Anwaltskanzlei Wartensleben

Herbert Wartensleben Rechtsanwalt Fachanwalt für Medizinrecht Gut Gedau 1 52223 Stolberg

Anwaltskanzlei Wartensleben, Gut Gedau 1, 52223 Stolberg

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11.12.2015

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(bitte immer angeben)

Die Behinderung des medizinischen Fortschritts durch das Recht Wie kommt medizinischer Fortschritt ins Behandlungs- und Vergütungssystem?

Das Sozialversicherungsrecht hat das Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 GG durch ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für den niedergelassenen Vertragsarzt und den ermächtigten Kliniker stark eingeschränkt. Leidtragend sind die GKV-Versicherten:

I.

1. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen zu Lasten der GKV nur nach vorheriger Empfehlung durch den G-BA erbracht werden (§ 135 Abs. 1 SGB V).

Antragsberechtigt sind nur

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der Unparteiische (§ 91 Abs. 2 Satz 1 SGB V),

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die Kassenärztliche Bundesvereinigung, .../2

Allgemeine Steuernummer: 202 5433 0323 USt-IdNr.: DE 121 844 688 IBAN: DE57 3904 0013 0385 5699 00 SWIFT/BIC: COBADEFFXXX Commerzbank Stolberg

IBAN: DE64 3701 0050 0020 1995 08 BIC: PBNKDEFF Postbank Köln

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eine Kassenärztliche Vereinigung,

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der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (§ 135 Abs. 1 SGB V) und

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die vom BGM anerkannten Patientenvertretungsorganisationen (§ 140 f. Abs. 2 Satz 5 SGB V), die jedoch kein Mitbestimmungsrecht bei der Richtlinienempfehlung des GBA haben.

2. Der G-BA ermittelt den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse auf den Grundlagen der evidenzbasierten Medizin (§ 11 ff. Kap. 2 VerfO). Für den Bereich der Kosten-Nutzen-Abwägung zur Frage der Wirtschaftlichkeit hat der G-BA einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist. Er gilt als „Kleiner Gesetzgeber“. Die demokratische Legitimation des G-BA wurde von der Rechtsprechung bislang nicht thematisiert, obwohl zum Demokratieprinzip die Gewaltenteilung gehört. Für rechtssetzende Normen sind die Gesetzgebungsorgane autorisiert. Einen „Kleinen Gesetzgeber“ kennt unsere Verfassung nicht.

3. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG (§ 139a SGB V) wird als Stiftung privaten Rechts für den G-BA tätig durch Ermittlung des aktuellen medizinischen Wissensstandes und die Erstellung wissenschaftlicher Ausarbeitungen zu Qualität und Wirtschaftlichkeit etc. (§ 139a Abs. 3 Nrn. 1 bis 6 SGB V).

4. Die Bewertung hat nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin und den international anerkannten Standards der Gesundheitsökonomie zu erfolgen (§ 139a Abs. 4 SGB V).

5. Nach positiver Empfehlung des G-BA muss der Bewertungsausschuss die Höhe der Vergütung und die Leistungsdefinition für den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) beschließen.

Diese Regelungen gelten für die niedergelassenen Ärzte und die ermächtigten Krankenhaus-Ärzte, soweit sie ambulant tätig werden. 3

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II.

Für den stationären Bereich fehlt im Gegensatz zu § 135 SGB V ein Anerkennungsverfahren (§ 137c SGB V), so dass daraus gefolgert werden könnte, dass medizinischer Fortschritt zumindest bei der stationären Versorgung der Patienten berücksichtigt werden kann.

1. Aber:

Auf Antrag

- des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen,

- der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder

- eines Bundesverbandes der Krankenhausträger,

- der Vorsitzende der Schiedsstelle nach § 13 KHEntgG (§ 6 Abs. 2 Satz 9 KHEntgG) und

- des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 6 Abs. 2 Satz 8 KHEntgG).

entscheidet der G-BA, ob die stationäre Behandlung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich ist. Die Etablierung einer neuen Nutzen- oder Behandlungsmethode (NUB) setzt einen allgemein anerkannten Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft und eine Behandlungs- bzw. Untersuchungserforderlichkeit voraus.

Über den Antrag muss binnen drei Monaten Beschlussfassung erfolgen (§ 137c Abs. 1 SGB V ergänzt durch GKV-VSG vom 16.07.2015). Das Bewertungsverfahren muss binnen drei Jahren abgeschlossen werden.

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Wenn keine Entscheidung getroffen ist, dürfen NUB im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist (§ 137c Abs. 3 neu gem. GKV-VSG vom 16.07.2015).

Bei negativer Entscheidung beschließt der G-BA eine Richtlinie, wonach die Methode im Krankenhaus nicht mehr zu Lasten der GKV erbracht werden darf.

Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen der Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, beschließt der G-BA eine Richtlinie zur Erprobung nach § 137e SGB V.

2. Der Grundsatz der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt wird darüber hinaus durch die Rechtsprechung nahezu beseitigt (BSG-Urteile vom 17.12.2013 (Az.: B 1 KR 70/12 R) und vom 01.07.2014 (Az.: B 1 KR 15/13 R)), so dass § 137c SGB V im Ergebnis der Verbotsregelung des § 135 SGB V entspricht:

§ 137c Abs. 1 SGB V darf nicht im Sinne einer generellen Erlaubnis aller beliebigen Methoden für das Krankenhaus mit Verbotsvorbehalt ausgelegt werden. § 137c SGB V setzt die Geltung des Qualitätsgebots aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V auch im stationären Bereich nicht außer Kraft. § 137c SGB V bewirkt lediglich, dass nicht in einem generalisierten, zentralisierten und formellen Prüfverfahren vor Einführung neuer Behandlungsmethoden im Krankenhaus deren Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit überprüft werde, sondern die Prüfung der eingesetzten Methoden im Krankenhaus grundsätzlich präventiv durch das Krankenhaus selbst und retrospektiv lediglich im Einzelfall anlässlich von Beanstandungen ex post erfolgt.

3. Den Krankenkassen wird damit ein nachträgliches Prüfungsrecht gegenüber den Krankenhäusern eingeräumt, ob bei Untersuchungs- und Behandlungsmethoden das Wirtschaftlichkeitsgebot eingehalten wurde.

§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V lautet:

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„Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“.

4. Nach den Entscheidungen des BSG vom 21.03.2013 (Az.: B 3 KR 23/12) und vom 17.12.2013 (Az.: B 1 KR 70/12 R) entspricht die Behandlung den Qualitätskriterien des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, sofern „die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) (Cave: Bei Schulenstreit fehlt oft eine große Mehrheit) die Behandlungsmethode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dieses setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein … Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen sie den Stand der medizinischen Erkenntnisse“ (Urteil des BSG vom 13.12.2005, Az.: B 1 KR 21/04 R).

5. Das LSG Baden-Württemberg konkretisiert die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsvorgaben im Urteil vom 27.01.2012 (Az.: LK 4 KR 595/11) dahingehend, dass ein Rangverhältnis der medizinischen Erkenntnisse in Anlehnung an die Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin aufgestellt wird:

1. Stufe: höchste Beweiskraft haben direkte Vergleichsstudien der Evidenzklasse 1

2. Stufe: Liegen derartige Studien nicht vor, kann im Einzelfall auf andere, hinreichend aussage- und beweiskräftige Studien ausgewichen werden.

3. Stufe: Schließlich können auch Expertenmeinungen ausreichen, sofern vorhandene objektivierbare Erkenntnisse nicht bereits in eine andere Richtung weisen.

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6. Missachtet wird der von Sackett et al aufgestellte Entscheidungsgrundsatz: „Integrating individual clinical expertise with the best available external clinical expertise“ (BJM 1966; 312; 71-2).

Dem deutschen Gesetzgeber unterlief zu allem Unglück auch noch ein Übersetzungsfehler: evidence bedeutet im Englischen je nach Kontext „Beweis“, „Beleg“, „Hinweis“. Evidenz bedeutet im Deutschen „Offensichtlichkeit“, die keines Beweises bedarf (englisch: obviousness).

7. In den Beratungen zum Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24.08.1976 hat der Gesetzgeber noch festgestellt: „Nach einmütiger Auffassung des Ausschusses kann und darf es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, durch die einseitige Festlegung bestimmter Methoden … eine der miteinander konkurrierenden Therapierichtungen in den Rang eines allgemein verbindlichen „Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ und damit zum ausschließlichen Maßstab für die Zulassung eines Arzneimittels erheben … Deshalb kam es dem Ausschuss wesentlich darauf an, das Verfahren der Entscheidungsfindung so auszugestalten, dass Monopolisierung einer herrschenden Lehre als verbindlicher „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vermieden wird …“

8. Wichtige Klarstellungen zu den Grundsätzen der EbM bleiben in der Praxis unberücksichtigt:

May et al (European Urology 61 (2012) 218 - 219) “Conclusively, we clinicians should be prepared for the increasing power of biostatisticians who have never treated any patient in trying to “objectively” deny our clinical expertise power and efforts just by focusing on potential flaws of our studies. Otherwise, only financially powerful companies will be able to conduct the “correct studies”.

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9. Medizin ist eine Natur- und Erfahrungswissenschaft.

Wissenschaftlicher Fortschritt beginnt in der Regel mit einer Intuition, einer Idee bei der Suche nach Lösungen, weil die überkommene Therapie erfolglos geblieben ist.

Reflektierte Erfahrung ermöglicht neue Erkenntnisse.

Bis aus der Erkenntnis der Erfahrung eines Einzelnen ein allgemein anerkannter Wissensstand wird, dauert es Jahre.

Das Leid der Kranken ist aber nicht aufschiebbar.

Wenn nur das evidenzbasierte Wissen genutzt werden darf, ist der Heilversuch in die Illegalität verbannt, verliert die Medizin als Heilkunst ein charakteristisches Wesensmerkmal, nämlich die Empathie.

Das dürfen wir nicht zulassen.

Durch das Regressrisiko im stationären Bereich kann der Versuch, neue Erkenntnisse zu generieren, durch übergroße Vorsicht unterbunden werden; sie führt zu einer Defensiv-Medizin.

10. Die Therapiefreiheit ist inzwischen so eingeengt, dass der Begriff seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren hat, d. h. praktisch obsolet geworden ist.

Man würde ohnehin besser von der Therapiekompetenz und der Therapieverantwortung der Ärzte sprechen. Sie werden durch das Gesetz und die Bürokratie zur Gefahr für medizinischen Fortschritt.

Typisch für den modernen Gesetzgeber, der die EbM im SGB V vorschrieb, ist die Missachtung der Historie: Die EbM wurde vor 20 Jahren propagiert gegen den damaligen Glauben an ärztliche Hierarchien und überkommene Lehrmeinungen. Sie bezeichnete sich folgerichtig als „Bewegung“, als Aufstand gegen das medizinische Es8

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tablishment. Gegen diese Autorität sollte das unbestechliche medizinische Wissen gesetzt werden. Gleichzeitig sollten die Ärzte die Kompetenz erwerben, die Güte dieses Wissens beurteilen zu können. Die Ärzte sollten aber auch eine Kompetenz (innere Evidenz/klinische Expertise) erwerben, die ihr Handeln nicht durch externe Regeln einschränkt. 11. Die Rechtsprechung zum Off-Label-Use (vgl. „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005) und § 2 Abs. 1a SGB V sind ungeeignet, einen Lösungsansatz zu bieten. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nicht nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankungen notwendig, sondern auch für Krankheiten, bei denen es nicht um Leben und Tod geht.

12. Das Recht soll die Innovationskraft der Medizin nicht ersticken, sondern lediglich Auswüchse verhindern, der Hybris Schranken setzen, und zwar im wohlverstandenen Interesse der Patienten.

13. Das durch das Studiendesign klinischer Prüfungen mit seinen Ein- und Ausschlusskriterien wird der klinische Alltag, die häufigen Comorbiditäten nur unzureichend abgebildet.

14. Wir müssen besser werden! Die Medizin darf nicht länger Opfer eines Rechts werden, das sich als Prokrustesbett für den Fortschritt erweist.

15. Ärzte müssen Individuen behandeln, keine statistischen Durchschnittsmenschen.

Rechtsanwalt H. Wartensleben Fachanwalt für Medizinrecht