Begleitmaterial zur Vorstellung I WANNA BE (MADE) EINE PRODUKTION VON THEATER MONTAGNES RUSSES

Begleitmaterial zur Vorstellung I WANNA BE (MADE) Eine Begegnung zwischen der chinesischen Tänzerin Yang Ji (Yutong) und 10 Kindern aus Wien EINE PR...
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Begleitmaterial zur Vorstellung

I WANNA BE (MADE) Eine Begegnung zwischen der chinesischen Tänzerin Yang Ji (Yutong) und 10 Kindern aus Wien

EINE PRODUKTION VON THEATER MONTAGNES RUSSES SCHAUSPIEL / CA. 75 MIN. / EMPFOHLEN AB 10 JAHREN Begleitinformationen erstellt von Sibylle Dudek und Cornelia Rainer ANSPRECHPERSON für Informationen, Anmeldung und Kartenreservierung Pädagogische Einrichtung, Kulturvermittlung / Mag. Christina Bierbaumer Mo. - Fr. 09:00 - 17:00 / fon +43.1.522 07 20 -18 / fax +43.1.522 07 20 -30 / [email protected] / www.dschungelwien.at

INHALTSVERZEICHNIS 1. Zur Produktion 2. Inhaltsangabe 3. Idee/Konzept 4. Das künstlerische Team 5. Auszüge aus dem Stück 6. Interviews mit dem Team 7. Hintergrundinformationen und ExpertInnen-Interviews zum Thema 8. Vor- und Nachbereitung 9. Literaturempfehlungen zum Thema 10. Workshops zum Thema 11. Kontakt

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1. ZUR PRODUKTION Ca. 75 Min. ohne Pause Der Text I WANNA BE (MADE) basiert auf Gesprächen mit der chinesischen Tänzerin Yang Ji, Schülerinnen der Peking Oper Schule in Taipeh und den beteiligten Kindern. Die Kinder, die am Projekt mitwirken, wurden im Rahmen eines mehrtägigen Workshops ausgesucht. Sie kommen aus fünf Wiener Bezirken und haben unterschiedliche soziale wie kulturelle Hintergründe und Förderung. Vielfalt war das entscheidende Kriterium bei unserer Auswahl. Für den Großteil der Kinder ist es das erste Mal, dass sie auf einer Bühne stehen und Texte und Bewegungsfolgen einstudieren. Bei allen Unterschieden haben die Kinder eines gemeinsam: den Wunsch, Theater zu spielen und ihre Geschichte zu erzählen. EINE PRODUKTION VON THEATER MONTAGNES RUSSES Theater Montagnes Russes ist eine unabhängige Theatercompagnie mit Sitz in Wien, die von der Regisseurin Cornelia Rainer geleitet wird. Projektweise führt sie InterpretInnen aus unterschiedlichen künstlerischen Bereichen, sowie auch nichtprofessionelle DarstellerInnen zusammen. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet Cornelia Rainer mit dem Bühnen- und Kostümbildner Aurel Lenfert und der Dramaturgin Sibylle Dudek. „Montagnes Russes“ so bezeichnet man in Frankreich Achterbahnen. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff „russische Berge“. Einer Überlieferung nach wurde eine Urform der Achterbahn in der russischen Berglandschaft erfunden, wo Pisten vereist wurden, um so noch abenteuerlichere Fahrten zu ermöglichen. Mit: Yang Ji (Yutong), Irfan Ajvazoski, Arjun Kumar, Vanshika Kumar, Michaela Lindorfer, Leon Schönauer, Valerie Schwanda, Tamara Stojkovic, Krisztina Vargha, Yani Zhan, Hanna Zwerina Text und Regie: Cornelia Rainer | Bühne, Kostüme: Aurel Lenfert | Dramaturgie: Sibylle Dudek | Ton: Stefan Frankenberger | Video: Stefan Wurmitzer, Cornelia Rainer | Regieassistenz, Abendspielleitung: Lili Hering | Produktionsleitung: Andrea Klem 4

2. INHALTSANGABE

ICH HABE EINEN TRAUM Anders als in der Realität ist in Träumen alles möglich: Die ganze Welt besteht plötzlich aus Magie, und alle Wünsche können in Erfüllung gehen. Wir können in unseren Träumen alles erreichen und alles sein oder werden: berühmt, erfolgreich, wunderschön, blitzgescheit, ausgestattet mit besonderen Kräften und Begabungen. Was aber, wenn die Träume in Erfüllung gehen und in der Realität plötzlich gar nicht mehr so glanzvoll und schön sind wie in der Fantasie? Zehn Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 14 Jahren aus fünf unterschiedlichen Wiener Bezirken begegnen der chinesischen Tänzerin Yang Ji. Viele von ihnen stehen zum ersten Mal auf einer Bühne. Yang Ji erzählt ihnen ihre Geschichte: Ihr großer Traum war es, auf einer Bühne zu stehen und Tänzerin und Schauspielerin zu werden. Sie ist auf ein Tanzinternat in Shanyeng gegangen, einer Stadt in Nordostchina. Dort ist sie ausgebildet worden und hat viele verschiedene chinesische Tänze gelernt. Am Besten hat ihr die Kunst der Peking Oper gefallen. Die Peking Oper ist eine traditionelle chinesische Theaterform und vereint die künstlerischen Elemente: Schauspiel, Kampfkunst, Gesang, Tanz und Akrobatik. Auf dem Internat hat Yang Ji sechs Jahre lang gelernt, wie man den Körper wie eine Maschine trainiert, wie man Schmerz versteckt und das Heimweh bekämpft. Aber was ist aus ihrem Traum geworden? Und wovon träumen die Kinder und Jugendlichen aus Wien?

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3. IDEE/KONZEPT

Ausgangspunkt für das Projekt war ein Studienaufenthalt von Cornelia Rainer an der staatlichen Schule für chinesische Künste in Taipeh. Hier kam sie mit Schülerinnen ins Gespräch, die in der Kunst der Peking Oper unterrichtet wurden und ihr von ihrem Alltag erzählten. Ergänzend dazu kam die Geschichte der chinesischen Tänzerin Yang Ji, die auch auf der Bühne zu sehen sein wird. Vieles, was Cornelia Rainer erfahren und aufgeschrieben hat, passt in das Bild, was im Westen häufig von China entworfen wird: China, das Wirtschaftswunderland, mit seinem Turbokapitalismus und den rasant wachsenden Märkten, das Land, das aller Voraussicht nach die zukünftigen Eliten stellen wird und in dem Ehrgeiz und Drill, eiserner Wille und Erfolg um jeden Preis das Leben bestimmen. Erst kürzlich ist das Buch "Mutter des Erfolgs" der chinesischstämmigen Amerikanerin Amy Chua durch die Medien gegangen und hat eine Diskussion entfacht, wie viel Disziplin und Strenge in der Erziehung von Kindern angebracht ist. Jedoch – bei aller Fremdheit – hat die Geschichte von Yang Ji und den anderen Schülerinnen durchaus auch immer wieder Überschneidungen mit unserer Lebensrealität. Einige der Fragen, die sie als Heranwachsende begleitet haben, stellen sich Kinder und Jugendliche hier genauso: Was möchte ich werden? Welche Bilder habe ich von mir? Wie gehe ich mit Neid und Konkurrenzgefühlen um? Bin ich ehrgeizig? Entspricht mein Körper dem Schönheitsideal? Wo sind meine Grenzen? Wie reagiere ich auf Misserfolge und Erfolge? Wie finde ich meinen Weg? Wovon träume ich? Daher haben wir beschlossen, die Bühne zu einem Ort der Begegnung, des Austausches werden zu lassen. Hier bietet sich die Möglichkeit, die zunächst fremde Lebenswelt des Anderen zu begreifen und ungeahnte Gemeinsamkeiten zu entdecken.

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4. DAS KÜNSTLERISCHE TEAM REGIE/KONZEPTION CORNELIA RAINER, 1982 in Lienz in Osttirol geboren, begann in Wien zunächst das Studium der Theater,- Film- und Medienwissenschaften. Dann setzte sie ihr Studium aufgrund eines Engagements als Regieassistentin bei der Theatercompagnie Parallel Theatre am Théâtre de L’Atalante in Paris fort. Während ihres Studiums an der Nouvelle Sorbonne in Paris, studierte sie parallel klassischen Gesang an der Ecole National de Musique de Pantin. Sie nahm an internationalen Theaterateliers teil, u.a. als Stipendiatin im Bereich Regie beim Festival d‘Avignon und war Gaststudentin am International Junior College of Performing Arts in Taiwan (Ausbildungszentrum der Peking Oper). Erste eigene Theaterarbeiten entstanden in Zusammenarbeit mit dem Atelier choréographique der Nouvelle Sorbonne in Paris. Von 2005 bis 2009 arbeitete sie als Regieassistentin am Burgtheater in Wien. Als Regisseurin arbeitete Cornelia Rainer bisher am Burgtheater Vestibül und Kasino in Wien, bei den Bregenzer Festspielen/Kunst aus der Zeit, am Schauspielhaus Wien, am Thalia Theater in Hamburg und zuletzt am Théâtre Mains d’Oeuvres in Paris. Als Gastmusikerin singt und spielt sie Bandoneon bei der Musicbanda Franui.

BÜHNE/KOSTÜME AUREL LENFERT, 1971 in Recklinghausen geboren, begann nach abgeschlossener Tischlerlehre in Köln ein Bühnen- und Kostümbild-Studium an der Kunstakademie Düsseldorf. 2004 war er Meisterschüler von Prof. Karl Kneidl. Mehrere Studienaufenthalte verbrachte er in der Villa Guadellupe Volterra in Italien. Während und nach dem Studium assistierte Aurel Lenfert an verschiedenen Theatern im deutschsprachigen Raum. Ein festes Engagement im Bereich Ausstattung brachte ihn von 2006 bis 2009 ans Burgtheater Wien, wo er bei zahlreichen Produktionen eigenständig für das Bühnen- und Kostümbild verantwortlich war. Aurel Lenfert arbeitete an verschiedenen Häusern: Staatstheater Stuttgart, Staatstheater Hannover, Schauspiel Leipzig, Bregenzer Festspiele, Thalia Theater Hamburg, Burgtheater Wien u.a.

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DRAMATURGIE SIBYLLE DUDEK, wurde 1977 in Dortmund geboren. 1998 verbrachte sie mehrere Monate in Bolivien, wo sie in La Paz mit freien Theatergruppen zusammenarbeitete. Zurück in Deutschland begann sie ihr Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und wechselte an das Institut für TheaterMusiktheater und Film der Universität Hamburg. Während des Studiums realisierte Sibylle Dudek zahlreiche eigene Projekte als Dramaturgin, Regisseurin und Autorin u.a. beim Festival Politik im freien Theater, am Thalia Theater und auf Kampnagel, Hamburg. Außerdem wurden ihre Stücke “dicker als blut” und “niemandsland” am Theater der Altmark in Stendal uraufgeführt. Von 2005 bis 2009 war sie als Dramaturgieassistentin und Dramaturgin am Burgtheater Wien engagiert. In der Spielzeit 2009/10 war Sibylle Dudek Hausautorin am Theater Koblenz. Ihre Stücke “Klytaimnestra” und “Heimgesucht” kamen zur Uraufführung. Im Moment arbeitet sie als Dramaturgin am Maxim Gorki Theater in Berlin.

VITA DER DARSTELLERIN Yang Ji (Yutong), 1986 in Haicheng (MeerStadt), China, geboren, besuchte von 1999 bis 2003 die staatliche Musikhochschule in Shenyang, wo sie Tanz studierte und auch Einblicke in die klassischen chinesischen Künste wie die Peking Oper bekam. Anschließend wechselte sie nach Wien und absolvierte erfolgreich ein Studium im Fachbereich Modern Dance am Vienna Konservatorium. Ergänzend unternahm sie eine Fortbildung im Bereich Musical am Wiener Performdance Studio. Seit Oktober 2010 studiert Yang Ji zeitgenössische Tanzpädagogik am Konservatorium Wien. Bei der ESDU Dancestar Weltmeisterschaft 2010 und 2011 wurde sie für ihre Leistung im Bereich Charaktertanz (u.a. für die Choreografie des Peking Oper Stücks „Chinese Mulan") ausgezeichnet. Neben ihrem Studium wirkt Yang Ji regelmäßig bei Theater-, Film- und Kulturprojekten mit und engagiert sich für den Kulturaustausch zwischen Österreich und ihrem Heimatland China. Sie unterrichtet Cheerdance, außerdem Chinesisch in der Chinesischen Schule Wien.

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DIE KINDER Irfan Ajvazoski (Mazedonien), 11 Jahre alt, besucht die KMS Staudingergasse im 20. Bezirk. Arjun Kumar (Indien), 11 Jahre alt, besucht die KMS Staudingergasse im 20. Bezirk. Vanshika Kumar, (Indien), 12 Jahre alt, besucht die KMS Staudingergasse im 20. Bezirk. Michaela Lindorfer (Österreich), 14 Jahre alt, besucht die KMS Staudingergasse im 20. Bezirk. Leon Schönauer (Österreich/Philippinen), 12 Jahre alt, besucht die KMS Selzergasse im 15. Bezirk. Valerie Schwanda (Österreich), 9 Jahre alt, besucht die KMS Selzergasse im 15. Bezirk. Tamara Stojkovic (Serbien), 11 Jahre alt, besucht die Staudingergasse im 20. Bezirk. Krisztina Vargha (Ungarn), 7 Jahre alt, besucht die VS Pfeilgasse im 8. Bezirk. Yani Zhan (China), 9 Jahre alt, besucht die VS Ruckergasse im 12. Bezirk. Hanna Zwerina (Österreich), 9 Jahre alt, besucht die VS Pfeilgasse im 8. Bezirk.

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5. AUSZÜGE AUS DEM STÜCK Über den Abschied von den Eltern und den Schulalltag an einem Internat für chinesische Künste: „Vor dem Internat gab es viele Kokosbäume. Und neben der Schule gab es einen See. Yang war damals 12 Jahre alt. Drei Tage vor Schulbeginn hat sie ihre Mutter mit dem Auto hingefahren, und an diesem Tag ist sie zum ersten Mal alleine an einem fremden Ort zurückgeblieben. In diese Schule zu gehen, bedeutete für sie dort zu schlafen, zu leben. Ihre Mutter hat sie alleine zurückgelassen, sie hat sie angesehen, und sie hat ihr auf Wiedersehen gesagt. Sie wollte am liebsten weinen, aber sie hat sich Gott sei Dank zurückgehalten, denn das wäre eine Schande gewesen vor allen zu weinen. Außerdem war es ja für alle Kinder das Gleiche.“ „Yang hatte immer großes Heimweh. Während der Schulwoche hat sie jeden Tag ans Wochenende gedacht. Sie hängt sehr an ihrer Familie, aber jetzt ist sie es schon gewohnt, weit weg zu sein. Sie lebt jetzt in Europa. Weit weg von ihrer Familie. Aber sie kann sie jederzeit anrufen. Sie hat einen Gratistarif, mit dem sie jederzeit umsonst nach China telefonieren kann.“ „Jeden Tag in der Früh um fünf hört man den Schulwecker. Sofort wird das Saallicht angemacht, und die Aufwecker schreien laut durch den ganzen Schlafsaal: aufstehen, aufstehen, aufstehen! Man hat 5 Minuten Zeit, sich fertig zu machen, sich zu waschen, sich anzuziehen, sein Bett zu machen. Wie einen Tofu muss man die Bettdecke falten, wenn man das Bett schlecht macht, wird man bestraft. Man muss sich beeilen, man hat keine Zeit, lange im Bett zu bleiben. Man muss sich vorbereiten. Man muss seinen Körper in Form bringen, ihn trainieren. Dann Frühstück um 7.30 Uhr im Speisesaal. Das Essen am Morgen ist salzig oder süß. Meistens gibt es Rindfleisch und Reis und immer Suppe. Das Essen ist fett, aber man muss essen. Man braucht Kraft für die Übungen und den langen Tag. Von 8:00 Uhr bis 12.00 Unterricht. immer bewegen, nie stehenbleiben. Bewegen, nie stehenbleiben, bewegen, nie stehenbleiben.“ Dann wieder Essen. Dann das Geschirr waschen. Für einen Mittagsschlaf bleiben 5 Minuten Zeit. Die Zeit ist genau berechnet, wenn du zehn Minuten vertrödelst, dann wirst du zehn Minuten weniger Zeit haben für andere Dinge. Dann wieder Unterricht. Immer bewegen, nie stehenbleiben. Dann wieder essen. Schlafen. Dann noch einmal Unterricht. Immer bewegen, nie stehenbleiben. Am Abend ist man dann sehr müde.“

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„Als ich in die Schule gekommen bin, war ich sehr ruhig. Ich habe immer alles gemacht, was die Professoren wollten. Nie habe ich was anderes gemacht. Nie, nie, nie. Daher weiß ich auch nicht, ob die Disziplin von mir selbst kommt. Ich habe immer gemacht, was mir die Lehrer gesagt haben. Ich habe mir nie die Frage gestellt, was ich da mache. Wenn ich gehe, gehe ich, wenn ich trinke, trinke ich. Ich habe das gemacht, was meine Lehrer wollten. Das ist eigentlich ganz einfach.

Meine Lehrer haben immer zu mir gesagt: Der trainierte Körper ist das Wichtigste für uns. Man trainiert seinen Körper wie eine Maschine. Wenn man umfällt, beginnt man wieder von vorn. Man muss den Körper formen. Je mehr weh du hast, desto schöner ist es. Desto mehr musst du lächeln. Immerzu lächeln.“

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6. INTERVIEWS MIT DEM TEAM Einige Fragen an die Regisseurin Cornelia Rainer Du hast bei einem Studienaufenthalt in Taiwan ein Ausbildungszentrum für die Peking Oper 1 in Taipeh besucht und dort am Unterricht teilgenommen. Was waren deine Eindrücke? Die Tage sind geprägt von einem harten und strengen Ablauf. Täglich um 5.30 Uhr in der Früh bin ich mit den SchülerInnen gemeinsam aufgestanden und habe mit ihnen Akrobatik trainiert, verschiedenste traditionelle chinesische Tänze von ihnen gelernt und einstudiert. Dies waren sehr anstrengende Unterrichtsstunden - vor allem der Unterricht in der klassischen Schauspielkunst. In der Peking Oper herrscht ein sehr strenges Bewegungsrepertoire, welches sich die StudentInnen über Jahre hart erarbeiten müssen. Was sind die Eigenarten der Schauspielkunst der Peking Oper? In der Peking Oper gibt es 4 Rollen: die männlichen, die weiblichen, den bemalten Krieger und den Clown. Nach dem zweiten Studienjahr bekommen die Kinder von ihren LehrerInnen eine Rolle zugeteilt, die sie dann bis zum Ende ihres Studiums erlernen und auch das ganze Leben lang spielen. Es gibt für jede Rolle genaue fixierte Bewegungen. Die Einstudierung der Rolle ist mit harter und jahrelanger Arbeit verbunden. Wie hast du das empfunden? Im ersten Moment war ich fasziniert von der Schönheit und Leichtigkeit der Bewegungen der DarstellerInnen, der komplizierten Kunststücke, die die Kinder bereits so früh beherrschen. Ich war beeindruckt von der körperlichen Verfasstheit, der präzisen bis ins Detail perfekt ausgeführten Bewegungen. Auch haben mir die schönen farbigen Kostüme und Masken und vielfältigen Requisiten gefallen. Ich 1

International College of Performing Arts in Taipeh 12

habe ganz neue Farben, neue Bewegungen gesehen, neue Klänge gehört, die ich so vorher nicht erfahren hatte. In gewisser Weise war ich auch überfordert mit den vielen neuen Eindrücken und der Fremdheit dieser Kunst. Und was hast du in den Gesprächen mit den StudentInnen erfahren? In meiner Beobachtung und auch durch Gespräche mit StudentInnen habe ich dann einige problematische Seiten und Auswirkungen der Ausbildung erfahren, die für das Publikum und außenstehenden BetrachterInnen zunächst nicht sichtbar sind: Es herrscht ein harter Konkurrenzkampf zwischen den SchülerInnen und ein großer Leistungsdruck. Auch gibt es sehr strenge, hierarchische Strukturen innerhalb des Internatbetriebes: der genau geplante Tagesablauf lässt den SchülerInnen nur wenig Zeit für sich selbst, jede Stunde ist exakt geplant. Das klingt nach sehr wenig Freizeit... Ja, es herrscht nur wenig Freiraum für die individuelle Einteilung und Gestaltung des Tages. Diese Einschränkungen spiegeln sich im Übrigen auch in der Struktur und im Aufbau der Peking Oper selbst wieder: Die „lebenslange“ Rollenzuschreibung führt natürlich zu einer unglaublichen Perfektion, gleichzeitig aber bringt diese automatisch Einschränkungen mit sich: Wie bereits angesprochen, beruht jede Rolle auf kodifiziertem Bewegungsmaterial, d.h. für bestimmte Gefühlszustände gibt es bestimmte Gesten, die vor allem von einem chinesischen Publikum entschlüsselt werden können. Das Einstudieren der Rollen basiert so ausschließlich auf der Nachahmung von Bewegungen, die die LehrerInnen vormachen. Eigenständigkeit in der Gestaltung ist also gar nicht gewünscht? Nein, eine eigenständige Interpretation ist nicht erwünscht. Im westlichen Theater gibt es unzählige Möglichkeiten ein Gefühl, wie z.B. Traurigkeit, darzustellen. In der Peking Oper gibt es dafür nur eine bestimmte Geste. Die Wirkung des/der SchauspielerIn wird an der Perfektion der Umsetzung dieser Geste gemessen, eine möglichst hohe Ästhetisierung steht im Zentrum. Fang Hsuan Chiu, eine ehemalige Schülerin der Peking Oper Schule in Taipeh, die auch eine wichtige 13

Gesprächpartnerin für das Projekt war und dieses auch eine zeitlang begleitet hat, hat dazu einmal gesagt: „Ich habe immer gemacht, was die Lehrer gesagt haben. Ich habe mir nie die Frage gestellt, was ich da mache.“ Die Disziplin der SchülerInnen hat mich beeindruckt, jedoch zugleich auch abgeschreckt. Wie kamst du auf die Idee, das Material, das du damals an der Schule dort gesammelt hast, zu einem Stück zu verarbeiten? Die Ausbildung an der Peking Oper Schule stellt für mich nur ein Beispiel dar, für die vielen Anforderungen, denen Kinder und Jugendliche in China, aber auch immer häufiger in westlichen Gesellschaften ausgesetzt sind: In China gehen die Kinder nach dem regulären Schulunterricht zu Nachbereitungskursen, sowohl unter der Woche als auch an den Wochenenden, die Schultage dauern von in der Früh bis spät am Abend. Die einzigen Ferientage gibt es um das chinesische Neujahr. Wenn auch hier bei uns die Ferien Gott sei Dank noch großzügiger gestreut sind, stehen auch bei uns viele Kinder unter einem großen Druck. Die Kinder haben viele Verpflichtungen, bewegen sich zwischen Schule und Freizeitstress. Es werden Ansprüche an Kinder gestellt, denen auch viele Erwachsene nicht mehr standhalten können. Welche Auswirkungen hat deiner Meinung nach der große Leistungsdruck auf Kinder? Der Drang nach Anerkennung und Erfolg, die Angst um das eigene Überleben in einer Welt, in der die Spielregeln sich immer wieder ändern und neu zusammensetzen und in der jeder selbst die Schuld trägt, wenn er kein erfülltes und erfolgreiches Leben führt, sind nur einige Belastungen, denen sich immer mehr Menschen ausgesetzt sehen. Diese Angst wirkt sich auf die Kinder aus: Kinder werden zu kleinen Erwachsenen (gemacht), sie werden oft benutzt für wirtschaftliche (man denke nur an das Geschäft bei Castingshows usw.), aber allzu oft auch leider für eigennützige Interessen der Eltern. Nicht selten spielen Vergleiche, die zwischen Eltern ausgetragen werden („Mein Kinder spricht mit 5 schon 7 Sprachen“), eine erhebliche Rolle. Auch werden sie nicht allzu selten sehr früh schon zu Entscheidungsträgern oder erwachsenen Gesprächspartnern („ Meine 14

7-jährige Tochter hat absolut Verständnis für meine Probleme.“) ernannt. Für viele Eltern ist es sehr schwer, sich diesem Vergleichs- und Förderungsdruck zu entziehen. Die Grenzen zwischen Kindsein und Erwachsensein verwischen zunehmend. Angesichts der tausend Möglichkeiten an Aktivitäten, Musikinstrumenten, Sportarten und Sprachkursen kann einem ganz schwindelig werden … Ja, es entsteht eine große Überforderung und Orientierungslosigkeit seitens der Eltern, LehrerInnen und Kinder. Die Sorgen, die Unzufriedenheit und Panikmacherei vieler Erwachsener führt auch zu einer großen Unruhe und Unaufmerksamkeit bei Kindern. Alle Möglichkeiten sollen ausprobiert ausgekostet werden, keine „Chance“ soll verpasst werden. Die Möglichkeit Leidenschaften in seinem Leben entwickeln zu können, erachte ich als eine wesentliche Triebkraft des Menschen überhaupt. Es ist so wichtig Dinge auszuprobieren, aber ebenso wertvoll ist es, eine Sache einmal länger auszuprobieren. Vielen Kindern fällt es unglaublich schwer, bei einer Sache zu bleiben, sich länger auf ein Interesse zu konzentrieren. Eine gewisse Ruhe, oder auch ein geschützter Rahmen, d.h. Menschen, die es ernst mit einem meinen, sich Zeit nehmen, denke ich, sind nur einige von vielen anderen wichtigen Voraussetzung für das Entwickeln von Leidenschaften. Wie wurden die Kinder für das Projekt ausgesucht? Es war mir sehr wichtig, dass wir möglichst unterschiedliche Kinder für das Projekt auswählen, und eine möglichst vielfältige Gruppe zusammenstellen. Ich wollte jedoch die Auswahl nicht innerhalb eines 5-minütigen Castingauftritts treffen und habe daher beschlossen, die Kinder in kleineren Arbeitsgruppen kennenzulernen. Der Bühnen- und Kostümbildner Aurel Lenfert baute mit den Kindern kleine Bühnenmodelle, die Dramaturgin Sibylle Dudek führte kurze Interviews und drehte Videos, und mit mir arbeiteten die Kinder direkt auf der Bühne, in Form von Szenen, kurzen Tanzchoreografien. So konnten wir uns gemeinsam einen genaueren Eindruck von jedem einzelnen Kind machen.

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Waren spezielle Talente wichtig bei der Auswahl der Kinder? Wir haben vor allem nach Kindern gesucht, die bereit waren, sich über einen längeren Zeitraum mit ihrem persönlichen Traum auseinanderzusetzen - dies ist das zentrale Thema des Stücks - und diesen auch auf der Bühne zu erzählen. Nach einem speziellen Können habe ich nicht gesucht, sondern mehr nach Kindern, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie bei diesem Projekt etwas für sich suchen und etwas wollen. Die Zusammensetzung ist nun sehr vielfältig: Die Kinder sind zwischen 6 und 14 Jahren alt, viele von ihnen sind zweisprachig und in der 2. oder 3. Generation in Österreich. Ihre Eltern oder Großeltern kommen aus Serbien, Mazedonien, Ungarn, China, den Philippinen und Indien. Der Großteil der Kinder steht zum ersten Mal auf der Bühne. Und was sind deine Erfahrungen in der Arbeit mit den Kindern? Die Arbeit mit den Kindern war sehr individuell. Jedes Kind braucht eine andere Aufmerksamkeit und eine sehr individuelle Art der Auseinandersetzung. Das Wichtigste war es, den Kindern Vertrauen, Mut und Selbstbewusstsein zu vermitteln für das, was sie auf der Bühne tun. Dies kann aber allein im Üben, Ausprobieren, Scheitern, wieder neu Anfangen – kurz: im Tun selbst passieren. Es war sehr wichtig mit ihnen konkret zu arbeiten, ihnen genaue Vorgaben zu geben, und sie innerhalb einer klaren Struktur sodann frei agieren zu lassen. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass die Struktur für die Kinder sowohl für die Proben als auch dann für die Aufführung wesentlich war, denn erst dadurch konnten die Kinder eine neue Wahrnehmung entwickeln, Vorgänge anders sehen, als man es vielleicht im alltäglichen Leben tut. Die Geschichten der Kinder stehen im Stück im Zentrum. War es schwierig für die Kinder auf der Bühne sie „selbst“ zu sein? Anfangs war es für die Kinder nicht leicht zu verstehen, dass sie keine fremden Figuren spielen, es war ihnen fremd, dass die ZuschauerInnen sich für sie persönlich interessieren könnte: Wir haben unterschiedliche Szenarien entwickelt, aber immer waren sie selbst der Ausgangs- oder Ankerpunkt ihrer jeweiligen Geschichte. Das 16

heißt jedoch nicht, dass sie nicht über ihre eigenen Person hinauswachsen konnten/sollten – im Gegenteil: In dem Moment, in dem sie auf der Probe auf der Bühne standen und plötzlich alle Blicke auf sie gerichtet waren, haben sie bemerkt, dass die Situation eine andere ist als die im alltäglichen Leben. Sie haben gespürt, dass es auf der Bühne eine Handlung braucht, die etwas erzählen soll, in der man sich dem Publikum mitteilen will. Dafür ist jedoch kein perfektes Spiel notwendig. Es braucht sehr viel Mut, seinen eigenen persönlichen Traum zu erzählen, vor allem aber dann auch bei einer Entscheidung zu bleiben: Manche Kinder wollten jeden Tag einen neue Geschichte zu ihrem Traum erfinden, dies ist auch schön, und muss auch für eine bestimmte Zeit möglich sein, denn nur so konnte sich das Stück schließlich auch formen und gestalten. Doch irgendwann musste die Entscheidung fallen, und damit kam dann auch die Phase des Übens: Dies war sicher am Schwierigsten für die Kinder: das Wiederholen der Szenen, das Auswendiglernen von Textstellen usw. die Konzentration über einen längeren Moment zu halten. Dies hat mit sehr viel Disziplin zu tun, doch diese sollte aus den Kindern selbst heraus entwickelt werden. Rückblickend war dies ein sehr harter Lernprozess für jedes der Kinder, der sehr viel Ruhe, Konzentration und Aufmerksamkeit erforderte. Das Stück handelt ja viel von Träumen und Wünschen und davon, was passiert, wenn sie plötzlich wahr werden. Im Buch „Momo“ von Michael Ende heißt es an einer Stelle: „Das Gefährlichste, was es im Leben gibt, sind Wunschträume, die erfüllt werden.“ Glaubst du, dass das stimmt? Ich denke, Wünsche und Träume sind existenzielle Bedürfnisse des Menschen. Träume sind eine Möglichkeit, sich für einen Augenblick lang der Normalität, der vielleicht nicht immer schönen Wirklichkeit des Lebens zu entziehen. Die Erfüllung von Träumen macht uns glücklich und lässt uns über uns selbst hinauswachsen. Träume sind Ausdruck einer Sehnsucht nach Veränderung, nach Weiterentwicklung des Menschen. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Darin liegt aber – vor allem in einer Welt scheinbarer unbeschränkter Möglichkeiten - eine Gefahr. Ganz zu Beginn des Stücks sagt die Tänzerin Yang Ji zu den Kindern: „Wenn Träume in Erfüllung gehen, dann ist oft alles ganz anders als man es sich vorgestellt hat.“ Realität und Traum liegen oft weit auseinander. Manche Menschen verlieren sich in ihren Träumen und verlieren somit auch den Bezug zur Wirklichkeit und zu sich 17

selbst. Träume können sich so auch oft zu einer bedrohlichen Parallelwelt entwickeln, die den Mensch nicht mehr teilhaben lässt an der wirklichen Welt. Träume spiegeln oft auch eine sehr große Ungeduld wieder. Am liebsten möchte man einfach gleich berühmt werden – und noch bevor man diesen Gedanken zu Ende gedacht hat, kommt schon der nächste Traum. Es ist sehr einfach zu sagen, das möchte ich und das, und das möchte ich auch noch (sein). Man kann sich von einem Traum zum anderen träumen, doch es fällt vielen Menschen sehr schwer bei einer Vorstellung, einem Wunsch, einer Leidenschaft zu bleiben und diese zu verfolgen. Ein Problem der Zeit vielleicht, aber auch ein Problem das den Mensch für sich individuell betrifft: denn ich denke, man sollte es sich auch nicht zu einfach machen: gerne versteckt man sich hinter der Schwierigkeit und Problematik eines bestimmt nicht zu unterschätzenden aber auch nicht überschätzenden Zeitgeistes. Umso wichtiger finde ich es, Kindern die Möglichkeit zu geben, - sei es in der Schule, zu Hause oder eben bei Theaterprojekten - zu helfen, sich auf das zu konzentrieren, was sie sind, was sie gerade jetzt in diesem Moment ausmacht, und nicht (nur) was sie alles sein könnten.

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7. HINTERGRUNDINFORMATIONEN UND EXPERTINNENINTERVIEWS ZUM THEMA

Einige Artikel, die uns bei der Vorbereitung beschäftigt haben: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/2.1719/bestseller-erziehen-aufchinesisch-wie-die-tigermutter-ihre-kinder-zum-siegen-drillt-1581560.html http://www.spiegel.tv/filme/ueberfordertes-kind-trailer/ http://www.zeit.de/2011/37/Kindheit http://www.n-tv.de/panorama/Chinas-Kinder-pauken-sich-krankarticle2554876.html http://www.xpress.at/articles/1128/789/301842/miss-wahlen-kinder-puppen http://www.focus.de/kultur/kino_tv/focus-fernsehclub/germanys-nextgeneration-die-verlorene-kindheit_aid_417491.html http://www.rp-online.de/wirtschaft/beruf/traumberuf-superstar-kurzes-glueck1.2417048 http://www.fr-online.de/panorama/-ueber-den-kopf--der-kinder-hinweg,1472782,4526346.html

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8. VOR- UND NACHBEREITUNG

Bei unseren Proben haben wir den Kindern immer wieder die Frage gestellt: Wovon träumt ihr? Wie sähe eine Welt aus, die euren Träumen entstammt? Wenn ihr eine Superkraft hättet, was würdet ihr damit machen? Und: Was tut ihr, um eure Träume umzusetzen? - Das sind sicher auch die Fragen, die als Vorbereitung auf den Abend sinnvoll wären. Daneben ging es viel um die Ansprüche, denen sich die Kinder direkt oder indirekt ausgesetzt sehen: Wünsche der Eltern, der LehrerInnen, der Gesellschaft – in Form von Normen, Werten und (Schönheits-)Idealen. Außerdem haben wir viel über kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten gesprochen. Viele der Kinder, die an dem Projekt beteiligt sind, sprechen mehrere Sprachen. Damit verbunden eine Auseinandersetzung mit China: was für Bilder gibt es von dem Land, dem Leben dort?

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9. LITERATUREMPFEHLUNGEN ZUM THEMA Geschichten über das Träumen und die Kraft von Träumen, die uns in der Vorbereitung begleitet haben:

Der kleine König Dezember von Axel Hacke

Alice im Wunderland von Lewis Carrol

Momo von Michael Ende

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10. WORKSHOPS ZUM THEMA Theater Montagnes Russes bietet Workshops an Schulen zur Kunst der Peking Oper und zum Thema des Stücks „Träume und Wünsche“ an. Nähere Informationen und Terminanfragen an [email protected]

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11. KONTAKT www.theatermontagnesrusses.at

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