BACHELORARBEIT

Autorin: Carina Raffl Matrikelnummer: 0810848

Der psychische Hospitalismus im Kindesalter und dessen Auswirkungen auf die mentale Gesundheit unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte.

Medizinische Universität Graz

Begutachterin: Dr.in Gabriele Kastner Walterstraße 14, 3950 Gmünd

Lehrveranstaltung: Gesundheitspsychologie, Geschlechtsspezifisches Gesundheitshandeln

Datum der Einreichung: 29.05.2012

Ehrenwörtliche Erklärung Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebene Quellen nicht verwendet habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Weiters erkläre ich, dass ich diese Arbeit in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt habe. Graz, am 29.05.2012

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Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung .......................................................................... 5 2. Einleitung ......................................................................................... 5 3. Material und Methoden.................................................................... 6 4. Ergebnisse/Resultate ...................................................................... 7 4.1.

Definition und Klassifikation von psychischem Hospitalismus ....................... 7

4.1.1.

Begriffliche Abgrenzungen ......................................................................... 7

4.1.2.

Klassifikation nach ICD-10-V ...................................................................... 8

4.2.

Eltern-Kind-Bindungen ................................................................................ 10

4.2.1.

Theoretischer und historischer Hintergrund der Mutter-Kind-Bindung...... 10

4.2.2.

Eltern-Kind-Bindung in alternativen Familienformen ................................ 11 4.2.2.1. Ein-Eltern-Familien................................................................... 11 4.2.2.2. Gleichgeschlechtliche Paare .................................................... 14 4.2.2.3. Alleinerziehende Väter ............................................................. 15

4.2.3.

Kindliche Grundbedürfnisse ..................................................................... 17

4.2.4.

Formen der Vernachlässigung ................................................................. 18

4.2.5.

Geschlechtsabhängige Kindesvernachlässigung? ................................... 19

4.3. 4.3.1.

Voraussetzungen und Symptome................................................................ 20 Heimkinder und ihre Voraussetzungen .................................................... 20 4.3.1.1. Erste Symptome im Heim ........................................................ 21

4.3.2.

Kinder im Krankenhaus ............................................................................ 21 4.3.2.1. Verhaltensstörungen während des Krankenhausaufenthalts ... 23 4.3.2.2. Frühe Verhaltensstörungen ...................................................... 24

4.4. 4.4.1.

Folgen und Komplikationen ......................................................................... 24 Späte Verhaltensstörungen aufgrund eines Krankenhausaufenthalts ...... 24 3

4.4.2.

Folgen der Heimunterbringung ................................................................. 25

4.4.3.

Anpassungsstörungen.............................................................................. 26

4.4.4.

Deprivationsstörungen ............................................................................. 27

4.4.5.

Bindungsstörungen .................................................................................. 27

4.4.6.

Geschlechtsunterschiede ......................................................................... 29

4.5.

Prophylaxe .................................................................................................. 29

4.5.1.

Aufklärung und Aufnahme ........................................................................ 29

4.5.2.

Kinderbegleitung im Krankenhaus ........................................................... 30

4.5.3.

Personal ................................................................................................... 31

4.5.4.

Spieltherapie ............................................................................................ 31

4.5.5.

Besuchszeitregelung ................................................................................ 32

4.5.6.

Medikamente, Operationen, Narkosen ..................................................... 32

5. Schlussfolgerung .......................................................................... 33 6. Diskussion und Ausblick .............................................................. 34 7. Literaturverzeichnis ...................................................................... 35

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1. Zusammenfassung Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem Thema des psychischen Hospitalismus und dessen Folgen auf die mentale Gesundheit von Kindern. Zunächst wird der psychische Hospitalismus definiert, inhaltlich von ähnlichen Begrifflichkeiten abgegrenzt und schematisch in die Klassifikation der psychischen Erkrankungen eingegliedert. Neben dem theoretischen und historischen Aspekt der Mutter-Kind-Bindung, werden als Grundlage für weitere Überlegungen die Formen der Kindesvernachlässigung unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten erläutert. Desweiteren werden Symptomatik, Folgen und Prophylaxe des psychischen Hospitalismus näher beleuchtet. Als Kern der Arbeit sieht die Autorin die Auseinandersetzung mit psychischen Störungen, die bereits im Kindes- und Jugendalter auftauchen können und weitreichende Konsequenzen im Erwachsenenalter nach sich ziehen.

2. Einleitung Wie kleine Dinge des Alltags große Wellen schlagen können, wird uns erst dann bewusst, wenn wir sie selbst erleben oder uns mit diesem Thema näher beschäftigen. Das „Zurück lassen“ eines Kindes im Krankenhaus ist wahrscheinlich für die meisten Eltern ein Grund, warum sie plötzlich ein schlechtes Gewissen verspüren. Für die, die keine Kinder haben, nur eine Möglichkeit zu sagen: „Sind doch nur ein paar Tage“, „Was soll da schon passieren“. Tatsächlich sind die Auswirkungen von mangelnder psychischer Betreuung eines Kindes in einer Ausnahmesituation allerdings oft schwerer, als man sich vorstellt. Aus diesem Grund möchte die Autorin die Folgen des psychischen Hospitalismus in dieser Arbeit näher beleuchten. Der psychische Hospitalismus ist ein psychologisches Phänomen, das vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern auftritt und psychische oder physische Erkrankungen beschreibt, die aufgrund eines längeren Krankenhaus- oder Heimaufenthalts verursacht werden. 5

Ziel dieser Arbeit ist es folgende Fragen zu klären: Was macht den psychischen Hospitalismus im Kindesalter aus? Welche Ursachen sowie kurz- und langfristige Folgen hat dieser auf die psychische Gesundheit? Welche Vorbeugungsmaßnahmen und Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welche Rolle spielt das Geschlecht bei der Entwicklung von psychischen Erkrankungen? Die Autorin hat sich für dieses Thema aus persönlichem Interesse an der Psychologie und aufgrund ihres Studiums dieser Fachrichtung an der Karl-FranzensUniversität Graz entschieden.

3. Material und Methoden Zur Erstellung der Arbeit wurde eine Literarturrecherche in den Universitätsbibliotheken der Medizinischen Universität Graz sowie der Karl-FranzensUniversität Graz durchgeführt. Zusätzlich wurde in verschiedenen Datenbanken wie beispielsweise PubMed, Cinahl und der EZB (Elektronische Zeitschriftenbibliothek) nach geeigneten Fachartikeln und E-Journals recherchiert. Erläuternde Informationen wie Begriffsdefinitionen etc. wurden von der Studierenden außerdem aus den entsprechenden Seiten des Internets geholt. Gesucht wurde mit den key words: Kind, Deprivation, Entwicklungspsychologie, Kinderpsychologie, Kinderpsychiatrie, Entwicklungspsychopathologie, Trennung Eltern, Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, Hospitalismus, Bindung, psychischer Hospitalismus, mentale Gesundheit, Geschlecht, gender differences. In der gesamten Bachelorarbeit wurde der Harvard Style als Zitierstil verwendet und im Sinne der Gleichbehandlung auf geschlechtergerechte Formulierungen geachtet.

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4. Ergebnisse/Resultate 4.1.

Definition und Klassifikation von psychischem Hospitalismus

4.1.1. Begriffliche Abgrenzungen

Erstmals bewusst beobachtet wurde der psychische Hospitalismus 1899 vom Münchner Kinderarzt Dr. Meinhard von Pfaundler. Er erkannte die Gefahren der mangelnden psychischen Betreuung der Kinder in den Heimen bzw. im Krankenhaus. Im 19. Jahrhundert allerdings, war das Interesse an dem allgemeinen Säuglingswohl noch nicht so ausgereift, als dass sich die Wissenschaft und die Öffentlichkeit darum Gedanken gemacht hätten. So kam es erst in den 1930er Jahren des darauffolgenden Jahrhunderts zu den ersten wissenschaftlichen Arbeiten zum psychischen Befinden von Kindern in Heimen und Krankenhäusern. Die Schulmedizin war bis dato „lediglich“ damit beschäftigt den „infektiösen Hospitalismus“ in den Griff zu bekommen und ihn weitgehend zurückzudrängen. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der psychische Hospitalismus immer mehr in die Forschung mit eingebunden und die Wissenschafter konzentrierten sich in diesem Zusammenhang auf zwei Schwerpunkte: 1. die Analyse und Prophylaxe von psychischen und somatischen Schäden, die bei Säuglingen und Kleinkindern durch langandauernde Heim- und Krankenhausaufenthalte entstanden und 2. auf Verhaltensstörungen, die als Folge von kurzdauernden Krankenhausaufenthalten und nach Operationen auftraten (Troschke, 1974, S. 14-15). Nach und nach kannte die Forschung den Folgen des psychischen Hospitalismus einen angemessenen Stellenwert zu. Im Duden nachgeschlagen, stößt man bei dem Wort „Hospitalismus“ auf folgende Erklärungen. Der psychische Hospitalismus wird als Begriff in den Fachrichtungen der Medizin, Psychologie und Pädagogik verwendet, wo er das Auftreten von 7

psychischen oder physischen Erkrankungen bzw. Schädigungen bei Kindern beschreibt, die durch die Besonderheiten nach einem längeren Heim- oder Krankenhausaufenthalt oder ähnlichem verursacht werden. Außerdem wird der Begriff in der Medizin verwendet und bezeichnet die Infektion von Krankenhauspatienten und -patientinnen oder auch von Krankenhauspersonal, durch Keime, die im Krankenhaus resistent geworden sind. Man spricht hier auch, wie schon erwähnt, vom „infektiösen Hospitalismus“ (Duden, 28.02.2012, http://www.duden.de/rechtschreibung/Hospitalismus). Im Klinischen Wörterbuch „Pschyrembel“ wird der Hospitalismus als Gesamtheit aller körperlicher und psychischer Veränderungen bei Kindern erklärt, die in Folge eines längeren Aufenthaltes in Krankenhäusern, Heimen etc. auftreten können. Dabei wird erwähnt, dass diese Form nicht nur bei Kindern vorkommt, sondern auch bei Erwachsenen. Dies kann man anhand der Ausbildung von „Hospitalismusartefakten“ beobachten, die sich vor allem bei psychisch Kranken in der Psychiatrie feststellen lassen (Hintermaier, Wagner, 1976, S.162). Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Definitionen, die in der Fachliteratur gefunden wurden, so gut wie ident sind. Die Studierende hat keine Beschreibungen gefunden, die von der klassischen oben genannten Interpretation abweichen.

4.1.2. Klassifikation nach ICD-10-V

In der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, kurz ICD Version 10, ist der psychische Hospitalismus erstmals einzuordnen in das Kapitel V – Psychische- und Verhaltensstörungen. Dieses Kapitel umfasst alle psychischen Erkrankungen, die momentan als solche diagnostiziert werden können. Das Kapitel V gliedert sich in weitere elf Unterkapitel. Im Unterkapitel „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ stößt man unter dem Punkt F.43.2 „Anpassungsstörungen“ auf den Begriff des psychischen Hospitalismus bzw. Hospitalismus bei Kindern (ICD-10-WHO 2011, 28.02.2012,

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http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f90f98.htm). Laut ICD-10 zeichnet sich die Anpassungsstörung durch folgende Symptome aus:  Zustände subjektiver Bedrängnis,  emotionale Beeinträchtigung und  Behinderung von sozialen Funktionen und Leistungen während des Anpassungsprozesses nach entscheidenden Lebensveränderungen oder belastenden Lebensereignissen. Hier können Trauerfälle, Trennungen, Emigration, Flucht, Schulbesuche, Elternschaft, Misserfolg oder Erreichen eines bestimmten Zieles sowie der Ruhestand als Beispiele genannt werden. Zwei entscheidende Aspekte bei der Entstehung von Anpassungsstörungen sind die genetischen Anlagen sowie die individuelle Verletzlichkeit und psychische Stabilität. Neben diesen beiden Faktoren, die nicht alleine die Erkrankung verursachen, ist eine akute Belastung ausschlaggebend für die Entstehung. Die Symptome lassen sich in depressiver Stimmung, Angst, Sorge und dem Gefühl mit alltäglichen Tätigkeiten nicht zu Recht zu kommen, zusammenfassen. Besonders bei Jugendlichen kann sich die Anpassungsstörung vor allem in Störungen des Sozialverhaltens, das heißt zum Beispiel aggressives, aufsässiges oder dissoziales Verhalten, äußern (ICD-10-WHO 2011, 28.02.2012, http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f90f98.htm). Eine weitere Einordnung in das ICD 10 Schema lässt im gleichen Kapitel der Punkt F.94.2 zu, in dem der Hospitalismus bei Kindern ebenso zu finden ist. Dieser Punkt nennt sich „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ und beschreibt ein abnormes soziales Funktionsmuster während der ersten fünf Lebensjahre. Diese Kinder zeigen vor allem diffuses, nicht selektives Bindungsverhalten, suchen Aufmerksamkeit und geben sich wahllos freundlich gegenüber anderen. Zudem kommt es kaum zu modulierten Interaktionen mit Gleichaltrigen. Es kann auch vorkommen, dass zu diesem Verhalten noch emotionale- und Verhaltensstörungen 9

hinzukommen (ICD-10-WHO 2011, 28.02.2012, http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f90f98.htm).

4.2.

Eltern-Kind-Bindungen

4.2.1. Theoretischer und historischer Hintergrund der Mutter-Kind-Bindung

In den Anfängen des 20. Jahrhunderts war es noch üblich, dass nicht die Mutter selbst die Erziehung der Kinder übernahm. Aufgrund von gesellschaftlichen Verpflichtungen stellten die Eltern zur damaligen Zeit Kindermädchen ein, die sich zum größten Teil um den Nachwuchs kümmerten. Der soziale Status der Eltern und die damit verbundene „Abgabe“ an eine Nanny führten dementsprechend zur Distanzierung vom eigenen Kind. Die feministischen Bewegungen in den 1970er Jahren kannten erstmals den Tätigkeiten der Frauen zuhause, also Kindererziehung, Bügeln, Waschen, Kochen etc., eine gewisse Wertschätzung und Wichtigkeit zu. In den letzten Jahrzehnten konnte eine enorme Entwicklung beobachtet werden, und zwar weg von den eher klassischen Rollenbildern, hin zu einer selbstständigen, arbeitenden Frau, die Kinder, Karriere, Ehe und sonstige Aktivitäten unter einen Hut bringen kann, aber nicht muss. Mit dieser Entwicklung stieg aber auch die Zahl der alleinerziehenden Haushalte (Rapley, 2002, S.333). Den demographischen Entwicklungen zufolge lag die Geburtenrate, also Kinderzahl pro Frau, im Jahre 1961 noch bei 2,78. Heute liegt sie gerade bei 1,44 (Statistik Austria, 02.03.2012, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_masszahlen /demographische_indikatoren/index.html). Die Entwicklung in den letzten 100 Jahren hat sich in eine völlig neue Richtung geneigt. Als Beispiel zeigt eine Studie von Rapley, dass gerade Körperkontakt und enges Beisammensein die Bindung und Beziehung von Mutter, Vater und Kind stärkt. Dies zeichnet sich schon sehr früh ab. Muttermilch ist nicht nur die optimale Ernährung für den Säugling, das Stillen fördert auch das Vertrauen zwischen Mutter und Kind. Viele Mütter nennen auch den engen Kontakt mit ihrem Zögling als das 10

wichtigste beim Stillen. Studien von Klaus et al. zeigen, dass Stillen unter anderem die früheste Interaktion zwischen Mutter und Kind ist und die weitere Grundlage für ein vertrauensvolles Verhältnis bildet (Rapley, 2002, S. 332-333). Branstetter hat zum Thema Separation von Mutter und Kind eine Studie publiziert, auf die die Autorin nochmals eingehen wird. An dieser Stelle dazu ein paar Hintergrundinformationen. Er sagt, dass kleine Kinder natürlich traurig und verstimmt werden, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden, da die Hauptbezugspersonen plötzlich nicht mehr greifbar sind. Er nennt die Reaktion auf die Trennung von den Eltern „separation anxiety“, also Trennungsangst. Dabei spielt die instinktive Antwort auf die Trennung eine wesentliche Rolle für die Anhänglichkeit an die Mutter, den „sozialen Auslöser“ des Kindes. Die Mutter, der Vater oder eine andere nahe Bezugsperson sind die zentrale Figur im Leben eines Kindes und seine bzw. ihre Antworten, also das was diese dem Kind zurückgeben, werden sofort integriert in das Verhaltensmuster des Kindes (Branstetter, 1969, S.92). Der Autor meint desweitern, dass sich diese Angstreaktion in drei Phasen teilt: Protest, Verweigerung und Ablösung. Außerdem beschreibt er die Reaktion auf länger andauernde Trennungen als „grief and mourning“, also als Kummer und Trauer, die er mit dem Liebeskummer eines Erwachsenen vergleicht (Branstetter, 1969, S. 92).

4.2.2. Eltern-Kind-Bindung in alternativen Familienformen

4.2.2.1.

Ein-Eltern-Familien

Die Lebenssituation für Kinder in Ein-Eltern-Familien oder wie besser bekannt bei alleinerziehenden Elternteilen hat im Gegensatz zur klassischen Vater-Mutter-Kind Familie einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie ist jedoch genauso vielfältig wie eine Familie, in der beide Elternteile die Erziehung der Kinder übernehmen (Rauchfleisch, 1997, S. 14).

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Die Ein-Eltern-Familien lassen sich in drei Gruppen unterteilen:  Geschiedene (ca. 45% der Ein-Eltern-Familien),  Elternteile, deren Partner bzw. Partnerin verstorben ist (ca. 40%),  Frauen mit unehelichen Kindern (ca. 15%). Bei der Gruppe der Geschiedenen leben die Kinder nach der Trennung der Eltern hauptsächlich bei einem Elternteil, der ein alleiniges Sorgerecht hat oder ein geteiltes mit dem jeweiligen Expartner bzw. der Expartnerin. Der jeweils andere Elternteil lebt mit dem Kind nicht unmittelbar zusammen, unterhält es aber finanziell und pflegt, im optimalen Fall, den Kontakt mit dem Kind. Die Gruppe der Halbwaisen bilden Kinder, bei denen ein Elternteil verstorben ist und der verbliebene Elternteil noch keine neue Beziehung eingegangen ist. Für die dritte Gruppe, also die Gruppe der Frauen mit unehelichen Kindern, ist ebenfalls charakteristisch, dass diese Frauen noch keine neue Beziehung eingegangen sind und alleine mit ihren Kindern leben (Rauchfleisch, 1997, S. 14). Die jeweiligen Umstände, warum ein Kind in einer Ein-Eltern-Familie aufwächst, haben dementsprechende Einflüsse auf seine Erziehung und seine Entwicklung. Eine Trennung oder Scheidung beispielsweise stellt für die Kinder in den meisten Fällen doch ein einschneidendes Erlebnis dar. Auch wenn es viele Kinder spüren, dass ihre Eltern nicht mehr miteinander auskommen und eine Trennung eigentlich eine Erleichterung darstellt, kann diese Situation sie in ihrem inneren Gleichgewicht erschüttern. Welches Bild die Kinder aus der Trennungssituation mitnehmen, hängt letztlich nur vom Umgang der Eltern mit diesem Ereignis ab. Wird dem Kind erklärt, was passiert und dass man sich dennoch in Zukunft noch „normal“ gegenübertritt, wird es für das Kind nicht so eine große Belastung sein (Rauchfleisch, 1997, S. 1516). Eine Trennung hat verschiedene Auswirkungen. Durch die Halbierung des Haushaltseinkommens, kommt es zunächst zu einer Verschlechterung der sozioökonomischen Situation. Dadurch wird in den meisten Fällen auch ein Wohnungswechsel durchgeführt, was wiederum für das Kind einen Bezugsverlust zu seiner gewohnten Umgebung und vertrauten Personen bedeuten kann (Rauchfleisch, 1997, S. 18). 12

Halbwaisen sind zum Zeitpunkt des Ablebens eines Elternteils mit einer traumatischeren Situation konfrontiert. Egal ob dem Tod eine schwerwiegende Erkrankung vorausgegangen ist oder die Person plötzlich aus dem Leben gerissen wurde, diese Situation stellt das Familiengefüge zunächst auf den Kopf. Positiv für die Entwicklung der Kinder ist allerdings, dass die Kinder meist schon selbst Bilder vom Verstorbenen entwickelt haben, sich diese so in Erinnerung behalten und nicht mehr beeinflusst werden können. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass diese Kinder sehr viel Trost und Unterstützung in anderen Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten etc. finden und durch dieses Interaktionsnetz gestärkt werden. Finanziell gesehen sind Witwer und Witwen auch besser abgesichert als Geschiedene (Rauchfleisch, 1997, S. 19-20). Frauen, die ihre Kinder unehelich gebären und auch keine neue Beziehung eingehen, müssen nicht nur finanziell fast alleine für das Kind aufkommen, sondern auch erzieherisch völlig selbstständig und ohne Hilfe eines Partners zu recht kommen. Für die Entwicklung des Kindes ist es ausschlaggebend, ob Kontakt zum Vater besteht oder nicht. Bei Kindern, die ihren Vater nicht kennen, kristallisiert sich nach einer Zeit ein eigens entworfenes Bild des Vaters heraus, an die es oft starke Gefühle wie zum Beispiel Hoffnung, Trauer, Verzweiflung etc. knüpft. Je nach Initiative der Mutter können diese Vorstellungen enttäuscht oder bestätigt werden (Rauchfleisch, 1997, S. 20-21). Grundsätzlich muss man sagen, dass die Entwicklung der Kinder in Ein-ElternFamilien vor allem davon abhängt, ob sie in ihrem Umfeld „Ersatzpersonen“ finden. Das positive Heranwachsen und die damit verbundene Elternteil-Kind-Bindung korreliert mit der Integration in ein großes soziales Interaktionsfeld und der Möglichkeit einen Ansprechpartner zu haben. Das können Großeltern, Freunde, Bekannte, andere Verwandte oder Bezugspersonen sein, mit denen sich diese Kinder identifizieren können (Rauchfleisch, 1997, S. 21).

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4.2.2.2.

Gleichgeschlechtliche Paare

Gleichgeschlechtliche Paare bringen besondere Voraussetzungen mit, wenn es um die Aufgabe geht, in die elterliche Rolle hineinzuwachsen. Obwohl es heute mitunter schon eine offenere Einstellung gegenüber homosexuellen Paaren gibt, hatte ein Großteil sicher mit dem Coming Out Prozess sowie allen damit verbundenen Änderungen und Umstellungen ihrer Leben zu kämpfen. Dennoch besteht laut Forschungsergebnissen keinerlei negativer Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen. Im Grunde sind diese Kinder mit den gleichen Problemen und Konflikten konfrontiert, wie es auch in anderen Familienformen der Fall sein würde. Schwierigkeiten könnten sich lediglich mit den noch immer stark ausgeprägten Stigmatisierungen gegenüber dieser Familienform ergeben (Rauchfleisch, 1997, S. 70). Bei gleichgeschlechtlichen Paaren gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie diese mit ihrer Homosexualität und Elternschaft umgehen. Besonders problematisch wird es bei homosexuellen Eltern, die versuchen nach außen hin und ihren Kindern gegenüber den Schein zu wahren und sich als heterosexuell geben. Sie leben ständig in der Angst entdeckt zu werden und verhalten sich auch ihren Kindern gegenüber meist nicht ihrer eigentlichen Natur entsprechend. Eine weitere Variante wäre auch, dass Eltern ihre Homosexualität vor ihren Kindern leben, aber diese der Außenwelt verborgen bleibt. Hier ergibt sich meist ein großer Druck auf die Kinder, da diese dazu veranlasst werden, still zu schweigen und immer in die Verlegenheit kommen, peinlichen Fragen ausweichen zu müssen oder sogar zu lügen. Die dritte und günstigste Situation wäre allerdings, wenn die Eltern ihre sexuelle Orientierung offen und allen Mitmenschen, auch ihren Kindern, gegenüber leben. Wie Studien von Miller und Kentler belegen, seien hier die Eltern-Kind-Beziehungen am unproblematischsten, weil auch die Kinder besser mit einer ehrlichen und offenen Situation umgehen können, als mit einer, in der sie sich verstellen müssen oder erst gar nichts davon wissen. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern kann durch gegenseitiges Vertrauen besser gestärkt werden, auch wenn das Heranwachsen nicht in einer Familiensituation geschieht, wie es bei anderen Gleichaltrigen der Fall ist (Rauchfleisch, 1997, S. 72). 14

Desweitern möchte die Autorin auf einige Studien eingehen, die für die Untersuchung der Kindesentwicklung bei gleichgeschlechtlichen Paaren von essentieller Bedeutung sind. Wichtig für die Entwicklung der Kinder ist vor allem, dass sie in einer Umgebung aufwachsen, in dem die Eltern weitestgehend akzeptiert werden, vor allem weil es auf keine „traditionelle Familienentstehung“ durch eine reguläre Schwangerschaft zurückgreifen kann, sondern vielleicht durch eine künstliche Befruchtung oder Adoption zu diesem Paar gekommen ist. Laut Studien von Tasker und Golombok gibt es keine intellektuellen, emotionalen, psychischen und sozialen Defizite bei Kindern, die bei homosexuellen Paaren aufwachsen. Was vor allem entscheidend, und dementsprechend ein weit verbreitetes Vorurteil widerlegt, ist, dass Kinder sich auch in ihrer sexuellen Orientierung nicht von Kindern, die bei heterosexuellen Paaren aufgewachsen sind, unterscheiden. Auch das Geschlechtsrollen-Verhalten, die moralischen Werte und Normen sowie die sozialen Beziehungen zu anderen Kindern differenzieren sich laut Green et al., Kirkpatrick et al., Puryear und Rees nicht von Kindern aus anderen Familienformen. Positiv für die Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren ist laut O´Connell, Harris und Turner vor allem die Tatsache, dass ein Großteil von ihnen mehr Toleranzgefühl und empathische Fähigkeiten entwickelt als andere Kinder aus nicht-homosexuellen Elternbeziehungen. Baptiste und Kentler gehen sogar soweit zu sagen, dass Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren eher dazu in der Lage sind Beziehungen einzugehen, die auf Gleichberechtigung und Gleichbefähigung der Partner bzw. Partnerinnen beruhen, im Gegensatz zu hierarchisch orientierten Familienstrukturen (Rauchfleisch, 1997, S. 73-80).

4.2.2.3.

Alleinerziehende Väter

Die Zahl der Väter als primäre Betreuungspersonen ist zwar noch lange nicht so groß, wie der der alleinerziehenden Mütter, allerdings ist sie auch am Steigen. Es ist keine Seltenheit mehr einen Vater am Kinderspielplatz oder Babynahrung und Windeln einkaufen zu sehen. Die fortschreitende Emanzipationsbewegung seit den 15

1970er Jahren lässt den Mann in neue Rollen schlüpfen, auch wenn es einem Großteil noch immer schwer fallen mag, häusliche Tätigkeiten, die aus einem traditionellen Rollenverständnis heraus unsere Einstellung, Wahrnehmung und Denken über Jahrtausende geprägt haben, zu übernehmen. Männer, die sich im Haushalt und an der Kindererziehung beteiligen wollen, sehen sich auch gezwungen sich mit ihren „Männlichkeitsbildern“ auseinanderzusetzen und diese zu überdenken (Rauchfleisch, 1997, S. 88-89). Wie sich Kinder bei alleinerziehenden Vätern entwickeln, möchte die Autorin in den folgenden Zeilen schildern. Da es, speziell im deutschsprachigen Raum, noch sehr wenige wirklich wissenschaftliche Studien zum Thema „alleineerziehende Väter“ gibt, beruft sich die Literatur auf Beobachtungen, Selbstberichte und systematische Untersuchungen. Gründe dafür sind wahrscheinlich, dass die Erziehung nur allein durch den Vater gar keine negativen Folgen hat und dementsprechend die Wissenschaft kein besonderes Interesse daran hat, diesen Bereich zu untersuchen. Dabei sind die Erfahrungen von Vätern, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und gleichzeitig Haushalt, Kindererziehung und Alltagsprobleme unter einen Hut bringen, durchwegs positiv. Es stellt eine kreative Bereicherung für sie dar und sie erleben ihren Beruf beispielsweise zufriedenstellender (Rauchfleisch, 1997, S. 94-95). Für die Kinder bedeutet das laut Gronseth, dass sie ihren persönlichen Fähigkeiten mehr Bedeutung zu messen, über bessere sprachliche Kompetenzen verfügen und ein breiteres Spektrum an Vorstellungen von Lebensmöglichkeiten von Frauen und Männern haben als Kinder, die in traditionellen Familienformen aufwachsen. Kinder, die ausschließlich von ihren Vätern großgezogen werden, haben auch keine Probleme in der Geschlechterrollenentwicklung, weisen ein viel innigeres Verhältnis zu ihren Erziehern auf und bekommen ebenso wie Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren eine Vorstellung von egalitären Paarbeziehungen (Rauchfleisch, 1997, S. 94-97). Bei allen drei Familienformen lässt sich feststellen, dass die Kinder oft selbstständiger, verantwortungsbewusster und weniger bzw. gar nicht geprägt von Geschlechterklischees und Stereotypen sind (Rauchfleisch, 1997, S. 97). 16

4.2.3. Kindliche Grundbedürfnisse

Die Grundbedürfnisse eines Kindes lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen: 1. Das Bedürfnis nach grundlegender Versorgung und Schutz 2. Das Bedürfnis nach sozialer Bindung: Austausch mit anderen und gesellschaftliche Verbundenheit 3. Das Bedürfnis nach Wachstum: Kognitive, emotionale moralische und soziale Anregung und Orientierung (Galm et al., 2010, S. 37). Zum ersten Punkt, dem Bedürfnis nach grundlegender Versorgung und Schutz, gehören Voraussetzungen, die für das Leben und Überleben des Kindes notwendig sind, wie beispielsweise eine ausgewogene Ernährung, Bezugspersonen, Körperpflege und angemessene Wach- und Ruhephasen. Außerdem muss das Kind vor äußeren Einflüssen wie beispielsweise Witterung, Straßenverkehr, Alkohol, gefährlichen Gegenständen etc. geschützt werden. Die Bezugspersonen sollten Gewalt und andere physisch oder psychisch grenzverletzende Verhaltensmuster unterlassen (Galm et al., 2010, S. 34). Für den zweiten Punkt ist eine Bezugsperson der ausschlaggebende Faktor. Durch sie erleben Kinder Wärme, Nähe, Empathie, Verlässlichkeit, Wertschätzung, Verfügbarkeit etc. und können dadurch in einer gewissen Beständigkeit heranwachsen. Bereits mit dem Ende des ersten Lebensjahres bilden Kinder zu Personen starke Bindungen auf, die regelmäßig Zeit mit ihnen verbringen. Diese Bindungen dienen dem Schutz und der Beruhigung von Kindern. Zum Bedürfnis nach sozialer Bindung gehören auch das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Verbundenheit und kultureller Identität. Soziales Handeln und demokratische Werte lernen Kinder im Umgang mit anderen, sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Älteren. Sich durchzusetzen, Situationen zu durchschauen und respektvoll miteinander um zu gehen, sind ein paar der Normen und Werte, die sie damit internalisieren (Galm et al., 2010, S. 34-35). Der dritte Punkt, das Bedürfnis nach Wachstum, bezieht sich auf erlernbare Normen und Werte, die jeder braucht um sich in seiner Umwelt zu orientieren. Besonders 17

Kinder brauchen soziale Spielregeln, Struktur, Anerkennung, Lob, aber auch ihre Grenzen um sich geistig und sozial entfalten zu können. Hierbei spielen materielle Gegenstände wie Bücher, Spielzeug, Kleidung etc. eine genauso wichtige Rolle wie der persönliche Kontakt mit dem Kind, in Form des Spieles beispielsweise. Wichtig für Eltern ist es dabei, das Kind seinem Alter gemäß zu beschäftigen und zu behandeln und es nicht zu überfordern. Es sollten in einem angemessenen Maß Grenzen gesetzt werden und mit viel Ruhe und Geduld Verbote erklärt und verinnerlicht werden (Galm et al., 2010, S. 36-37).

4.2.4. Formen der Vernachlässigung

Anhand der Grundbedürfnisse von Kindern, die im Unterkapitel 4.2.3. erläutert wurden, kann man auch die Formen der Vernachlässigung ableiten. Wir unterscheiden bei der Kindesvernachlässigung die: 1. Körperliche Vernachlässigung, 2. Emotionale Vernachlässigung, 3. Kognitive und erzieherische Vernachlässigung und die 4. Unzureichende Beaufsichtigung (Galm et al., 2010, S. 25). Unter körperlicher Vernachlässigung versteht man, wenn ein Kind nicht genug Nahrung, Flüssigkeit, saubere Kleidung oder medizinische Versorgung bekommt, bzw. wenn diese in unhygienischen oder zu kleinen Wohnräumen leben müssen. Die emotionale Vernachlässigung kennzeichnet sich durch den Mangel von Wärme und Zuneigung gegenüber den Kindern oder auch durch die fehlenden Reaktionen der Eltern auf emotionale Signale der Kinder. Als kognitive und erzieherische Vernachlässigung versteht man die mindere Beschäftigung der Eltern mit ihren Kindern, das heißt wenn sie sich nicht um die Erziehung kümmern, es ihnen gleichgültig ist, ob die Kinder die Schule besuchen oder sie ihren Förderbedarf missachten. Von unzureichender Beaufsichtigung spricht man, wenn das Kind über einen längeren, unangemessenen Zeitraum nicht beaufsichtigt wird und somit auf 18

sich gestellt ist oder wenn die Eltern keine Reaktion auf ein unangekündigtes Wegbleiben des Kindes zeigen (Galm et al., 2010, S. 25).

4.2.5. Geschlechtsabhängige Kindesvernachlässigung?

Die Kindesvernachlässigung wurde erst in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung zugemessen, die sie verdient. Aber damit hat sich auch die Vorstellung in den Köpfen der Gesellschaft eingenistet, dass es sich bei vernachlässigenden Eltern meistens um vernachlässigende Mütter handelt. Da in den meisten Fällen doch noch die Frau den Hauptanteil der Kindeserziehung übernimmt, mit dem Kind Hausaufgaben macht, ihm vorliest oder sich darum kümmert, dass es genug zu essen in die Schule mitbekommt, ist es auch oft die Frau, die dann für die Vernachlässigung des Kindes verantwortlich gemacht wird, wenn diese Tagesabläufe nicht funktionieren (Galm et al., 2010, S. 17). Von der historischen Perspektive aus betrachtet, gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Geschlechtsverhältnissen und Kindesvernachlässigung, denn vernachlässigte Kinder werden abhängig von ihrem Geschlecht unterschiedlich wahrgenommen. Bei Mädchen zum Beispiel, wurde im Hinblick auf deren Sexualität, eine verfrühte oder promisk bewertete Sexualität, als Grund für eine Kindesvernachlässigung gedeutet, die unter anderem mit der Unterbringung im Heim endete. Bei Jungen hingegen hatte der gleiche Umstand keine Folgen. Studien zu Themen wie Vernachlässigung und früher Elternschaft, sexuell übertragbaren Krankheiten oder sexuellen Gewalterfahrungen werden auch heute noch vorwiegend mit Frauen als Testpersonen durchgeführt. Die Männer stehen hier eher noch im Hintergrund (Galm et al., 2010, S. 18).

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4.3.

Voraussetzungen und Symptome

4.3.1. Heimkinder und ihre Voraussetzungen

Die Gründe, warum Kinder, egal welchen Alters, in einem Heim untergebracht werden, sind vielfältig. Laut den Ergebnissen von Entwicklungsstudien in Säuglingsund Kleinkinderheimen von Meierhofer und Keller ist der Hauptgrund die außereheliche Geburt des Kindes. Danach werden Scheidung bzw. Trennung sowie die notwendige Erwerbstätigkeit der Mutter als Motive genannt. Desweiteren spielen das Alter der Eltern, die Berufstätigkeit, psychische Erkrankungen und Abnormitäten, aber auch Kriminalität und Prostitution eine wesentliche Rolle, wenn es zur Heimversorgung der Kinder kommt. Das heißt, dass Heimkinder ganz andere Voraussetzungen haben, auch den Hospitalisierungsprozess betreffend, als Kinder, die nur für eine kurze Zeit von ihren Eltern bzw. Bezugspersonen getrennt sind (Meierhofer, Keller, 1966, S. 49-57). Die Lebensbedingungen von Kindern in Heimen ist, wie sich der Leser bzw. die Leserin sicher vorstellen kann, nicht zu vergleichen mit denen, die ein Kind hat, das unter „normalen“ Familienverhältnissen aufwächst, sei dies in einer klassischen Vater-Mutter-Kind Konstellation, mit einem gleichgeschlechtlichem Paar, nur mit einem Elternteil oder in irgendeiner anderen Familienform. Laut Rieländer ist die Möglichkeit der Kinder, Erfahrungen mit der sachlichen Umwelt zu machen, in einem Großteil der Heime sehr begrenzt. Das bedeutet, dass die Kinder meist in eher nüchternen Zimmern eingeengt sind, sie in den ersten Monaten meist nur in ihren Bettchen bleiben und nicht am Boden herumkrabbeln dürfen bzw. allgemein ihre Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Im schlimmsten Fall bleiben ihre motorischen Fähigkeiten eingeschränkt und die Kinder lernen erst relativ spät zu laufen. Im Gegensatz zu Kindern, die in Familien aufwachsen, haben Heimkinder also relativ wenig Kontakt zu ihrer sachlichen Umwelt und den Gegenständen um sie herum (Rieländer, 1978, S. 5-6). Desweiteren sind die sozio-emotionalen Einschränkungen von Heimkindern zu beachten. Diese Kinder haben kaum die Möglichkeit eine stabile Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen aufzubauen, das heißt soziale Kontakte und 20

Interaktionen werden nur spärlich gefördert. Laut Studien von Koch und Pechstein haben Heimkinder fünfmal weniger Kontakt zu Bezugspersonen, als dies in Familien der Fall ist. Selbst in Heimen, wo Wert auf eine „ausreichende“ Kontaktaufnahme zum Kind gelegt wird, war das Ausmaß an sozialen Interaktionen nur halb so groß wie für untersuchte Familienkinder. Der Aufbau einer nachhaltigen Beziehung zu einer Pflegeperson ist auch deshalb so schwierig, weil die Kinder alle ein bis zwei Monate eine neue Pflegeperson erleben, sie oft zwischen verschiedenen Heimen wechseln und selbst bei gut organisierten Kinderheimen die „Bereitstellung“ einer beständigen mütterlichen Person schwer umzusetzen ist (Rieländer, 1978, S. 6-7).

4.3.1.1.

Erste Symptome im Heim

Laut Yarrow und Rutter können Heimunterbringungen erste Symptome eines Hospitalisierungsprozesses auslösen, die sich wie folgt zeigen: Kinder in Heimen zeigen schon in den ersten Lebensjahren intellektuelle Rückstände sowie Einschränkungen in der Differenzierung ihrer Umwelt. Desweitern zeigen sie Mängel in der Fähigkeit soziale Beziehungen aufzubauen und daran festzuhalten sowie Störungen im sozialen Verhalten (Rieländer, 1978, S. 8).

4.3.2. Kinder im Krankenhaus

Bei längeren Krankenhausaufenthalten beeinflussen verschiedene Risikoelemente das Auftreten und den Verlauf einer psychischen Traumatisierung. Diese Störfaktoren können aus dem Krankenhaus selbst oder personengebunden sein. Zu den Störfaktoren im Krankenhaus zählen:  ein Gefühl der Verunsicherung bei der Einlieferung ins Krankenhaus,  Verhaltensmuster, die in der Betriebsrationalität und Arbeitsroutine festgelegt sind wie zum Beispiel die Besuchszeiten, das Wecken, das autoritäre Verhalten von Pflegepersonal, Ärzten und Ärztinnen und 21

 ein Gefühl eines „Ausgeliefert seins“ und „Verlassen seins“ (Steinhausen, 2010, S. 359-360). Personengebundene Störfaktoren können zum einen aus dem Verhalten des Kindes resultieren, aber auch aus dem der Eltern. Zu den Störfaktoren des Kindes gehören:  Art der Erkrankung,  Somatischer Allgemeinzustand,  Position in der Familie,  Vergangene traumatische Erfahrungen,  Eltern-Kind-Beziehung,  Erlebte Trennungen, Erkrankungen etc. sowie das  Alter Besonders das Alter ist in diesem Zusammenhang entscheidend, denn Deprivationsstörungen treten vor allem im Alter von sechs Monaten bis zu vier Jahren auf (Steinhausen, 2010, S. 360). Zu den elterlichen Faktoren gehören:  Qualität der Bindung,  Qualität der Vorbereitung auf den Aufenthalt im Krankenhaus,  Verfügbarkeit im Krankenhaus und  Hilfestellung für das Kind hinsichtlich der Trennung (Steinhausen, 2010, S. 360). Die Verhaltensänderungen, die bei Kindern im Zuge eines Hospitalisierungsprozesses auftreten, können bei einem großen Teil der Kinder als Verhaltensstörungen diagnostiziert werden. Diese sind von unterschiedlicher Dauer, Intensität und Art und können während oder nach dem Heim- bzw. 22

Krankenhausaufenthalt auftreten. Je nach Studie gibt es unterschiedliche Auswertungskategorien, die die Verhaltensstörungen der Kinder katalogisieren. Troschke hat versucht diese Kategorien in folgenden dreien zusammenzufassen: 1. Verhaltensstörungen während des Krankenhausaufenthalts, 2. Frühe Verhaltensstörungen und 3. Späte Verhaltensstörungen (Troschke, 1974, S. 74-75). Die späten Verhaltensstörungen werden aus Übersichtsgründen erst im Kapitel 4.4. „Folgen und Komplikationen“ erläutert, da sie themenbezogen besser in diesen Abschnitt passen.

4.3.2.1.

Verhaltensstörungen während des Krankenhausaufenthalts

Kinder zeigen, je nachdem wie sie mit dem „Verlust“ der Mutter in der ersten Zeit im Krankenhaus oder Heim fertig werden, unterschiedliche Symptome. Es kann nach dem ersten „Verschmerzen“ ruhiger werden, was eine positive oder negative Bedeutung haben kann. Denn entweder hat sich das Kind eingewöhnt oder es zeigt, dass es die Beziehung zu seiner Mutter verloren hat und sich dahinter eine schwere Störung verbirgt. Zudem können Kinder, bei Besuchen der Mutter oder anderen Bezugspersonen, in Tränen ausbrechen oder sie protestieren beim Verabschieden der Angehörigen stark. Desweiteren können Reaktionen wie Schweigen, Kontaktverweigerung, Abwehr und Verzweiflungsäußerungen beobachtet werden. Bei kurzdauernden Krankenhausaufenthalten haben die Kinder auch noch starkes Jammern, Weinen und Schreien, anormales Ess- und/oder Schlafverhalten, Ausscheidungsstörungen, Aggressivität, Hyperaktivität, Irritabilität, Nichteinnahme von Medikamenten und Abwehr von Behandlungen, Ängstlichkeit, Stille, Traurigkeit, Zurückgezogenheit, selbstverletzendes, zerstörerisches oder regressives Verhalten als Reaktionen gezeigt (Troschke, 1974, S. 78-79).

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4.3.2.2.

Frühe Verhaltensstörungen

Bei den Frühfolgen handelt es sich grundsätzlich um Verhaltensstörungen, die einige Tage bis Wochen nach der Entlassung in unterschiedlicher Dauer, Art und Intensität auftreten können. Einige dieser Verhaltensstörungen sind Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme, Schlafstörungen, Bettnässen und Einkoten, Regressionen auf frühere Verhaltensstufen, Tics, Niedergeschlagenheit, Rastlosigkeit, Ängstlichkeit, Furcht vor Krankenhäusern, medizinischem Personal und Spritzen, Todesangst, autistisches Verhalten, hysterische Symptome oder hypochondrisches Verhalten (Troschke, 1974, S. 81-82).

4.4.

Folgen und Komplikationen

4.4.1. Späte Verhaltensstörungen aufgrund eines Krankenhausaufenthalts

Die Spätfolgen zeichnen sich vor allem nach langerdauernden Krankenhausaufenthalten ab und werden auch als Dauerschäden bezeichnet. Diese stehen in einem kausalen Zusammenhang mit einem traumatisierenden Ereignis und lassen sich auch noch Jahre nach dem Krankenhausaufenthalt nachweisen. Spätschäden sind zum Beispiel „lieblose“ Charaktere, das heißt Menschen, die nur schwer oder gar keine Gefühle zulassen können, die nur oberflächliche Kontakte pflegen, die sich nicht konzentrieren können, nicht zugänglich sind und interessenlos durchs Leben gehen. Es kann aber auch sein, dass diese Menschen ein Leben lang nach Liebe streben, was sich beispielsweise in Promiskuität äußert. Weiters können Symptome wie Ängste und Befürchtungen, Depressionen, Aggressionen, Erziehungsschwierigkeiten, psychosomatische Störungen oder Schlaf- und Essstörungen bleiben (Troschke, 1974, S. 86-87).

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4.4.2. Folgen der Heimunterbringung

Studien von Spitz, Bowlby und Goldfarb haben ergeben, dass Kinder, die längerfristig in Heimen untergebracht werden, deutliche, irreversible psychische, emotionale und kognitive Schäden aufweisen. Später wurde allerdings nachgewiesen, dass diese Studien eine Vielzahl von methodischen Schwächen aufwiesen und die Forschung heute davon ausgeht, dass besonders Heimunterbringungen, die auf das erste Lebensjahr begrenzt sind, gar keine Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Säuglinge und Kinder haben. In den ersten zwei bis drei Lebensjahren eines Kindes jedoch, kann die Heimunterbringung ein Risiko für die Entwicklung des Sozialverhaltens darstellen, da Forscher und Forscherinnen davon ausgehen, dass Säuglinge eine Bindungsfähigkeit haben, die gegen spätere Deprivation abschirmt (Steinhausen, 2010, S. 360-361). Studien zur Entwicklung von ehemaligen Heimkindern haben eine große Zahl an Persönlichkeitsstörungen, Delinquenz, Hang zur Kriminalität, Störungen in den Partnerschaften und verantwortungsloses Verhalten in der Elternschaft gezeigt. Nicht zu vergessen ist hier aber ein wichtiger Punkt. Nicht die Heimunterbringung alleine ist der Grund für diese Spätfolgen. Es kommen auch noch die ungünstigen Familienverhältnisse vor der Heimunterbringung und die jeweils zu berücksichtigenden Lebensumstände danach, hinzu. Vor allem wäre es fatal, alle Heimkinder die gleiche Zukunft zu prognostizieren, denn es gibt auch Fälle, in denen Kinder trotz schwerster Deprivation später Entwicklungskompensationen zeigen (Steinhausen, 2010, S. 361). Eine weitere Gefahr bilden „Ketten der kontinuierlichen Benachteiligung“. Diese entstehen, wenn Mädchen oder junge Frauen, die in Heimen untergebracht waren, sehr früh schwanger werden, Beziehungen nicht aufrecht erhalten können und ebenfalls als Mütter „versagen“. Ein Generationenkreislauf entsteht und die Kinder dieser Frauen kommen wiederum ins Heim (Steinhausen, 2010, S. 361).

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4.4.3. Anpassungsstörungen

Wie schon unter dem Punkt 4.1.2. besprochen, kann man den psychischen Hospitalismus bzw. besser gesagt seine Folgen in die Kategorie der Anpassungsstörungen einordnen. Bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich diese, wie bereits besprochen, in ängstlichen oder depressiven Verhaltensveränderungen, bei Jugendlichen auch vor allem in einer Beeinträchtigung des Sozialverhaltens (ICD-10-WHO 2011, 06.03.2012, http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/block-f90f98.htm). Die Diagnose einer Anpassungsstörung hängt von drei Punkten ab: 1. Art, Inhalt und Schwere der Symptome, 2. Anamnese und Persönlichkeit, 3. Belastendes Ereignis. Der ausschlaggebende Punkt ist dabei der dritte, denn es muss nachgewiesen, werden, dass ohne dieses belastende Ereignis die Erkrankung nicht aufgetreten wäre. Sind diese drei Aspekte erfüllt, gibt es eine Vielzahl von Symptomen, die das Kind zeigen kann. Einige Beispiele dafür sind kurze oder längere depressive Reaktionen, Angst mit depressiven Reaktionen gemischt, Beeinträchtigung von anderen Gefühlen, die sich in Angst, Depression, Sorge, Anspannung und Ärger äußern können, sonstige gemischte Angststörungen oder auch regressives Verhalten wie Daumenlutschen, Bettnässen, Einkoten etc. Bei Jugendlichen kommt noch eine Störung im Sozialverhalten hinzu oder auch eine gemischte Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (Steinhausen, 2010, S. 241). Die Behandlung von Anpassungsstörungen hat das Ziel für die Kinder Entlastung zu schaffen und Möglichkeiten aufzuzeigen, mit denen sie Situationen bewältigen können. Je nach Alter werden angemessene Therapiemaßnahmen gesetzt wie zum Beispiel die Psychotherapie, Beratung, Spieltherapie oder Familientherapie. In den 26

meisten Fällen ist der Einsatz von Pharmakotherapie nicht erforderlich (Steinhausen, 2010, S. 241).

4.4.4. Deprivationsstörungen

Wie schon in Kapitel 4.2. erwähnt, spielt die Rolle der Eltern oder anderer Bezugspersonen eine wesentliche Rolle für die Entwicklung des Kindes. Nicht zuletzt kann es bei Kindesvernachlässigung, egal in welcher Form, zu erheblichen Schäden für das Kind kommen. Der Begriff „Deprivation“ bedeutet Mangel, Entzug oder Verlust von etwas. Er wird in der Psychologie oft mit dem Deprivationssyndrom, dem psychischen Hospitalismus sowie mit dem Kaspar-Hauser-Syndrom in Verbindung gebracht (Duden Online, 06.03.2012, http://www.duden.de/suchen/dudenonline/deprivation). Laut Steinhausen bringt der Begriff aber auch die damit verbundene Verarmung des Kindes, insbesondere in emotionaler und kognitiv-sozialer Hinsicht, zum Ausdruck. Der Autor spricht auch von der Unterscheidung einer intra- und extrafamiliären Deprivationsbedingung. Die intrafamiliäre Deprivationsbedingung entsteht nämlich dann, wenn seitens der Eltern eine Vernachlässigung für ihr Kind besteht aufgrund von chronischen psychosozialen, interaktionalen oder intrapsychischen Belastungen. Die extrafamiliäre Deprivationsbedingung entsteht aufgrund von räumlicher Trennung in Krankenhäusern, Heimen oder anderen Institutionen. Relative Varianten von Deprivationsbedingungen können zusätzlich kurze Trennungen, Verlust der Eltern durch Tod, Scheidung oder Trennung, Vernachlässigung oder Misshandlung sein (Steinhausen, 2010, S. 358).

4.4.5. Bindungsstörungen

Wie schon in Punkt 4.1.2. erwähnt, gehört der psychische Hospitalismus ebenso in die Kategorie der Bindungsstörungen bzw. kann diese zur Folge haben. Neben der „Bindungsstörung mit Enthemmung“, die durch Heimunterbringung und multiple 27

Pflegschaften beim Kleinkind verursacht wird, ist auch noch die „reaktive Bindungsstörung“ zu nennen, die die unmittelbaren Auswirkungen von intra- und extrafamiliären Deprivationsbedingungen auf das Kind beschreibt (Steinhausen, 2010, S. 362-363).

.

Die Autorin versucht hier Augenmerk auf die Bindungsstörung mit Enthemmung zu richten, da sie in ursächlichem Zusammenhang mit dem psychischen Hospitalismus steht. Kinder mit einer Bindungsstörung mit Enthemmung zeigen allgemeines Anklammerungsverhalten im Kleinkindalter, freundliches, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten in der frühen und mittleren Kindheit sowie emotionale Störungen und Störungen des Sozialverhaltens. Weiters zeichnet sich diese Störung durch multiple oberflächliche Beziehungen zu verschiedenen Bezugspersonen aufgrund von ständigem Ortswechsel sowie mehrfacher Umpositionierung in der Familienplatzierung und einer mangelnden Selektivität gegenüber Bezugspersonen aus. Neben diesen Symptomen kann es auch in vereinzelten Fällen zu autismusähnlichen oder hyperkinetischen Verhaltensstörungen kommen (Steinhausen, 2010, S. 363). Die Behandlung von Bindungsstörungen erfolgt durch elternbezogene Interventionen wie Unterstützung durch Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Training in Problemlösungskompetenzen oder auch Paarberatung für die elterliche Beziehung. Kinderbezogene Interventionen sind zum Beispiel die Verbesserung des Sozialverhaltens, Sensibilisierung für eigene Gefühle, Stärkung der Empathiefähigkeit oder die Erhöhung des Selbstwertgefühls. Diese Fähigkeiten können im Rahmen einer Psychotherapie erarbeitet werden. Zusätzlich ist es wichtig dem Kind ein stabiles Pflegeverhältnis und eine kontinuierliche Betreuungsform zu bieten. Nicht zuletzt ist auch der Aufbau einer Beziehung zu einer Bezugsperson von besonderer Bedeutung (Steinhausen, 2010, S. 364).

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4.4.6. Geschlechtsunterschiede

Um die Frage, gibt es einen Zusammenhang zwischen Ängsten und dem Geschlecht, ranken sich viele Studien und Mythen. Hinsichtlich des Kindesalters gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Laut einer Studie von Poulton et al. aus dem Jahre 1997 haben die Wissenschafter allerdings Abweichungen im Auftreten von Ängsten entdeckt, ab dem Alter von 15 Jahren. Das Verhältnis von Mädchen zu Jungen beträgt 1:0,6 hinsichtlich des Auftretens von Ängsten. Mädchen haben aber auch eine höhere Symptomschwere als Jungen. So zeigen Mädchen weniger Selbstbewusstsein und -vertrauen, sind somatisch häufiger erkrankt, erleben bestimmte Ereignisse intensiver, sind körperlich nicht so fit und berichten häufiger über einen reduzierten Gesundheitszustand und über körperliche Beschwerden (Petermann, 2000, S. 243).

4.5.

Prophylaxe

4.5.1. Aufklärung und Aufnahme

Der erste Schritt der Prophylaxe besteht im richtigen Umgang mit dem Kind, wenn es darum geht, es auf den Krankenhausaufenthalt vorzubereiten. Dem Kind soll klar gemacht werden, dass es nicht zur Strafe ins Krankenhaus kommt, dass man es weiterhin liebt und dass es ihm nach dem Aufenthalt bestimmt besser gehen wird. Zudem sollte man die Fragen des Kindes geduldig, ausreichend und dem Alter gemäß beantworten. Eine Variante dazu, bietet beispielsweise das „Children´s Hospital Medical Center of North California“, das eine Art Broschüre entwickelt hat, in dem eine Geschichte erzählt wird, die dem Kind darstellen soll, was im Krankenhaus passiert. Desweiteren sollten Notlügen oder jegliches Verschweigen von gewissen Umständen vermieden werden (Troschke, 1974, S. 151-153). In jedem Fall sollte eine enge Bezugsperson das Kind ins Krankenhaus bringen und wenn es möglich ist, sollte das Kind auch von dieser ins Bett gebracht werden. Nach 29

der Aufnahme kann man das Kind gleich ein wenig beruhigen, indem man ihm Spielzeug oder Bücher zur Beschäftigung gibt. An diesem Punkt ist auch darauf zu achten, dem Kind keine Versprechungen zu machen sowie Verbote oder Strafen anzudrohen (Troschke, 1974, S. 153-154).

4.5.2. Kinderbegleitung im Krankenhaus

Optimal wäre es, wenn die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson gleich mit dem Kind aufgenommen wird, wenn dies der zeitliche und räumliche Rahmen erlaubt. Der Aufenthalt soll durch die Mitnahme einer Vertrauensperson stressloser für die Kinder sein. Außerdem werden ihre Interessen und Bedürfnisse dadurch effektiver vertreten. Aufgrund des Phänomens des psychischen Hospitalismus hat es sich die „European Association for Children in Hospital“ (EACH) zur Aufgabe gemacht, das Recht eines jeden Kindes auf eine Begleitperson im Krankenhaus, durchzusetzen. In Österreich wird die Organisation EACH durch den Verein „KiB children care“ unterstützt (Grasser et al., 2010. S. 177). Laut Österreichischem Strukturplan vom Jahre 2006 wurden 54% der Kinder in den steirischen KAGes-Krankenhäusern mit einer Begleitperson aufgenommen. Im selben Jahr wurden außerdem in den Krankenhäusern LKH Universitätsklinikum Graz, dem LKH Leoben und dem LKH Stolzalpe, die in der Steiermark eine Schwerpunktabteilung für Kinder- und Jugendheilkunde haben, 91% aller aufgenommenen Kinder unter 15 Jahren und 100% aller aufgenommenen Kinder unter drei Jahren versorgt. In diesen Krankenhäusern ist Kinderbegleitung grundsätzlich möglich, in anderen Krankenhäusern, in denen es keine Scherpunktabteilung für Kinder- und Jugendheilkunde gibt, sind es meist nur die chirurgischen Abteilungen, die Kinderbegleitung ermöglichen. In den KAGEsKrankenhäusern LKH Graz-West, Hörgas, Bad Radkersburg und der Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) sowie in den Krankenhäusern der Barmherzigen Brüder Graz und Graz-Eggenberg ist keine Kinderbegleitung möglich. Ausnahme bildet hier die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des LSF Graz, 30

in der in manchen Fällen die Elternbegleitung gestattet wird (Grasser et al., 2010, S. 179-180).

4.5.3. Personal

Die Personen, die neben den Bezugspersonen am meisten mit den Kindern in Kontakt sind, sind vor allem die Pflegepersonen, also Diplomschwestern und pfleger. Aufgrund des vorherrschenden Personalmangels kommt es immer wieder vor, dass eine einzige Krankenschwester oder ein einziger Pfleger für sehr viele Kinder verantwortlich ist. Hilfreich ist es dabei, einzelne Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen herauszunehmen und diese nur mit der psychischen Betreuung des Kindes zu beauftragen. Medizinisch notwendige Untersuchungen und Messungen können leichter durchgeführt werden, wenn das Pflegepersonal die Bezugspersonen in diesen Tätigkeiten anleitet (Troschke, 1974, S. 157-158).

4.5.4. Spieltherapie

Der Abbau von traumatischen Erlebnissen und negativen Gefühlen wie Aggression oder Trauer ist nicht nur für Erwachsene möglich und notwendig, sondern gleichermaßen für Kinder, nur in einer anderen Art und Weise. Im Spiel können die Kinder ihren Emotionen freien Lauf lassen und ihre Erlebnisse verarbeiten. In den USA gibt es sogar Krankenhäuser, in denen sogenannte „child care workers“ beschäftigt werden um die Kinder mit Spielen auf andere Gedanken zu bringen, ihre Erfahrungen Revue passieren zu lassen und sich von Therapien, Untersuchungen oder Operationen etc. abzulenken. Desweiteren ist es ihre Aufgabe die Kinder in der Ambulanz auf Trab zu halten und gleichzeitig den Eltern Informationen zu Diagnose, Behandlung und Krankheitsverlauf zu liefern. Als „child care workers“ werden häufig Personen ausgewählt, die später auch hauptberuflich mit Kindern zu tun haben, zum Beispiel angehende Kinderärzte und –ärztinnen, Pflegepersonal oder Medizinstudenten und -studentinnen. Mit Hilfe von eigens eingerichteten Spielecken 31

und altersgemäßem Spielzeug wird hier der Aufenthalt in der doch fremden Umgebung erleichtert (Troschke, 1974, S. 158-159).

4.5.5. Besuchszeitregelung

Wie schon besprochen wäre die Kinderbegleitung ins Krankenhaus der optimale Weg um dem Kind den Aufenthalt zu erleichtern. In vielen Fällen ist dies aus zeitlichen Gründen, beispielsweise aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern, nicht immer möglich. Deshalb sollten die Besuchsregelungen auch so gehalten werden, dass das Kind in einer möglichst großen Zeitspanne von Eltern oder anderen Bezugspersonen betreut werden kann. Gegenwärtig stellt dies in den österreichischen Krankenhäusern kein Problem mehr dar. Blickt man aber in die Anfänge des letzten Jahrhunderts gab es nicht einmal eine geregelte tägliche Besuchszeit. Erst im Laufe der letzten 100 Jahre entwickelte sich die Auffassung, auch unter Berücksichtigung des psychischen Hospitalismus, dass es doch zu weit weniger postoperativen Komplikationen und Verhaltensstörungen komme, wenn man den Kindern so viel Zeit wie möglich mit deren Angehörigen schenkt (Troschke, 1974, S. 163).

4.5.6. Medikamente, Operationen, Narkosen

Mitte des 20. Jahrhunderts hatten Ärzte und Ärztinnen die Idee, die Eingewöhnungsphase ins Krankenhaus durch die Gabe von Sedativa zu erleichtern. Studien von Linzenich, Primer oder Helbig zeigten, dass es bei Kindern, die diese Medikamente bekamen, zu weit weniger Komplikationen kam. Nichts desto trotz sind Mediziner und Medizinerinnen heute der Auffassung, dass eine medikamentöse Therapie zwar erfolgen soll, wenn diese medizinisch begründet wird, aber keinesfalls als Ersatz einer psychischen Betreuung des Kindes dienen soll (Troschke, 1974, S. 161).

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Narkosen und die damit verbunden medizinischen Eingriffe stellen nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Kinder eine Belastungsprobe dar. MacKeith empfiehlt dazu, dass Kind vor einer Operation zumindest 24 Stunden vorher ins Krankenhaus zu bringen um sich eingewöhnen zu können. Das Aufwachen von der Narkose sollte im Stationszimmer erfolgen. Dabei sollte die Mutter anwesend sein um ein Gefühl des „Allein seins“ zu vermeiden (Troschke, 1974, S. 161-162).

5. Schlussfolgerung

Kindesvernachlässigung und das Auftreten von Deprivationssyndromen ist ein Thema, das beinahe an der Tagesordnung steht. Doch es sind nicht alle in der Lage zu begreifen, welche Folgen dies für ihre Kinder haben kann und mit welchen Störungen und Erkrankungen sie bis ins Erwachsenenalter zu kämpfen haben können. Der psychische Hospitalismus, als eine Folge von Krankenhausaufenthalten oder Heimunterbringungen, wird oft unterschätzt und erst mit den initialen Symptomen ernst genommen. Die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit zeigen sich in Verhaltens-, Bindung-, Deprivationsstörungen, in Störungen des Sozialverhaltens und den damit verbundenen Risikofaktoren und physischen sowie psychischen Einschränkungen. Diese können die Kinder einige Jahre, aber auch ein Leben lang begleiten und durch verschiedene Therapieformen wie Psychotherapie unterstützt werden. Ob das Geschlecht Einfluss auf den psychischen Hospitalismus hat, konnte anhand der Literatur zum Thema nicht eindeutig geklärt werden, da gerade für das Kindesalter recht wenige geschlechtsspezifische Unterscheidungen gemacht werden. Differenziert wird erst ab dem Jugendalter und auch da konnten nur Hinweise auf den Einfluss des Geschlechts hinsichtlich von psychischen Störungen allgemein recherchiert werden.

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6. Diskussion und Ausblick

Der psychische Hospitalismus ist ein weitgehend unbekanntes, aber dennoch kein bedeutungsloses Phänomen in Folge von Krankenhausaufenthalten oder Heimunterbringungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Obwohl die Forschung im letzten Jahrhundert den Wissensstand auf diesem speziellen Gebiet revolutioniert hat, fehlt eine zufriedenstellende Lösung hinsichtlich der Betreuung von Kindern im Krankenhaus bzw. in den Heimen. Für die Zukunft wären weitere Studien zu diesem Thema wünschenswert. Vor allem für Österreich bzw. die Steiermark gibt es keine einheitliche Lösung bezüglich der Kinderbetreuung in den Krankenhäusern. Vielleicht wären auch hier die Ansätze der USA anzustreben, die „child care workers“ einsetzen um eine abwechslungsreiche und altersgemäße Betreuung zu ermöglichen. Im Zeitalter der Unabhängigkeit und Berufsorientiertheit wäre es sinnvoll zu überlegen, wie man hier vor allem für berufstätige Mütter Lösungen findet, die die Kinderbegleitung ins Krankenhaus ermöglicht, zum Beispiel durch Ausweitung des Pflegeurlaubs etc.

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