PROF. DR. MED. STEFFI G. RIEDEL-HELLER, MPH UNIVERSITÄT LEIPZIG
Auftaktveranstaltung Psychisch krank und mitten im Arbeitsleben? Donnerstag, den 9. Oktober 2014
DIE BEDEUTUNG VON ARBEIT
Was bedeutet Arbeit für den Menschen? bewusstes, zielgerichtetes Handeln des Menschen zum Zweck der Existenzsicherung ……..(Brockhaus)
Ein Einkommen gibt uns mehr Möglichkeiten, darüber zu entscheiden, was wir kaufen, wo wir wohnen und erlaubt es uns, Rücklagen zu bilden.
Für die meisten von uns ist Arbeit ein Teil unserer Identität.
Arbeit gibt Struktur und feste Abläufe.
Arbeit schafft soziale Kontakte und Zugehörigkeitsgefühl.
Arbeit ist ein Weg, einen Beitrag zu leisten – etwas von Bedeutung zu schaffen.
Köhler, K und Steier-Mecklenburg: Arbeitstherapie und Arbeitsrehabilitation - Arbeitsfelder der Ergotherapie 2007 (Thieme)
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FOLGEN VON ARBEITSLOSIGKEIT
Die Arbeitslosen von Marienthal – ein (trauriges) “natürliches Experiment”
Die einzige Textilfabrik des Ortes, in der fast alle Männer beschäftigt sind schließt 1930.
Apathie Sozialer Rückzug Resignation WWW.DGPPN.DE
Im Fokus: Die gesundheitsförderlichen Aspekte von Arbeit
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GESUNDHEITSFÖRDERLICHE ASPEKTE VON ARBEIT
Gesundheitsförderliche Aspekte von Arbeit – in der Psychiatrie schon lange erkannt und genutzt! Früher: Eugen Bleuler (1857-1939) “Am meisten wird die Arbeitstherapie allen Anforderungen gerecht. Sie übt die normalen Funktionen der Psyche, gibt unaufhörlich Gelegenheit zu aktivem und passivem Kontakt mit der Wirklichkeit […] Sogar im akuten Stadium ist die Arbeitstherapie oft anwendbar und nützlich. Jede Anstalt sollte so eingerichtet sein, dass jedem Patienten zu jeder Zeit Arbeit angeboten werden kann.” (aus “Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien“ 1911)
GESUNDHEITSFÖRDERLICHE ASPEKTE VON ARBEIT
Heute: “Nicht-arbeitsbezogene” Resultate beruflicher Rehabilitation RCT: Berner Job-Coach-Projekt (5-Jahres-Katamnese) n
SE Unterstützte Beschäftigung/ Supported Employment
n
TVR
Sign.
Konventionelle berufliche Rehabilitationsprogramme
(teil)stationäre Behandlung % (teil)stationäre Behandlung
38 21.1%
47 46.8%
< .05
Anzahl (teil)stationärer Behandlungen (s.d.)
38 0.4 (0.9)
47 1.1 (2.1)
< .05
Dauer (teil)stationärer Behandlung Tage (s.d.)
38 38.6 (83.4)
47 94.2 (175.6)
< .05
39 6.9 (1.3)
49 6.2 (2)
n.s.
Lebensqualität WQLs
Hoffmann H, Jäckel D, Glauser S, Mueser KT, Kupper Z. Long-Term Effectiveness of Supported Employment: 5-Year Follow-Up of a Randomized Controlled Trial. Am J Psychiatry. 2014 Aug 15. doi: 10.1176/appi.ajp.2014.13070857. WWW.DGPPN.DE [Epub ahead of print]
Betroffene: Wunsch nach Arbeit & Arbeit als wichtiges Element von Recovery
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ARBEIT ALS BEDÜRFNIS
„Normale Arbeit“ – Bedürfnis für psychisch Kranke
„normal“ soziale Partner Eigene „normal“ „normale“ Wohnung Partner Eigene sein Kontakte sein Arbeit Wohnung
soziale Kontakte
Baer et al., 2000 Psychiatrieplanung BL: 287 RehaklientInnen in 12 Institutionen s.a. Reker et al., 1996; Angermeyer et al., 1999; Secker et al., 2001
ARBEIT ALS BEWÄLTIGUNGSSTRATEGIE Warum schaffen es Menschen mit Psychosen selbstbestimmt zu leben? …….Einige hinterfragen ihre Wahnvorstellungen systematisch, viele kontrollieren die Sinneseindrücke, die auf sie einstürzen, die meisten haben herausgefunden, was ihre Symptome hervorruft, und versuchen, diese Auslöser zu vermeiden…. "Aber die Technik, die die allermeisten nannten, war Arbeit", sagt Saks. Sie lenke von den Symptomen ab und gebe Selbstbewusstsein.
Prof. Elyn Saks Lehrstuhl an der Gould School of Law der University of Southern California, Saks Institute for Mental Health Law, Policy, and Ethics. Schizophrene Erkrankung, seit 30 Jahren
"Meine wissenschaftliche Arbeit hat mich gerettet", sagt sie. "Sie hält das verrückte Zeug an der Peripherie…„ http://www.ted.com/talks/elyn_saks_seeing_mental_illness
Psychisch krank und mitten im Arbeitsleben? Die Situation in Deutschland
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ARBEITSUNFÄHIGKEITSGESSCHEHEN AUFGRUND PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN Entwicklung der AU-Tage und AU-Fälle aufgrund psychischer Diagnosen 1997-2012 (Angaben pro 100 Versichertenjahre)
DAK. (2013). Gesundheitsreport 2013. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Update psychische Erkrankungen - Sind wir heute anders krank? Verfügbar unter: http://www.dak.de/dak/download/Gesundheitsreport_2013-1146388.pdf [03.03.2013].
Herr D., 37 Jahre, schizophrene Erkrankung „Man ist einfach weg vom Fenster, durch das Rentendasein ERWERBSUNFÄHIGKEIT WEGEN PSYCHISCHER STÖRUNGEN abgestempelt……… Wenn man von sich selbst nichts mehr erwartet, äh und in Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Diagnosegruppen 1993 Rente rumgeistert – ich erwarte nach eigentlich von mir auch nix- 2011 mehr jetzt, weil das, was ich wollte, ist alles gestorben….. Skelett/Muskeln/ Bindegewebe Herz/Kreislauferkrankungen Stoffwechsel/ Verdauung Man stottert – da gibt‘s ein schönes Lied: ich stottere meine Neubilbildungen Psychische Störungen Atmung Lebensrunden ab“ Haut 90.000 Nerven/Sinne Sonstige 80.000 70.000 60.000
73.273 (41%)
41% wg. Psychischer Störungen
50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0
25.432 (14%) 22.737 (13%) 17.319 (9%) 16.497 (9%) 10.445 (6%) 6.916 (4%) 5.190 (3%) 688 (1%) Quelle: Statistik der deutschen Rentenversicherung (2011)
BESCHÄFTIGUNGSSTIATUION SCHWER PSYCHISCH KRANKER Beschäftigungsraten für Menschen mit Schizophrenie, vs. Behinderungen (alle Arten) vs. schwere körperliche Behinderung
1
WERKSTÄTTEN ALS „AUFFANGBECKEN“ ?
Steigender Anteil von Psychisch Kranken in geschützter Arbeit (WfbM)
http://www.bagwfbm.de/category/34
UN-Behindertenrechtskonvention verbrieft: “das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen (…) den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen.“
Quelle: Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) vom 13.12.2006. Resolution 61/106 der Generalversammlung der UNO. In Kraft getreten am 03.05.2008.
„Erwachsene mit psychischen Erkrankungen sind eine der am stärksten ausgeschlossenen Gruppen der Gesellschaft. ..die niedrigste Beschäftigungsquote aller großen Gruppen von Menschen mit Behinderung.“ (Mental Health and Social Exclusion, UK )
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EXKLUSION
Obwohl: ……Leistungen zur Widereingliederung ins Arbeitsleben in Deutschland gesetzlich verankert sind • Berufliche Rehabilitation (Div., z.B. SGB IX §§ 33-34) • Stufenweise Wiedereingliederung („Hamburger Modell“ SGB V § 74, SGB IX § 84) • Berufliche Eingliederungsmaßnahme (SGB IX § 84) • Hilfen für Arbeitgeber für die behindertengerechte Umgestaltung von Arbeitsplätzen u.ä. (z.B. SGB IX § 34 – Kostenerstattung für Arbeitgeber bei befristeter Probebeschäftigung im Rahmen einer Reha-Maßnahme
Obwohl: ……..es eine Reihe von Angeboten gibt Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke und Behinderte (RPK), Berufliches Trainingszentrum (BTZ), Berufsförderungswerke (BFW), Berufsbildungswerke (BBW)…..
Psychisch krank und mitten im Arbeitsleben? Barrieren
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HEMMNISSE
Haltungen & Einstellungen als Barriere Strukturelle Barrieren Ökonomische Barrieren Klinische Barrieren
Working with Schizophrenia: Pathways to Employment, Recovery & Inclusion Stephen Bevan, Jenny Gulliford, Karen Steadman, Tyna Taskila Rosemary Thomas and Andreea Moise, The Work Foundation http://www.theworkfoundation.com/DownloadPublication/Report/330_Working_with_Schizophrenia.pdf
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(CHANCEN UND) BARRIEREN
Arbeitgeber Arbeitskollegen
Behandler: Psychiater, Hausärzte …. & Organisation der Versorgung
Angehörige
Gesellschaft
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NEGATIVE EINSTELLUNG ZU PSYCHISCH KRANKEN
Soziale Distanz - Veränderungen über zwei Dekaden in Deutschland (1990- 2011) Befragung zum Wunsch nach sozialer Distanz/Abgrenzung von Menschen mit psychischer Erkrankung
Antwortkategorie “würde ablehnen..” Antwortkategorie
Veränderung
Veränderung
“würde ablehnen..” Als Nachbar
Als Nachbararbeiten Zusammen Zusammen arbeiten Einem meiner Freunde vorstellen Einem meiner Freunde vorstellen Für einen Job empfehlen Für Zimmer einen Job empfehlen Ein vermieten Einmeine Zimmer vermieten In Familie einheiraten In meine Für KinderFamilie sorgeneinheiraten Für Kinder sorgen
Angermeyer, Matschinger, Schomerus (2013) BJPsych
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DISKRIMINIERUNG
Der Teufelskreis: Stigma und Diskriminierung Stigma:…ist eine gesellschaftliche Idee, die Menschen über zugeschriebene Eigenschaften (Stereotype) definiert und sie gegenüber anderen abwertet.
Unterschied festgestellt - Label wird vergeben Zusammenhang mit negativem Stereotyp hergestellt Soziale Distanz gesucht
Diskriminierung - Individuell - Strukturell - Selbststigmatisierung (Link & Phelan 2001)
In einer Studie von Baer & Fasel (2009) aus der Schweiz äußerten über 90% der befragten 166 Patienten einer psychiatrischen Tagesklinik, dass sie am Arbeitsplatz bereits einmal die Erfahrung gemacht hätten, diskriminiert worden zu sein.
(CHANCEN UND) BARRIEREN
Arbeitgeber Arbeitskollegen
Behandler: Psychiater, Hausärzte …. & Organisation der Versorgung
Angehörige
Gesellschaft
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MANGELNDER FOKUS AUF ARBEIT IM BEHANDLUNGSALLTAG
Mangelnder Fokus: Ist Arbeit frühzeitig Thema im Behandlungsalltag?
MANGELNDER FOKUS AUF ARBEIT IM BEHANDLUNGSALLTAG
Exkurs: “au“ Nur partielle Krankschreibungen? – Erfahrungen aus Norwegen
Partielle Krankschreibungen führten zu insgesamt geringen au-Zeiten und zu höheren Raten von Beschäftigung nach 2 Jahren
(CHANCEN UND) BARRIEREN
Arbeitgeber Arbeitskollegen
Behandler: Psychiater, Hausärzte …. & Organisation der Versorgung
Angehörige
Gesellschaft
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MANGELNDE INTEGRATION
Mangelnde Integration als Hemmnis: Trennung der beruflichen Rehabilitation von der mediznischen Versorgung psychisch Kranker Hand in Hand?! ….Rehabilitation zum integrativen und verbindlich planbaren Bestandteil gemeindepsychiatrischer Versorgung im Rahmen einer personenzentrierten, integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplanung zu machen. (Brieger et al. 2006)
UNZUREICHENDE IMPLEMENTIERUNG INTERNATIONAL ERFOLGREICHER MODELLE
Unzureichende Implementierung - first “place than train” Unterstützte Beschäftigung (Supported Employment) Quoten kompetitiver Beschäftigung in 16 RCTs zu unterstützter Beschäftigung
Unterstützte Beschäftigung
Kontrolle
(Bond GR, Drake RE, Becker DR. 2008, update Drake, Bond, & Becker, 2012)
Kontrolle 2
Psychisch krank und mitten im Arbeitsleben!!! Handlungsfelder
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HANDLUNGSFELDER
Arbeitgeber Arbeitskollegen
Wissen, Unterstützung, Rahmenbedingungen
Wissen, Unterstützung Motivation, Recovery, Selbstmanagement, Empowerment
Fokus Beruf zum frühstmöglichen Zeitpunkt Ressourcenorientierung Wissen vermitteln, Integrierte Dienste Recovery-Orientierung
Behandler: Psychiater, Hausärzte …. & Organisation der Versorgung
Angehörige Unterstützung, gemeinsame Ziele
Antistigmaarbeit
Gesellschaft
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Notwendigkeit der Differenzierung (1) die noch in Arbeit stehen und bei denen es um den Erhalt des Arbeitsplatzes geht und denjenigen, (2) die ihren Arbeitsplatz gerade verloren haben sowie denjenigen (3) schwer psychisch kranken Menschen, die bereits über längere Zeit erwerbslos sind
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Empfehlungen DGPPN-S3-LL Für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt anstreben, sollten Programme mit einer raschen Platzierung direkt auf einen Arbeitsplatz und unterstützendem Training genutzt und ausgebaut werden. Evidence Ia, Recommendation B
Insbesondere für die Teilgruppe schwer psychisch Kranker, für die eine Platzierung auf dem ersten Arbeitsmarkt (noch) kein realistisches Ziel darstellt, sollte Berufsvorbereitungstraining („first train then place“) zugänglich sein. Evidence Ib, Recommendation B
Die berufliche Rehabilitation sollte noch stärker darauf ausgerichtet sein, den Arbeitsplatzverlust zu vermeiden. Dazu bedarf es beim Auftreten psychischer Erkrankungen eines frühzeitigen Einbezuges entsprechender Dienste bzw. Hilfen. (GCP) Eine abgeschlossene Ausbildung ist für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen essentiell. Daher sollten adäquate Ausbildungsangebote wohnortnah zur Verfügung stehen. (GCP)
Verbesserte psychische Gesundheit
Barrieren abbauen
Barrieren abbauen
Arbeit für Psychisch Kranke
Stigma reduzieren
Sensibilisierung der Gesellschaft
Die Chancen und gesundheitsförderlichen Potenziale von Arbeit für psychisch kranke Menschen werden bisher systematisch unterschätzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Auftaktveranstaltung Psychisch krank und mitten im Arbeitsleben? Donnerstag, den 9. Oktober 2014
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