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m Ende des Ersten Weltkriegs schien sich in ganz Europa die Demokratie als Staatsform durchgesetzt zu haben. Doch die neuen Systeme hatten nicht lange Bestand: Die Machtübernahme des Faschismus in Italien (1922) und der Untergang der Weimarer Republik durch die »Machtergreifung« des Nationalsozialismus in Deutschland (1933) stellten nur die spektakulärsten Beispiele für den Kollaps parlamentarischer Regierungsformen dar.

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Boris Barth untersucht die tieferen Ursachen und strukturellen Defizite, die zum Niedergang der europäischen Demokratien in der Zwischenkriegszeit führten. Seine problemgeschichtlich angelegte, hellsichtige Analyse umfasst dabei alle wichtigen Themenfelder der Zwischenkriegszeit – vom Versailler Vertrag über den Revisionismus und die Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs bis hin zur Weltwirtschaftskrise.

ISBN 978-3-593-50521-3

€ 34,95 [ D ] € 36,00 [  A ]

Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg, Amsterdam/Berlin Umschlagmotiv: »Stützen der Gesellschaft« (1926; Berlin, Nationalgalerie), Gemälde von George Grosz © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Bildarchiv: akg-images

Europa nach dem GroSSen Krieg

Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Zuvor war er u.a. an der Fernuniversität Hagen, an den Universitäten Düsseldorf und Prag sowie an der Jacobs-University, Bremen, tätig. Seine Forschungsinteressen betreffen vor allem die Geschichte des europäischen Finanzimperialismus und der Banken, die Geschichte von Rassismus, Völkermord, Genozidtheorien, Zivilisierungsmissionen und Theorie der Globalgeschichte sowie die Geschichte der Demokratie.

Infolge des Ersten Weltkriegs veränderte sich die politische Landkarte Europas erheblich. Mit ÖsterreichUngarn, Russland und dem Osmanischen Reich brachen drei Vielvölkerstaaten zusammen; zudem stürzten 1918/19 in zahlreichen Ländern die monarchischen Ordnungen. Deren Stelle nahmen demokratisch gewählte Regierungen ein, die in den Zwanzigerjahren jedoch oft nur eine prekäre politische und ökonomische Stabilität erreichten. So bestanden vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939) in Europa demokratische Systeme nur noch in den BeneluxStaaten, in Skandinavien und der Schweiz, in Großbritannien, der Tschechoslowakei und Frankreich. In Ungarn, Polen und im Baltikum, in Italien, Spanien und Portugal, in Österreich und Deutschland waren sie dagegen gescheitert und hatten autoritären oder faschistischen Regimen Platz gemacht.

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Europa nach dem GroSSen Krieg Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938

Wie konnte es zu dieser destruktiven Dynamik kommen, die zunächst Europa und schließlich große Teile der Welt in den Abgrund riss? Boris Barth benennt und analysiert in diesem Buch in sechs Themenblöcken die übergreifenden Trends, die bei der Abkehr vom Parlamentarismus in ganz Europa wirksam wurden. Seine systematische, konsequent vergleichende Herangehensweise macht dabei neue Zugänge zur europäischen Geschichte – nicht nur der Zwischenkriegszeit – sichtbar.

Einführung

1918– 1921 1920 1922

1925 1926 1926 1926

1929

Januar 1933 März 1933 1934 1934 1934/ 1935 1936 1936 1938

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Bürgerkrieg in Russland, Sieg der Bolschewiki, Gründung der Sowjetunion Etablierung einer rechtsgerichteten Diktatur in Ungarn durch Admiral Miklós Horthy, Liberalisierungstendenzen in den 1920er-Jahren Machtübertragung auf Benito Mussolini nach dem mythisch verklärten »Marsch auf Rom«, Abschaffung der Demokratie in Italien, Entstehung eines faschistischen Staates Errichtung eines autoritären und nationalistischen Regimes in Albanien unter dem Warlord und Präsidenten Achmed Zogu (seit 1928: König Zog) Militärputsch in Litauen durch Präsident Antanas Smetona, in den 1930er-Jahren Entwicklung hin zu einer Diktatur Entmachtung des Parlamentes in Polen zugunsten einer faktischen Diktatur von Marschall Józef Pilsudski, der aus dem Hintergrund agiert Putsch in Portugal, 1932/33 Ablösung der Militärdiktatur durch António de Oliveira Salazar, der sich am faschistischen Ständestaat orientiert (1917/18 bestand in Portugal bereits eine Diktatur) Staatsstreich in Jugoslawien und Ablösung des SHS-Königreichs (Država Slovenaca, Hrvata i Srba – »Staat der Slowenen, Kroaten und Serben«), Einführung einer serbischen »Königsdiktatur« durch König Alexander »Machtergreifung« des Nationalsozialismus im Deutschen Reich nach systematischer Unterminierung der parlamentarischen Demokratie seit 1930, die de facto seit Sommer 1932 nicht mehr bestand Staatsstreich durch Engelbert Dollfuß in Österreich, Einführung des austrofaschistischen Systems Staatsstreich durch Karlis Ulmanis in Lettland, Einführung einer autoritären Diktatur Staatsstreich und autoritäre Diktatur durch Konstantin Päts in Estland Autoritäre Diktatur von Oberst Georgiev und Zar Boris III. in Bulgarien (zeitweise noch eingeschränkt freie Wahlen zum Parlament) Putsch einer Militärclique gegen die Republik in Spanien, Eskalation zum Bürgerkrieg, 1939 Sieg der Francisten (nach gemäßigter Militärdiktatur 1923 und 1930/31) Militärischer Staatsstreich in Griechenland und Etablierung einer Diktatur unter General Ioannis Metaxas, König Georg II. bleibt im Amt Autoritäre Diktatur König Carols II. in Rumänien

Tabelle 1: Diktaturen in Europa (1918–1938)

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Europa nach dem Großen Krieg

Ferner zeigt die Tabelle, dass die Weltwirtschaftskrise nach 1929 für die Geschichte der Demokratie keine entscheidende Zäsur bildete. Die Weichen waren in großen Teilen Europas bereits in Richtung von autoritären Regimen gestellt worden, wie in diesem Buch in einem Kapitel ausführlich erläutert wird. Die Weltwirtschaftskrise wirkte dann aber als Katalysator, der seit langem bestehende Trends drastisch verstärkte bzw. beschleunigte. Dies gilt auch für Deutschland: Die sogenannte »Machtergreifung« des Nationalsozialismus im Januar 1933 war selbstverständlich vermeidbar, aber bereits seit 1928 arbeiteten einflussreiche Eliten in Politik und Wirtschaft zielstrebig an der Etablierung eines autoritären Regimes. In der Zeit vor 1914 schien vielen Beobachtern aus dem liberalen und dem sozialdemokratischen Lager der langsame, evolutionäre Weg in eine – modern gesprochen – freiheitliche, liberale und demokratische Zivilgesellschaft in Europa vorprogrammiert zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Geschichte jedoch einen ganz anderen Lauf. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren Demokratien in Europa selten geworden. Neben den kleinen Benelux-Staaten, den politisch wenig bedeutsamen skandinavischen Staaten und der Schweiz bestanden stabile politische Systeme nur noch in Großbritannien, in der Tschechoslowakei und in Frankreich. Selbst die französische Dritte Republik konnte sich zu Beginn der 1930erJahre nur mit Mühe der Bedrohung von rechts erwehren. Auch wenn der Zusammenbruch von demokratischen Systemen unterschiedliche Ursachen besaß, so kann es doch auch kein Zufall sein, dass besonders diejenigen Staaten betroffen wurden, die – mit Ausnahme Spaniens – als Kombattanten am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten oder als Folge des Zusammenbruchs der multinationalen Imperien nach dem Ersten Weltkrieg neu entstanden waren. Deshalb muss eine Analyse bei denjenigen Problemen ansetzen, die der Erste Weltkrieg hinterließ und die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht gelöst wurden. Demokratische Zeitgenossen standen der antiparlamentarischen Herausforderung mit einiger Ratlosigkeit gegenüber, erkannten aber häufig, dass es sich um ganz neue Trends handelte, für die es in der Geschichte kaum oder keine Vorbilder gab. Graf Carlo Sforza, der 1927 Italien verlassen musste und ins Exil ging, hob 1932 das Neuartige der Situation hervor: Mit der Ausnahme Russlands habe es vor dem Ersten Weltkrieg keine autokratischen Systeme gegeben. Selbst im Deutschen Reich seien Pressefreiheit und das Parlament geachtet worden, und im feudalen Österreich-Ungarn hätten die lokalen Landtage eine Reihe von Freiheiten gesichert. Die neue Welle von

Ulster Belfast

Nordsee

Amsterdam

Helsinki Leningrad

EN M e m e l LIT A UKaunas Kopenhagen Freie Stadt Wilna Danzig KönigsKiel berg Hamburg Brest-Litowsk Berlin Warschau

Riga

Madrid

Fes

(S pan.-Marokko)

ER-RIF

Gibraltar (brit.)

SPANIEN

0 100 200 300 km

(franz. Protektorat)

MAROKKO

Tanger (internat./ 1924 neutralisiert)

Lissabon

PORTUGAL

(franz.)

ALGERIEN

Tunis

(ital.)

Belgrad

Tirana

Malta (brit.)

Ägäis

Sofia

Mittelmeer

Kreta

Krim

Asowsches Meer

op

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Aleppo

es

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s

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n

(brit.)

ÄGYPTEN

PA L Ä S T I N A T R A N S JORDANIEN

(1920 brit. Mandat) A R A B I E N (1932) Jerusalem

SAUDI-

(brit. Mandat)

IRAK

(1920 franz. Mandat)

am

Kurdistan

rm

SYRIEN

M

A

Kaukasu

Zypern (brit.) L I B A N O N (franz. Mandat)

TÜRKEI

Ankara

(1923 Republik)

Konstantinopel

Schwarzes Meer

Odessa

Dodekanes Rhodos (ital.) (ital.)

Athen

Moskau

UNION DER SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIKEN (UdSSR) Kiew

BULGARIEN

Bukarest

GRIECHENLAND

ALBANIEN

Adria

JUGOSLAWIEN

TRIPOLITA N I E N

(franz. Protektorat)

TUNESIEN

Mittelmeer Algier

Rom

ITALIEN

Triest Fiume

Den Haag DEUTSCHES REICH Neue Staaten POLEN Brüssel Köln Deutsche Gebietsverluste BELGIEN Lemberg Prag Paris Grenzen seit 1923 TSCHECHOSLOWAKEI L U X E M Versailles BURG Militärische Konflikte München Wien Budapest der Nachkriegszeit ÖSTERUNGARN RUMÄNIEN R E I C H FRANKREICH SCHWEIZ (1919 –1922/23)

London

Stockholm

Tallinn

FINNLAND

EST LA N D Ostsee LETT LA N D SCHWEDEN

DÄNEMARK

Kristiania/ Oslo

NORWEGEN

GROSSBRITANNIEN UND NORDIRLAND (1921) Dublin NIEDERLANDE

FREISTAAT IRLAND

Atlantischer Ozean

Europa nach 1918

Einführung

17

Karte 1: Grenzverläufe und militärische Konflikte in Europa nach dem Ersten Weltkrieg

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Europa nach dem Großen Krieg

Diktaturen versuchte er analog zur repressiven Atmosphäre zu erklären, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach der Restauration durch die Heilige Allianz geherrscht hatte. Wie nach 1815 sei nach dem Ersten Weltkrieg eine Sehnsucht nach Stabilität spürbar, die die Unterdrückung liberaler Bewegungen fördere.7 Allerdings konnte Sforza zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen, dass im Gegensatz zu den Jahren nach dem Wiener Kongress die neuen Diktaturen keineswegs Stabilität in das internationale System bringen würden – das Gegenteil war der Fall.

1.3 Ein Dreißigjähriger Krieg? Niemand bestreitet ernsthaft, dass der Erste Weltkrieg zumindest in Europa eine scharfe Zäsur darstellte. Sehr viel schwieriger ist es aber, den Charakter dieser Zäsur präzise einzuschätzen. Zunächst ist der Begriff Weltkrieg in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens fand sich diese Bezeichnung fast nur in Deutschland. In England, Frankreich oder Italien wurde stattdessen von dem »Großen Krieg« gesprochen. Zweitens handelte es sich nicht um einen Weltkrieg, sondern um einen europäischen Krieg, der in der Welt ausgetragen wurde. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zum Zweiten Weltkrieg dar, vor dessen Beginn die globale Führungsrolle Europas bereits stark infrage gestellt worden war. Viele Probleme, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit auftraten und die zur Destabilisierung zahlreicher europäischer Gesellschaften beitrugen, sind nur verständlich, wenn man den Einschnitt des Weltkrieges, sein spezifisches Ende und einige seiner direkten Folgen in die Betrachtung einbezieht. Zwar ist unter Historikern umstritten, ob der Erste Weltkrieg wirklich der erste »totale« Krieg der Weltgeschichte war, doch markiert er zumindest für Europa einen eindeutigen Einschnitt.8 Zuvor hatte es einen derartigen Zivilisationsbruch noch niemals gegeben, sieht man von den verheerenden Folgen der frühneuzeitlichen Religionskriege ab, die aber räumlich viel begrenzter verliefen. Der Erste Weltkrieg war der erste vollständig industrialisierte Krieg der Geschichte, der nicht nur an der Front, sondern auch in der Heimat entschieden wurde: Jeder zivile Lebensbereich wurde einbezogen. Seit langem wird darüber diskutiert, ob der Erste und der Zweite Weltkrieg zwei Eckpunkte einer Epoche zwischen 1914 und 1945, eines zweiten

Einführung

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Dreißigjährigen Krieges markieren. Schon 1942 hat der deutsche Politologe Sigmund Neumann, der in die USA emigriert war, vorgeschlagen, diese drei Jahrzehnte als einheitliche Periode, als zweiten dreißigjährigen Krieg zu betrachten. Hinterfragt wurde die These des Dreißigjährigen Krieges dann vor allem durch Eric Hobsbawm. Auch Stanley Payne vertritt die Ansicht, dass eine unzulängliche Friedensvereinbarung nur einen bewaffneten Waffenstillstand hervorgebracht habe, die 20 Jahre später zu einem noch zerstörerischeren Krieg geführt habe. Programmatisch überschreibt James J. Sheehan ein Buchkapitel als zwanzigjährigen Waffenstillstand. Besonders Arno J. Mayer vertritt programmatisch die These eines Dreißigjährigen Krieges seit 1914, der letztlich zu Auschwitz, Treblinka und den anderen Vernichtungszentren des Nationalsozialismus geführt habe. Mayer hebt hervor, dass der Völkermord an den europäischen Juden den Höhepunkt einer der gewalttätigsten Jahrhunderthälften in der Geschichte der Menschheit dargestellt hätte. Das Zeitalter der europäischen Katastrophe sei durch eine eklatante Instabilität und einen enormen Druck in allen Lebensbereichen geprägt gewesen. Es habe sich um eine Zeit der extremen Spannungen zwischen den Kräften der Veränderung und denen der Beharrung, zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen Endzeit und Neubeginn gehandelt.9 Gegen den Begriff der Zwischenkriegszeit ist ferner eingewendet worden, dass dieser eine Einheitlichkeit vorgaukele, die dem Kontrastreichtum der Periode nicht angemessen sei. Zudem ist dieser Begriff von den späteren Generationen geprägt, denn von einer Zwischenkriegszeit konnte man frühestens seit 1939 reden. Auch kursiert der Begriff des europäischen Bürgerkrieges, um das Konfliktgeflecht zwischen klassischen Kriegen, Revolutionen, Bürgerkriegen, nationalen Befreiungskriegen, Völkermorden und anderen Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu klassifizieren.10 Der Begriff des Bürgerkrieges in der europäischen Völkerfamilie wurde zum ersten Mal 1919 von Keynes in polemischer Absicht gegen den Versailler Vertrag verwendet. Keynes warf den Westmächten vor, mit diesem Frieden das bereits erschütterte europäische System weiter zu zerstören.11 Allerdings ist einzuwenden, dass 1914 oder 1918 fast kein Franzose, Deutscher oder Engländer ernsthaft von einem Bürgerkrieg gesprochen hätte, weil die Kategorie des Nationalen alles überwölbte. Der Terminus »Bürgerkrieg« ergibt nur einen Sinn, wenn man ihn auf das Feld der Kultur beschränkt und die Existenz einer einheitlichen europäischen Kultur vor 1914 konstatiert, die im Ersten Weltkrieg zerbrochen ist.