolgt, in denen die Gläubigen ein Herz und eine Seele waren (vgl. Apg 4,32). Darum wird er sich bisweilen an die Spitze stellen, um den Weg anzuzeigen […], andere Male wird er einfach inmitten aller sein […] und bei einigen Gelegenheiten wird er hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden. In seiner Aufgabe, ein dynamisches, offenes und missionarisches Miteinander zu fördern, wird er die Reifung der vom Kodex des Kanonischen Rechts vorgesehenen Mitspracheregelungen sowie anderer Formen des pastoralen Dialogs anregen und suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören und nicht nur einige, die ihm Komplimente machen. 32: Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. […] Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Umkehr zu folgen. […] Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen. 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Kirchenreform: Rolle der Frauen in der Kirche 103: Doch müssen die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden. Denn » das weibliche Talent ist unentbehrlich in allen Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens; aus diesem Grund muss die Gegenwart der Frauen auch im Bereich der Arbeit garantiert werden « und an den verschiedenen Stellen, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, in der Kirche ebenso wie in den sozialen Strukturen. 104: Die Beanspruchung der legitimen Rechte der Frauen aufgrund der festen Überzeugung, dass Männer und Frauen die gleiche Würde besitzen, stellt die Kirche vor tiefe Fragen, die sie herausfordern und die nicht oberflächlich umgangen werden können. Das den Männern vorbehaltene Priestertum als Zeichen Christi, des Bräutigams, der sich in der Eucharistie hingibt, ist eine Frage, die nicht zur Diskussion steht, kann aber Anlass zu besonderen Konflikten geben, wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird. […] In der Kirche begründen die Funktionen » keine Überlegenheit der einen über die anderen «.Tatsächlich ist eine Frau, Maria, bedeutender als die Bischöfe.

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4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Hierarchie der Wahrheiten, Konzentration auf das Wesentliche 36: In diesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet, die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich im gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart hat. In diesem Sinn hat das Zweite Vatikanische Konzil gesagt, » dass es eine Rangordnung oder „Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens «. Das gilt sowohl für die Glaubensdogmen als auch für das Ganze der Lehre der Kirche, einschließlich der Morallehre. 38: Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das die Tugenden, die in den Schatten gestellt werden, genau diejenigen sind, die in der Predigt und in der Katechese mehr vorkommen müssten. Das Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird.

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Neue Sprache, neue Bräuche 41: Zugleich erfordern die enormen und schnellen kulturellen Veränderungen, dass wir […] die ewigen Wahrheiten in einer Sprache auszudrücken, die deren ständige Neuheit durchscheinen lässt. Denn im Glaubensgut der christlichen Lehre » ist das eine die Substanz […] ein anderes die Art und Weise, diese auszudrücken « [Zitat Johannes XXIII]. 43: In ihrem bewährten Urteil kann die Kirche auch dazu gelangen, eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen.

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Dialog, Offenheit 40: Außerdem gibt es innerhalb der Kirche unzählige Fragen, über die mit großer Freiheit geforscht und nachgedacht wird. Die verschiedenen Richtungen des philosophischen, theologischen und pastoralen Denkens können, wenn sie sich vom Geist in der gegenseitigen Achtung und Liebe in Einklang bringen lassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weil sie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen. Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen. Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln. 49: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

Gliederung

Gliederung Vorbemerkungen 1. Person und lateinamerikanischer Hintergrund von Papst Franziskus 2. Dimensionen des Reformstaus in der Katholischen Kirche 3. Gründe für die Wahl des Papstes und wichtige Gesten und Aussagen des Papstes seit 13.03.2013 4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium 5. Schlussfolgerungen

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5. Schlussfolgerungen

Es gibt eindeutige Reformimpulse: Starke Aufbruchs- und Öffnungsrhetorik Harte Selbstkritik an bestimmten kirchlichen Ausdrucksformen, Riten und Strukturen Betonung von Reformnotwendigkeiten Maximen der Reform Konzentration auf das Wesentliche Bedeutung der Praxis, „Mission“ und „Evangelisierung“ in diesem Sinne zu verstehen! Eintreten für Gerechtigkeit, Option für die Armen Dienende Kirche, Dienstfunktion des Amtes Dezentralisierung und Aufwertung der Ortskirchen Dialog Kirche – Welt, Kirche – andere Konfessionen/Religionen und innerkirchlich Umsetzung in entsprechende Personalentscheidungen und Strukturentscheidungen? Entscheidend: Bischofssynode 2014 (schon im Vorfeld interessant: Umfrage) 18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Zum Schluss 270. Zuweilen verspüren wir die Versuchung, Christen zu sein, die einen sicheren Abstand zu den Wundmalen des Herrn halten. Jesus aber will, dass wir mit dem menschlichen Elend in Berührung kommen, dass wir mit dem leidenden Leib der anderen in Berührung kommen. Er hofft, dass wir darauf verzichten, unsere persönlichen oder gemeinschaftlichen Zuflüchte zu suchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kern des menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben, damit wir dann akzeptieren, mit dem konkreten Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu kommen und die Kraft der Zartheit kennen lernen. Wenn wir das tun, wird das Leben für uns wunderbar komplex, und wir machen die tiefe Erfahrung, Volk zu sein, die Erfahrung, zu einem Volk zu gehören.

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

4. Das Rundschreiben Evangelii gaudium

Schlussgebet an Maria 288. […] Stern der neuen Evangelisierung, hilf uns, dass wir leuchten im Zeugnis der Gemeinschaft, des Dienstes, des brennenden und hochherzigen Glaubens, der Gerechtigkeit und der Liebe zu den Armen, damit die Freude aus dem Evangelium bis an die Grenzen der Erde gelange und keiner Peripherie sein Licht vorenthalten werde.

18. März 2014 | Prof. Dr. Gerhard Kruip | Johannes Gutenberg Universität Mainz

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!