Aus der Geschichte lernen Polen und Deutsche nach der historischen Wende in Europa

in: „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit” und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas (Hrsg. von Ch. Joerges, M. Mahlmann. U. K. Preuß),...
Author: Walther Seidel
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in: „Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit” und der Prozess der Konstitutionalisierung Europas (Hrsg. von Ch. Joerges, M. Mahlmann. U. K. Preuß), Wiesbaden 2008, S. 321-334. Jerzy Kranz*

Aus der Geschichte lernen – Polen und Deutsche nach der historischen Wende in Europa Die europäische Integration ist wie eine Giraffe: leicht zu identifizieren, aber schwer zu definieren. Heute besteht ein Element der Definition wohl auch in der Tatsache, dass die europäische Integration unentwegt über die Geschichte stolpert und an Identitätsstörungen leidet. Über 17 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ stellt sich heraus, dass bestimmte zeitgeschichtliche Probleme nicht nur einzelne Länder oder bilaterale Beziehungen betreffen. Früher sah man in der europäischen Integration eher Vorteile, heute werden eher ihre Mängel ins Licht gerückt. Früher erblickte man in ihr ein Instrument der Problemlösung, heute stellt sie selber ein Problem dar. Manche sagen dazu: „Einst sah man den Himmel offen, jetzt nur ein Ozonloch.“ Man sollte aber nicht in Unkenrufe verfallen, vielmehr ist nun eine weitsichtige Politik gefragt. Europa und seine Identität Eine wichtige Voraussetzung für die europäische Integration war die Einsicht, dass bewaffnete Konflikte keineswegs unvermeidlich sind und durch die Verknüpfung der Staaten mit starken Strukturen der internationalen Kooperation bereits im Vorfeld verhindert werden können. Diese Integration bildete jedoch nicht nur eine Antwort auf die Vergangenheit, sondern stellte auch eine Reaktion auf zukünftige Herausforderungen dar. Eine aus politischer Sicht wichtige Bedingung für das Zustandekommen der europäischen Einheit (zumindest westlich der Elbe) war in den ersten Nachkriegsjahren das Bestreben, Deutschland zu kontrollieren und in feste internationale Strukturen einzubinden. Diese Prozesse begleitete eine militärische Zusammenarbeit (NATO, Westeuropäische Union), die sich der expansiven Politik des internationalen Kommunismus entgegenstellte. In wirtschaftlicher Hinsicht war hingegen das Bestreben bedeutsam, das vom Krieg zerstörte Europa wiederaufzubauen und zu Wohlstand zu führen. Dahinter stand die Überzeugung, dass die ökonomische Entwicklung nicht an einzelnen Staatsgrenzen halten machen sollte (Idee des gemeinsamen Marktes). All dies waren sowohl positive als auch negative Voraussetzungen, gemeinsame Ziele und gemeinsame Bedrohungen, Elemente der Vergangenheit und der Zukunft. Nach 1989 unterlagen diese Voraussetzungen erheblichen Veränderungen. Die Welt wurde auf andere Weise gefährlich, und die Europäische Gemeinschaft bzw. Union beschritt immer deutlicher die weiten Felder der internationalen Politik, der Justiz und der inneren Angelegenheiten (Zweite und Dritte Säule der EU). So stellt sich die Frage, welche Impulse nötig sind, um die Integrationsdynamik auch weiterhin aufrechtzuerhalten. Welche Hindernisse lassen sich dabei erkennen? In wirtschaftlicher Hinsicht muss die EU heute bestimmten Auswirkungen der Globalisierung bzw. neuen globalen Konkurrenten die Stirne bieten (vor diesem Hintergrund erscheinen die geschürten Ängste vor dem polnischen Klempner oder Schlachter etwas lächerlich). Wenn man *

Jurist, Professor an der Warsaw School of Economics und der Józef-Tischner-Europa-Universität in Krakau; ehemaliger Unterstaatssekretär im Außenministerium und ehemaliger Botschafter Polens in der Bundesrepublik Deutschland.

diesen Herausforderungen gerecht werden will, begibt man sich jedoch auf eine schwierigere Ebene der Integration, auf der die Aufrechterhaltung der bisherigen Besitzstände zahlreichen Staaten und Gesellschaften recht schwer fallen wird. Angesichts dessen darf das wirtschaftliche bzw. soziale Modell der EU keine statischen Züge aufweisen. Die derzeit zu beobachtenden Tendenzen der Renationalisierung gewährleisten jedenfalls keine langfristigen Erfolge der europäischen Integration. Aus politisch-militärischer Sicht bleibt die Gewährleistung der äußeren Sicherheit und der effektiven Demokratie, in der die Menschenrechte wirksam geschützt werden, weiterhin aktuell. Was die Bedrohungen anbelangt, so sind diese heute recht deutlich erkennbar. Es mangelt jedoch an politischem Willen und Entschlossenheit, effektive Werkzeuge für dieses Gefahrenpotential zu finden (divergierende nationale Interessen). Angesichts dessen darf man prognostizieren, dass erst ein bedeutendes schockierendes Ereignis eine weitere Evolution des europäischen Integrationsprozesses erzwingen wird. Dabei kann es sich sowohl um bewaffnete Konflikte und terroristische Anschläge als auch um Erpressungsaktionen im Energiesektor oder Atomwaffenbereich handeln. Die politische Einheit Europas benötigt jedoch nicht nur einen mächtigen ökonomischen Unterbau oder Gefahren der Zukunft, sondern auch ein ideelles Fundament. In diesem Zusammenhang erscheint das Bewusstsein einer europäischen Identität (trotz aller Schwierigkeiten bei der Definierung dieses Begriffs) ein wichtiges Element zu sein. Diese Identität muss aus gemeinsamen politisch-historischen und moralisch-rechtlichen Werten, aber auch aus dem Grundsatz der Solidarität resultieren. Daher darf das sog. Wir-Gefühl (H. A. Winkler1) keinesfalls vernachlässigt werden. Das Problem liegt darin, dass sich dieses ideelle Konstrukt auf den Gegensatz zur Welt außerhalb der EU stützt und innerhalb der EU aus einem Mosaik von nationalen „Wir-Gefühlen“ besteht. Die europäische Identität muss jedoch nicht in Konflikt mit der Identität einzelner Staaten und Völker stehen. Angesichts der zeitweilig auftretenden Schwächung des politischen Willens und der Divergenz nationaler Interessen kann der Identitätsfaktor die politische Einheit und Stellung Europas in der Welt stärken. Ein Grundelement dieser Identität ist das Verhältnis zur Vergangenheit (sog. historisches Gedächtnis), das in erheblichem Maße über die Gegenwart und die Projekte der Zukunft bestimmt. Die Europäische Union hat keine gute Zukunft vor sich, wenn ihre Mitgliedsstaaten nicht verstehen, aus welcher Vergangenheit sie erwachsen sind und welche Auswirkungen diese Vergangenheit auf die zukünftige Entwicklung Europas hat. Die historischen Begründungsmodelle zur europäischen Integration sind jedoch recht heterogen, so dass gewisse Kontroversen eigentlich schon vorprogrammiert sind.2 1

H. A. Winkler, Europa am Scheideweg, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ v. 12.11.2003, S.10: „Ohne überzeugte Europäer kein Europa; ohne ein europäisches Wir-Gefühl keine überzeugten Europäer; ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte kein europäisches Wir-Gefühl. […] Auf diese gemeinsamen Traditionen konnte und kann ein europäisches Wir-Gefühl sich ebenso stützen wie auf die gemeinsame Erfahrung von Konflikten, Kriegen und Katastrophen. Doch es gab so gut wie keine Versuche, dieses Gefühl wiederzubeleben und zu einer Produktivkraft des weiteren Einigungsprozesses zu machen. […] Wer sich aber selbst für einen überzeugten Europäer hält, der kann nicht wollen, dass der Mangel eines europäischen Wir-Gefühls durch verstärkte Appelle an nationale Instinkte ausgeglichen wird. Diese Gefahr ist vorhanden. Der Nationalismus hat durchaus eine Chance, das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit zu befriedigen - freilich auf eine Weise, die für Europa verheerend wäre.“ Siehe auch H. A. Winkler, Was hält Europa zusammen? Hrsg. v. d. Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2005. 2 M. A. Cichocki, Podzielona pamięć wspólnej Europy. Unijna polityka historyczna [Geteiltes Gedächtnis des gemeinsamen Europa. Die Geschichtspolitik der Europäischen Union], „Tygodnik Powszechny” v. 12.11.2006, analysiert folgende historische Begründungsmodelle zur europäischen Integration: „Eine Interpretation, gemäß der das Ende des Dreißigjährigen Krieges den Übergang von einem vormodernen (also christlichen) Europa zu einem modernen Europa souveräner Staaten bedeutete [...]. In der Praxis konnte diese Ordnung dem aggressiven Auftreten starker gegen schwächeren Staaten nur wenig entgegensetzen, wovon sich die Polen Ende des 18. Jahrhunderts als Opfer der Teilungen selbst überzeugen konnten. Und im 19. Jahrhundert führte diese Ordnung zu Kolonialismus und Nationalismus, was im 20. Jahrhundert in Gestalt von zwei Weltkriegen seine Früchte trug. [... ] Das Heilmittel für

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Geschichte gemeinsam lernen Wissen und historische Erfahrungen sind nicht vererbbar. Daher ist es von enormer Bedeutung, was bzw. wie man die Kenntnisse der Gegenwart an zukünftige Generationen weitervermittelt. In diesem Zusammenhang taucht in den Medien immer wieder ein besonders einprägsames Motto auf - „Kampf um das historische Gedächtnis“. Das Gebot der Stunde ist jedoch in Wirklichkeit eine wohl durchdachte internationale Zusammenarbeit, die stärker als bisher im europäischen Gesamtrahmen eingebettet sein sollte. Oftmals ist zu hören, dass diese Kooperation institutionalisiert werden sollte bzw. dass es keine ausreichenden Fonds zu deren Finanzierung gibt. Aber gibt es eigentlich gute Konzepte und irgendeine Art von Politik in dieser Richtung? Wird nicht eher zuviel geredet und appelliert und zu wenig getan? Die EU-Kommission in Brüssel kann zwar die Mitgliedsstaaten in ihrer nationalen Bildungs-, Kultur- oder Forschungspolitik nicht ersetzen. Sie kann aber Anregungen für derartige Programme liefern und diese koordinieren, was zu den gewünschten Synergieeffekten führen würde. Der unlängst von Bundesbildungsministerin Schavan geäußerte Vorschlag der Erstellung eines gemeinsamen Schulbuches für europäische Geschichte ist durchaus diskutabel, aber dessen Brauchbarkeit kann sich als begrenzt erweisen (zu viele Kompromisse und eigentümliche Zensurbeschränkungen). Ein Schulbuch für den Geschichtsunterricht (bzw. ein Buch über gemeinsame Geschichte) ist aber nicht mit einem europäischen Gedächtnis identisch. Während die Geschichte Europas tatsächlich existiert, gibt es im Prinzip kein gemeinsames, umfassendes europäisches Gedächtnis. Die schriftliche Fixierung der Geschichte Europas ist insofern schwierig, als diese auf sehr unterschiedlichen Geschichtsbildern der einzelnen Länder beruht, die allesamt eigene Schwierigkeiten mit dem historischen Gedächtnis haben. Die Tendenz zur Präsentierung von diese Bedrohung sollte eben die europäische Integration sein, die [...] eine Abkehr von der neuzeitlichen Konzeption des Nationalstaates bedeuten muss. Denn letzterer hat Europa zwei Weltkriege beschert. [...] Im Falle Polens funktioniert diese Logik jedoch nicht [...], sie ist der polnischen Nation fremd. [...] Das neuzeitliche Modell des Territorialstaates – mit einer zentralisierten souveränen Gewalt und der restriktiven Trennung von Religion und Politik – hat sich in Polen niemals durchsetzen können. [...] Als sich nach dem Dreißigjährigen Krieg in Westeuropa eine neue Ordnungsform unter den souveränen Staaten herauskristallisierte, bevorzugten die Polen, Ruthenen, Ukrainer, Litauer und Deutschen in Ostpreußen ein eigenes Kooperationsmodell, das auf der ‘friedlichen Föderalisierung’ der Völker, einem multinationalen Staatsbürgerkonzept und der symbiotischen Präsenz der Religion im öffentlichen Leben beruhte. [...] Ein anderes sehr häufig zitiertes, historisches Begründungsmodell zur europäischen Integration ist die Aufklärung. [...] Das Problem besteht darin, dass die Aufklärung in allen diesen Fällen in einem äußerst einseitigen Bedeutungszusammenhang auftaucht: als politisch-intellektuelle Erfahrung Frankreichs im 18. Jahrhundert. Eine solche Aufklärung präsentiert man – in engstirniger Traditionsdeutung - als konstitutives Hauptelement des heutigen Europa. Dies lässt die entscheidende Tatsache außer acht, dass es niemals nur die eine Aufklärung gegeben hat, die sich auf ganz Europa erstreckt hat, sondern verschiedene Arten der Aufklärung. Das dritte historische Begründungsmodell zur europäischen Integration beruft sich auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. [...] Einen besonderen Ort nimmt hierbei der Holocaust ein. [...] Diese Interpretation von Sinn und Aufgaben der europäischen Integration steht heute der öffentlichen Meinung und dem politischen Establishment in Deutschland besonders nahe. [...] Seitdem sich jedoch auch die Länder hinter dem ehemaligen „Eisernen Vorhang” in der EU befinden, erscheint eine solche Interpretation als Antwort auf den Nationalsozialismus äußerst unbefriedigend. Sie reicht nicht aus, um in der erweiterten EU ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu erzeugen. Denn dieser Interpretationsansatz schließt die für die neuen Mitgliedsländer fundamentale Erfahrung des kommunistischen Totalitarismus aus, der neben dem Nationalsozialismus das historische Gedächtnis in diesem Teil Europas geprägt hat. [...] Falls sich jener acquis historique der bisherigen europäischen Integration aus diesen Interpretationselementen zusammensetzt, so war die Überzeugung, dass sich die neuen Mitgliedsstaaten nach der Osterweiterung an den acquis historique genauso anpassen werden wie an die Standards des Gemeinsamen Binnenmarktes, ein Ausdruck von Naivität oder Arroganz, die für die Herangehensweise in Bezug auf Ostmitteleuropa in der Transformationsphase der 1990er Jahre im Vorfeld der EU-Osterweiterung kennzeichnend gewesen ist.”

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Geschichte in Selbstbildnisform sollte dadurch ergänzt werden, dass man anderen die Zeichnung des Bildes aufträgt, was die historische Bildersammlung insgesamt reicher und wertvoller werden lässt. Manchmal gerät nämlich in Vergessenheit, dass der Dialog ein Grundmerkmal der europäischen Kultur ist. Bevor man sich an die Ausarbeitung des oben erwähnten europäischen Geschichtsbuchs macht, sollte man wohl eher den Versuch unternehmen, bestimmte Felder der historischen Forschung, Programme und Lehrmaterialien auf europäischer Ebene zu koordinieren oder bilaterale Schulbücher (z.B. nach deutsch-französischem Muster) zu verfassen.3 Dabei drängt sich wie von selbst der Gedanke auf, ein Internetportal zur europäischen Geschichte unter dem Patronat bestimmter europäischer Institutionen (z.B. EU, Europarat) einzurichten, gleichsam eine Art historischer Wikipedia. Als hilfreich könnte sich aber auch ein Internetforum zum Austausch von Lehrmaterialien zur Geschichtswissenschaft erweisen. Darüber hinaus ist ein breitangelegtes Programm von Wettbewerben und Stipendien zur Geschichte ins Auge zu fassen. Oder sollte man nicht lieber gleich ein europäisches Institut (bzw. Universität) für historische Studien ins Leben rufen? Abgesehen davon wäre ein europäisches Programm sehr lohnenswert, im Rahmen dessen einige ausgewählte Werke aus der Literatur und Geschichte jedes EU-Mitgliedsstaates in die wichtigsten Sprachen (oder sogar alle?) der EU übersetzt werden. Ist es denn normal, dass eine deutsche Ausstellung über die Idee der europäischen Einheit nur in Berlin gezeigt wird und für den diesbezüglichen hervorragenden Katalog lediglich eine englische Übersetzung existiert? 4 Die Suche nach gemeinsamen Werten und Inhalten muss keineswegs zum Misserfolg verurteilt sein. Denn obwohl die einzelnen Staaten aus historischen Gründen oftmals sehr unterschiedliche Rechtssysteme aufweisen, müssen daraus keine unüberwindlichen Barrieren entstehen. Zumindest in einigen Regionen der Erde haben die Rechtssysteme gemeinsame Wurzeln und ähnlich Institutionen. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist also nicht Ausdruck von Fremdherrschaft, sondern gemeinschaftlicher Verbundenheit. Daher wäre es angebracht, nicht nur gemeinsam eine Geschichte Europas zu verfassen, sondern sie auch gemeinsam zu lernen (lehren?) und zu interpretieren. Auch wenn man dabei nicht immer zur gegenseitigen Verständigung gelangt, dient der begonnene Dialog dennoch stets der Klärung der jeweiligen Einzelpositionen. Streit und Auseinandersetzung gehören zu einem derartigen Vorhaben unweigerlich dazu, und zwar sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene. Es gibt also in dieser Hinsicht nichts, was man fürchten müsste. Aus der Geschichte lernen heißt… 1. Polen betrat das 20. Jahrhundert als ein von Nachbarn aufgeteiltes Land und verabschiedete es als Bestandteil der europäischen Staatengemeinschaft. Die geographische Lage Polens kann man nicht ändern, die Geopolitik ist aber – zum und mit Glück – beeinflussbar. Der polnische Dichter Zbigniew Herbert drückte dies einst wie folgt aus: „Unsere Träume sind nicht gedemütigt worden“. Allen Realpolitikern zum Trotz übernahm die demokratische Opposition in Polen im Juni 1989 die Macht auf friedlichem Wege. Es mag paradox klingen, aber unter Wahrnehmung der politischen Verantwortlichkeit ist es den Polen gelungen, das Motto Soyons réalistes, demandons l’impossible durchzusetzen. Deutschland verhalf es zur Wiedervereinigung – das Brandenburger Tor steht offen.

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Siehe U. Becher / W. Borodziej / R. Meier (Hrsg.), Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen, Quellen, didaktische Hinweise, Hannover 2001; W. Borodziej / K. Ziemer (Hrsg.), Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949: eine Einführung, Osnabrück 2000; J. J. Lipski, Powiedzieć sobie wszystko... Eseje o sąsiedztwie polsko-niemieckim [Wir müssen uns alles sagen... Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft], hrsg. v. G. Ziegler, Gliwice-Warszawa, zweisprachige Ausgabe 1996. 4 Siehe näherhin , Berlin 2003.

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Manchmal kommt das Licht eben auch ex oriente (wobei der rechtsstaatliche Beitrag des abendländischen Europas nicht in Vergessenheit geraten darf). Früher sprach man von der Teilung Europas. Nach 1989 hat man von der Rückkehr Polens nach Europa gesprochen. In der Realität waren es nicht Polen oder die neuen Bundesländer, die nach Europa zurückkehrten, sondern Europa nahm eine neue Gestalt an. Wenn man auf die Landkarte blickt – und dies von Westen nach Osten – kann man von einer Erweiterung der EU oder der NATO sprechen. Umgekehrt aber – von Osten nach Westen – erweitert sich keine Struktur, sondern Europa vereinigt sich. Es handelt sich also um eine Erweiterung und eine Vereinigung zugleich. „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“. Papst Johannes Paul II. sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Europa mit zwei Lungen atmet – der östlichen und der westlichen. Auch wenn in dem sich integrierenden Europa Teilungen vorhanden sind, haben sie einen ganz anderen Charakter – der Teilungsfaktor ist nicht mehr der Stacheldraht. 2. Die EU-Osterweiterung hinterließ nach 1989 ihre Spuren auch in Form von „Geschichtserweiterung“. Dabei zeigte sich rasch, wie unvorbereitet die Westeuropäer in politischer und mentaler Hinsicht auf die Befreiung des östlichen Teils des Kontinents von kommunistischer Herrschaft gewesen waren. Daher besteht eines der vorrangigsten Probleme derzeit weniger darin, zu einem gemeinsamen Bild der europäischen Geschichte zu gelangen, sondern vielmehr im Willen, die Geschichte und das historische Gedächtnis der unlängst von Europa geopolitisch getrennten Nationen kennen zu lernen. Aus Sicht der neuen EU-Mitglieder macht sich in diesem Zusammenhang eine eigentümliche Selektivität und Asymmetrie bemerkbar, was keineswegs heißt, dass bei ihnen alles in bester Ordnung ist. Doch die jüngsten Erfahrungen zeugen ganz deutlich, dass man in den Staaten westlich von Oder und Neiße nicht immer versteht bzw. verstehen will, was östlich dieser Grenzlinie (in ferner und naher Vergangenheit) geschehen ist. Diese Probleme tauchen beispielsweise bei der historischen Bewertung der Konferenzen von Jalta und Potsdam auf. Weitere öffentliche Konfliktfelder lieferten die russischen Staatsfeierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes und die Relativierung der Bedeutung des Ribbentrop-Molotov-Pakts durch hochrangige Politiker und Medienvertreter Russlands. Davon abgesehen reagierten Vertreter jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik nervös auf gewisse Äußerungen Sandra Kalnietes auf der Leipziger Buchmesse im Jahre 20045. Besorgt zeigte man sich auch über die vergleichende Betrachtung von Nationalsozialismus und Kommunismus. Darüber hinaus werden neue und alte EU-Mitglieder mitunter mit zweierlei Maß gemessen. Denn dass Italien und Großbritannien den Brief der acht EU-Länder zum Irakkrieg mit unterzeichneten, galt in der europäischen Öffentlichkeit als Ausdruck der Selbständigkeit dieser beiden Staaten. Dass sich jedoch auch die Unterschrift Polens auf dem Brief befindet, wird als Beweis für die Existenz eines trojanischen Pferdes der USA angesehen. Wenn die Bundesregierung sich für die Berücksichtigung der christlichen Traditionen Europas in der Präambel des Verfassungsvertrags ausspricht, ist dies normal – wenn das gleiche von Polen verlangt wird, wird dies als Ausdruck von Bigotterie und Nationalismus betrachtet. Was soll man davon halten, dass das Europäische Parlament den Opfern von Katyn nicht einmal eine einzige Schweigeminute gewährt, aber zugleich das Gedenken an die Opfer des 2004 verübten Terroranschlags in Spanien in Ehren halten möchte? Sind die vier Jahrzehnte des kommunistischen Totalitarismus im Osten Europas nur ein lokaler, unbequemer Ballast, der den 5

„Über 50 Jahre lang ist die Geschichte Europas geschrieben worden, ohne dass wir daran teilnehmen konnten (…). Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher einen Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, dass beide totalitäre Regime - Nazismus und Kommunismus gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, nur weil eine Partei auf der Seite der Sieger gestanden hat“ (Zit. S. Kalniete, Altes Europa, Neues Europa. Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004 - http://www.die-union.de/reden/altes_neues_europa.htm)

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Westen gar nicht berührt und am besten aus dem Kollektivbewusstsein seiner Völker ausradiert werden sollte, oder bildet diese Zeit vielmehr eine wertvolle historische Erfahrung, die auch anderen Nationen weitervermittelt werden sollte? Warum schweigt man so oft über das Schwarzbuch des Kommunismus?6 Spielt bei dieser Einschätzung etwa auch das schlechte Gewissen der europäischen Linken eine maßgebliche Rolle? Andererseits beruht das Problem anscheinend nicht so sehr auf der Hierarchisierung der Totalitarismen (die diesbezüglichen Streitigkeiten), als auf ihrer Analyse und auf dem Versuch einer Garantie, dass sie sich nie mehr wiederholen. Es zeigt sich dementsprechend, dass der Holocaust und die Zwangsaussiedlung von Bevölkerungsteilen ganz allgemein als Medien der Europäisierung behandelt werden, ohne an die spezifischen Erfahrungen des Kommunismus zu erinnern. Doch auch wenn man das diesbezügliche Blickfeld erweitern würde, sollte das europäische historische Gedächtnis nicht ausschließlich auf negativen Phänomenen basieren, sondern auch eine affirmative Dimension besitzen. Ein Publizist aus Polen stellte kürzlich treffend fest, dass ein EU-Kommissar für Völkerpsychologie leicht beweisen könnte, dass er sein Geld nicht mit Nichtstun verdient. 7 Polen-Deutschland-Russland 1. Die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989 werfen ein helles Licht auf die Virulenz einiger historischer Streitigkeiten und illustrieren zugleich die zahlreichen gelungenen Versuche zu deren Überwindung. Die Geschichte dieser beiden Völker ist recht kompliziert, was angesichts ihrer geographischen Nachbarschaft überhaupt nichts Ungewöhnliches ist. Belastend wirken insbesondere die letzten 200 Jahre, darunter der Zweite Weltkrieg und die danach entstandenen Kontroversen im politischen und rechtlichen Bereich.8 Nach 1989 kam es jedoch zu einer radikalen positiven Veränderung. Der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski drückte bereits Anfang der 1990er Jahre die Hoffnung aus, dass es eine deutsch-polnische Interessengemeinschaft gebe, die aber vom guten Willen beider Partnerländer abhänge. Diese Interpretationslinie wird in Polen zu Unrecht immer wieder als Ausdruck der Unterwerfung unter deutsche Vorherrschaft angeprangert, wobei diese Kritik u.a. in rein historisch verhafteten Vorstellungen und Emotionen wurzelt. In Polen ist oftmals der Vorwurf zu hören, dass dem wiedervereinigten Deutschland der Willen fehle, sein östliches Nachbarland als wirklichen Partner zu behandeln und dass man in Berlin nach alleiniger Dominanz in der EU strebe. Außerdem werden in der polnischen Öffentlichkeit immer wieder Klagen über in der Bundesrepublik zu beobachtende neue Tendenzen bei der Interpretation der jüngsten Geschichte Deutschlands laut. Beunruhigend wirken ferner die Anzeichen allzu enger Kontakte zwischen Berlin und Moskau unter den Auspizien eines latenten Antiamerikanismus. Ohne auf den tatsächlichen Wahrheitsgehalt dieser Auffassungen und Meinungen einzugehen, sei an dieser Stelle nur an deren Existenz erinnert, was für die Politik nicht ohne Bedeutung ist.9 Angesichts dessen ist der politische Dialog zwischen Warschau und Berlin schon seit einigen Jahren zunehmend schwieriger geworden. Daher sollte dringend über eine Intensivierung dieses Dialogs nachgedacht werden. Im folgenden sollen einige der wichtigsten, derzeit virulenten Hauptaspekte der deutsch-polnischen Geschichtskontroversen in aller Kürze vorgestellt werden.

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S. Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. 1998. J. Reiter. Podzielona pamięć zjednoczonej Europy [Geteiltes Gedächtnis des vereinten Europa], „Tygodnik Powszechny” v. 20.03.2005. 8 Siehe dazu näherhin J. Kranz, Polen und Deutschland: getrennte oder gemeinsame Wege der Geschichtsbewältigung? Juristisch-politische Bemerkungen aus polnischer Sicht, aus der Reihe: Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung, September 2005, Heft 61 - http://library.fes.de/pdf-files/historiker/02971.pdf 9 Näher dazu Z. Krasnodębski, Zmiana klimatu [Änderung des Klimas], Kraków 2006. 7

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2. Polen und Westdeutschland erlebten nach 1945 die Kriegsfolgen und die neue Realität des Kalten Krieges in völlig unterschiedlicher Weise. Getrennt durch den „Eisernen Vorhang“, nahmen beide Staaten oftmals eine feindselige Haltung gegeneinander ein. Dabei machten sich auch bestimmte Anzeichen einer historischen Psychologie bemerkbar. So wurde z.B. Frankreich von Deutschland trotz zahlreicher Konflikte in der Vergangenheit stets mit einer gewissen Wertschätzung behandelt, die in den politischen Traditionen dieses Landes wurzelt. Nach dem Kriege erfolgte die politische Annäherung dieser beiden Nationen im Rahmen einer freien Marktwirtschaft, unterlag einem demokratischen Prozedere und wurde vor allem durch die gemeinsame Mitgliedschaft in euroatlantischen Bündnissen strategisch zementiert. Die Nachkriegslage der deutsch-polnischen Beziehungen war diametral unterschiedlich. Der Osten Europas erschien vielen Deutschen bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als unzivilisierte, rückständige Großregion („Polnische Wirtschaft“, „Saisonstaat“), in der deutsche Siedler eine wichtige Kulturmission zu erfüllen hatten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges dachte man beim Stichwort „Polen“ unweigerlich an den Verlust der deutschen Ostgebiete und die damit verbundenen Zwangsaussiedlungen sowie an die Grenzfrage. Das stereotype Bild eines Landes, das von politischem Nationalismus und religiösem Fanatismus beherrscht wird, geriet zwar nach 1989 ins Wanken, aber trotz der demokratischen Wende in Polen machen sich im heutigen Deutschland wenn auch unbewusst - immer noch mentale Spuren dieses alten Denkens bemerkbar. In den letzten 200 Jahren besaß Deutschland im östlichen Europa eigentlich nur einen Partner Russland, mit dem es im Bedarfsfall auch über polnische Angelegenheiten entschied. Im Kreml kann man sich indessen nur schwer daran gewöhnen, dass das heutige Russland nach Jahrhunderten der Statthalterschaft in Warschau nunmehr auch gegenüber Polen (Ungarn oder den baltischen Republiken) eine separate Außenpolitik betreiben muss. Die deutsche Politik gegenüber Ostmitteleuropa unterlag stets der Tendenz, diese im Kalten Krieg vernachlässigte Großregion als natürliche Interessensphäre Russlands bzw. der UdSSR zu betrachten10. Die westdeutsche Nachkriegspolitik ging von Anfang an davon aus, dass man zur Linderung der schmerzhaften Folgen der Teilung Deutschlands eine politische Annäherung mit Moskau anstreben musste. Zu diesem Zweck durfte die hegemoniale Stellung der Sowjetunion in Mittel- und Osteuropa keineswegs angetastet oder auch nur theoretisch in Frage gestellt werden. Diese ungeschriebene Maxime deutscher Außenpolitik spiegelte sich zuletzt auch im Zusammenhang mit dem geplanten Bau einer Gasleitung durch die Ostsee und angesichts der „orangefarbenen“ demokratischen Revolution in der Ukraine wider. Eine leicht abgewandelte Variante dieser Politik repräsentiert die russische Diplomatie unter Putin („lupenreiner Demokrat“): Demokratische Aufbruchsbewegungen in der Ukraine oder in Georgien dürfen keinesfalls unterstützt werden, da dies einer Provokation Russlands gleichkäme! Zu frisch ist unter den Polen die Erinnerung darüber, dass die Verständigung des Westens mit Russland in der Vergangenheit oftmals auf Kosten der polnischen Staatsräson ging. Das deutschpolnisch-russische Dreieck gehört jedenfalls zu den am meisten vorbelasteten geopolitischen 10

An diesen Zusammenhang erinnert H. A. Winkler, in: „Der Spiegel“, Nr. 51 v. 13.12.2004, S. 30: „Ich erinnere mich, dass ich in den achtziger Jahren von einigen sozialdemokratischen Parteifreunden gehört habe, wir seien dabei, eine strategische Partnerschaft mit Polen zu entwickeln, und dürften deswegen das polnische Kriegsrecht nicht allzu harsch kritisieren. Diese Haltung hat das Verhältnis Polens zu Deutschland nachhaltig belastet. Aus einem falsch verstandenen Dogma vom Vorrang der Stabilität kann man für die Gegenwart lernen. Wir sollten uns nicht abermals zu Gefangenen eines verkürzten Verständnisses von Realpolitik machen. [...] Es gibt Traditionen im deutschen politischen Denken, wonach ein gutes Verhältnis zu Russland von so überragender Bedeutung ist, dass Wünsche nach Unabhängigkeit in den Nachbarstaaten dahinter zurückzutreten haben. 1982 erschien ein Interviewband von Egon Bahr, und eine der Fragen darin lautete: Hätte die Sowjetunion ein Recht, in Polen zu intervenieren, wenn Polen seine Mitgliedschaft im Warschauer Pakt in Frage stellen sollte? Die Antwort lautete: ‚Aber selbstverständlich’. Das war ‚Realpolitik’ im Sinne der zweiten Phase der Ostpolitik in den achtziger Jahren. Ich finde nicht, dass wir an dieses Verständnis von Realpolitik anknüpfen sollten. [...] Wir sollten aber nicht in einer Art von vorauseilendem Gehorsam eine Neuauflage der Breschnew-Doktrin akzeptieren, wonach etwa die Ukraine oder Weißrussland nur in beschränktem Umfang ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen können.”

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Konstellationen in der neueren europäischen Geschichte. Andererseits trägt die Mitgliedschaft Polens und Deutschlands in den Strukturen der europäischen und transatlantischen Politik zur Überwindung dieser Tendenzen bei. Zentrum der Uneinigkeit Das grundlegende Problem der Bonner Außenpolitik nach 1949 bestand in der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Das geteilte Deutschland konstruierte dazu eine spezifische politisch-juristische Doktrin.11 Aus heutiger Sicht ist jedoch zu konstatieren, dass die Artikulierung der deutschen Rechtspositionen nach 1945 letztendlich nur wenig zur Wiedervereinigung Deutschlands beigetragen hat. Diese Rechtspositionen sind durch den „2+4Vertrag“ sowie durch die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenz- bzw. Nachbarschaftsvertrags in den Jahren 1990/91 im großen Teil Geschichte geworden. Bereits einige von ihnen12 lassen aber erahnen, unter welchem gewaltigen außenpolitischen Druck sich Polen in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit befunden haben muss und welche Spuren sie für die heutigen Beziehungen nachgelassen haben. In diesem Zusammenhang, einen wunden Punkt in den deutsch-polnischen Beziehungen bilden die Zwangsaussiedlungen der deutschen Bevölkerung.13 Die vom Bund der Vertriebenen geplante Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin ließ die Wogen der öffentlichen Meinung in Polen hoch schlagen. Kann man die Zwangsaussiedlungen, den Verlust der deutschen Ostgebiete und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wirklich als Racheakte und Unrecht ansehen, oder sollte man diese einschneidenden Nachkriegsereignisse nicht vielmehr als Wegetappen eines schwierigen Prozesses betrachten, in dem eine historische Abrechnung mit dem Krieg versucht wird und eine neue geopolitische Konstellation in Europa geschaffen werden soll? Es lässt sich jedoch kaum vergessen, dass die Nationalsozialisten gerade im Osten Europas den „totalen Krieg“ führten, was auch für Nachkriegsdeutschland irreversible langfristige Folgen hatte. Die Entfesselung des Krieges durch Hitler bildete den Anfang vom Ende einer Epoche. Aus polnischer Sicht geht es beim geplanten Zentrum nicht so sehr darum, vom Vergessen bedrohte historische Begebenheiten langfristig ins Gedächtnis zu rufen, sondern ein neues Bild der jüngsten Geschichte zu entwerfen. Die Reaktionen in Polen bringen manchmal vorschnell den Begriff der Schuld ins Spiel. In Wirklichkeit geht es nicht so sehr um Schuld im klassischen Sinne, geschweige denn um Kollektivschuld. Denn rechtliche oder moralische Schuld bezieht sich stets auf 11

Näher dazu J. Kranz (wie Anm. 8). Die Hauptpunkte der Rechtspositionen lauteten im einzelnen wie folgt: 1) Infragestellung der Potsdamer Beschlüsse von 1945: Die Entscheidung der Siegermächte über die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung und demzufolge auch die Enteignung deutschen Vermögens verstießen gegen geltendes Völkerrecht. Die Festlegung der Westgrenze Polens war für Deutschland rechtlich nicht bindend, da die deutsche Seite an diesem Abkommen nicht beteiligt war; 2) Offenhaltung der sog. deutschen Frage bis zu einer Friedensregelung mit Deutschland als Ganzem; These von der Bundesrepublik als alleiniger Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937; 3) Provisorischer Charakter der Westgrenze Polens bis zur Friedensregelung mit Gesamtdeutschland. Daher besitzt Polen über die in Potsdam zuerkannten neuen West- und Nordgebiete lediglich eine Gebietshoheit, aber keine Souveränität; 4) Der Warschauer Vertrag von 1970 bedeutet lediglich den Verzicht auf eine gewaltsame Grenzveränderung. Daher stellt er bis zur Wiedervereinigung Deutschlands unter den Auspizien der Alliierten nur einen modus vivendi dar. Bis zu diesem Zeitpunkt hat diese Grenze keinen endgültigen Charakter und ist für ein zukünftiges Gesamtdeutschland in rechtlicher Hinsicht nicht bindend; 5) Offenhalten von den sog. Vermögensfragen im Zusammenhang mit der Zwangsaussiedlung und Enteignung der deutschen Bevölkerung kraft der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz. 13 Siehe dazu auch J. Kranz, Wunden, Wahrheiten und Narben, in: J. Kranz / K. Bachmann (Hrsg.), Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen, Bonn 1998. Zur Vergebungsproblematik S. Wiesenthal, Die Sonnenblume, Gerlingen 1982. 12

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konkret handelnde Einzelpersonen der Geschichte. Die weitreichenden Folgen des Zweiten Weltkrieges sind hingegen im Rahmen der politischen Verantwortung Deutschlands als Staat und Nation zu sehen. Die Kategorie der politischen Verantwortung kennt keine individuelle Unterteilung in Schuldige und Unschuldige. Jedes Volk teilt unweigerlich das Schicksal seines Staates in Kriegsund Friedenszeiten. Nach jedem verlorenen Krieg leidet die Bevölkerung des Aggressorstaates, da dessen Territorium oft zerstört ist. Außerdem werden ihm gewisse Reparationszahlungen auferlegt, für die schuldige und unschuldige Menschen aufkommen müssen. Es gibt Augenblicke im Leben einer Nation, in denen allein schon das Schweigen zu einer historisch-politischen Mitverantwortung für Leid und Unrecht führt (dies betrifft auch die kommunistischen Regime). Zahlreiche Polen und Deutsche haben differierende Auffassungen über den Opferbegriff. Aus polnischer Sicht bestehen unter den Opfern von Gewalt deutliche Unterschiede. Sowohl im Bereich ihrer Schuld als auch in bezug auf ihre Verantwortung sind Täter oftmals zugleich auch Opfer. Der deutsch-polnische Streit betrifft die Gleichsetzung der Opfer trotz völlig unterschiedlicher Begleitumstände. Die daraus resultierenden Denkschemata lauten wie folgt: Wir haben Unrecht begangen, Ihr auch. Ihr habt infolge des von uns ausgelösten Krieges und der Okkupation gelitten und wir durch Eure Bombardierungen und Zwangsaussiedlungen. Ähnlich wie jüdische Kinder unter dem Holocaust leiden mussten, litten auch die Kinder von vertriebenen Deutschen aus dem Osten. Die ethnischen Säuberungen in Schlesien fanden zuletzt auch im früheren Jugoslawien statt. Man neigt also dazu, das Schicksal der vertriebenen Deutschen mit dem traurigen Los der KosovoAlbaner und nicht mit der Rolle der Serben Ende der 1990er Jahre zu identifizieren. Dabei wird die von Tadeusz Mazowiecki einst gestellte „Gretchenfrage“ oftmals ganz übergangen: Waren die Zwangsaussiedlungen Ursache oder Folge des Krieges? Für derartige Thesen gibt es in Polen wenig Akzeptanz, da dabei Ursachen und Folgen miteinander verwechselt werden. Nichtsdestotrotz herrscht in Polen derzeit allgemeiner Konsens darüber, dass die Zwangsaussiedlung der Deutschen nach 1945 für viele Betroffene eine große Tragödie bedeutete. Dennoch hält man die politische Entscheidung der Siegermächte über Grenzänderung und Zwangsaussiedlung keineswegs für ein Verbrechen. Die Haltung zu diesen Fragen ist in Polen und anderen Ländern einheitlich. Die beiden polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski und Władysław Bartoszewski formulierten 1990 bzw. 1995 gegenüber der Bundesrepublik keine nationale Entschuldigung für begangenes Unrecht, sondern drückten vielmehr ihr tiefes Bedauern und Mitgefühl für das leidvolle Schicksal der zwangsweise ausgesiedelten Deutschen aus.14 Aus polnischer Sicht beruht der Vorwurf der Geschichtsklitterung nicht auf der Annahme, dass das geplante Zentrum gegen Vertreibungen bestimmte historische Fakten oder Quellen in verfälschter Form wiedergeben möchte. Der Vorwurf basiert vielmehr auf der Überzeugung, dass die Initiatoren des Projekts die Absicht hegen, diese Fakten für politische Zwecke zu manipulieren.15 Es geht letztendlich nicht darum, welche zeitgenössischen Quellen in einem derartigen Museum gezeigt werden, sondern in welcher Form und zu welchem Zweck dies geschieht.

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Siehe dazu J. Kranz / K. Bachmann (Hrsg.), Verlorene Heimat (wie Anm. 13). M. A. Cichocki / D. Gawin, Nowa przeszłość Niemiec [Die neue Vergangenheit Deutschlands], „Rzeczpospolita”, v. 4.-5.11.2006: „Der für das Verständnis des Problems unerlässliche Schlüsselbegriff, den Steinbach um jeden Preis unter der Decke der political correctness versteckt halten möchte, ist der totale Krieg im Osten Europas. – Denn eben dort fand der Holocaust statt, dort betrieben die Deutschen gegenüber den Polen eine Politik des totalen gesellschaftlichen Umbaus (Vernichtung miteingeschlossen), dort kam es in riesengroßen Gebieten zum Krieg mit der Sowjetunion, der in seinen Ausmaßen und an Grausamkeit auf beiden Seiten alles übertraf, was sich bislang in der Geschichte ereignet hatte. Eben dort kam es um die Jahreswende 1944/45 zur ‘Katastrophe des deutschen Ostens’, deren Symbol das damalige ostpreußische Nemmersdorf wurde.” 15

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Polen und Deutsche – vom Drang nach Osten zur Osterweiterung Die historische Bürde in den polnisch-deutschen Beziehungen besteht nicht nur aus der strittigen Interpretation von Fakten (oder Rechtsakten) und ihrer unterschiedlichen Auslegung, sondern zum großen Teil auch aus Emotionen. Die Streitfragen werden oftmals für innenpolitische Zwecke als Ersatzthemen missbraucht, die letztlich aus den Schwächen und Unzulänglichkeiten auf anderen Gebieten der deutsch-polnischen Zusammenarbeit resultieren. Sie resultieren ferner aus der Tatsache, dass bestimmte Argumente und Emotionen des Partners schlicht ignoriert werden. Beide Seiten können ihre jeweilige Haltung mehr oder weniger gut begründen. Die vornehmlichste Aufgabe der Politik besteht jedoch darin, ein dauerhaftes Gegengewicht zu den radikalen Stimmen (auf beiden Seiten) zu schaffen. Die Benennung der Missstände in den deutsch-polnischen Beziehungen schmälert aber den gewaltigen historischen Umbruch von 1989/90 nicht im geringsten. Dieser radikale positive Wandel im deutsch-polnischen Verhältnis hat ganz konkrete Ursachen. Ein wichtiges Element war und ist die Existenz europäischer Strukturen (EU, NATO). Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten aber auch der Mut und die Risikobereitschaft, die sowohl gegenüber der kommunistischen Staatsgewalt als auch in Form von politischen Gesten und Maßnahmen an den Tag gelegt wurden. Zu diesen Gesten gehören sicherlich die Briefe und Denkschriften der Kirchen Polens und Deutschlands, wobei insbesondere der Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder aus dem Jahre 1965 zu erwähnen ist. Auf deutscher Seite fällt vor allem die mutige Politik von Willy Brandt (sog. Ostpolitik) ins Auge. In den Jahren 1989-90 verstand Bundeskanzler Kohl, dass die Vereinigung Deutschlands nur unter der Bedingung einer weiteren Verfestigung der bestehenden europäischen Strukturen vollzogen werden konnte. Darüber hinaus fand die Regelung der strittigen Fragen zwischen Polen und dem sich wiedervereinigenden Deutschland nicht nur in Anlehnung an bilaterale Vereinbarungen, sondern auch unter deren Einbindung in europäische Rahmenverträge und Rechtsstandards statt (Grenzanerkennung, Problem der nationalen Minderheiten). Beide Völker haben bereits zahlreiche Wegetappen in ihrer Geschichte zurückgelegt. Man denke nur an Stichwörter wie Drang nach Osten, Ostforschung, Generalgouvernement, Generalplan Ost, Ostfront, Ostblock, Ostkunde, Ostpolitik, Ostverträge oder Osterweiterung. Heute befinden sich Polen und Deutsche in einer historisch einmaligen Situation: Beide Länder gehören zu einem gemeinsamen transatlantischen Militärbündnis und sind eng mit den politischwirtschaftlichen Strukturen der EU verflochten. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass man in den deutsch-polnischen Beziehungen trotz der bestehenden Unterschiede bei der Bewertung der Geschichte von einem Erfolg der Politik beider Staaten sprechen kann, der zugleich ein Erfolg der europäischen Politik ist. Einige historische Probleme werden wohl auch weiterhin strittig bleiben, wobei eine uneingeschränkte Verständigung nur schwer zu erreichen ist. Wichtig ist jedoch, dass sich diese Streitfragen nicht negativ auf die laufende Tagespolitik auswirken, was insbesondere die Konzepte zur Weiterentwicklung der europäischen Integration betrifft. In dieser Hinsicht erscheint es unerlässlich, bessere nationale und europäische Rahmenbedingungen für die Erörterung der strittigen Probleme zu schaffen und endlich vom Monolog zum Dialog überzugehen! Es stimmt jedenfalls zuversichtlich, dass man sich heute über diese Themen in einem anderen Geist und vor dem Hintergrund anderer internationaler Realitäten als früher unterhalten kann. Es lohnt also, miteinander ins Gespräch zu kommen!

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